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Die Katze lebt

Eduard hatte ein äußerst schlechtes Gefühl, als es an diesem Abend an der Tür klingelte. Im Fernsehen liefen gerade die Nachrichten. Raivis' Augen hingen am Bildschirm, während er mit mechanischen Bewegungen aus einer Schüssel Cornflakes löffelte. Er schien nicht im Geringsten erschrocken über den Gast an der Tür. Stattdessen sah er kurz auf und blinzelte Eduard an.

„Erwarten wir jemanden?“

„Nein“, antwortete Eduard. Wen denn auch? Enge Bekannte hatten sie nicht. Im Grunde hatte Eduard vorgehabt, nach Antonios Besuch umzuziehen, aber das war nun drei Wochen her und noch immer hatte er sich nicht einmal nach einer neuen Wohnung erkundigt. Ganz zu schweigen davon, dass Raivis noch nichts von einem Umzug wusste. Die Idee würde ihm nicht gefallen, dachte Eduard. An diese Wohnung hatten sie sich beide gewöhnt wie an ein sicheres Nest, aber außerhalb dieses Schlupfwinkels war die Welt noch immer gefährlich und bot nirgendwo Schutz. Dieses Gefühl konnte selbst Eduard bei aller Vernunft nicht abschütteln.

Und jetzt war jemand an der Tür. Eduard überlegte, ob er einfach nicht öffnen sollte, aber wozu würde das führen? Wenn es nur ein Postbote oder jemand so harmloses war, konnte er genauso gut aufmachen. Und wenn es jemand war, der ein persönliches Anliegen hatte, würde er sich wohl nicht abschrecken lassen. Das hatte Antonio schließlich auch nicht getan.

Es klingelte erneut. „Soll ich gehen?“, fragte Raivis überrascht. Eduard schüttelte den Kopf und stand vom Sofa auf. „Bleib ruhig sitzen. Ich gehe schon.“

Er trat in den Flur und zögerte noch kurz, bevor er auf den Türöffner drückte. Der Hausflur war dunkel, als er die Wohnungstür öffnete, aber im nächsten Moment ging flackernd das Licht an. Die Tür fiel unten wieder ins Schloss und Schritte begannen, die Treppe hinauf zu steigen. Es schien mehr als eine Person zu sein, die da kam, dachte Eduard unsicher und ertappte sich dabei, dass er mit einer Hand den Türrahmen umklammerte, als wolle er sich daran festhalten. Wütend über sich selbst schüttelte er den Kopf. Wovor hatte er Angst? Ihm würde nichts passieren, egal, wer dort kam. Selbst wenn es noch jemand von der Nationen-Clique war. Ein paar mehr Erinnerungen an seine Vergangenheit würden vielleicht wieder aufgewühlt werden, aber davon abgesehen... nein. Raivis und ihm würde nichts passieren.

„Wie weit müssen wir denn hoch? Ah, da ist es. Schauen wir doch mal, ob...“

Die Stimme verstummte. Feliks hob den Kopf und sah Eduard an, der sich jetzt doch wieder am Türrahmen festklammerte. Ausgerechnet Feliks. Im Moment fragte Eduard sich nicht einmal, wie er Raivis und ihn schon wieder aufgespürt hatte. Ihn beschäftigte eine ganz andere Frage, die sein Herz zum Rasen brachte. Wie sage ich ihm das mit Toris?

„Guten Abend“, sagte Feliks und biss auf seiner Lippe herum. Er stieg die letzten Stufen hinauf, bis er vor Eduard stand. Neben ihm stand eine kleinere Person, wahrscheinlich ein Kind, das eine viel zu große Jacke trug. Die Kapuze war ebenfalls zu weit, das Gesicht lag im Schatten. Eduard war kurz irritiert von dem zweiten Gast, wandte sich dann aber Feliks zu.

„Guten Abend, Feliks.“

„Was ist denn los?“, erklang Raivis' Stimme aus der Wohnung. Im nächsten Moment spähte er neben Eduard um den Türrahmen. „Oh. Hallo, Feliks.“

„Hey“, sagte Feliks und lächelte leicht. Er wirkte eingeschüchtert, wie Eduard verwirrt feststellte. Zuerst hatte er geglaubt, es sei die mädchenhafte Schüchternheit, die Feliks manchmal an sich hatte, aber wenn man genauer hinsah, wirkte er wirklich, als mache ihm etwas Angst.

„Komm doch erst einmal rein“, sagte er unschlüssig und trat zurück.

„Danke“, murmelte Feliks, betrat die Wohnung und zog das Kind hinter sich her.

„Wer bist du denn?“, fragte Raivis neugierig und beugte sich zu ihm hinunter. „Bist du Feliks' kleiner Bruder?“

Das Kind gab ein unbeholfenes Lachen von sich, das Eduard zusammen zucken ließ. Wie lange hatte er dieses Lachen nicht mehr gehört? Aber das konnte nicht...

„Guten Abend“, sagte Toris und nahm die Kapuze ab. Er grinste unsicher und sah zu seinen beiden Brüdern im Geiste hoch. „Ich denke mal, du bist... Raivis? Und Eduard, ja? Das seid ihr doch, richtig?“

„Toris?“, fragte Raivis verblüfft. „Wieso bist du so klein?“

„Lange Geschichte“, brummte Feliks und zog seinen Mantel aus. „Wäre besser, wenn wir uns zum erzählen hinsetzen könnten.“

„Kein Problem“, sagte Eduard, der mühsam versuchte, seine Fassung zu bewahren. „Gehen wir doch ins Wohnzimmer.“

„Du bist wirklich Toris?“, fragte Raivis, streckte einen Finger nach ihm aus und piekste ihn in die Seite, als wolle er sehen, ob er dann wie eine Seifenblase zerplatzte. „Ganz wirklich?“

„Das bin ich wohl“, antwortete Toris verlegen. „Du... du kennst mich, aber ich kann mich kaum an dich erinnern, Raivis. Aber... Feliks sagt, das wird schon wieder.“

„Sicher wird es wieder!“, sagte Raivis zufrieden und griff nach Toris' Hand. „Schau mal, Eduard! Jetzt habe ich einen kleinen Bruder!“

„Bin ich das wirklich?“, fragte Toris perplex, an Feliks gewandt.

„Nein“, sagte Eduard entschieden, „das bist du nicht.“

„Aber wir können so tun, als ob!“, beharrte Raivis. „Das haben wir schon immer so gemacht!“

„Das haben wir nicht. Glaub Raivis kein Wort.“

Heillos verwirrt sah Toris zwischen den beiden hin und her. „Es ist schon verwirrend genug, plötzlich Toris zu sein, auch ohne dass ihr euch gegenseitig widersprecht.“

Eduard zwang sich zu einem Lächeln. „Es tut mir Leid. Aber es wird schon alles wieder. Wir werden sehen, wie wir... ich meine... willkommen zurück, Toris.“

„Danke“, sagte Toris und lächelte unsicher.
 

„Ich bin mit Liet abgehauen“, murmelte Feliks und zog die Beine an. Er saß auf dem Sofa neben Eduard. Raivis hockte neben dem Tisch und hatte Toris auf den Schoß genommen, was diesem etwas peinlich zu sein schien. Nicht, dass Raivis das bemerkt hätte.

„Abgehauen?“, wiederholte Eduard. „Vor wem? Und wie hast du Toris überhaupt gefunden?“

„Nicht ich“, verbesserte Feliks. „Sie.“

„Wer sind sie?“

„Wenn ich das mal so genau wüsste. Ich... verstehst du, ich hab mich nie zurückgezogen. Hab nie kapiert, wieso alle das plötzlich wollten. Es war mir viel lieber, bei meiner Regierung zu bleiben, verstehst du? Eine Nation zu sein, wie ich es immer gewesen war. Warum auch nicht? Hat mich niemand dran gehindert. Naja... es lief alles ganz gut. Sie haben mich respektiert, auch wenn sie nicht immer viel auf meine Meinung gegeben haben. Aber vor ein paar Wochen sind diese komischen Kerle aufgetaucht.“

„Komische Kerle?“, fragte Eduard.

„Sie hatten Liet dabei. Das war ein Schock, ihn so klein zu sehen, das kann ich dir sagen! Aber ich hab mich natürlich total nicht einschüchtern lassen.“ Feliks schnaubte. „Sie haben mir gesagt, ich sollte machen, was sie sagen, damit Liet nichts passiert. Also hab ich gemacht, was sie gesagt haben.“

„Und was war das?“

„Sie haben gesagt, ich soll einige von den anderen aufspüren.“

Eduard sah ihn verblüfft an und lachte humorlos. „Sag mal... könnte zufällig Antonio dahinter stecken?“

„Wer?“, fragte Feliks und runzelte die Stirn.

„Ach, vergiss es, es war ein dummer Gedanke. Was ist dann passiert?“

Feliks zog eine Grimasse. „Sie wollten, dass ich Kontakt zu den anderen aufnehme. Ich hab ihnen aber gesagt, ich wüsste nicht, wie. Ich wollte auf Zeit spielen, bis ich einen Weg gefunden hatte, Liet und mich in Sicherheit zu bringen, verstehst du? Also hab ich erstmal angefangen, zu recherchieren, wo die anderen überhaupt heute wohnen und so. Aber bevor ich zu einem Ergebnis gekommen bin, hab ich einen Brief bekommen. Von Feliciano.“ Er verstummte kurz. „Dieser Dummkopf.“

„Dummkopf?“

„Ich meine, ich hab ihn ja gern, und ich habe mich gefreut... oder sagen wir, ich hätte mich gefreut, wenn das Timing nur nicht so schlecht gewesen wäre! Aber ich hatte keine Wahl mehr. Feliciano hat ein Treffen vorgeschlagen, und weil die komischen Leute sowieso schon ungeduldig geworden sind...“ Er brach ab.

„Wo ist Feliciano jetzt?“, fragte Eduard, der verzweifelt versuchte, die Logik in dieser Geschichte zu finden. „Und was wollen diese Leute überhaupt von ihm? Was bezwecken sie damit?“

„Ich habe keine Ahnung, Eduard. Ich weiß auch nicht, wo Feliciano jetzt ist. Sie haben mich nach einem Tag in Italien wieder nach Hause geschickt und ihn da behalten... denke ich.“ Feliks atmete tief durch. „Jedenfalls haben sie ihn jetzt, aber zufrieden waren sie anscheinend noch nicht. Dann hab ich ihnen gesagt, wenn sie mir noch ein bisschen Zeit geben, spür ich euch beide auf, Raivis und dich. Und das hab ich getan.“

„Du meinst, sie wissen, wo wir sind?“, brachte Eduard hervor und spürte, wie sein Herz zu rasen begann.

„Nee“, sagte Feliks schnell. „Ich hab's ihnen jedenfalls nicht gesagt. Ich weiß seit gestern Abend sicher, wo ihr steckt. Heute morgen ganz früh habe ich mir Liet geschnappt und hab ihn rausgeschmuggelt, in einem Koffer. Stell dir das mal vor! War ganz schön schwer zu schleppen.“ Er lachte kurz auf. „Ich konnte ihn ja nicht allein da lassen, oder? Und jetzt sind wir beide hier.“

Langsam wanderte Eduards Blick von ihm zu Toris, der noch immer auf Raivis' Schoß saß und mittlerweile dessen Cornflakes aß. Er schien sich schon ein wenig wohler zu fühlen.

„Ich könnte auch was zu essen vertragen“, murmelte Feliks.

„Ich kann uns ein paar Brote machen.“

„Wäre toll.“

„Ich bin gleich wieder da“, sagte Eduard und stand auf. Raivis wischte Toris ein wenig Milch vom Kinn und Toris ließ es über sich ergehen.
 

In der Küche war es dunkel. Eduard knipste das Licht an und holte erst einmal tief Luft. Er würde eine Weile brauchen, um alles zu verarbeiten, was Feliks ihm gerade erzählt hatte. Jemand versuchte, Nationen aufzuspüren und in seine Gewalt zu bringen... wieso war er nicht längst mit Raivis umgezogen? Aber wenigstens hatte Feliks niemandem verraten, wo sie zu finden waren, versuchte er sich zu beruhigen. Er trat an die Arbeitsfläche und griff nach dem Brot, als er zufällig einen Blick aus dem Fenster warf. Erschrocken stolperte er ein Stück zurück und ließ das Brot fallen.

Das konnte nicht sein... Zitternd trat er wieder näher an das Fenster und spähte hinaus. Draußen stand ein Auto unter einem Baum, das er hier noch nie gesehen hatte. Eduard verbrachte viel Zeit damit, vom Fenster aus die Nachbarschaft zu beobachten. Es mochte paranoid sein, aber in diesem Fall hatte ihn seine Paranoia vielleicht gerettet. Das Auto hatte ein ortsfremdes Kennzeichen, und es saß jemand darin. Auf die Entfernung und durch die Dunkelheit konnte Eduard nicht erkennen, wie viele Insassen es waren und ob sie in seine Richtung sahen, aber auf dem Fahrersitz saß eindeutig jemand. Jemand, der nicht wirkte, als habe er vor, bald auszusteigen.

Schluckend wich er wieder zur Küchentür zurück und löschte das Licht. Mit weichen Knien kehrte er zurück ins Wohnzimmer, wo Feliks, Raivis und Toris gerade über irgendetwas im Fernsehen lachten. Toris' Lachen klang vertraut, aber zu hoch, als hätte jemand am Mischpult einen Regler verstellt.

„Feliks?“, fragte Eduard.

Feliks hörte auf zu lachen und sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Ja?“

„Ist es möglich, dass euch jemand hierher gefolgt ist?“

Jetzt waren alle verstummt. „Jemand ist uns gefolgt?“, fragte Toris erschrocken.

„Ich weiß es nicht“, sagte Eduard und versuchte, ruhig zu bleiben. „Aber draußen steht ein Auto, das ich noch nie gesehen habe. Jemand scheint das Haus zu beobachten.“

„Ein dunkles Auto?“, fragte Feliks leise.

„Dunkelblau oder schwarz, würde ich sagen.“

„Dann ist es uns doch gefolgt“, murmelte Feliks und biss sich auf die Lippe. „Ich hätte es wissen müssen.“

„Du meinst das Auto, das die ganze Zeit neben uns war, als wir in der Straßenbahn saßen?“, fragte Toris. „Warum hast du mir nicht gesagt, dass es dir auch komisch vorgekommen ist?“

„Ich wollte dich nicht beunruhigen, Liet.“

„Du hast gesagt, es wäre nicht gefährlich!“

„Du wusstest, dass jemand euch verfolgt, und bist trotzdem hierher gekommen?“, fragte Eduard entgeistert.

„Ich wusste es nicht. Ich habe es vielleicht geahnt, aber...“

„Und wenn schon! Ihr habt sie direkt hierher geführt! Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?“ schrie Eduard. Er wusste nicht, ob seine Wut oder seine Angst größer waren.

„Was hätte ich sonst tun sollen?“, erwiderte Feliks halb schuldbewusst, halb verletzt. „Wenn wir irgendwie ziellos in der Stadt herum gefahren wären, hätten sie früher oder später die Geduld verloren und uns wieder aufgegriffen, und dann hätten sie mich wieder erpresst, damit ich ihnen sage, wo ihr seid! Es wäre so oder so darauf hinausgelaufen, dass sie euch finden!“

Eduard holte tief Luft.

„Ihr sollt nicht streiten“, sagte Toris zaghaft. „Das bringt bestimmt nichts.“

„Ich bin jedenfalls froh, dass ihr gekommen seid“, sagte Raivis ehrlich und drückte Toris an sich.

„Fragt sich nur, wie lange noch“, murmelte Eduard.



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