Irgendwie
Irgendwie
~ It's nice to know you ~
„Du bist wirklich unglaublich, weißt du das?“
„Ja, schon. Trotzdem Danke für das Kompliment.“
„Das war keins.“
„Schon klar.“
Mihawk seufzte geschmerzt. Es war völlig sinnlos, sich noch etwas vormachen zu wollen, es war vielmehr Zeit, den unumstößlichen Tatsachen ins Auge zu sehen: Sein Schiff war gesunken. Und er saß gottverlassen auf irgendeinem Felsen mitten im Ozean fest. Wobei gottverlassen nicht ganz korrekt war, immerhin hatte er Gesellschaft. Allerdings eine, auf die er im Moment liebend gern verzichtet hätte.
„Aach, Kopf hoch, alter Junge, so wild is’es ja nun auch wieder nicht“, meinte Shanks munter.
„So? Mein Schiff ist abgesoffen, Shanks, und wir sind hier irgendwo im Nirgendwo und unsere einzige Hoffnung auf Rettung liegt bei deiner unfähigen Mannschaft. Und dass das alles deine Schuld ist, ist dir hoffentlich klar?“
„War ja keine Absicht.“ Shanks warf ihm einen unterwürfig-zerknirschten Blick zu und zuckte entschuldigend mit den Schultern.
Mihawk schnaubte. Manchmal fragte er sich wirklich, ob das Schicksal ihn hasste, oder ob es einfach nur einen sehr verdrehten Sinn für Humor hatte. Wobei, wenn er so einen Blick auf den Sägefisch auf Shanks’ Schoß warf, war er sich ziemlich sicher: zweiteres.
~*~
Der ganze Schlamassel hatte damit begonnen, dass Mihawk eine Taverne im Hafen von Gurim Island betreten hatte. Er war schon seit Tagen unterwegs und damit war es höchste Zeit für etwas anderes als Trockenfutter gewesen, und so war ihm die kleine abgeschiedene Insel gerade recht gekommen. Wenn möglich vermied es Mihawk nämlich, sich unter größere Menschenmassen zu begeben. Er war nicht gerade unauffällig und noch weniger bei der Allgemeinheit beliebt – nicht, dass er im Geringsten Wert auf solche Nebensächlichkeiten gelegt hätte, aber auf die schrägen Blicke von der Seite konnte er gerne verzichten. Zudem gab es doch immer wieder Verrückte, die ihn zum Duell auffordern wollten, worauf er sich meistens nicht mal einließ, beziehungsweise sie einfach mit diversen Kleingegenständen (Gabeln, Zahnstochern, Holzspreißeln oder wahlweise auch Grashalmen) mit einem Schlag kampfunfähig machte. Die Demütigung reichte meist aus, den lästigen Möchtegernkontrahenten los zu werden. (Einmal hatte ein sehr betagter Kopfgeldjäger doch tatsächlich beschlossen, ihn auf Geheiß der Marine festzunehmen. Mihawk hatte sich unwillkürlich fragen müssen, hinter welchem Mond der Kerl die letzten Jahrzehnte verbracht hatte, der Steckbrief war jedenfalls noch aus seinen Piratenzeiten.)
Die Taverne selbst war ebenso klein wie die Insel gewesen, fünf Tische, ein Tresen, keine Gäste. Mihawk hatte dem Wirt gewinkt und sich an einen der Tische gesetzt. Plötzlich hatte er eine kleine Bewegung aus dem Augenwinkel wahrgenommen und war herumgefahren. An einem Tisch ganz in der Ecke, den er beim Reinkommen gar nicht bemerkt hatte, lag ein Mann auf der Tischplatte zusammengesackt, offenbar schlafend. Reflexartig hatte er eine angespannte Haltung eingenommen, man konnte ja nie wissen, an den abgeschiedensten Orten hatte er immer die gefährlichsten Gegner getroffen. Der Wirt, der mittlerweile an den Tisch getreten war, hatte dem Bündel in der Ecke nur einen kurzen Blick zu geworfen und Mihawk ein Glas Wein hingestellt.
„Tja, der liegt da jetzt schon geschlagene 24 Stunden… ist aber auch einfach nicht wach zukriegen, der Kerl“, er hatte die Schultern gezuckt, „der ist vorgestern mit ’ner ganzen Truppe hier eingefallen. Offenbar haben sie ihn vergessen. Was soll man machen?“
Mihawk war sich nicht so ganz sicher gewesen, ob diese Ist-mir-egal-Haltung für einen Schankwirt wirklich optimal war, hatte aber genickt. Immerhin konnte der Wirt tatsächlich kochen, und Mihawk war mit der Wahl seiner Gaststätte durchaus zufrieden und bereits im Gehen begriffen gewesen, als das Bündel in der Ecke irgendetwas leise im Schlaf vor sich hingemurmelt hatte. Er war ruckartig stehen geblieben – er kannte diese Stimme.
~*~
„Was heißt hier „keine Absicht“, du Knallkopf? Willst du mir jetzt allen Ernstes erzählen, du hast dich unabsichtlich bis zur Bewusstlosigkeit voll laufen lassen?“ fragte Mihawk, jetzt sarkastisch.
„Naja“, meinte dieser nonchalant, „normalerweise vertrage ich so kleine Mengen auch ohne Probleme. Tja, man wird wohl doch nicht jünger, was alter Knabe?“
Mihawks Augenbraue begann gefährlich zu zucken.
„Meine Güte, du Vollidiot! Wie kann man nur so verdammt unvorsichtig sein! Weißt du, was passiert wäre, wenn ich dich nicht zuerst gefunden hätte?!“
Shanks wandte seine volle Aufmerksamkeit dem Fisch auf seinem Schoß zu, der immer noch mit aller Kraft versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien.
„Ich weiß.“
~*~
Mihawk hatte in der langen Zeit, die er Shanks gekannt hatte, selbigen schon in einigen seltsamen Situationen angetroffen. Manche hätte er im Nachhinein liebend gern wieder aus seinem Gedächtnis gelöscht (gerade die erwiesen sich oft als überaus hartnäckig und schwer loszuwerden), aber das hier war etwas ganz anderes. Shanks hatte irgendwo zwischen Tisch und Bank gehangen, Gesicht nach unten auf der Tischplatte, der Mantel war ihm von den Schultern gerutscht und gab nun mehr Sicht auf den leeren Ärmel auf der linken Seite frei. Wie immer eigentlich hatte ihn das Flair eines abgerissenen Stadtstreichers umgeben, mit dem unordentlichen Dreitagebart, den Narben, den halblangen Haaren und dem halboffenen Hemd. Niemand hätte auf den ersten Blick auch nur im Entferntesten in Betracht gezogen, einen der Vier Kaiser der Meere vor sich zu haben. Und trotzdem – auf den zweiten Blick war es unverkennbar, wen man da vor sich hatte.
Mihawk hatte geflucht. Dass er auch immer so ein Pech haben musste. Den neugierigen Blick des Wirts im Rücken hatte er sich zu seinem Freund hinuntergebeugt und ihn leicht geschüttelt. Dessen einzige Reaktion hatte aus weiterem gemurmelten Blödsinn bestanden (ehrlich gesagt war Mihawk auch alles andere als erpicht darauf, zu erfahren, was dieser Idiot so träumte, zum Schutze seines Gehirns vor weiteren hartnäckigen Ich-will-es-nicht-wissen-Erinnerungen). Vom Tresen her war ein „Ich hab’s Ihnen ja gesagt!“ gekommen, was Mihawk schlicht übergangen hatte. Einen kurzen Moment hatte er mit sich gerungen, in wie weit der Terminus „Freund“ ihn hier zu irgendwelchen Handlungen verpflichtete, hatte geseufzt und Shanks dann kurz entschlossen gepackt und halb zur Tür getragen, halb geschleift. Den befremdeten Blick des Wirts im Rücken. Einen vor sich hin brabbelnden Shanks an der Schulter. Einen bis zum Zerreißen überstrapazierten Geduldsfaden irgendwo in ihm.
~*~
„Danke.“
Mihawk fluchte innerlich. Es war verdammt schwer, auf Shanks wütend zu sein, wenn er einen so von der Seite ansah.
„Ja ja, schon gut“, wiegelte er nur ab.
Shanks lachte.
„Ich wusste immer, dass du ein prima Kerl bist, Falkenauge. Von Anfang an.“
Einen Moment schwiegen sie einvernehmlich. Der Fisch hatte aufgehört zu zucken. Mihawk fand, das geschah ihm nur Recht. Eigentlich konnte der Fisch ja überhaupt nichts für ihre Situation, das Ganze war in erster Linie Shanks’ Schuld gewesen. Prinzipiell war nämlich so ziemlich alles, was in seiner Nähe völlig wider jeglicher Logik geschah, im Endeffekt seine Schuld.
~*~
Es war ein ganz schöner Kraftakt gewesen, den mehr als nur unkooperativen Shanks bis zu seinem Schiff zu schleppen. Mihawk hatte versucht, sich mit dem Gedanken zu trösten, es sei schlicht Training. Am Schiff angekommen hatte Mihawk sich erstmal gesetzt und begonnen zu überlegen, was zum Henker er jetzt tun sollte. Wie auch immer Shanks mutterseelenallein auf diesem gottverlassenen Fleckchen Land mitten im Ozean gelangt war, er steckte eindeutig in Schwierigkeiten. Denn seine Crew war. Nicht. Da. Selbiges galt für sein Schiff. Es war Mihawk absolut unverständlich gewesen. Shanks’ bunte Truppe mochte zwar ein Haufen Chaoten sein, aber jeder Einzelne von ihnen war loyal bis zum bitteren Ende. Eine Wir-setzen-den-Captain-auf-’ner-einsamen-Insel-aus-und-werden-selbst-Captain-Aktion war absolut nicht ihr Stil. Wobei, wenn er sich nicht völlig irrte, hatten sie so eine dämliche Aktion schon mal gebracht, als sie Ben und den Captain zum Scherz allein mit der gesamten Zeche in einer Gaststätte auf der Redline zurückgelassen hatten. Allerdings hatten sie die Beiden sechs Stunden später wieder abgeholt. Sie hatten in der Zwischenzeit einen Teil der Schulden mit Spülen abarbeiten müssen und waren dementsprechend eher weniger gut gelaunt. Und wenn Ben weniger gut gelaunt war, konnte er richtiggehend furchteinflößend werden. Wirklich, sehr furchteinflößend. Folglich hatte es die Crew nie wieder auf solche Späße ankommen lassen. Diese Möglichkeit hatte Mihawk dementsprechend kategorisch ausgeschlossen. Aber vorausgesetzt, Shanks konnte nicht plötzlich teleportieren blieb immer noch die eine Frage: Wo war die Crew?
~*~
„Wo bleibt die Crew?“
Shanks warf Mihawk einen geschmerzten Blick zu.
„Naja, normalerweise finden sie mich schneller. Vielleicht wäre es doch ’ne ganz gute Idee gewesen, sich Teleschnecken zu zulegen…“
Unwillkürlich musste Mihawk grinsen.
„Ja, und ein Halsband für dich mit Aufschrift „Wenn verloren, bitte zurück an meine Mannschaft“ auch.“
Shanks wandte sich gespielt entrüstet zu ihm um.
„Was soll das bitte heißen? So oft gehe ich nun auch wieder nicht verloren!“
„Abgesehen von gestern. Und damals in Ginkara. Und damals auf Noro Island. Und –“
„Jaja, ich hab’s kapiert, ich hab’s kapiert!“
~*~
Mihawk war nichts anderes übrig geblieben, als zu warten, bis Shanks wieder wach wurde. Als ein disziplinierter Schwertkämpfer der alten Schule hielt er sich selbst für einen absolut geduldigen Menschen, aber Shanks hatte es schon immer geschafft, diese stoische Gelassenheit irgendwie zu untergraben, mal durch seine Taten, mal durch seine Worte, und mittlerweile schaffte er das mit seiner bloßen Anwesenheit. Folglich hatte Mihawk Shanks schlicht und einfach ins Meer geworfen. Gurim Island war im Übrigen eine Winterinsel.
„VERDAMMT NOCH MAL WAS UM ALLES IN DER--- KAAAALT!“
Mihawk war durchaus mit sich zufrieden gewesen.
Diese Zufriedenheit hatte allerdings nur so lange angehalten, wie es dauerte, bis der durchnässte Shanks, eingewickelt in Mihawks Ersatzmantel, mit einem freundlichen Lächeln auf die Frage nach dem Verbleib seiner Crew schlicht geantwortet hatte, er habe nicht die geringste Ahnung.
Manchmal würde er dem Kerl einfach am liebsten den Hals umdrehen.
~*~
„Meinst du, Sägefisch schmeckt auch roh?“
„Woher soll ich das denn wissen“, gab Mihawk gedehnt zurück. Er hätte sich liebend gern eine Runde aufs Ohr gelegt, aber der Felsen war zu klein – und sein geliebtes Schiff lag auf dem Grund des Meeres.
„Du bist doch der kulinarische Feinschmecker von uns beiden. Außerdem frage ich mich sowieso immer, wo du Proviant auf dieser Nussschale vers-“ er brach ab und starrt schuldbewusst auf die Wasseroberfläche, unter der irgendwo Mihawks Schiff sein musste.
„Sorry, noch mal. War keine Absicht. Das mit dem Schiff.“
Mihawk seufzte.
„Warum musst du auch immer alles antatschen was du siehst?“
~*~
Katerinduzierte Blackouts waren im Allgemeinen nichts Neues bei Shanks. Er hatte schon mehrfach Mäntel, Schuhe und einmal auch fast sein Schwert eingebüßt. Aber eine komplette Mannschaft zu verlegen, das war doch etwas anderes. Er hatte sich an Nichts von der letzten Nacht erinnern können, lediglich, dass sie aufgrund der Kälte eine Menge Glühwein bestellt hatten, und dass er im kalten Meer aufgewacht war. Mihawk hatte ihm still schweigend zugehört, und sich erneut gefragt, warum er in Himmels Namen mit diesem Vollchaoten befreundet war. Und warum selbiger Chaot Captain einer Mannschaft war, die das Fehlen ihres Captains nicht bemerkte. Oder die Insel nicht mehr fand. Er wusste gar nicht, was schlimmer war.
„Und jetzt?“ hatte Shanks ihn munter gefragt.
„Woher soll ich das wissen?“ Mihawk war sich auf einmal sehr müde vorgekommen.
In eben jenem Moment war die Zeitungsmöwe auf dem Schiffsmast gelandet. Leicht lädiert, offenkundig zutiefst empört und mit einer Frostschicht überzogen. Und, was viel wichtiger war, anstatt einer Zeitung mit einer Nachricht im Schnabel. Vielleicht hat das Schicksal ja doch mal ein wenig Mitleid mit ihm, hatte Mihawk gehofft.
~*~
Shanks hatte angefangen, zu summen. Mihawk sah den Wolken beim Vorrüberziehen zu.
Zeit ist ein relativer Begriff, dachte er. Sie waren sicher nicht länger als zwei Stunden hier, aber es kam ihm wie eine halbe Ewigkeit vor. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so viel Zeit mit Shanks verbracht hatte. Seit seiner Berufung zum Samurai der Meere waren die Treffen weniger geworden, denn sie bargen ein gewisses Risiko. Und obwohl Shanks an allem Schuld war, im Moment war Mihawk sehr zufrieden.
„Hey, Falkenauge, lass mal dein Messer rüberwachsen, aus dem Fisch mach ich jetzt Sushi!“
Zufriedenheit ist ein relativer Begriff, dachte er.
~*~
„Ich hab’s ja gesagt, dass auf meine Crew Verlass ist!“ Shanks hatte von einem Ohr zum anderen gestrahlt.
„Shanks, sie haben geschlagene 24 Stunden nicht gemerkt, dass du nicht an Bord warst!“
Shanks hatte seinen Einwand geflissentlich überhört. Die Nachricht hatte sich als leicht panischer Brief von Ben Beckmann herausgestellt, der an den Wirt der Taverne adressiert war. Er solle seinen Gast bitten, zu bleiben, da die Crew bereits die nächste Insel erreicht habe, und der Logport sich nicht so schnell wieder neu justieren lasse. Und ganz egal, wie brillant Ben als Vizecaptain sein mochte – ohne Logport auf der Grandline rumzuschippern war Selbstmord mit Ankündigung. Wie genau es von Statten gegangen war konnte Mihawk nicht mal sagen, irgendwann hatte er sich offenbar dazu bereit erklärt, Shanks zur nächsten Insel mitzunehmen.
Geschlagene zwei Stunden war ihre Reise ohne besondere Vorfälle verlaufen. Dann hatte Shanks mit einem plötzlichen „Was ist das denn?“ über Bord gegriffen und etwas entschieden angestubst. „Etwas“ hatte sich als ein Sägetfisch erwiesen, der alles andere als erfreut über Shanks stürmische Begrüßung war, und sich im Verdacht eines Angriffes heftig zur Wehr gesetzt hatte. Was genau passiert war, konnte sich keiner der beiden im Nachhinein erklären. Jedenfalls war das Schiff voll Wasser gelaufen, und das ziemlich schnell.
~*~
Seit diesem Vorfall saßen die beiden also auf einem Felsen, der offenbar zu einem größeren Unterseeriff gehörte, und sich Gott sei Dank in der Nähe befunden hatte. Sobald sich Shanks Crew auf den Rückweg zur Insel machen würde, würde ihre Route unweigerlich an ihnen vorbei führen.
Mittlerweile war die Sonne bereits im Untergehen begriffen. Das Rot des Horizonts biss sich fürchterlich mit Shanks’ Haaren und Mihawks Mantel.
„Hey, Falkenauge, weißt du was?“
„Was?“
„Irgendwie… irgendwie ist das gut.“
Er erklärte nicht weiter, was er meinte. Und Mihawk fragte nicht. Irgendwie war er nämlich (trotz allen Widrigkeiten) ebenfalls derselben Meinung.
„Stimmt.“
„Und du bist sicher, dass du nichts von dem Sägefisch-Sushi willst?“
„… halt doch einfach mal fünf Minuten die Klappe, Shanks. Danke.“
~ *FIN* ~
Das dürfte so ziemlich das Längste sein, was ich je geschrieben habe. Und ich gehe jede Wette ein, dass da massig Tempusfehler drin sind. Ich hoffe, es gefällt trotzdem :3
Sincerely, genek~