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Schwarz: Initiation

mit wildest_angel
von

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Es war bereits später Abend, als sie ankamen. Das Apartment, das Brad sich gemietet hatte, befand sich am Stadtrand von München. Er parkte den Wagen in der Tiefgarage, holte eine kleine Sporttasche und einen großen, schweren Karton aus dem Kofferraum, und dann ging es mit dem Fahrstuhl in den neunten Stock.

„Wir haben die gesamte Etage für uns“, informierte er seinen neuen Mitbewohner, als sie oben angekommen waren.

„Schließt du mal die Tür auf? Der Schlüssel ist in der Jackentasche…“
 

Das Apartment war ein Penthouse mit riesiger Dachterrasse und Fenstern, die vom Fußboden bis zur Decke gingen. Crawford mochte keine Räume mit kleinen Fenstern.

Wenn man die Wohnungstür öffnete, stand man direkt in einem großen Wohnraum mit moderner Couchgarnitur, Fernseher und Stereoanlage. Die Küche war in den Wohnraum integriert und durch eine Arbeitszeile von diesem abgetrennt. Sechs Türen führten in die angrenzenden Räume.

Crawford stellte den Karton ab, und öffnete sie nacheinander. Bad, Gäste-WC, Büro, Fitnessraum, und dann das Zimmer, das in Zukunft von Schuldig bewohnt werden sollte. Im Moment befand sich nur eine Schlafcouch und ein kleiner Tisch mit Stuhl darin.

„Ich wusste nicht, wie du es möchtest. Du kannst es nach deinem Geschmack einrichten. Morgen gehen wir einkaufen. Neue Klamotten brauchst du auch…“

Seine Augen glitten kurz an der mageren Gestalt entlang. Dann nickte er zu der sechsten Tür, die als einzige noch verschlossen war.

„Das ist mein Zimmer. Zutritt ohne Erlaubnis verboten, verstanden? Willst du auch einen Kaffee?“
 

Schuldig wachte erst auf, als Brad den Wagen abstellte, und sah sich verschlafen um. Hm. Tiefgarage. Okay. Er stieg aus, gähnte leise und streckte sich, dann folgte er mit seiner Tasche in der Hand dem Amerikaner zum Lift.

Noch ahnte er nicht, was gleich auf ihn zukommen würde und so fummelte er ohne mit der Wimper zu zucken den Schlüssel aus Crawfords Tasche.

Als er dann allerdings die Tür aufschloss und Schuldig das Appartement betrat, erschlug ihn die Weitläufigkeit der Zimmer beinahe. Unbewusst zog er den Kopf ein wenig ein und traute sich gar nicht, irgendwo anders hinzusehen als auf das Stückchen Boden zwischen seinen Schuhspitzen. Eingeschüchtert nickte er nur, als er hinter dem Älteren hertappte und rasche Blicke in die einzelnen Zimmer warf.

In seinem eigenen Zimmer verschwand die Couch und der Tisch mit dem Stuhl fast - und zu allem Überfluss schlug der Schwarzhaarige auch noch vor, einkaufen zu gehen. Einkaufen... Das war auch so etwas, das der junge Telepath noch nie getan hatte. Und wenn er ehrlich war, hatte er ein wenig Horror davor. Noch dazu wusste er ja gar nicht, was er überhaupt brauchte. In der Schweiz war in seiner kleinen Zelle auch nicht mehr gewesen als das, was hier stand. Brauchte man denn mehr?

In diese erschreckenden Gedanken versunken nickte er nur zu der Anweisung, Zutrittsverbot zu Brads Zimmer zu haben, ohne wirklich etwas davon mitzubekommen. Dafür beschäftigte ihn die übelkeitserregende Aussicht auf die folgenden Tage viel zu sehr.

Die Frage nach dem Kaffee registrierte er dann jedoch sehr wohl wieder. Schüchtern hob er den Kopf an, um Brad anzusehen. Die leichte Panik, die er verspürte, spiegelte sich in seinen Augen wider, doch er kämpfte tapfer dagegen an und nickte.

"Einen Kaffee kann ich jetzt wahrscheinlich gut brauchen", nuschelte er verlegen - vor allem auch, weil er absolut keine Ahnung hatte, was er sonst sagen sollte.
 

Brad werkelte geübt mit der Kaffeemaschine herum, während er sich in Gedanken mit der unangenehmen Tatsache beschäftigte, dass er keinen Schimmer hatte, wovor der Junge solche Angst hatte. Vor ihm etwa? Oder war er nicht schwindelfrei und kam mit den Panoramafenstern nicht klar? Die Panik in seinen Augen war jedenfalls nicht zu übersehen.

Ihm wurde bewusst, dass er keine Ahnung davon hatte, wie er sich jetzt weiter verhalten sollte. Die Teams, in denen er gedient hatte, waren ja alle schon komplett gewesen. Wie man sich in den ersten Tagen miteinander verhielt – großes Fragezeichen.

Und wie war das überhaupt für Telepathen, die aus der relativen Einsamkeit der Hochalpen plötzlich in einer Großstadt landeten? Er konnte sich nicht vorstellen, was in seinem Kopf gerade vorging. Crawford hatte zwar schon mit Telepathen zusammen gearbeitet. Aber so gern diese auch die Gedanken anderer erkundeten – was ihre eigenen Gedanken anging, so hielten sie sich äußerst bedeckt.

Er stellte zwei Kaffeetassen auf den runden Esstisch, der am Fenster stand, und bedeutete dem Jungen, der schüchtern herumstand, sich zu setzen. Wenn es also Höhenangst war, würde sich das gleich klären.

„Wie trinkst du den Kaffee? Mit Milch? Zucker?“
 

Höhenangst hatte Schuldig nicht. Noch nie gehabt. Nein, ihn verunsicherte immer noch einfach die Größe der Räume und der Luxus, der hier herrschte.

Tief durchatmend schlich er auf den Tisch zu, spähte neugierig aus dem Fenster und setzte sich dann. Wenn er sich auf Crawford fixierte, würde ihn vielleicht seine Umgebung nicht ganz so erschlagen...

"Schwarz, danke", antwortete er leise auf die freundliche Frage hin und behielt seine Augen fest auf den großgewachsenen Mann gerichtet. Wenn er nicht gerade aus dem Fenster sah, weil ihn das Panorama mächtig beeindruckte.

Seine Barrieren waren hart nach oben gezogen, das war in diesem Fall überlebenswichtig für ihn, wenn er nicht durch die ganzen Gedanken allein der Menschen in diesem Haus hier wahnsinnig werden wollte. So bekam er auch von den Überlegungen des Amerikaners absolut nichts mit.

Neugierig schnupperte er, als ihm das volle Aroma des Kaffees in die Nase stieg. Mh, das schien etwas anderes zu sein als das, was er gewohnt war... Na, da war er jetzt aber mal gespannt. Er griff nach der Tasse, die Brad vor ihm abgestellt hatte, und trank einen Schluck - bei dem er sich prompt erst mal die Lippen verbrannte. Mit einem kleinen Fluch stellte er die Tasse wieder ab und starrte sie wütend an. Wieso war das Zeug so heiß?

Dann hob er den Blick wieder an, weiter ohne auf seine Umgebung zu achten, und sah den Schwarzhaarigen fest an.

"Wieso soll ich eigentlich japanisch lernen?", war das erste, das ihm zu fragen einfiel.
 

Jaja, er erinnerte sich gut an das lauwarme Gesöff im Institut, er hatte ja erst heute Nachmittag wieder das zweifelhafte Vergnügen gehabt.

Amüsierte beobachtete Crawford den Jungen, wie er erst an dem Kaffee schnupperte, sich dann die Zunge verbrannte und schließlich den Kaffee anstarrte, als könne er was dafür.

Very sweet. Ja, er war wirklich süß. Auch wie er hier so unsicher durch die Wohnung tappte… wie ein junger Hund, den man seiner Mutter entrissen hatte und zum ersten Mal allein in eine fremde Umgebung setzte…

Als Schuldig den Blick hob, bemühte sich Brad schnell wieder um eine ernstere Miene.

„SZ plant da eine größere Sache in ein paar Jahren“, erklärte er im Plauderton. „In Japan. Und ich habe vor, dabei zu sein. Das scheint das Ereignis des Jahrhunderts zu werden, so wie die Alten sich aufführen. Das lasse ich mir nicht entgehen. Und falls wir gut miteinander klar kommen, wirst du mich natürlich begleiten. Falls nicht – bist du um eine Fremdsprachenkenntnis reicher. Schadet ja nichts.“

Er hielt die Kaffeetasse fest mit den Händen umschlossen und genoss die Hitze, die seine Finger durchströmte. Auch er trank den Kaffee schwarz. Stark und schwarz.

„Wir sind von nun an ein Team. Und ich bin für dich verantwortlich. Also, wenn irgendetwas ist… wenn du was wissen willst, oder wenn du Hilfe brauchst, dann kannst du jederzeit zu mir damit kommen, klar?“
 

"Und in der Zwischenzeit bleiben wir hier in München?"

Bei dieser Frage schlug dem Telepathen das Herz deutlich im Hals. Oh Gott. So nahe an seiner Familie war er seit... damals nicht mehr gewesen. Etwa fünfzig Kilometer entfernt und doch unerreichbar weit weg.

Der Telepath seufzte und überlegte kurz. Ein Team mit dem Amerikaner. Japan - das andere Ende der Welt. Die Überraschungen schienen heute kein Ende mehr zu nehmen.

"Naja. Japanisch werde ich wohl erst in Japan lernen. Es sei denn, du bringst mich hier mit Japanern zusammen", meinte er nach einigen Sekunden des Schweigens. Es war keine Frage, dass er mit dem Amerikaner klar kommen würde. In dieser Hinsicht war er durch seine Ausbildung flexibel genug und konnte mit wem auch immer perfekt zusammenarbeiten, wenn er nur wollte.

Die nächsten Fragen drängten sich so schnell über seine Lippen, dass er erst merkte, dass er etwas fragte, als er sich selbst reden hörte.

"Und wann lernst du mir fahren? Krieg ich ein eigenes Auto?"
 

Crawford lachte leise über diesen Stimmungswechsel. Auf Schuldigs Frage, ob sie in München bleiben würden, hatte er nur genickt.

„Na, na. Kaum aus dem Nest gehüpft, und gleich ein eigenes Auto haben wollen? Zuallererst steht der Führerschein auf dem Programm, oder glaubst du, ich bin lebensmüde? Du gehst ganz normal zur Fahrschule. Die… Feinheiten des Fahrens werde ich dich lehren. Meinetwegen fangen wir morgen damit an. Und warum brauchst du Japaner? Kannst du nicht lesen?“

Davon hatte gar nichts in der Akte gestanden. Einen Analphabeten konnte er eigentlich nicht gebrauchen…
 

Der junge Telepath seufzte und bedachte den Amerikaner mit einem leicht gereizten Blick.

"Natürlich kann ich lesen", protestierte er gegen diese Frage. Was dachte sich der Andere denn eigentlich? Dass er doof war, oder was?

"Ich brauche Japaner, um japanisch zu lernen", erklärte er, als würde er einem kleinen Kind die Funktion eines Bilderbuchs erklären. Doch er ahnte schon, dass diese Aussage allein nicht reichen würde.

"Wenn die Menschen reden, haben sie Bilder zu den Worten in ihren Köpfen. Die hol ich mir zum Klang der Worte. Und so lerne ich Sprachen sehr schnell. Wozu soll ich also Wörterbücher wälzen?", gab er dann eines seiner kleinen, gut gehüteten Geheimnisse preis, ließ dabei aber den Kopf ein wenig hängen. Die ganzen Jahre hatte er diese Technik geübt und verfeinert und nun war er gezwungen, das zu verraten. Unfair. Ausgesprochen unfair, fand er.

Auf die zweite Aussage des Älteren hin schnaubte er ebenfalls ein wenig frustriert und verzog das Gesicht zu einer Schnute. Fahrschule... Das klang ebenfalls furchtbar anstrengend. Und langweilig.

Schuldig seufzte.
 

„Ach“, machte Crawford und beugte sich interessiert vor. „Das ist ja praktisch. Allerdings möchte ich, dass du die Sprache beherrschst, bevor wir mit irgendeinem Japaner zusammen treffen. Aber das ist kein Problem. Spreche ich eben von nun an Japanisch mit dir.“ Den letzten Satz sagte er schon in der fremden Sprache. „Allerdings wirst du nicht drum herum kommen, wenigstens die wichtigsten zweihundert Kanji zu lernen… sonst bist du womöglich in Japan tatsächlich ein Analphabet…“

Er nippte an seinem Kaffee. Er trank ihn am liebsten schön heiß.

„Wenn du Hunger hast, bedien dich ruhig. Allerdings ist im Moment nicht viel da. Müssen wir morgen alles besorgen. Du kannst hier alles benutzen – nur mein Zimmer ist tabu.“

Das konnte er nicht oft genug wiederholen. Seine Privatsphäre war ihm sehr wichtig.
 

Den Wechsel zwischen den Sprachen vollzog der Ältere so schnell, dass Schuldig im ersten Moment gar nicht reagierte.

"Okay", seufzte er dann. "Aber dann brauch ich einen permanenten Link zu dir, sonst klappt das nicht." Seine Augen leuchteten für den Bruchteil einer Sekunde urangrün auf, dann stand die Verbindung zu Brad, auch wenn Schuldig dabei so vorsichtig und sanft gewesen war, dass der Andere davon wahrscheinlich gar nichts mitbekommen hatte.

Noch antwortete er auf Englisch, da er ja erst die Grundkenntnisse der Sprache brauchte, um darauf aufbauen zu können. Aber er kannte sich - es würde unglaublich schnell gehen, bis er sich mit Crawford auf japanisch unterhalten konnte.

Die Sache mit den Kanji allerdings ließ ihn wieder das Gesicht verziehen. Er war klug und lernte schnell, aber er brauchte für so etwas oft genug einen Tritt in den Hintern. Von allein raffte er sich selten auf, um etwas zu lernen, eben weil ihm vieles einfach auch zuflog oder er es sich aus den Gedanken seiner Lehrer hatte holen können.

Probeweise nippte er nun auch noch einmal an seinem Kaffee und fand ihn trinkbereit, weswegen er einen großen Schluck nahm.

"Uhm... Einkaufen...", kam ihm unbewusst über die Lippen, als er die Tasse zurück auf den Tisch stellte. "Muss das sein?"
 

„Yes, muss sein. Ich werde nicht den Leibdiener für dich spielen. Wir sind hier nicht im Institut, wo für alles gesorgt ist.“ Sein Tonfall blieb locker und scherzend. Allerdings hatte er das Aufblitzen der Augen gesehen, und so mischte sich eine Spur Unruhe in die nächste Frage: „Einen permanenten Link? Und was bedeutet das im Klartext?“

Er mochte es nicht, konnte es noch nie leiden, wenn jemand seine Gedanken mitlas. Das war ein Gefühl… als hätte man einen Bandwurm, nur nicht im Bauch, sondern im Kopf. Crawford hatte natürlich noch keinen Bandwurm gehabt, aber so stellte er sich das vor – man wusste, dass da jemand in einem drin war, der da nicht hingehörte, und der mit aß.

Unangenehm auf jeden Fall.

Unangenehm und womöglich gefährlich.

Hieß es nicht so schön – die Gedanken sind frei… Nun, bei Rosenkreuz und bei SZ waren sie das nicht. Ein falscher Gedanke bei einer falschen Person gelandet – konnte einem den Kopf kosten.

Er versuchte, sich seine Nervosität nicht anmerken zu lassen. Auch wenn das vielleicht erst recht idiotisch war, wenn Schuldig schon in seinem Kopf drin war.

Also versuchte er stattdessen, sich zu entspannen. Dass er Rosenkreuz verabscheute, hatte er den Telepathen schließlich schon im Institut durch seine abfälligen Bemerkungen wissen lassen…
 

Schuldig bekam Brads Sorgen auf dem Silbertablett serviert, bevor der überhaupt noch wusste, dass er sich Sorgen machte. Er lachte leise und verzog sich aus den Bereichen, die ihn nichts angingen.

"Das bedeutet nur, dass ich mir das ansehe, was an Bildern in deinem Kopf abgeht, wenn du mit mir sprichst. Ich lasse alles andere in Ruhe, keine Angst." Ein kleines, leicht arrogantes Schmunzeln huschte über seine Lippen. Er wusste um die Angst der Psi-Begabten vor Telepathen. Das war eine Macht, die man nicht unterschätzen durfte. Aber er konnte den Älteren wirklich beruhigen.

"Weißt du...", begann er leise und wusste, dass er sich auf gefährlich dünnes Eis begab. "... mich interessieren deine Gedanken nicht. Es ist mir egal, wie deine Pläne aussehen, welche Geheimnisse du hast oder ob du Rosenkreuz magst oder nicht. Was ich durch Zufall aufschnappe, werfe ich sofort wieder aus meinem Kopf."

Er hoffte, dass das reichte, um den Anderen zu entspannen. Es war nicht so günstig für seine Zwecke, wenn Brad eine Art Schere im Kopf hatte, die die Bilder, die er brauchte, zerschnippelte. So konnte er nicht arbeiten. Da wäre die Mühe umsonst. Und es war ja auch für ihn anstrengend, sich dauernd in Brads Geist herumzutreiben. Eine so oberflächliche und doch gezielte Verbindung brauchte unglaublich viel Konzentration und er durfte sich keinen Fehler dabei erlauben.
 

„Na, das hoffe ich auch“, knurrte er unwillig. Dabei ließ er offen, was genau er damit meinte, Schuldig bekam es ja sowieso mit – er meinte alles! Dass er sich nur die „Bilder“ zu den Wörtern ansah. Dass er alles andere in Ruhe ließ. Dass ihn seine Gedanken nicht interessierten. Dass er alles Aufgeschnappte sofort wieder aus seinem Kopf werfen würde… haha, wer’s glaubt!

Er nahm noch einen Schluck Kaffee, versuchte sich weiter zu entspannen und schalt sich selbst (nicht ganz ernst gemeint) einen Schwachkopf. Früher oder später würden sie diesen Link einsetzen müssen, je eher sie das übten, umso besser. Und mit Üben meinte er nicht nur Schuldig. Brad musste sich auch daran gewöhnen. Er hatte nur nicht damit gerechnet, dass sie gleich am ersten Abend damit anfangen würden.

„Okay, okay.“ Er seufzte leise. „Wenn es denn der Sache dienlich ist, meinetwegen.“

Auf Schuldigs arrogantes Schmunzeln ging er nicht ein, auch wenn er es bemerkt hatte. Aber das war normal. Sie wurden darauf gedrillt, ihre Fähigkeiten einzusetzen, und jeder der Psi-Begabten war dem anderen in irgendeiner Form überlegen. Er selbst war ja auch nicht anders.

//Du weißt zwar, was ich denke//, dachte er. //Aber ich weiß, was du wissen wirst, und dann kann ich an was anderes denken, und dann weißt du gar nichts, ätsch!//

Er verschluckte sich fast an seinem Kaffee als er sich bei diesen kindischen Gedanken ertappte. Herrje! Das konnte ja noch heiter werden, wenn das so weiter ging…
 

Dieser Gedanke traf Schuldig wie ein Hammerschlag.

"Bist du albern", war seine verständnislose Reaktion darauf, die er mit einem Kopfschütteln unterstützte. Er hätte sich für diese Kinderei auch anders 'bedanken' können, mit einem mentalen Schlag nämlich. Aber das wäre dann doch zu krass gewesen.

Geräuschvoll schob er seinen Stuhl zurück und stand auf, starrte dann einen Moment lang den Älteren wütend an und fragte dann leise: "Wieso holst du dir einen Telepathen, wenn du ihm nicht traust? Sind für dich alle anderen auch nur 'Monster', die eigentlich aus dem Weg geräumt gehörten?"

Das war unfair und er wusste das eigentlich auch, doch der alte Frust, oft genug so betitelt worden zu sein, brannte noch in ihm. Und zwar viel zu heiß. Er war lange genug als Versuchsobjekt behandelt, als Monster betitelt und ausgestoßen worden. Eigentlich hatte er gedacht, in einem Team, bei seinem Leader, nicht auf diese Vorurteile zu stoßen. Doch da hatte er sich wohl geirrt...

Der Junge schob ordentlich den Stuhl zurück an den Tisch, wandte sich wortlos um und wollte in sein Zimmer gehen. Der Hunger, den er zuvor noch gehabt hatte, war ihm ordentlich vergangen.
 

Schnell stand Crawford ebenfalls auf und stellte sich ihm in den Weg. Auf keinen Fall wollte er, dass sie am ersten Tag so auseinander gingen.

„Du hast recht“, sagte er ernst und sah den anderen eindringlich an. Er sprach weiterhin Japanisch, ließ die mentale Verbindung zwischen ihnen also deutlich gewollt bestehen. „Das war albern. Ich… es ist ungewohnt für mich, und ich bin müde. Ich hätte das auch niemals laut ausgesprochen. Entschuldige.“

Er sprach diese Worte nicht aus Berechnung und suchte auch keinerlei Hinweise aus der Zukunft, welche Worte den Telepathen wieder beruhigen würden – er meinte es völlig ernst. Denn Schuldig hatte noch in anderer Hinsicht recht: Wenn Crawford damit nicht klar kam, musste er auf Telepathie im Team verzichten…

„Und nein – ich denke nicht, dass du ein Monster bist. Lass uns morgen weiter machen, okay? Wenn du mit mir nicht klar kommst – du kannst es dir immer noch anders überlegen.“

Er trat zur Seite und gab den Weg wieder frei.
 

Der Telepath blieb wie angewurzelt stehen, als Brad sich ihm in den Weg stellte. Äußerlich komplett gelassen, innerlich allerdings aufgewühlt, hörte er sich die Entschuldigung an, forschte dabei in den braunen Augen ebenso nach einer Lüge wie in den Gedanken des Anderen. Hätte er eine gefunden, wäre er auf der Stelle zurück zu Rosenkreuz gegangen. Unter solchen Umständen wollte er nicht arbeiten. Auf keinen Fall.

Doch er fand nichts als Ehrlichkeit bei dem Amerikaner. Zumindest im Bezug auf ihn.

Schuldig seufzte und ließ den Kopf einen Moment lang hängen.

"Wir müssen uns beide daran gewöhnen", murmelte er. Sich für seine harschen Worte zu entschuldigen, fiel ihm im Traum nicht ein. Dafür versuchte er sich an einem erneut wackligen Lächeln, das einmal mehr einfach nur unsicher ausfiel, aber auch seine Zuversicht ausdrückte. Er mochte den Schwarzhaarigen und glaubte fest daran, dass sie zusammenarbeiten konnten, wenn sie beide es nur wollten.
 

„Ja“, sagte Crawford knapp. „Dann gute Nacht. Morgen um neun möchte ich los fahren.“

Er ließ Schuldig stehen, ebenso wie seinen nicht ausgetrunkenen Kaffee und öffnete die Tür zu seinem Zimmer einen Spalt. Dann schleppte er den schweren Karton, den er vorhin einfach mitten im Wohnzimmer abgestellt hatte, in sein Reich und schob die Tür mit dem Fuß zu.

Den Karton ließ er neben dem riesigen Schreibtisch auf den Boden plumpsen und sich selbst in den bequemen Ledersessel, der am Fenster stand.

Puh!

Er nahm die Brille ab und rieb sich über die Augen. Er war wirklich müde. Und das eben war beinah schief gegangen. An seinem Sinn für Humor musste Schuldig noch arbeiten.

Er musste allerdings auch den Kopf über sich schütteln, was er da auf einmal für einen kindischen Scheiß zusammengedacht hatte. Er beruhigte sich damit, dass wohl jeder seine bekloppten Gedanken hatte – nur fiel einem das erst dann auf, wenn man einen empfindlichen Telepathen um sich hatte.

Nun gut. Er würde in Zukunft besser auf seine Gedanken acht geben. Das war eine sehr gute Übung.

Und er hatte über diesen Aspekt der Telepathie noch nie nachgedacht – dass es wahrscheinlich des Öfteren nicht so angenehm war, um die unausgesprochenen Worte der anderen zu wissen. Nicht umsonst gab es für normal Sterbliche den Unterschied zwischen dem, was man sagte und dem, was man sich lediglich dachte.

Crawford seufzte leise und rappelte sich aus dem Sitz wieder hoch, bevor er noch einschlief. Er trat an den Karton und holte die Bücher hervor. Auch ohne seine Brille erkannte er jedes einzelne. Das waren seine Schätze, die ihn bei Rosenkreuz davor bewahrt hatten, den Verstand zu verlieren. Sorgfältig sortierte er sie in sein Bücherregal, das fast eine ganze Wand einnahm. Alle Möbel waren aus dunklem Holz und schwarzem Leder, und die Bücher füllten das Regal bis unter die Decke. Beinahe zärtlich strichen seine Fingerspitzen über die Buchrücken. Da standen uralte Werke über Religion, Schöpfungsmythen und Märchen aus allen Ländern der Erde neben Büchern über außersinnliche Wahrnehmung, Astronomie, Biologie, Numerologie und Quantenphysik und noch vieles mehr. Auch wenn er nicht alles im Kopf hatte – er wusste immerhin, wo er nachlesen konnte!

Aber jetzt war er hundemüde. Er streifte nur die Schuhe von den Füßen, zog das Jackett aus und ließ sich aufs Bett fallen. Normalerweise schlief er nackt. Aber im Moment wäre ihm dabei nicht wohl. Er musste sich auch erstmal daran gewöhnen, seine Wohnung mit jemandem zu teilen.

Sobald er die Augen schloss, war er tief eingeschlafen.
 

Einen Augenblick lang stand Schuldig wie verloren da, ließ den Kopf wieder hängen und atmete tief durch. Dann hörte er das Schlagen von Brads Zimmertür, wandte kurz den Kopf in die Richtung und verzog das Gesicht leicht. Na, das hatte er ja mit Bravour versaut...

Geknickt schlich er zu seinem eigenen Zimmer, blieb einen Moment noch unschlüssig vor der Tür stehen, schalt sich dann einen Narren und betrat den Raum. Seufzend sah er sich um. Okay, es sah wirklich ... unpersönlich aus. Mehr als das. Karg. Das traf es wohl eher. Auf der anderen Seite war das nichts, was Schuldig nicht jahrelang schon erlebt hatte. Er hatte also keinen Grund, sich zu beschweren. Die Schlafcouch sah bequemer aus, als es seine harte Pritsche bei Rosenkreuz gewesen war, und das war doch auch schon eine Menge wert.

Sogar eine Decke und ein Kissen befanden sich darauf, die beide unglaublich kuschelig aussahen. Bezogen waren sie mit einem schwarzen Stoff, den der Telepath nicht einordnen konnte. Langsam ging er auf die Couch zu, strich mit den Fingerspitzen über die Decke und bekam große Augen. Weich. Glatt. Und kühl.

Unbewusst lächelte er leicht. Bestimmt würde sich das wunderbar auf der Haut anfühlen...

Probeweise setzte er sich auf die ausgezogene Couch und wippte ein wenig. Wow! Schuldig, der bisher einfach ein hartes Brett als Schlafunterlage gehabt hatte, war begeistert. Das federte ja sogar! Wie ein richtiges Bett!

Das Lächeln verstärkte sich und wurde zu einem breiten, fast schon glücklichen Grinsen. Er strampelte sich die klobigen Schuhe von den Füßen, riss sich die labbrige Jeans von den Beinen und zerrte das ausgeleierte Shirt über den Kopf. Mit einem freudigen Glucksen sprang er ins Bett - wortwörtlich. Die Federn quietschten ein wenig, doch sogar das entlockte dem jungen Telepathen ein erfreutes Kichern. Mit einem wohligen Seufzen kuschelte er sich in den kühlen Stoff, der sich wohl auch in der Nacht nicht sonderlich erwärmen würde, wie er vermutete. Aber das war wirklich nicht schlecht, immerhin war es Sommer und die Temperaturen entsprechend.

Eigentlich hatte der Junge erwartet, ziemlich lange wach zu liegen, nach all dem, was heute geschehen war. Doch als er sich die Decke bis zur Nasenspitze zog, so dass nur noch die wilde, orange Mähne herauslugte, merkte er, wie müde er doch eigentlich war. Und obwohl er schon fast im Halbschlaf war, zog er aus reiner Gewohnheit seinen Schutzschild so hoch, dass nichts und niemand eine Chance hatte, ihn mental zu erreichen. Es war wirklich eine Wohltat, wenn einem seine Gedanken nur selber gehörten...

Er ruckelte sich zurecht, kuschelte sich noch tiefer in das Kissen, und schlief ein.

Überraschenderweise war sein Schlaf so fest, dass er tatsächlich bis zum nächsten Morgen völlig ungestört durchschlief.
 

Brad wachte früh auf.

Obwohl es nach zwölf gewesen war, als er sich hingelegt hatte, zeigte der Wecker erst fünf Uhr an und zeugte von Brads innerer Nervosität, die er nach außen hin so gut zu verbergen wusste. Von der Effektivität seines Teams hing viel ab. Es würde nicht genügen, zweitklassige Arbeit zu liefern, wenn er in Japan eingesetzt werden wollte.

An erneutes Einschlafen war nicht zu denken.

Seufzend erhob er sich, schlüpfte aus seinen Sachen und in den Trainingsanzug und tappte, nach einem kurzen Abstecher ins Bad, durch die vom ersten sanften Morgenlicht matt erhellte Wohnung in den Sportraum. Es war so still, als hätte er das Apartment noch für sich.

Ein Glück – Schuldig schien nicht zu schnarchen!

Eine viertel Stunde Joggen auf dem Laufband mit Blick auf den rot gefärbten Himmel, danach bearbeitete mit kräftigen Schlägen den Sandsack, bis ihm der Schweiß durch das Gesicht lief und sein T-Shirt dunkel färbte. Danach dehnte er gründlich alle wichtigen Muskelgruppen, bevor er in der Küche ein riesiges Glas Leitungswasser leer trank und anschließend im Bad verschwand, um zu duschen und sich zu rasieren.

Inzwischen war es halb sieben.
 

Das Geräusch des prasselnden Wassers aus der Dusche holte den Telepathen aus dem Schlaf. Er setzte sich auf, rieb sich verschlafen die Augen und sah sich anschließend um, weil er im ersten Augenblick nicht wusste, wo er überhaupt war. Als ihm wieder einfiel, was geschehen war, schwang er gähnend die Beine über die Bettkante und rappelte sich wenig schwungvoll in die Höhe. Gott, er hatte morgens immer eine immens lange Anlaufzeit...

Nur in Shorts bekleidet, in denen er geschlafen hatte, tappte er aus dem Zimmer, wuschelte sich dabei erneut gähnend durch die Haare und brachte so seine Mähne noch mehr in Unordnung.

Sein erster Weg führte ihn in die Küche. Kaffee. Ohne ging gar nichts bei ihm. Ein wenig ratlos sah er sich in der Küche um. Klar, wie eine Kaffeemaschine funktionierte, war ihm im Prinzip klar. Wo der Amerikaner allerdings die Filter und das Kaffeepulver versteckt hatte, war das viel größere Problem. Durch die Schränke wollte sich der Junge nämlich nicht unbedingt wühlen müssen...

Leicht genervt seufzend stützte er sich auf der Arbeitsfläche ab und bedachte die Maschine mit einem todbringenden Blick. Was das Gerät allerdings nicht im Mindesten beeindruckte.
 

Ein Handtuch um die Hüften geschlungen, kam Brad aus dem Badezimmer. Er war frisch rasiert, aber seine schwarzen Haare standen noch nass in alle Richtungen vom Kopf ab. Das und die Tatsache, dass er seine Brille nicht trug, ließ ihn mit einem Mal um Jahre jünger erscheinen. Er war schon halb an ihm vorbei, bevor er Schuldig bemerkte.

„O-hayô gozai-mass“, begrüßte er ihn mit einer leichten Verbeugung. „Schön, dass du schon wach bist.“ Naja, sehr wach wirkte er allerdings nicht, wie er da so über der Arbeitsplatte hing und die Kaffeemaschine anstarrte. „Der Kaffee ist im Schrank über der Maschine“, fügte er noch hinzu, während er sich schon wieder abwandte, um in seinem Zimmer zu verschwinden. Er steckte noch einmal den Kopf raus: „Ach, und im Bad steht ein Wäschekorb für die schmutzige Wäsche. Die Putzfrau nimmt sie zweimal die Woche mit. Obwohl… du kannst deine Sachen auch weg schmeißen, wenn du willst. Kriegst heut eh neue.“

Und dann war Schuldig auch schon wieder allein, als sich die Tür schwungvoll hinter dem Amerikaner schloss.
 

"Ohayoo", gab der Telepath ganz automatisch zurück, ohne dass es ihm bewusst auffiel. Aber das war das beste Zeichen dafür, dass seine Taktik aufging. Ebenso unbewusst stellte er die Verbindung zwischen ihnen wieder her und blinzelte danach müde den besagten Küchenschrank an. "Hai", murmelte er, öffnete das Fach und holte den Kaffee heraus. Nachdem er nicht so wirklich wusste, wieviel Pulver zu wieviel Wasser gehörte, machte er den Filter fast voll und gab dann eine dreiviertel Kanne Wasser in den Tank, drückte auf den roten Knopf und wartete mit wachsender Begeisterung, bis die ersten, schwarzen Tropfen in die Glaskanne platschten.

Na, der Kaffee würde wohl auch ohne ihn durchlaufen...

Schuldig tappte ins Bad, zog sich die Shorts aus und stellte sich unter die Dusche, aus der - oh Wunder! - sogar auf Anhieb warmes Wasser kam. Es dauerte keine fünf Minuten, bis er fertig gewaschen wieder aus der Duschwanne kam und sich in ein großes, weiches Handtuch hüllte. Mit einem leisen Seufzen hob er die Shorts auf, die er nur auf den Boden fallen lassen hatte, und nahm sie mit in sein Zimmer. Na, wenn er neue Klamotten bekam, würde er die hier auch nicht mehr brauchen... In Gedanken stellte er sich schon vor, was der Amerikaner für ihn aussuchen würde - und verzog das Gesicht bei der Vorstellung, in Zukunft in Anzügen herumlaufen zu müssen. Naja. Auch das würde er überleben...

Noch halb feucht, weil er sich nur flüchtig abgetrocknet hatte, schlüpfte er in frische Shorts, zog die Jeans wieder an und nahm sich ein Shirt aus der Tasche. Einen Moment lang betrachtete er es zweifelnd, dann zog er es sich über die nassen Haare. Ein wenig mutlos sah er an sich hinab. Die weiten, ausgeleierten Kleider verdeckten wenigstens, wie dünn er eigentlich war. Auch ein Vorteil...

Nicht so ganz von sich überzeugt schlurfte er zurück in die Küche, um endlich an seinen Kaffee zu kommen. Das Wasser aus seinen Haaren zog nasse Spuren über das Shirt und tropfte schließlich auf den Boden und markierte so seinen Weg in die Küche.
 

Crawford kam fast zeitgleich aus seinem Zimmer wie Schuldig, jetzt wieder adrett in Hemd und Bügelfaltenhose, mit Brille und gekämmtem Haar. Allerdings standen die oberen beiden Knöpfe offen, und auf eine Krawatte verzichtete er auch – für seine Verhältnisse war er also durchaus leger gekleidet.

Missbilligend betrachtete er die dicken Tropfen, die Schuldig quer durch die Wohnung hinterließ, aber er verzichtete auf einen Kommentar. Er machte sich lediglich in Gedanken eine Notiz, dass die Reinemachefrau von nun an eventuell öfter kommen musste.

Dafür schmeichelte sich der köstliche Duft von frischem Kaffee in seine Nase. Das WG-Leben schien also durchaus auch seine guten Seiten zu haben.

Er griff in den Schrank, holte einen Topf hervor und ließ Wasser hinein laufen.

„Es ist nicht viel da, aber für eine Misosuppe zum Frühstück reicht es. Möchtest du?“
 

Schuldig goss sich gerade eine Tasse mit Kaffee voll, als plötzlich Brad wieder hinter ihm stand. Er zuckte ein wenig zusammen und blinzelte den Älteren dann an.

"Was ist Misosuppe?", fragte er neugierig, während er mit der Tasse in der Hand zum Esstisch hinüberwanderte und sich auf einen der Stühle setzte. Eine kurze Weile betrachtete er den Amerikaner und fragte sich dabei einmal mehr, ob es nun auch seine Pflicht sein würde, in derart steif aussehenden Klamotten herumzulaufen.

Leise seufzend trank er einen Schluck, beobachtete den Älteren aber weiter über den Rand der Tasse hinweg. Naja. Eigentlich sah das ja gar nicht so schlecht aus. Oder besser: Brad sah gar nicht so schlecht aus... Mit einem vernehmlichen Klacken stellte er die Tasse auf den Tisch und schüttelte über sich selbst den Kopf. Was war das denn auf einmal für ein Mist? Solche Sachen hatte er noch nie zuvor gedacht - und er würde sicher jetzt nicht damit anfangen.
 

„Misosuppe ist…“ Wie sollte er das beschreiben? „… japanisch.“

Er füllte Wasser für zwei Portionen in den Topf und stellte ihn auf den Herd.

„Probier’s einfach.“

Er griff in das Gefrierfach über dem Kühlschrank, holte eine Tüte mit Tiefkühlgemüse heraus und kippte Blumenkohl, Möhren und Brokkoli zu dem Wasser. Den Rest verstaute er wieder sorgfältig.

Dann schenkte er sich ebenfalls eine Tasse Kaffee ein, und wollte gerade einen Schluck nehmen, da warnte ihn seine innere Stimme vor einem ungenießbaren bitteren Geschmack im Mund. Kritisch beäugte er das tiefschwarze Getränk, das aussah, als könnte man damit Komapatienten wiederbeleben. Er beschloss, das seinem Magen nicht anzutun, stellte die Tasse wieder hin und befüllte den Wasserkocher.

„Schmeckt dir der Kaffee so?“ fragte er dabei beiläufig, aber mit ehrlichem Interesse in der Stimme.
 

Na, dann würde er sich wirklich mal überraschen lassen müssen. Das, was Crawford aus dem Gefrierfach holte, sah auf jeden Fall schon mal schrecklich gesund aus. Schuldig überlegte. Suppe zum Frühstück. So was konnte echt nur Japanern einfallen. Zu diesem Schluss kam er jedenfalls, bevor ihn Brads Frage aus der Überlegung riss.

"Hä?", meinte er ein wenig verwirrt, nippte nochmal von dem Kaffee, der der Beste war, den er jemals getrunken hatte.

"Ja. Schmeckt", nickte er bekräftigend. "Warum?"
 

„Okay…“, machte Crawford und zog das Wort in die Länge wie einen Kaugummi. „Wenn ich den so trinke, schlafe ich die nächsten drei Nächte nicht, glaub ich…“

Er kippte die Hälfte seines Kaffees in den Ausguss und füllte die Tasse dann wieder auf mit dem heißen Wasser.

Toll, dachte er. Der Junge schafft es am ersten Morgen, dass ich mich wie ein Opa fühle.

Das Bild einer uralten Frau mit weißem Haar und tausend Falten im Gesicht tauchte in seinem Kopf auf, die den Kaffee stets mit Wasser verdünnt hatte, und er verdrängte den Gedanken an sie rasch wieder.

Er wartete noch, bis die Suppe anfing zu köcheln, drehte die Temperatur herunter, tat einen Deckel auf den Topf und setzte sich dann mit seiner Kaffeetasse zu Schuldig an den Tisch.

„Und? Hast du dir schon überlegt, was du für dein Zimmer noch brauchst?“
 

Dieses 'Geständnis' brachte den jungen Feuerkopf zum Lachen und wieder einmal entspannte er sich zusehends.

"Na, dann weißt du ja jetzt, an wen du dich wenden musst, wenn du mal durchmachen willst", schmunzelte er. Doch schon im nächsten Augenblick verschwand das strahlende Lachen von seinem Gesicht und machte einmal mehr einem verlegenen und unsicheren Ausdruck Platz.

Er holte tief Luft und ließ dann seufzend die Schultern hängen.

"Ich hab keine Ahnung, was ich brauchen könnte. Ein Bett ist da, ein Tisch ist da... Vielleicht noch einen Schrank...?" Die letzten Worte kamen leise und fast unverständlich über seine Lippen. Schuldig schaute von unten her durch seine Ponysträhnen, die ihm über die Augen fielen, in Brads Gesicht auf und machte sich schon innerlich auf einen Anpfiff gefasst, dass es kein Schrank sein musste, sondern ein Regal auch reichte...
 

Was hatte er denn jetzt schon wieder falsch gemacht, fragte sich Brad ratlos, als er die plötzliche Unsicherheit bemerkte.

„Okay… Ein Schrank. Und was noch?“

Er dachte an Schuldigs zellenartiges Zimmer bei Rosenkreuz, und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Der Junge hatte tatsächlich keine Ahnung, womit er sein Zimmer füllen sollte!

„Weißt du was – wir gehen einfach zusammen durch das Möbelgeschäft, dann fällt dir vielleicht noch was ein“, schlug er vor. „Ansonsten eilt das ja auch nicht. Ich wollte nur…“ Er stockte kurz, dann zuckte er innerlich die Schultern und sprach den Satz dann doch zu Ende. Schließlich würde Schuldig merken, wenn er etwas anderes sagen würde als das, was er gedacht hatte. „Ich will, dass du dich hier wohl fühlst.“
 

Wie bitte? Ruckartig hob Schuldig den Kopf und sah ernst und in gewisser Weise auch lauernd in das Gesicht des Älteren. Nur mit viel Mühe hielt er sich davon ab, sofort im Gedächtnis des Anderen nach einer Lüge zu suchen. Nein. Wenn sie zusammenarbeiten wollten, sollten sie lernen, sich zu vertrauen. Auch wenn das dem Telepathen schwer fiel.

In seiner Miene spiegelte sich Neugierde, gemischt mit Vorfreude und einer kleinen Prise Furcht vor dem, was auf ihn zukommen würde. Dann hob er die Mundwinkel an, in dem Versuch, ein wenig ablenkend zu lächeln.

"Ich fühle mich hier wohl", nuschelte er dann und konnte dabei nicht verhindern, dass sich seine Wangen rot verfärbten und seine Augen regelrecht zu strahlen begannen.

"Ich bin fertig, wenn du dann los willst."
 

„Moment, Moment!“ Crawford lachte leise. „Erst wird gefrühstückt.“

Essen schien dem Jungen nicht so wichtig zu sein. Vorhin, ohne Brille, hatte Crawford ihn nicht so genau ansehen können, aber auch in angezogenem Zustand konnte man erahnen, wie dünn er war. Crawford war aber wichtig, dass er ordentlich versorgt war, sonst würde er auch keine ordentliche Arbeit leisten können.

Und außerdem hatte er selbst nach seinem morgendlichen Training richtig Kohldampf!

Er stellte zwei Essschälchen auf den Tisch, daneben legte er sorgfältig jeweils ein paar Stäbchen. An Schuldigs Platz legte er noch einen Löffel dazu.

Dann nahm er das Miso aus dem Kühlschrank, stellte den Herd ab und rührte zwei Esslöffel der dunklen Paste in die Suppe, die er anschließend in die Schälchen füllte.

„Itadakimass“, sagte er, bevor er die Stäbchen griff und damit die Gemüsestücke aus der Suppe fischte.
 

Frühstück? Naja, wenn es denn sein musste... Aufmerksam beobachtete Schuldig, wie Brad den Tisch deckte, und runzelte beim Anblick der Stäbchen leicht die Stirn. Ganz toll... Ihm war klar, dass er auch das lernen musste, um sich nicht ganz zu blamieren, wenn er irgendwann mit dem Amerikaner in Japan sein würde. Tz, da hatte er gedacht, wenn er erst einmal von Rosenkreuz weg sein würde, hätte sich die Lernerei erledigt. Von wegen. Sie hatte sich nur auf ein anderes Level verlegt.

Ein seltsamer Geruch drang von der Kochzeile zu ihm herüber und der Telepath schnupperte misstrauisch. Das roch komisch... Okay, dagegen war eigentlich nichts einzuwenden, aber... irgendwie...

Skeptisch beäugte er die Schüssel, die der Ältere vor ihm abstellte, sah dann fragend auf. Als Brad ihn ansprach, holte er sich die erwartete Antwort ganz einfach aus dessen Kopf: "Itadakimasu!" Dann griff er nach den Stäbchen, indem er sie so in die Hand nahm, wie er es bei seinem Gegenüber sah, und versuchte ebenfalls, sich ein Stückchen Gemüse zu angeln. Ganz so einfach, wie es aussah, war es nicht, aber in solchen Dingen hatte der Telepath eine schier unglaubliche Geduld. Stolz schob er sich das erste Stück in den Mund, kaute darauf herum - und musste sich beherrschen, um es anschließend nicht einfach über den Tisch zu prusten. Das. War. Widerlich. Ein anderer Ausdruck fiel ihm dafür nicht ein.

Angespannt und sehr tapfer schluckte er das kleine Stück Gemüse, sah dann leicht verzweifelt zu dem Älteren und fragte wehleidig: "Was genau ist das jetzt?"
 

Crawford kaute genüsslich auf seinem Gemüse und schlürfte zwischendurch die Suppe direkt aus der Schale, wie das in Japan üblich war.

Unbeeindruckt beobachtete er, wie Schuldig sich erst mit den Stäbchen abmühte, nur um dann als zweifelhaften Lohn vor Abscheu das Gesicht verziehen musste.

„Miso ist eine Paste aus fermentiertem Getreide. Sehr gesund. Aber du kannst auch nachher in der Stadt was anderes essen.“

Wenn er allerdings die japanische Küche generell nicht mochte, würde er in Japan ein Problem haben… Oder sie wären Stammgäste bei McDonalds.
 

"Aha", machte der Telepath ein wenig irritiert, gab sich einen innerlichen Ruck und der Suppe eine zweite Chance. Doch auch da schmeckte es nicht wesentlich besser als beim ersten Mal. Er legte die Stäbchen beiseite, schlug die Beine übereinander und widmete sich ausschließlich seinem Kaffee. Das reichte ihm vollkommen.

"Isst du das oft?" erkundigte er sich vorsorglich, um sicherzustellen, dass er in diesem Haushalt nicht verhungern musste, sollte so etwas öfter auf dem Speiseplan des Amerikaners stehen. Die Alternative, in der Stadt etwas zu essen, war wirklich hervorragend. Und vor allem würde er da dann wohl auch Hunger haben - was er jetzt noch absolut nicht hatte.
 

„Ja. Schon. Irgendwie habe ich mir das in den letzten Monaten so angewöhnt – ich bin ja erst seit zwei Wochen wieder in Europa. Aber das heißt natürlich nicht, dass du das auch essen musst“, fügte er noch schnell hinzu.

Er schlürfte den Rest Suppe aus, trank den Kaffee leer und stand auf.

„Gut, dann können wir ja jetzt los.“

Vorher allerdings räumte er noch sein Geschirr in die Küche. Er mochte es gern ordentlich. Und bislang war das ja auch kein Problem gewesen…



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