Prolog
Fürstenreich
Die Sonne neigte sich dem Horizont zu. Die sowieso schon dreckigen Straßen wurden dunkel. Und Sakura suchte sich einen freien Platz auf dem Boden.
Einen Platz auf dem Boden, der mit Pappstücken und alten Decken ausgelegt war, um dort zu schlafen. Sie war sich nicht sicher, aber sie glaubte, dass sich außer ihr noch neun weitere Kinder in der Straßenkindergruppe befanden. Sie hatte nie die Zahlen gelernt und noch weniger wusste sie, wie man schrieb oder etwas las.
Sakura kannte ihre Eltern nicht – man munkelte, sie wären bereits vor vielen Jahren umgekommen, aber das interessierte sie recht wenig. Keiner von ihren Freunden kannte seine Eltern.
Sie alle waren auf sich selber eingestellt und jedem war bewusst, dass der nächste Tag der letzte sein könnte.
Jedes Kind, welches auf der Straße lebte, war krank, abgemagert und hungrig. Dafür waren sie die besten Diebe weit und breit. Keiner schaffte es, so viel wie ein Straßenkind an einem Tag stahl, zu stehlen.
Jeder Bürger der Stadt hasste grade diese Streuner, doch keiner wollte etwas dagegen unternehmen. Warum sollten sie auch einem schmutzigen Kind, nicht mehr wert, als eine Ratte es war, etwas zu essen geben oder gar ein Heim bieten?
Wer auf der Straße lebte, wurde als Abschaum, Verschwendung und Dreck bezeichnet.
Niemand wollte etwas mit ihnen zu tun haben, doch jeder kannte sie. Überall lungerten die armseligen, verkümmerten Gestalten und sahen zu, möglichst am Leben zu bleiben.
Sakura hatte neben einer stinkenden Mülltonne eine freie Ecke gefunden. Wenn das Glück auf ihrer Seite stand, würden die Übrigen, die in der Nähe von ihr lagen, morgen früh nicht mehr da sein und sie konnte die Essensreste in der Tonne für sich alleine haben.
Wie lange hatte sie nichts Richtiges mehr gegessen? Sie glaubte, die Sonne sei seit dem schon mindestens zwei Mal unter und wieder auf gegangen. Sie kannte ungefähr so viele Zahlen, wie sie Finger hatte, aber ob die Zahlen dann auch alle in der richtigen Reihenfolge waren, war eher unwahrscheinlich. An einer Hand konnte sie sicher abzählen, kam eine zweite hinzu, wurde es schon komplizierter.
Das Mädchen legte sich auf den kalten Karton, schlang ihre Arme um die Beine und lauschte.
Sakura konnte tiefe, männlich klingende Stimmen und eine schrille Frauenstimme schreien hören. Danach ein so widerliches Lachen, dass ein Schauer ihren Rücken herunter lief.
Aber das war Alltag – jede Nacht verschwanden Frauen und wurden Tage später tot aufgefunden. Blutüberströmt und ohne einen Fetzen Kleider am Leib.
Der nächste Morgen brachte die Sonne mit sich. Hell und stark schien sie in das Gesicht aller schlafenden Menschen und weckte sie so freudig, als ob die Geschehnisse der Nacht in einer anderen Welt passiert waren.
Jeder Bürger ging seiner eigenen Arbeit nach. Markstände wurden aufgebaut, Bauern zogen mit Ziegen oder Kühen umher, die etwas erhabeneren Kinder gingen zur Schule, Mägde liefen mit Körben voller Gemüse durch die Straßen und die Soldaten ritten auf ihren braunen Pferden durch die Menge.
Auch Sakura war schon länger auf den Beinen. Heute war Markttag – so sah es zumindest aus und das hieß, sie würde etwas Frisches zum Essen klauen können.
Mit einer zerrissenen Haube, die sie sich tief in ihr Gesicht gezogen hatte ging sie los. Die Vorsichtsmaßnahme war wegen ihrer Haarfarbe. Die Farbe der schönsten Kirschblüten weit und breit. Aber genauso ein Hindernis. Alle konnten sie durch ihr Haar erkennen.
Sakura könnte sie sich natürlich einfach abschaben, aber dann würde sie nicht nur als Straßenkind gelten, sondern auch als eine ehemalige Gefangene. Der Fürst des Landes ließ jedem die Haare abschaben, der beim Klauen, oder einer anderen Missetat erwischt wurde.
Madara Uchiha, erster Fürst der Stadt war weit bei seinen Bürgern verhasst. Genauso wie auf den Straßen Tag und Nacht zwei verschiedene Welten waren, war die Wohngegend ein wahres Mauseloch im Vergleich zum Fürstenhaus. Wenn man es denn noch als Haus bezeichnen konnte. Es glich eher einer Festung, einer Burg, die groß und bedrohlich etwas außerhalb auf einem der kleinen Berge stand, umgeben von weiteren prunkvollen Häusern, in denen Adelsfamilien hausten. Mit voller Pracht warf die Burg zur Mittagsstunde seinen Schatten auf die Stadt und ließ jeden Bürger daran erinnern, wer hier der Herrscher war.
So unauffällig wie sie konnte, ging Sakura einer Frau hinterher, die einen großen Korb voller roter, frischer Äpfel ächzend zu einem der vielen Marktstände trug.
Ein Apfel. Rot, groß und grade zu verlockend, hineinzubeißen.
Sakura wusste; dies war ihr Frühstück. Sie musste nur noch warten, bis die Bäuerin ihren Stand aufgebaut hatte, dann würde das Mädchen so tun, als ob sie etwas bei ihr kaufen wolle, nähme einen Apfel in die Hand und würde genau dann, wenn jemand anderes hinter ihr war, in diesen hineinstolpern, in dem sie einen Schritt nach hinten tat und in ihrem Fall dann den Apfel einsteckte.
Genau so hatte sie es gelernt. Gelernt zu überleben.
Sie grinste in sich hinein, entspannte sich und trat drei weitere Schritte auf die Bäuerin zu, die ihren Stand fast fertig aufgebaut hatte …
Hätte Sakura gewusst, dass sie noch am selben Abend gefangen und verschleppt würde, wäre sie nicht ganz so locker in den Tag hineingelaufen.