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Get lost.

Endstation
von

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Reisen

May liebte Reisen. Einfach in den Zug, ins Flugzeug setzen und weg von Zuhaus'. Sie liebte es, Freunde zu besuchen, die außerhalb ihrer Stadt wohnten, vielleicht sogar im Ausland. Doch am meisten liebte sie es, den Weg zu ihnen zu finden. Umso lieber machte sie auch ungeliebte Verwandtenbesuche mit, zu denen ihre Eltern nie wirkliche Lust hatten. Sie mochte dann einfach nur am Fenster sitzen, hinausblicken, den Kühen, Schafen, Pferden auf den Weiden dort draußen zusehen, wie sie in wachsender Geschwindigkeit an ihr vorbeizogen.

Sie liebte diesen Anblick. Denn er erinnerte sie stets ans wahre Leben. Auch das Leben ging rasant, von Geburt an. Wann lernte das Kind endlich laufen, sprechen, denken? Zeit war das einzige, was uns fehlte. Und deshalb liebten wir unseren Stress.

May interessierte sich nicht sonderlich für solche philosophischen Gedanken. Sie saß wieder in einem Zug, 2. Klasse, hatte ein ganzes Abteil für sich selbst. Gedankenverloren blickte sie hinaus, aus dem Fenster, das ihr die schönsten Ausblicke bescherte und sie doch vor dem, was dort draußen war, schützte. Aus ihren Kopfhörern, die sich eng an ihre Ohren schmiegten, dröhnte ihr Lieblingssong. Entspannt legte sie die Füße nach oben auf die Plätze neben sich, lehnte sich gegen die Fensterfront, blinzelte hin und wieder erschöpft. Im Gegensatz zu anderen Menschen liebte sie nämlich auch die ständigen Probleme, die mit dem Reisen in Verbindung auftraten. Zug oder Flug verpasst oder verspätet, kein Platz für's Gepäck, Mütter mit Kinderwägen und schreienden Bälgern, ungültige Tickets und damit verbundene ellenlange Diskussionen mit dem Personal, bis sie schließlich erkannten, dass es doch gültig war und sich lang und breit für ihren Fehler entschuldigten...

Nichts davon brachte May aus der Ruhe. Der Stress hielt sie auf Trab. Und nach kurzen Umsteigezeiten, in denen sie vom einen Ende des Bahnhofs mit einer schweren Tragetasche bin zum anderen hetzen musste, entspannte sie sich gern beim Musikhören und Löcher in die Luft gucken. Auch hörte sie nicht Musik um der Musik Willen. Sondern, weil sich der Rest der Passagiere wohl sehr über sie gewundert hätte, wenn sie einfach nur dasäße und bloß aus dem Fenster starrte. Es war ein Hobby, das nicht viele Anhänger fand. Deshalb war sie auch als „merkwürdig“ verrufen.

Heute war May unterwegs zu ihrer Tante. Sie kannte die Strecke in und auswendig. Von vorn bis hinten kannte sie jede Station beim Namen und in der korrekten Reihenfolge, jeden längeren Tunnel, den man sich merken sollte. So wusste sie auch, dass sie an der Endstation auszusteigen hatte. Weshalb sie sich immer in ihrem Lieblingstunnel in ihren Ledermantel einwickelte und ein Schläfchen hielt. Denn dieser Tunnel war lang. Und die Zeit reichte aus. Spätestens wenn sie ankämen würde man sie schon wecken.

Ihr Abteil verfinsterte sich. Der Tunnel. Seufzend griff May nach ihrem Mantel, der am Garderobenhaken neben dem Fenster hing. Sie rutschte mit dem Hintern etwas weiter auf die Bank, damit sie sich auch mit ihrem Oberkörper hinlegen konnte und nicht mehr gegen die Wand lehnen musste. Die Sitzbank war zu klein. Also kauerte sie sich zusammen, legte ihr Heiligtum ausgebreitet über sich und zog es an den Ärmeln eng an, damit sie nicht frierte. Denn es war Frühherbst und der Zug schien schon recht alt zu sein. Auch die Lampen an der Decke, die sich automatisch einschalteten, wenn es dunkel wurde, flackerten und glühten nur schwach. Sie schufen aber ein angenehmes Dämmerlicht, das sich perfekt für ein kleines Nickerchen eignen würde. Dennoch funktionierte die Heizung nicht, doch das war nicht sonderlich tragisch, denn das Innenfutter des Mantels war dick und wärmte optimal.

So schloss sie die Augen und ließ sich ins Reich der Träume entführen...

Normalerweise träumte May im Zug immer von bereits geschehenen Dingen. Von Menschen, denen sie begegnet war, von Problemen, die aufgetreten waren, von Leuten, die sie nun besuchen wollte. Doch nie hatte sie Alpträume dabei. Vielleicht schlechte Träume, in denen sie vielleicht ungeliebten Personen begegnete. Doch nie wurde sie mit ihren Ängsten konfrontiert. Bis heute.

Schweißgebadet erwachte sie aus einem solchen Alptraum. Ein hektischer Blick ging durchs Abteil. Es war immer noch dunkel. Nur an den Wänden zeichneten sich tänzelnde Schatten ab. Langsam richtete sie sich auf, strich ihr strubbeliges, rotes Haar zurück, wischte sich mit den Ärmeln ihres dünnen, schwarzen Shirts den Schweiß von der Stirn. Ihr Blick war noch vom Schlaf verschwommen, den sie sich nun aus den Augen wischte. Erst jetzt merkte sie, wie kalt es geworden war. Nachdem sie ihn kurz ausgeschüttelt hatte, zog sie ihren Mantel an, zitterte dennoch etwas. Wie lange hatte sie geschlafen? Konnten sie wirklich immer noch im Tunnel sein? May lauschte auf. Nein, sie fuhren nicht mehr. Außerdem hörte sie Regenprasseln vom Dach des Zuges. Sie standen also und waren nicht mehr im Tunnel.

(Wie...?)

May stand auf, trat ans Fenster, versuchte, einen Blick nach draußen zu erhaschen. Lange Wasserstraßen zogen sich von außen die Scheibe hinunter, doch von der Umgebung konnte sie nichts erkennen. Langsam wandte sie sich wieder um, betrachtete die tanzenden Schatten an der Decke und den anderen Wänden. Sie bewegten sich immer noch. Außerdem war nun ihr eigener Schatten hinzugetreten, der sich zitternd an den Wänden entlang schlängelte. Tatsächlich trat sie zur Tür des Abteils, blickte auf den langen Gang hinaus. Auch hier war alles dunkel, die Lampen sogar noch schwächer glimmend, als in ihrem Abteil. Direkt vor ihr war eines der Fenster geöffnet. Ein kalter Windhauch kam ihr entgegen, kühlte den restlichen Schweiß auf ihrer Stirn. Auch hier dieselben Schatten.

(Woher...?)

May versuchte auch hier aus dem Fenster zu sehen. Schwärze. Nichts zu erkennen. Irritiert ging sie zurück ins Abteil. Es war so furchtbar still. Eine erstickende, furchtbare Stille. Nur gefüllt vom prasseln des Regens und ihrem eigenen Atem, der sich beschleunigte. Hastig schloss sie die Tür hinter sich, wunderte sich sofort über ihre Reaktion. Sie benahm sich so, als würde sie verfolgt werden. Kindisch...

Ihr Blick wurde klarer, ebenso ihr Verstand. Zum ersten Mal begann sie nachzudenken. Sie saß im Zug. Sie hatte geschlafen. Es war dunkel und es regnete gegen die Scheiben. Doch es konnte schlecht Nacht sein, oder? Als sie im Tunnel eingefahren waren, war es doch gerade einmal Mittag gewesen! Und so lang war er nun auch wieder nicht. Vielleicht hatte sie sich geirrt? Dass es nicht ihr Lieblingstunnel war? Sondern ein anderer?

(Steh nicht so rum!)

Das ergab alles keinen Sinn. Es konnte unmöglich Nacht sein. May würde einen Schaffner fragen. Das wäre wohl das Beste.

Sofort hievte sie ihre Tasche von der Ablage über ihrem Sitz, warf noch einen schnellen Blick in die bereits beschlagene Fensterscheibe, wischte das Kondenswasser ebenfalls mit ihrem Ärmel weg und betrachtete sich im Spiegel. Das Blut war ihr zu Kopf gestiegen, ihre Augen wirkten glasig. Noch vom Alptraum. Mit Sicherheit noch vom Alptraum.

Den Gurt ihrer Tasche legte sie um ihre linke Schulter, damit sie auf ihrer rechten Seite lag. Sie war immer noch schwer. Und Mays Beine zitterten unter dem Gewicht. Kein Wunder, schließlich hatte sie schon lange nichts mehr gegessen. Im Bahnhof würde sie sich ein Thunfischbaguette holen. Mit viel Mayonnaise. Das würde sie wieder zu Kräften bringen.

Mit ihrer Tasche ging sie erneut aus dem Abteil, den Gang entlang und durch die Tür ins nächste Abteil. Es war nicht in einzelne Abschnitte unterteilt, sondern brachte gleichzeitig mehrere Menschen unter. May hasste das. Sie fühlte sich in solchen Abteilen wie auf einem Viehtransport. Denn viele Passagiere benahmen sich in diesen Abteilen so.

Doch heute nicht. Das Abteil war leer. Gänzlich. Kein Passagier, kein Zugbegleiter, niemand. Nicht einmal Gepäck lag an den Plätzen und den Gepäckständern an beiden Enden des Waggons. Verwundert blickte May auf. Das Signal für ein besetztes WC an der Anzeige über der Tür leuchtete. Sie war also nicht allein. Verschnaufend setze sie sich auf den Einzelplatz, der der Tür am nächsten war. Sie würde warten. Es war ja nicht der Rede wert. Vielleicht waren noch mehr Leute in den anderen Abteilen. Nachsehen? Sie war doch nicht verrückt! Es war doch so offensichtlich, dass sie nicht allein war.

Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass niemand kommen würde. Doch etwas nervöser stand sie auf, ließ ihre Tasche auf den Platz fallen und ging zur Toilette durchs Abteil hindurch. Mit jedem leeren Platz schlug ihr Herz schneller. Ihr Atem wurde unruhiger. Ein unangenehm warmes Gefühl entstand in ihrem Bauch. Als würde etwas in ihr köcheln. Die Unruhe. Die Panik.

(Schatten...)

Sie wurde enttäuscht. Das WC war nur defekt. Defekt, aber leer. Gänzlich. May atmete tief durch. Sie musste klar weiterdenken. Ihre Tasche lag in Abteil fünf, das war das Vorletzte. Im sechsten hatte sie gesessen. Also noch vier Abteile, die sie absuchen konnte. Irgendwo würde sich schon jemand finden, der ihr alles erklären konnte. Sie war sich sicher.

So ging sie ins nächste Abteil, das sie wieder leer vorfand. Ihr Bauchgefühl wurde stärker. Wieder begann sie zu schwitzen. Kalter Angstschweiß, der ihren Rücken herabrann. Mays Schritte beschleunigten sich, bis sie schließlich durch die Sitzreihen rannte, sich panisch umblickte, während ihr Atem mehr und mehr in ein Keuchen überlief. Es war so kalt, trotz Mantel. Sie glaubte ihren Atem sehen zu können. Schließlich kam sie in der ersten Klasse an. Auch hier alles leer...

May wich ein wenig zurück. Ihr blieb keine Wahl mehr. Sie musste ins Abteil des Fahrers. Egal wie sehr es ihr widerstrebte. Sie nahm ihren Mut beisammen, atmete tief durch und tappte mit wackligen Knien weiter durchs Dämmerlicht der kaputten, schwachen Lampen durch den Rest des Abteils. Sie öffnete die Tür und klopfte an die der Fahrerkabine. Keine Antwort von innen.

(Schatten an den Wänden...)

Mit zitternder Hand öffnete sie die Tür, blickte hinein. Sie wollte etwas sagen, doch das wenige Reden in der letzten Zeit und die kalte Luft hatten sie heißer gemacht. Sie räusperte sich etwas.

„Entschuldigung?“ fragte sie leise. Immernoch keine Antwort. Nun sah sie genauer nach, blickte auf den Drehsessel vor der Schalterkonsole.

Niemand saß dort. May befühlte die Sitzfläche. Kalt. Hier hatte schon lange niemand mehr gesessen.

Die Tränen stiegen dem Mädchen in die Augen. Sie war allein, in einem leeren Zug, es war kalt und finster draußen, und sie hatte beim besten Willen keine Idee, wie sie aus dem Zug aussteigen könnte, selbst wenn sie hinaus in den Regen wollte. Immer wieder schnappte sie ein wenig nach Luft. Tränenloses Aufschluchzen. Sie hielt das nicht mehr aus. Sie würde jetzt einfach zurück in ihr Abteil gehen und warten, bis jemand sie finden würde. Ein auf der Strecke stehender, leerer Zug müsste doch jemandem auffallen!

So verließ sie das Fahrerabteil, tappte durch den Gang zur nächsten Tür, als sie Schritte vernahm. Ihr Herz schlug höher, gegen ihre Rippen. Sie war nicht allein! Durch die Glastür konnte sie ins Abteil vor ihr blicken. Die Schatten an den Wänden wurden zerrissen von einem weiteren, viel größeren und dunkleren Schatten, der sich über sie legte. Die Schritte waren laut, dumpf, sehr schwer und langsam. Nie und nimmer die Schritte eines Menschen.

Der Schatten zog die Wände entlang. Doch zu sehen war nichts. Die Panik stieg in May hoch. Was auch immer dort in diesem Abteil war - es war nicht normal. Geschweige denn sichtbar. Ein Grummeln erfüllte die Luft. Ein Geräusch, vor dem man sich nicht entziehen konnte. Und es wurde lauter je lauter die Schritte wurden.

Das war zu viel. May riss sich von der Tür los, rannte zurück, riss die Tür zur Toilette auf, stürmte hinein und verschloss sie hinter sich, stemmte sich gegen die Tür und versuchte, ihren Puls wieder unter Kontrolle zu bringen. Ihr Herz schlug hart gegen ihre Brust, ihr Atem brannte in ihrer Kehle. Der Schweiß kühlte sie weiter aus, was sie noch mehr zittern ließ. In ihrem Magen kochte die Säure. Ihr wurde fast schlecht vor Angst. Was zur Hölle war das dort draußen?!

Das Grummeln wurde wieder lauter, die Schritte kamen näher. Bis die Schritte verstummten. Was auch immer es war - es stand vor ihrer Tür. Durch den Stahl konnte May den Atem des Monsters spüren. Und hören. Denn das war wohl das tiefe Brummen in der Luft. Fast hätte sie angefangen zu weinen. Ein leises Wimmern entwich ihrer Kehle bereits. Doch sie blieb standhaft, stemmte sie gegen die Tür. Schließlich wieder Schritte, die sich entfernten. Nicht dieselben von vorhin. Leichtere Schritte, im normalen Tempo, bis auch diese verstummten und nur nach das Zuknallen der Fahrertür zu hören war.

May sank zu Boden. Ihr Brustkorb ging auf und ab wie ein Blasebalg. Doch sie beruhigte sich bald. Vielleicht hatte sie sich das alles nur eingebildet. Das Brummen war verschwunden. Ihr Schweiß kühlte sich wieder ab. Der erste Schreck war überwunden. Wacklig stand sie auf, drehte mit zitternder Hand den kleinen Verschluss auf und öffnete die Tür. Langsam. Ihr Blick ging zu beiden Seiten. Sie war wieder allein. Doch das war ihr noch lieber als die Gesellschaft von diesem Etwas. Mit beschleunigendem Schritt ging sie wieder durch die Abteile. Sie wollte ihren alten Plan umsetzen. Sich in ihrem Abteil verschanzen und auf Hilfe hoffen.

Gerade im vierten Abteil angekommen stolperte sie vor und fiel der Länge nach hin. Ruckelnd war der Zug erneut angefahren. Hastig sprang May wieder auf, blickte um sich, trat in eine Vierersitzgruppe, um nach draußen sehen zu können. Immer noch nichts, doch sie sah an den Schatten, dass sie weiterfuhren: sie tänzelten noch wilder die Innenwände entlang. Fast schon hatte sie sich an sie gewöhnt.

Weitaus vorsichtiger ging sie weiter, ins fünfte Abteil, wo sie ihre Tasche holte und ins sechste Abteil schlich. In ihrem Abschnitt angekommen ließ sie die Tasche wieder zu Boden und setzte sich geradewegs auf ihre Kopfhörer, die sie dort wohl im Schlaf verloren und liegen gelassen hatte. Verärgert hob sie den zerbrochenen Bügel hoch, setzte sie wieder auf und spielte den letzten Song ab, der gespielt wurde, bevor die Playlist zu Ende war. Sie hörte nichts mehr. Auch das noch. Nun waren auch ihre Lieblingskopfhörer kaputt. Murrend steckte sie ihren MP3-Player in ihre Manteltasche, ließ die Kopfhörer einfach auf. Es sah immer noch gut aus und der sanfte Druck auf ihrer Ohrmuschel beruhigte sie etwas. So konnte sie zumindest den Regen nicht mehr so gut hören. Der wurde jetzt sowieso von den Maschinengeräuschen des fahrenden Zuges übertönt.

May wartete.

Wieder blieben sie stehen. Doch die Türen öffneten sich.

Eine freundliche, rauschende Stimme erklang aus den Lautsprechern des Zuges.

„Dieser Zug endet hier. Bitte alle Fahrgäste aussteigen!“



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