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Himmelblau

von

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Im Himmel

Himmelblau
 

"Nein, Himmelblau! HIMMELBLAU hab ich gesagt!", brüllte meine Ma ins Telefon, während sie ihren runden Bauch streichelte.

Himmelblau. Wie sehr ich diese Farbe doch hasste. Seit fast neun Monaten drehte sich das Leben meiner Eltern nur um Dinge, wie Babystrampler, Kindersitze fürs Auto, saugstarke Windeln und eben über die Farbe in der der das Babyzimmer gestrichen werden sollte. Himmelblau.

Aber am Meisten nervte es mich, dass meine Eltern meinten, ich würde mich genauso für dieses kleine Wesen, das unser Leben total auf den Kopf stellte, interessieren, wie sie es selbst taten. Ein Junge in meinem Alter hatte schließlich besseres zu tun, als sich über Babybäuche Gedanken zu machen.

Ich war gerade eben von der Schule nach Hause gekommen und mein einziger Wunsch war es, schnell in mein Zimmer zu kommen, in dem es noch nicht von Handwerker wimmelte, die Eimer voller blauer Farbe in das Kinderzimmer schleppten und dabei einen Lärm machten, als würden sie das komplette Haus abreißen wollen.

"Hey, Ma!", rief ich ihr zu und hob kurz die Hand.

"Ja, wir brauchen wohl doch noch einen Eimer mehr. Das Bettchen soll schließlich auch neu gestrichen werden."

Genervt verdrehte ich die Augen. Wollten die das ganze Zimmer in blauer Farbe ertränken? Und so billig war das Zeug dann auch nicht. Dafür musste ich schließlich auf ein neues Snowboard verzichten. Der kleine Fratz war noch nicht einmal auf der Welt und ich musste mich jetzt schon ungemein einschränken.

Gerade wollte ich mich auf den Weg in mein Zimmer machen, als Ma sich dann doch mit dem Handwerker einigen konnte und auflegte.

"Hallo Leon. War's schön in der Schule?", fragte sie mich und ich war überrascht, dass sie mich tatsächlich bemerkt hatte.

"Nein.", antwortete ich.

"Gut, gut. Ach, könntest du deinen Vater noch anrufen? Er soll mir noch eine Tube von dieser Salbe kaufen. Mein Rücken tut schon wieder höllisch weh..." Stöhnend ließ sie sich aufs Sofa fallen und hielt sich ihren Rücken.

Hallo?! Hatte sie mir überhaupt zugehört? Anscheinend nicht...

"Jaja...", nuschelte ich nur und verschwand in meinem Zimmer. Ich hatte die Nase gestrichen voll von Babykram jeglicher Art.

Wütend pfefferte ich meinen Rucksack in eine Ecke und schaltete den Pc an. Erleichtert atmete ich auf, als ich sah, dass mein bester Freund David online war. Wenigstens einer, der nicht vom Baby-Fieber befallen war.

"Hey!", schrieb ich ihn an. Wir hatte uns heute in der Schule kaum gesehen, weil wir meistens in verschiedenen Kursen waren.

"Hey", schrieb er auch sofort zurück. "Was machst du so?"

"Ich rege mich über meine Eltern auf", tippte ich schnell ein. Irgendwie musste ich meinem Ärger ja Luft machen. Und wofür hatte man schließlich einen besten Freund?

"Lass mich raten: das Baby! Wann soll es denn kommen?"

"In zwei Wochen! Und jetzt drehen meine Eltern völlig am Rad.", schrieb ich zurück.

"Lass sie!", kam es schnell von David. "Sie freuen sich halt und sind aufgeregt. Das ist ganz natürlich."

Was weißt du schon, dachte ich mir. David hat nämlich nur einen älteren Bruder und konnte deshalb gar nicht wissen, wie es ist, wenn die eigenen Eltern sich nicht mehr für einen interessieren, sondern das Baby zu ihrem Lebensmittelpunkt wird.

"Is' ja auch egal..." Ich hatte keine Lust, mir noch mehr Gedanken über das Baby zu machen.

"Was machst du so?", fragte ich deshalb, um vom Thema abzulenken.

"Treff' mich später mit Amelie.", kam es zurück.

David war erst seit zwei Wochen mit Amelie zusammen und sie trafen sie so gut wie jeden Tag.

"Muss Liebe schön sein..." antwortete ich genervt. Musste denn jeder außer mir so glücklich sein? Nicht, dass ich es David nicht gönnte, aber jetzt hatte nicht mal mehr er Zeit für mich.

"Geht es mit deinem Finn denn nicht weiter?", schrieb David.

"Er ist nicht MEIN Finn! Und, nein, er beachtet mich immer noch nicht."

Finn war so ein Typ an meiner Schule. Er ist vor einem halben Jahr dorthin gewechselt und seitdem war ich hoffnunglos in ihn verknallt.

Manchmal stellte er sich in den Pausen zu meinen Kumpels und mir oder wir gingen gemeinsam zum nächsten Kurs. Er war sehr schweigsam und hatte dunkelblonde Haare, die sich in seinem Nacken leicht kräuselten.

In Bio saß Finn in der Reihe vor mir und oft war ich drauf und dran, meine Hand auszustrecken und ihm durch die Haare zu fahren. Ich konnte stundenland nur diese kleine Locken anstarren. Vielleicht erklärte das meine schlechten Noten in Bio.

"Schon gut", holte mich David aus meinen Gedanken. "Wann sagts du es ihm?"

"Du weißt genau, dass ich es nie machen werde!", tippte ich so schnell ich konnte ein. Und das war wahr. Ich würde nie den Mut dazu finden. Noch dazu hatten Finn und ich nur wenige Sätze miteinander gesprochen.

"Warten wirs ab...", war Davids einziger Kommentar dazu.

Ich wollte ihm gerade fragen, was er damit meinte, doch in dem Momenr hörte ich, wie mein Vater nach mirrief und kurz darauf meine Zimmertür aufriss.

"Leon! Warum hast du mich nicht angerufen?"

"Hallo Pa. Danke, mir geht's gut und dir?"

"Du weißt dass es deine Mutter zurzeit sehr schwer hat. Kannst du nicht einfach das tun, worum sie dich bittet?"

Ich zog die Augenbrauen nach oben. Wow, er klang echt ziemlich angepisst.

"Sorry." sagte ich gedehnt und wandte mich wieder dem Bildschirm zu.

"Nichts 'Sorry'!", rief Pa. "Wenn du es schon nicht geschafft hast, mich anzurufen, damit wenigstens ich deiner Mutter was Gutes tun kann und ihr diese Creme für ihren Rücken zu kaufen, dann geh' du doch und besorg sie!"

"Keine Zeit, Pa."

"Oh doch, du hast Zeit!", schrie er jetzt.

So lief das jetzt schon seit Wochen. Er schrie, ich schrie. Ich kann mich schon gar nicht mehr daran erinnern, wie es war, als wir uns nicht die ganze Zeit gestritten hatten.

"Wenn ihr keine Zeit für mich habt, hab ich auch keine Zeit für euch!", brüllte ich zurück und sprang von meinem Stuhl auf.

Plötzich packte mich Pa am Arm, zerrte mich aus meinem Zimmer und zischte: "Du. Holst. Jetzt. Die. Creme." Und schon stand ich vor unserer Haustür. Hallo, ich war barfuß!

Ich stöhnte eimal abgrundtief, doch dann machte ich mich auf den Weg zum Drogeriemarkt.

Es half ja doch nichts. Wenn Pa in dieser Stimmung war, konnte man einfach nicht mit ihm reden, denn das einzige, was für ihn zählte war das Baby und meine Mutter. Ich war da irgendwie überflüssig...

Wütend betrat ich den Drogeriemarkt und stellte mich unschlüssig vor das Regal mit diversen Cremes, Salben und Hautlotions. So ungefähr wusste ich ja, welche Creme Ma brauchte, weil das ganze Badezimmer damit zugestellt war, doch die konnte ich hier niergends sehen. Na toll...

"Kann ich dir helfen?", fragte eine Stimme neben mir. Ich könnte sie aus tausenden heraushören.

"Finn..." Wie vom Blitz getroffen drehte ich mich zu ihm um und starrte ihn verblüfft an. Er trug die Arbeitsklamotten, die alle Angestellten hier trugen. Das grüne Kragen-T-shirt stand ihm wirklich gut. So gut, dass ich kein Wort heraus brachte.

"Suchst du was Bestimmtes?", fragte er mich und lächelte mich dabei so dermaßen an, dass ich erstmal schlucken musste.

"Äh...ja, so eine...komische Creme...i-ich wusste gar nicht, dass du hier arbeitest!"

"Tu' ich ja auch noch nicht lange. Das ist meine zweite Woche hier." Finn strich sich eine Strähne aus der Stirn. "Ich weiß, nicht gerade die tollste Arbeit, aber wenigstens hab ich so was zu tun."

Ich nickte und deutete ihm so, weiterzuerzählen.

"Weißt du", sagte Finn "meine Schwester ist vor ein paar Wochen ausgezogen und zu Hause wird es mir jetzt irgendwie zu langweilig..."

Ich weiß!, hätte ich fast gesagt. Ich wusste, dass seine Schwester ausgezogen war und er jetzt alleine mit seinen Eltern wohnte. Ich wusste, wie traurig ihn das machte, denn ich hatte Finn und seine Schwester öfter gesehen, wie sie zusammen etwas gemacht hatten.

Ich wusste das alles, weil ich jedes noch so kleine Detail über ihn in meinem Gehirn gespeichert hatte.

"Oh.", antwortete ich stattdessen. "Macht es dir denn hier keinen Spaß, hier zu arbeiten?"

"Doch, es kann manchmal ganz witzig sein.", lächelte Finn. "Aber jetzt zurück zu dir. Was brauchst du denn?"

Mist. Konnten wir denn nicht noch länger über Finn reden?

"Ich...äh..oh, das hier." Wahllos griff ich in das Regal und holte eine grüne Tube heraus.

Finn schaute mich ungläubig an. "Anti-Pickel-Peeling?"

Na toll. Wieso konnte mir denn nicht eine ganz normale, aber vorallem männliche Creme in die Hände fallen.

"Du hast doch gar keine Pickel!", stellte Finn währendessen fest und begutachtete mein Gesicht fachmännisch.

Ich spürte, wie ich rot wurde. Ich werde normalweise nie rot. Nur, wenn Finn mich mit diesen Augen so anschaute, dann...Argh!

"I-ist für...m-meine...äh...Freundin."

Finn schaute mit großen Augen zu mir hinauf.

"Ähh...für EINE Freundin!", verbesserte ich schnell. "Nicht für MEINE Freundin!" Ich könnte mich schlagen dafür, dass ich nie zuerst denken und dann reden konnte, wenn ich spontan sein musste.

Doch Finn lachte nur. "Du bist echt komisch!"

Komisch? Wie meinte er das dnn jetzt schon wieder? Ich kam nicht dazu, mir weiter den Kopf über Finns zweideutige Bemerkung zu zerbrechen, denn mein Handy klingelte in meiner Hosentasche. Die 'Star-Wars-Melodie' ertönte und ich beeilte mich abzunemen.

"Leon? Bist du das?" Es war Pa.

"Ja..." Wer sollte außen mir denn sonst dran sein? Manchmal war Pa echt merkwürdig.

"Wo bist du?", rief er aufgeregt.

"Wo soll ich schon sein?", meckerte ich. Dann wandte ich mich um, denn Finn schaute mich ziemlich entgeistert an, als ich so in mein Handy schimpfte.

"Wieso, was ist los?", fragte ich nun ruhiger.

"Wir sind im Krankenhaus.", antwortete Pa. "Die Fruchtblase ist geplatzt."

Für einen Moment wusste ich nicht, was ich sagen oder auch nur denken sollte. Das Einzige, was ich hörte, war mein eigener Herzschlag.

"Leon?"

"J-ja, ich bin noch dran."

"Kommst..." Pa stuzte einen Moment, "Kommst du?"

Ich schluckte einmal. Er hörte sich so verdammt fertig an.

"Natürlich", antwortete ich. "Bin gleich da."

Schnell legte ich auf und hastete in Richtung Tür.

"Hey! Was ist los?", rief Finn hinter mir her. Mann, den hatte ich ja völlig vergessen.

"Meine Ma! Sie kriegt das Baby!", rief ich aufgeregt.

"Aber das ist ja toll!", freute sich Finn. Doch dann wurde mir schlagartig etwas bewusst.

"A-aber es kommt ja viel zu früh! Es sollte doch erst...Oh Mann...ich muss schnell ins Krankenhaus..."

Ich rannte so schnell ich konnte nach draußen. Das Blut in meinen Ohren rauschte. Was, wenn etwas schiefgehen wird? Ich mochte zwar das Baby nicht besonders, doch trotzdem schickte ich schnelle Stoßgebete zum Himmel.

Ich rannte und rannte und rempelte einige Passanten an, doch das war mir egal.

"Leon!", hörte ich es undeutlich hinter mir und plötzlich packte mich wer an der rechten Schulter und riss mich zu sich herum.

"Du kannst nicht zu Fuß bis zum Krankenhaus laufen!", schnaufte Finn, wobei er immer wieder kurz stockte um Luft zu holen. "Außerdem bist du barfuß!"

"Aber ich muss...", meinte ich schwer atmend.

"Komm, wir nehmen den Bus.", rief Finn, packte meine Hand und wir liefen zur nächsten Bushaltestelle, an der gerade der Bus stand und bereit war, die Türen zu schließen. Im letzten Augenblick sprangen wir hinein und ließen uns auf die nächstbesten Sitzplätze fallen.

"Wir?", keuchte ich schließlich.

Finn nickte und ließ meine Hand los. Zu gerne hätte ich sie wieder genommen.

"Meine Schicht ist eh gleich zuende.", schnaufte er und lächelte mich von der Seite her an. "Außerdem: Wie könnte ich dich jetzt alleine lassen?"

Ich versuchte mich an einem verlegenem Grinsen und den Rest der Fahrt hockten wir aufgeregt und immer noch nach Atem ringend, nebeneinander. Ich hoffte, dass es Ma gut ging und wollte nichts sehnlicher, als zu Pa, der sich am Telefon so schrecklich verstört angehört hatte.

Nach etwa zehnminütiger Busfahrt stiegen wir an der Haltestelle vor dem Krankenhaus aus. Schnellen Schrittes stiegen wir die wenigen Treppenstufen hinauf und landeten schließlich in der Eingangshalle.

Pa wartete dort bereits und als er mich sah, lief er uns entgegen und drückte mich fest an sich. Ich konnte mich nicht erinnern, wann wir uns das letzte Mal so umarmt hatten.

"Ist mit Ma alles in Ordnung?", fragte ich, nachdem wir uns losgelassen hatten.

"Ja, soweit ist alles gut. Sie liegt im Kreissaal und die Ärzte kümmern sich um sie."

Ich nickte, dann fiel mir Finn ein, der wenige Schritte hinter mir stand.

"Pa, das ist Finn. Finn- mein Vater."

"Hallo." Die beiden schüttelten sich die Hand, dann gingen wir in den zweiten Stock und setzten uns auf die Stühle vor dem Kreissaal. Ab jetzt konnten wir nichts mehr machen- außer warten.

Ich bot Finn an, er solle wieder nach Hause fahren, doch er meinte, er würde gerne mit mir warten, wenn ich es wolle.

Und wie ich es wollte! Wenn der nur wüsste...

Also warteten wir. Hin und wieder kam eine Schwester, die uns auf dem Laufendem hielt. Finn hatte Pa einen Kaffee und uns beiden jeweils eine Cola geholt, ich blätterte in irgendeiner Zeitschrift, ohne wirklich den Inhalt zu verstehen und Pa ging die ganze Zeit im Gang auf und ab. Ich beobachtete ihn nachdenklich. Er war schrecklich nervös und schaute jede Sekunde auf seine Armbanduhr.

"Pa", sagte ich zu ihm, "setz dich doch mal einen Augenblick hin. Du machst mich ganz verrückt mit deiner Rennerei."

Er seufzte abgrundtief. "Tut mir leid, aber ich kann nicht! Ich wünschte, ich könnte deiner Mutter irgendwie helfen...Ah, wenn ich doch nur irgendwas tun könnte..."

Ich fragte mich, ob er bei meiner Geburt auch so nervös gewesen war.

"Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Borchers.", versuchte Finn meinen Vater aufzumuntern. "Ihre Frau wird das schon schaffen."

Dabei lächelte er Pa aufmunternd an. Ich hätte schmelzen können bei diesem Anblick. Verdammt! Es ging hier nicht um Finn, sondern um das Baby!

Verzweifelt versuchte ich, meinen Herzschlag zu beruhigen und nicht an Finn zu denken, der direkt neben mir saß. Leider gelang mir das ganz und gar nicht.

Nach einer weiteren halben Stunde, in der wir warteten, nicht wirklich viel redeten und hofften, dass alles gut ging, beschlossen Finn und ich, nach unten zu gehen und was zu Essen zu holen.

"Pa, willst du auch was?", fragte ich ihn.

"Was? Nein, ich kann jetzt nichts essen."

Also gingen Finn und ich alleine hinunter und kauften uns Sandwiches beim Krankenhauskiosk. Finn nahm eines mit Käse, ich mit Salami. Erst jetzt merkte ich, wie viel Hunger ich eigendlich gehabt hatte, denn seit heute Morgen in der Schule hatte ich nichts mehr gegessen. Das schien mir mittlerweile eine Ewigkeit her zu sein.

"Hey Finn", sagte ich mit vollem Mund, "wollen wir raus in den Park gehen? Ich brauch mal ein bisschen Abwechslung."

"Klar.", entgegnete er mir.

Essend schlenderten wir hinaus in den angelegten Garten des Krankenhauses. Die Luft hier draußen war heiß und es roch nach frisch gemähtem Gras. Einige Patienten saßen auf den Bänken und genossen das gute Wetter.

Schweigend gingen Finn und ich auf eine Wiese zu, die auf drei Seiten von einer Hecke eingerahmt war und auf der niemand bis auf uns war. Wir machten es uns im Gras gemütlich.

"Wird es eigendlich ein Mädchen oder ein Junge?", wollte Finn auf einmal wissen.

"Ein Junge.", antwortete ich einsilbig.

"Freust du dich denn nicht?" Finn schaute mich eigenartig von der Seite an. Hatte er mich wirklich so schnell durchschaut?

"Ganz ehrlich?" Ich senkte den Blick und spielte mit ein paar Grashalmen herum. "Nein! Ich kann diesen kleinen Fratz nicht ausstehen!"

Ich wartete darauf, dass Finn so etwas sagte, wie: 'Du kennst ihn ja nicht mal.' oder 'Freu dich doch für deine Eltern', doch er sagte nichts dergleichen. Also holte ich tief Luft und setzte selbst zu einer Erklärung an.

"Meine Eltern haben nur noch Augen für ihn. Und mich...beachten sie kaum mehr. Ich bin nur noch da um irgendwelche Salben zu kaufen..."

Ich kam mir ja selbst dumm dabeu vor, wie ich hier saß und Finn was vorheulte. Mann, ich sollte cool und sexy rüberkommen, warum also machte ich hier einen auf nicht verstandenes Muttersöhnchen?

"Du bist eifersüchtig.", stellte Finn sachlich und mit einem leichten Lächeln auf dem Gesicht fest.

Ich seufzte laut auf und ließ mich auf dem Rücken ins Gras fallen.

"Unsinn.", meinte ich nur und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Finn sah mich von oben herab an.

"Ist doch natürlich, dass du nicht willst, dass sich wer zwischen dich und deine Eltern drängt. Du willst sie für dich alleine haben, so wie die ganzen Jahre davor."

Nachdenklich schaute ich in den Himmel. Keine einzige Wolke war zu sehen. Natürlich wusste ich, dass Finn recht hatte. Ja, ich war eifersüchtig auf das Baby. Und wie!

"Stimmt ja, Mr Seelenklempner. Aber was soll ich denn machen? Ich will schließlich immer noch nicht von dem Baby weggedrängt werden."

Finn schien zu überlegen, was er mir antworten sollte, während er einen Büschel Gras ausrupfte.

"Weißt du", meinte er schließlich, "alles, was ich dir raten kann ist, dich darauf einzulassen."

"Ist das das, was du an meiner Stelle machen würdest?"

Finn sah mit erst fest in die Augen und ich dachte schon, er wolle mir gar nicht mehr antworten, bis er sich ebenfalls mit einem Seufzen neben mich ins Gras legte und sagte: "Nein, ich an deiner Stelle würde mich über alles freuen. Ist dir eigendlich klar, wie sehr ich dich beneide?"

Er drehte seinen Kopf einen Moment zu mir und lächelte mich schon wieder an. Wenn er nicht bald damit aufhören würde, würde mein Herz explodieren.

"Mich beneiden?", fragte ich etwas dümmlich.

"Mhm...es wäre schön, noch einen Bruder zu haben. Mit ihm zu spielen, ihn aufwachsen zu sehen und ganz einfach ein neues Familienmitglied zu haben. Ich würde alles dafür geben..."

Ich dachte eine Weile darüber nach, während ich in den Himmel starrte. Noch nie hatte ich die ganze Sache so gesehen, dass ich verdammtes Glück hatte. Bis jetzt war ich immer sehr zufrieden gewesen, ein Einzelkind zu sein. Aber vielleicht...würde es ja doch nicht so übel sein, einen Bruder zu haben.

Moment mal! Seit neun Monaten verfluchte ich meine Eltern dafür, was sie mir mit einem Bruder antun und kaum erzählte mir Finn, wie toll ein Baby ist und schon freue ich mich darauf? Das konnte doch wohl nicht wahr sein.

Ich kicherte leise vor mich hin. Wie leicht ich doch zu beeinflussen war!

"Was ist los?", wollte Finn wissen.

Ich seufzte leise und sagte, ohne den Blick vom Himmel abzuwenden: "Ich denke nur gerade daran, dass ich mit niemandem von meinen Freunden, so über meine Sorgen sprechen könnte, wie mit dir, ohne dass sie mich auslachen würden."

"Würden die das wirklich?"

"Oh ja, abgesehen von David. Aber der kann auch nichts, außer klug daherreden."

Als ich meinen Kopf drehte, um Finn anzusehen, war dieser knallrot in Gesicht und schaffte es kaum, mich auch anzuschauen.

"I-ich bin froh, dass du so denkst.", kriegte er dann doch raus und fixierte sofort wieder den blauen Himmel über uns.

Einige Augenblicke musterte ich ihn von der Seite. Auf seinen Wangen entdeckte ich ein paar Sommersprossen und in der Sonne glänzten seine Haare und sahen dabei so unglaublich weich aus. Bevor ich es überhaupt realisierte, streckte ich meine Hand aus und streichelte vorichtig über eine Strähne. Sie war tasächlich so weich, wie sie ausschaute.

Bei meiner Berührung zuckte Finn kurz zusammen, ließ mich aber weiter mit seinen Haaren spielen.

Ich war so vertieft darin, durch Finns Haare zu fahren, dass ich erst nach einigen Minuten bemerkte, dass Finn seinen Blick vom Himmel abgewandt hatte und nun mich mit seinen grünen Augen beobachtete. Erschrocken zog ich meine Hand zurück und kapierte erst jetzt, was ich eigendlich getan hatte.

In meiner Fantasie hatte ich schon so oft mit seinen Haaren gespielt, doch das hier war die Wirklichkeit und ich konnte nicht erwarten, dass Finn das gefiel.

"Tschuldigung", nuschelte ich und setzte mich auf. Was war ich doch für ein Trottel. Hatte ich nicht erst heute Mittag David geschrieben, dass Finn nie erfahren würde, dass ich auf ihn stand? Und jetzt ... warum musste er auch so verdammt tolle Haare haben?

"Nein, du ... musst dich nicht entschuldigen. Ist schon okay.", beeilte sich Finn zu sagen und setzte sich auch auf. Wieder rupfte er ein paar Grashalme aus und schmiss sie neben sich auf den Rasen.

Ich stürzte meine Ellbogen auf meine Knie und starrte auf meine Hände. Ich hatte alles kaputt gemacht. Was musste Finn jetzt nur von mir denken? Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was wohl gerade in seinem Kopf vor sich ging.

Leise räusperte sich Finn. "Leon..."

Ich drehte meinen Kopf in seine Richtung und spürte plötzlich ein Paar Lippen auf meinen.

Als ich realisierte, dass es Finn war, der mich da küsste, drohte mein Herzschlag auszusetzten und ich fühlte mich einer Ohnmacht nahe. Einige Sekunden lang lagen unserer Lippen still aufeinander, was der einzige Berührungspunkt zwischen uns beiden war.

Und als wir uns von einander lösten, sah ich in Finns leicht gerötetes, erwartungsvolles Gesicht. Meine Gedanken waren wie leer gefegt, ich glaube, ich sag gerade genauso überracht aus, wie Finn.

"Seit einem halben Jahr stelle ich mir jetzt vor, wie es wohl sein würde, dich zu küssen.", flüsterte er leise und kitzelte dabei mein Ohr.

Ich schluckte einmal, dann beugte ich mich wieder zu ihm vor und wisperte eben so leise gegen seine Lippen: "Genauso lange, wie ich."

Ich spürte, wie sich seine Lippen zu einem Lächeln verzogen und gerade, als ich ihn zu mir ziehen und nie mehr loslassen wollte, rief jemand durch den ganzen Park: "Leon! Komm, dein Bruder ist da!"

Ich sah Pa am Ende der Wiese stehen und uns zu sich winken. Doch während ich noch zögerte, sprang Finn auf und hielt mir strahlend seine Hand hin. Ich ergriff sie lächelnd und Hand in Hand rannten wir voller Vorfreude auf das Baby zum Eingang des Krankenhauses, während über uns der Himmel in der schönsten Farbe strahlte, die es gab: Himmelblau.



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