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Geister des Lebens

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Geister des Lebens
 

Neben meinem Bett quietschte eine lose Diele. Meine Mutter hatte nie gelernt, wie man auftreten musste, damit kein Geräusch entstand und ich hatte mich immer standhaft geweigert, die Diele reparieren zu lassen. Daher war das Brett bereits ein zuverlässiger Wecker für mich geworden, Augenblicke bevor meine Mutter über meine Haare strich und meinte mich dadurch wach machen zu können. Wahrscheinlich glaubte sie wirklich, dass ich so wach wurde, denn erst in diesem Moment schlug ich die Augen auf und zauberte ein verschlafenes Lächeln auf mein Gesicht. Zufrieden nahm sie ihre Finger von meinen Haaren und verließ das Zimmer. Keine von uns redete morgens, so als würden die Geister der Nacht uns noch hören können, bis die Sonne nicht vollständig aufgegangen war.
 

Sekunden später erschien ein echtes Lächeln auf meinen Lippen und begrüßte den Tag, wie er sich morgens vor meinem Fenster ausbreitete. Leise rauschende Schatten schwebten über den Fußboden, dahin geworfen von den Blättern des Eichenbaums vor meinem Fenster. Dieser Baum bedeutete für mich Leben, mit ihm war ich zwanzig Jahre lang aufgestanden und zu Bett gegangen. Und er war immer da gewesen, unerschütterlich bei jedem Sturm. Doch heute war etwas anders bei einem Blick aus dem Fenster. Da war nicht nur der Baum, der gepflegte Garten meiner Mutter und die unendliche Ferne des Waldes, sondern auch ein Auto, rot lackiert und so unauffällig wie ein Marienkäfer auf einer weißen Rose. Besuch? So früh am Morgen? Die Standuhr in der Ecke zeigte sieben Uhr dreißig an.
 

Sinnlos sich jetzt schon Gedanken darüber zu machen. Also schob ich die schwere Bettdecke von mir und krabbelte von der Matratze. Meine Füße setzten sich ganz von alleine in die genau richtige Position, um das Quietschen des Brettes zu verhindern, was ein zufriedenes Kribbeln in mir auslöste. Auch das gehörte zu meinem Morgen. Die Routine schaffte es problemlos den Gedanken an das Auto wieder zu verdrängen. An manchen Tagen reichte die Routine nicht, aber es war ja nur ein fremdes Auto am frühen Morgen. Kein Grund um die Tür abzuschließen und sich im Zimmer zu verstecken, bis es weg war, selbst wenn es nicht fremd war, sondern... Ich atmete tief ein und aus und der Gedanke rollte sich zusammen, wurde vorerst unsichtbar für mich.
 

Unruhig schlüpfte ich aus meinen Schlafklamotten und tapste nackt in das angrenzende Badezimmer. Zähneputzen, duschen, abtrocknen und Haare föhnen, es fühlte sich an wie etwas, das ich in einem Ratgeber gelesen hatte und deshalb tat. Ich fühlte mich danach nicht sauberer, ich hatte nur die Routine erfüllt und konnte mir normale Kleidung anziehen, mit der ich die Treppe zur Küche hinunterstieg. Auf den Weg dahin gab es viele lose Bretter und knarzende Stufen, schließlich war die Villa schon alt und egal wie viel meine Mutter nachbessern ließ, es kamen immer wieder neue Zeichen des Alters hinzu. Aber das war schon in Ordnung, sie erschreckten mich nur kurz und am nächsten Morgen wusste ich mit ihnen umzugehen, ohne dass sie ihr Leid klagten.
 

Mit meiner Mutter umzugehen war genauso leicht. Als ich die Küche betrat und mich an den Tisch setzte, trank sie gelassen ihren Kaffee. In solchen Momenten war ich nichts weiter als eins ihrer Gespenster, das sie nicht ansehen und mit dem sie erst recht nicht reden durfte, weil es sonst lebendig wurde. Dies war ebenfalls ein Teil der Routine, das Wecken und kurz danach das Ignorieren. Sobald sie vom Tisch aufstand, würde sie mich wieder als ihre Tochter erkennen und mir über die Haare streichen. Aber bis dahin dauerte es noch und ich nutze die Zeit, um mein Brötchen zu essen und den frisch aufgebrühten Tee zu trinken.
 

Die Teetasse in meiner Hand war klein und immer viel schneller leer, als ich das Brötchen essen konnte. Dabei hatte der Tee heute eine wunderbar beruhigende Wirkung auf mich und ich hätte mir gerne noch eine zweite Tasse genommen, aber das tat ich sonst nie morgens. Trotzdem verrieten meine Hände mich und griffen nach der Teekanne. Das warme Porzellan schmiegte sich an meine Haut und einen Moment lang lächelte ich, in mir diese kleine, stille Freude, wenn ich wusste, dass etwas mir gut tun würde.
 

Mein Körper mochte zwar manchmal vergessen, wie wichtig das Morgenritual war, meine Mutter jedoch nie. Ihre weit aufgerissenen Augen stachen wie Krallen in meine Hand und ließen mich aufsehen. Gleichzeitig mit meinen Blick hob sie ihren und mir fiel das Lächeln auf, das nie von ihrem Gesicht verschwand. In perfekter Synchronisation hoben wir unsere Zeigefinger und legten sie auf unsere Lippen. Die Geister, wir durften sie nicht auf uns aufmerksam machen, auf keinen Fall. Ich glaubte nicht an die Geister meiner Mutter, aber ich wollte ihr keinen Schmerz verursachen. Sie war so lieb und selbst wenn es heller Tag war, hielt sie sich an meine Routine, um mich vor allen zu schützen. Ganz langsam nahm ich meine Finger von der Teekanne und spürte die Entspannung in ihren Blick. Jetzt war alle wieder gut und wir konnten zu Ende frühstücken.
 

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Später, mein Abspülen betrachtete ich fasziniert, wie einige sanft schimmernde Seifenblasen sich über den weißen Schaum erhoben und sekundenlang das Sonnenlicht einfingen, bevor sie zerbrachen. Ich hatte einfach zu viel Spülmittel erwischt und jedes Mal, wenn ich meine Hände hob, entstanden sie und ließen mich wie ein kleines Kind fühlen. So unachtsam wie ich dabei war, war es vermutlich nicht verwunderlich, dass ich mich an dem Brotmesser schnitt und doch erschreckte es mich zutiefst, als ich den Finger vor mein Gesicht hob und zitternd die Bluttropfen ansah. Sie erinnerten mich an das Auto vor unserem Tor, das zwar weniger intensiv rot war, mich aber trotzdem auf die selbe Weise verstört hatte.
 

Plötzlich wusste ich nicht mehr, was ich normalerweise jetzt gemacht hätte. Ohne nachzudenken wischte ich meine Hände am Geschirrtuch ab und drehte mich vom Spülbecken weg. Mein Blick wanderte durch die leere Küche und zum ersten Mal stellte ich mir die Frage, was meine Mutter jetzt wohl tat. Wir würden uns erst zum Mittagessen wieder treffen und bis dahin würde ich allein im Garten sitzen. Eigentlich sollte ich jetzt zu Ende abwaschen und alles einräumen, aber so intensiv wie lange nicht mehr sehnte ich mich an den stärksten Halt in meinen Leben. Fast schon rannte ich zu ihm, durch den Garten und mit achtlos nackten Füßen über das taunasse Gras.
 

Unverändert kraftvoll stand er an seinen Platz und lehnte sich zärtlich zur Hauswand hin. Ein erleichtertes Seufzen verließ meine Lippen, ich war wieder mit mir selbst im Reinen. So erging es mir bereits, seitdem ich sieben Jahre alt gewesen war und Vater meinen Namen unter seinen und Mutters in den Baum geritzt hatte. Wie stolz war ich gewesen, endlich alt genug für dieses Ritual zu sein und meinen eigenen Namen lesen zu können. Mein Vater hatte nicht minder zufrieden ausgesehen und die Worte gesagt, die sich für immer in mein Herz gegraben hatten. Egal, was ab heute passieren wird, er wird die Erinnerung an dich bis in alle Ewigkeit bewahren und sie gegen jeden Sturm beschützen.
 

Und das hatte er getan, nur deswegen konnten Mutter und ich all die Schmerzen ertragen. Weil wir wussten, dass niemand je ganz verschwinden konnte. Dafür lohnte es sich all diese Geister und lauernden Schatten zu ertragen, die in jedem dunklen Winkel der Villa hausten. Oder? Mein Körper presste sich dicht an den massiven Stamm, während ich mich umdrehte und mit wild klopfenden Herzen zum Tor sah. Aber da stand kein rotes Auto mehr. Nicht mal Reifenspuren zeichneten sich auf den staubigen Boden ab. Doch anstatt erleichtert zu sein, spürte ich eine bekannte Schwere in meinen Herzen, die sich rauschend in meinen Blut ausbreitete und mich lähmte. Angst, wie damals, als Mutter anfing zu schweigen, wenn es dunkel wurde und ich nur noch das tun konnte, was ich jeden Tag tat.
 

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Angefangen hatte es mit dem Tod meines Vaters oder vielleicht schon vorher, als mein kleiner Bruder auf den Nachhauseweg von der Schule vor einen Lkw lief und starb, zwei Tage, nachdem er Vater dabei zugesehen hatte, wie sein Name in den Baum geritzt wurde. Noch heute erschien mir sein Tod vollkommen unrealistisch, schließlich hatten wir am Morgen noch zusammen gefrühstückt und am Abend war er einfach nicht mehr da. Seinen zerschmetterten Körper hatte ich nie sehen dürfen und auch bei der Beerdigung durfte ich nicht dabei sein. Ich sollte mein Leben weiterleben, als hätte es ihn nie gegeben und als wären wir danach noch eine heile Familie, dabei war sein Name deutlich in die Rinde des Eichenbaums eingeritzt, wodurch seine Abwesenheit nur noch stärker betont wurde.
 

Dennoch hatten wir weiter gelebt und es hatte glückliche Zeiten gegeben, in denen der Familienfrieden mehr gewesen war als nur eine Illusion. Aber die Zeiten, in denen die drückende Stimmung im ganzen Haus gehangen und ich mich gefühlt hatte wie am Grunde einer tiefen Schlucht, diese Zeiten hatten letztendlich überwogen und meinem Vater einen frühzeitigen Schlaganfall am Arbeitsplatz beschert. An diesem Tag war der Strom in der Villa ausgefallen, weshalb ein Arbeitskollege meines Vaters extra hergefahren war, um es uns mitzuteilen. Seinen Namen, sein Aussehen und die Worte, die er benutzt hatte, habe ich schon längst vergessen, nur sein fürchterliches Auto nicht. Eigentlich hätte ich schwören können, dass es nicht rot gewesen ist, aber als mein Blick wie besessen immer wieder über den ausdruckslosen Staub der Einfahrt flog, bin ich mir nicht mehr sicher.
 

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In meinen Rücken spürte ich ein Brennen, so als wollten die Namen von der Rinde in meine Haut hineinkriechen. Ich konnte es fast vor mir sehen und das Kratzen eines Messers zwischen meinen Schulterblättern fühlen. Schaudernd beendete ich die Berührung mit dem Baum und taumelte zwei Schritte nach vorne. Meine Mutter fing mich auf. Ich hatte keine Ahnung, wie sie so plötzlich aus dem Nichts auftauchen konnte. Im Haus hörte ich sie immer sofort, ihre Schritte, die jedes morsche Brett zum Jaulen brachten und ein Flirren um sie herum, das mich schon manches Mal hat fragen lassen, ob ihre Geister vielleicht wirklich existierten und sie mit jeder Bewegung verfluchten.
 

Sie machte mir Angst, mehr als das rote Auto und das Fehlen jeglicher Routine in diesem Moment, denn sie lächelte nicht und ihre Hände fühlten sich eiskalt an durch den Stoff meines Pullovers. Was machte sie hier draußen? Dann tat sie etwas, was sie nicht mehr getan hat, seitdem sie angefangen hatte, die meiste Zeit über durch mich hindurch zu sehen. Sie las meine Gedanken und antwortete auf meine unausgesprochene Frage. „Schatz, der Baum. Siehst du es nicht auch? Auf seinen Ästen sitzen die Dämonen und lachen uns aus, weil es zwischen den Blättern zu dunkel ist, um an sie heran zu kommen. Wir müssen ihn fällen lassen, ich habe die Handwerker bestellt, sie werden es für uns tun.“ Ganz sachlich erklärte sie mir ihr Vorhaben und zog mich dabei Stück für Stück weg vom wichtigsten Trostspender in meinem Leben.
 

Zu entsetzt um etwas zu tun, ließ ich es mit mir geschehen. Tatsächlich hörte ich genau in diesen Augenblick das Geräusch eines nahenden Fahrzeugs. Der Lieferwagen der Handwerker war rot, natürlich. Sie parkten vor dem offenen Tor und verloren keine Zeit, packten sofort die benötigten Werkzeuge aus und gingen damit auf uns zu. Ich hatte sie schon öfters gesehen und sie wussten wie es ablaufen sollte, schnell und effizient. In meinen Gehirn raste die Gewissheit ein, dass der Eichenbaum nur noch wenige Minuten lang an seinen gewohnten Platz stehen und mir Halt bieten würde. Ich sah meine Mutter an, als wäre sie nicht schon seit langen verrückt, sondern jetzt erst geworden
 

Die Zeit drehte sich unter meinen fassungslosen Blick weiter und mit einem Mal standen die beiden Männer vor uns. Worte, auf die ich mich nicht konzentrieren konnte, wurden gewechselt. Danach zog sie mich wieder mit sich, noch weiter weg von dem Baum. Ein schraubenartiger Griff verhinderte jedes Entkommen. Nicht dass ich es versucht hätte, ich sah lediglich wie ein Schaf zu den eifrig werkelnden Männern. In meinem Kopf hörte ich eine schrecklich rationale Stimme die Sekunden bis zum Krachen des fallenden Baumes zählen.
 

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich gar nichts mehr wahrgenommen und jetzt bebte die Erde. Ein Stoß ging durch meinen Körper, von den Zehenspitzen bis zu meiner Kopfhaut und hallte noch stundenlang in meinen Blut wider. Zumindest kam es mir so vor, aber vermutlich dauerte es nur eine Minute, bis der Baum regungslos am Boden lag und meine Mutter mich los ließ. Meine Knie knickten ein, gaben der Erdanziehungskraft nach und ich ließ mich fallen. Machte es jetzt überhaupt noch einen Unterschied, ob ich stand oder lag?
 

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Die Nässe des Grases drang durch meine Kleidung und eine Gänsehaut breitete auf meinen Körper aus. Erde und Gras vermischten sich, füllten meine Lungen mit ihren Geruch und drangen schimmernd durch meine geschlossenen Augenlider. Von dem Fall tat mir alles weh, besonders mein Genick, denn um nicht zu ersticken, hatte sich mein Kopf automatisch auf die Seite gedreht. In dem Moment, in dem ich mir so sehr wie noch nie zuvor wünschte, tot zu sein, zeigte mir mein Körper mehr als deutlich, dass ich existierte.
 

Ein unbekanntes Geräusch brachte mich dazu, mich wieder aufzusetzen und verwirrt umzusehen. Es klang etwas erstickt, aber gleichzeitig klar und hell. Und es war schön, so wunderschön wie die zarten Töne einer Violine. Erst nach vielen, vielen Minuten wurde mir bewusst, dass ich meinen eigenem Lachen lauschte. Meine Mutter hörte es ebenfalls, mit leicht schief gelegten Kopf stand sie vor mir und betrachtete mich liebevoll. Endlich sah ich die Mutter wieder, die ich mit dem Tod meines kleinen Bruders verloren hatte. In ihren Augen erblickte ich die Trümmer meines Lebens, von denen ich in den letzten Jahren wie ein unbeteiligter Zuschauer zugelassen hatte, dass sie immer mehr in sich zusammenfielen, bis ich kein Leben mehr hatte, sondern nur noch die Routine.
 

Ganz vorsichtig erhob ich mich wieder aus dem Gras und stand auf Beinen, die sich noch immer wie Gelee anfühlten. Die Handwerker waren noch da und verstauten die Kettensäge in ihrem Auto. Ich ging zu ihnen und räusperte mich. Beide drehten sich überrascht zu mir um und wirkten dabei etwas ängstlich, ich konnte es ihnen nicht verdenken, nachdem sie mich bisher nur als schweigenden Geist wahrgenommen hatten. Aber jetzt hatte sich etwas verändert und auch das schienen sie zu spüren.
 

„Können sie mich mitnehmen... in die Stadt?“ Fragte ich sie und bekam ein Nicken zur Antwort. Ihre Blicke hefteten sich auf meine nackten Fußsohlen und meine mit Grasflecken gesprenkelte Kleidung. Doch sie trauten sich nicht nachzufragen und ich hätte ihnen auch keine Antwort gegeben, ich wusste ja selbst keine. Ich wusste nur, dass ich nicht hier bleiben konnte, wenn ich die Trümmer meines Lebens wieder zusammensetzen wollte.
 

So stieg ich in ihr Auto, auf den Rücksitz, ohne Geld und Papiere, nur ich. Mein letzter Blick galt meiner Mutter, die sich auf den gefallen Baumstamm setzte. Ich wusste genau, dass wir in diesem Augenblick ein identisches Lächeln trugen. Das Lächeln versprach es, wir würden einander wiedersehen. Wir würden leben.



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