Zum Inhalt der Seite

Die innigste Weise

menschlichen Zusammenseins
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

farewell

Die innigste Weise menschlichen Zusammenseins
 


 

Eigentlich wollten Paul und Eddie nur zusammen wegfahren. Weg. Raus aus dem Kuhdorf, das ihnen mehr wie ein Gefängnis vorkam, weniger wie Heimat.

Für Paul war Heimat sowieso etwas völlig anderes, als für Eddie. Denn egal was war, Paul liebte sein Kuhdorf, er liebte die Erdbeerfelder im Sommer, die Weinberge, die ihn von allen Seiten her beschützten, die Sonne, wie sie hinter den Wäldern verschwand.

Eddie aber.

Eddie war erst mit sechzehn hergezogen, von der Großstadt aufs Land und bis heute, bis jetzt drei Jahre später, vermisste er alles. Alles, was mit Straßenlärm und Stau in der Innenstadt und flirrender Sommerhitze zu tun hatte. Sie konnten stundenlang darüber streiten.

Auch heute, heute sowieso.

Der kleine Ausflug entpuppte sich als heillose Katastrophe.

Sie saßen im Wagen und schwiegen sich an, Pauls Blick war stur auf die Straße gerichtet, er weigerte sich, Eddie auch nur aus dem Augenwinkel anzusehen. Der Scheibenwischer fegte im gleichmäßigen Rhythmus die Regentropfen vom Glas, aber trotzdem verschwamm die Welt irgendwie.

Regen. Selbst darüber waren sie geteilter Meinung.

Noch fester umklammerte Paul das Lenkrad, und genauso fest presste er die Lippen aufeinander. Er dachte an die letzten Tage. Wie alles den Bach runter ging, wie der Himmel ihnen auf den Kopf zu fallen schien. Und jetzt regnete es, wie passend.

„Paul“, sagte Eddie. Wahrscheinlich wollte er versöhnlich klingen, aber er wollte es nicht genug. In Pauls Ohren hörte es sich genervt an.

Er reagierte nicht, seine Finger tasteten blind nach dem Radio, er stellte die Musik lauter, inklusive Hintergrundrauschen. Es war ein altes Gerät.

„Paul!“ Jetzt klang er absichtlich genervt. Und er wurde lauter. Eddie mochte Pauls Musik nicht, er ertrug sie nur, weil Paul dafür mit ihm hirnverbrannte Horrorfilme guckte.

Das war der Kompromiss.

„Weißt du“, rief Eddie über das Radio hinweg, Paul drehte noch weiter auf. „Ich hab gedacht, du wärst der Vernünftige hier!“

Am liebsten hätte Paul gelacht. Lauthals.

Nur war nichts zum Lachen zurzeit. Nichts, es war Heulstimmung, es war Sichverkriechenwollen.

Eddie wollte anscheinend noch etwas sagen, er wollte ganz sicher noch viel mehr sagen. Schreien. Fürs Erste kam er nicht dazu.

Das Auto stotterte, ruckelte. Nein, bitte nicht heute, nicht jetzt. Blieb stehen.

Keine Kraft mehr.

„Hast du getankt?“

Paul ließ den Kopf wortlos aufs Lenkrad sinken, der Gurt schnitt ihm in die Schulter. Zum Heulen zumute, ja.

„Ob du get-…“, fing Eddie noch mal an, verstummte aber, als Paul ihn ansah. Ihn tatsächlich ansah, mit einem Blick, der an einen wütenden Panther erinnern sollte.

Blitzend. Grün.

Mehr taten sie nicht. Saßen da und es war still zwischen ihnen, bis auf das Radiorauschen, das jetzt Alleinunterhalter spielte, ohne Musik.

Der Regen prasselte aufs Dach.

Vermutlich sollten sie den Pannendienst rufen. Dachte Paul, weiter nichts. Er dachte es nur. Es wäre Aufgeben gewesen. Kapitulation, in mehr als einer Hinsicht.

Pannendienst. Weil die für die Scheißpanne, die hier die eigentliche Rolle spielte, auch nichts tun konnten.

Die Scheißpanne, die ihre Beziehung darstellte, so sah’s aus.

„Ich kann nicht mehr, Ed“, sagte Paul leise. So leise, dass Eddie es vielleicht gar nicht gehört hatte. Und erst recht nicht verstanden.

Eddie drückte nur mit angepisster Miene den Knopf am Radio und plötzlich war es wirklich unheimlich still im Wagen. Nur der Regen. Und Eddie und Paul und die leisen Atemgeräusche und die verwirrten Herzschläge.

Bummwumm. Wummbumm.

„Und ich hab keinen Bock mehr“, brummte Eddie.

Ed. Paul sagte nur Ed zu Eddie, wenn es wichtig war. Wenn er es ernst meinte. Wenn Eddie zu sehr nach dem pubertären Teenager klang, den er damals kennen gelernt hatte.

Damals. Gott, diese drei Jahre kamen ihm vor wie eine Ewigkeit.

„Ich kann nicht mehr“, wiederholte Paul. „Es klappt nicht mehr.“ Er sagte das ganz schlicht, ganz vernünftig, eine Tatsache.

Und es tat trotzdem so scheiße weh. Allein das.

Er sah Eddie an und dieses Mal war er derjenige, der wegsah. Starrte auf die tränenregennasse Welt auf der anderen Seite der Windschutzscheibe. Ja, starrte. Er sah so fertig aus wie Paul sich fühlte.

„Ich hab es so satt“, nuschelte er irgendwann, als Paul schon glaubte, er würde überhaupt nichts mehr sagen.

„Was?“

„Alles. Die ewigen Kompromisse und verfluchten Streitereien. Ich hasse Streit.“

„Du liebst Streit“, stellte Paul fest, lächelte fast ein bisschen. Eddie ging keinem Zoff, keinem blauen Auge, keiner Diskussion aus dem Weg. Er hatte nie einen direkteren Menschen getroffen. Einen ehrlicheren.

„Ich hasse Streit mit dir“, verbesserte Eddie. Mit harter Stimme. Harte Stimme mit weichem Zittern. Paul wusste, warum er ihn nicht ansah. „Ich hasse, dass du keinen Fisch magst, aber Schokoladeneis zum Frühstück. Ich hasse deine Blicke, wenn ich einem anderen hinterher schaue…“

Jetzt zögerte er. Schniefte. Ganz, ganz leise.

„Am Anfang war das nicht so!“

„Wir waren sechzehn, Ed“, sagte Paul. Sah zu, wie die Tropfen einander jagten, ein Wettrennen auf dem Glas. „Mit sechzehn sieht noch alles einfacher aus. Noch so viel besser.“

„Manchmal will ich wieder sechzehn sein.“

„Ich auch.“

Wieder Schweigen. Dieses Mal war es angenehmer, nicht mehr ganz so geladen. Gerade taten sie das, wovor sie seit Wochen, Monaten davonrannten. Aus Angst.

Sie redeten. Irgendwie.

Paul spürte die Luft kribbelig auf seiner Haut.

„Ich hasse die Blicke“, meinte er irgendwann. „Die Blicke, die sie uns zuwerfen. Das Gerede. Ich hasse es, dass ich mein Zuhause verloren hab.“

„Meinetwegen.“

Darauf erwiderte Paul nichts. Was auch? Es stimmte ja irgendwie. Wäre Eddie nicht gewesen, vielleicht hätte er sich nie…

Das war Unsinn und das wusste er auch. Aber der Gedanke war da.

Wäre Eddie nicht gewesen. Dann würde er noch mit seiner Mutter reden. Dann würden seine Schwestern ihn nicht behandeln wie ein rohes Ei. Dann…

Aber Eddie war nun mal gewesen. Er hatte sich nun mal verliebt in diesen Schwachkopf, in diesen verdammt egoistischen Macho. Mit seinen Locken, den Wunderaugen, den Lachfalten.

Mit all seinen verdammten Fehlern. Die ihn heute nur noch ankotzten.

„Es ist vorbei, hm“, machte Eddie.

Er sah Paul an. Endlich. Unendlich.

Das war es wohl.

„Ich hab Angst.“ Seine Stimme war so dünn. Paul streckte die Hand nach seinem Gesicht aus, strich mit rauen Fingern über die Nase, das Kinn, die Ohren.

„Ich auch.“

„Freunde bleiben ist nicht, oder?“, fragte Eddie, aber wieder war es nur eine Feststellung, wieder war die Antwort so klar, dass Paul nur stumm den Kopf schüttelte.

Keine Freunde.

Sie waren ja gerade daran zerbrochen. An dem Nichtfreundeseinkönnen. Obwohl sie es versucht hatten. So sehr, so sehr.

Eddie legte seine Hand auf Pauls, schloss die Augen. Seine langen Wimpern berührten Pauls Daumen, fast unmerklich.

Schmetterlingskuss. So nannte man das doch, oder?

Denken tat weh, tat ihm nicht gut. Er zog die Hand weg und Eddie sah ihn wieder an.

Was sollten sie jetzt tun.

Paul wusste es nicht, wusste nichts mehr. Er wusste noch, dass er sich in Eddie verliebt hatte, weil sein Lachen so toll war, weil er ihn zum Lachen brachte. Er wusste aber nicht, warum das auf einmal nicht mehr genug sein konnte.

„Rufst du jemanden an, zum Abschleppen?“, fragte Paul. An jedem anderen Tag hätte Eddie einen Spruch auf den Lippen gehabt, frech schief grinsend. Heute nickte er nur.

Während Eddie mit dem Kerl vom ADAC sprach, sah Paul aus dem Fenster. Es war so grau da draußen, so trostlos. So passend.

Als es plötzlich wieder still wurde im Wagen, hielt er es nicht mehr aus, riss die Tür auf und stolperte in den Regen hinaus. Er hörte, wie die Beifahrertür ebenfalls zuschlug, hörte Eddies Schritte auf der nassen Straße.

Es war kalt. Arschkalt. Aber auf diese Art konnte niemand die Tränen sehen. Konnte Eddie die Tränen nicht sehen, sein Gesicht wurde überströmt vom Wasser aus den Wolken.

Jetzt durfte er nur nicht reden. Seine Stimme klang scheiße, wenn er heulte. Heulte wie ein kleines Kind, wie ein Mädchen, und ,verdammt noch mal, das war er nicht. Weder noch.

Paul wollte stark sein in diesem Moment, wollte kalt sein und unnahbar. Wollte, dass es ihm nichts ausmachte.

Tja.

Eddie legte erst einen Arm um seine Schultern, zog ihn dann zu sich heran. Paul spürte die rauen Hände unter seinem durchweichten T-Shirt, sie schoben sich über seinen Rücken. Und Eddies Kopf lag auf Pauls Schulter.

Er weinte. Auch.

„Es… hätte sowieso nicht funktioniert“, nuschelte Eddie kaum hörbar. „Ich in Köln und du… und du.“

Ein abgeschlossener Satz. Und du.

Das Leben. War ein Mistkerl. Erst setzte es sie zusammen auf diesen Weg, und jetzt. Jetzt standen sie auf dieser gottverlassenen Kreuzung in dem Wissen, dass es sie in unterschiedliche Richtungen führte.

Jeder für sich. Allein.

Fürs Erste.

„Macht es das einfacher?“, murmelte Paul. „Was wäre, wenn…“

Eddie ließ ihn nicht ausreden. Presste ihre Lippen aufeinander. Kollision. Der letzte Aufschrei, verzweifelt. Verloren.

Sie hatten sich schon millionenmilliardenmal geküsst. Und noch öfter. Paul erinnerte sich an den ersten Kuss, an das vorsichtige Herantasten, an das schnelle Mund auf Mund. Er erinnerte sich an das nervöse Flatterherz in seiner Brust. Dieses Herz hatte nie aufgehört zu schlagen. Zu schlagen für jeden dieser Küsse, für Eddie.

Aber da waren auch andere Küsse gewesen. Solche wie dieser. Ein krampfhaftes Festhalten, ein wildes Hasslieben, grinsend tötende Münder.

Die gleiche Intensität, das gleiche Verlangen, dieselbe Hitze. In der Brust, überall.

Nur die Tränen waren neu.

Hitze.

Sie hatten sich geliebt. Nach jedem Streit, jedes Mal, war es darauf hinausgelaufen. Sie hatten sich geliebt. Glühend und frei und wütend. Danach war es besser gewesen, danach hatten sie sich verzeihen können und die anderen Küsse waren wiedergekommen.

Dieses Mal würden sie das nicht.

Paul schob ihn auf die Rückbank, beugte sich über ihn. Es war eng, so wenig Platz, aber das war egal. Ihre Gefühle, all das Schlechte, sprengten den Raum. Okay.

Es war das Letzte Mal. Und das Auto war sowieso kaputt.
 

Abschied.
 

Ist immer ein wenig Sterben.
 

*******
 

[Zitat im Titel: „Abschied = Die innigste Weise menschlichen Zusammenseins.“ (Hans Kudszus)]
 

[Zitat am Schluss: „Abschied ist immer ein wenig Sterben.“ (aus Frankreich)]



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (2)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  _t_e_m_a_
2010-12-23T15:00:57+00:00 23.12.2010 16:00
du hängst an happyend-losen storys, oder?
ich werd noch ganz depri, wenn ich alle deine ffs an einem stück lese xD
wirklich tiefgreifend...
Von:  kobito
2010-12-13T15:24:18+00:00 13.12.2010 16:24
Wow. Also echt...ich konnte alles richitg mitfühlen. *snief*
Toller Schreibstil und echt wunderbar-traurige Geschichte.
Gefällt mir wirklich, wirklich gut. =)
glg kobito


Zurück