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Reqium of Darkness & Quiet Symphony

Walker x Kanda
von

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Zur Gunst des anderen

Ich setzte mich von nun an nicht mehr der Gefahr aus, von irgendwelchen Leuten zu Gesprächen gedrängt zu werden oder diesen Leuten zu begegnen. Mein Magen war gefüllt und meine Beine nicht mehr bereit, große Wege hinter sich zu lassen. Sie fühlten sich nach all diesen Schritten wieder so weich an und so setzte ich sie keiner großen Belastung mehr aus. Ich würde mich hinlegen. Sofort.

Komui schien nichts von mir wollen. Insgesamt sah es nicht so aus, als würde man mich brauchen. So hatte ich mir keine Gedanken zu machen und zog mich zurück. In mein Zimmer, wo ich sofort aus den Schuhen schlüpfte und sie mit einem Tritt neben das Bett beförderte. Draußen war es noch recht hell. So grau, wie in den letzten Tagen auch. Die Sonne versteckte sich irgendwo hinter dieser trostlosen Schicht. Sie würde wohl auch bald untergehen. Nur kurz lugte ich zum Fenster, bevor ich eine gewisse Ordnung in die Decke meines Bettes zu bringen versuchte. Ich schüttelte sie aus, zog sie zurecht und streckte mich unter einem ausgiebigen Gähnen.

Hoffentlich war diese Müdigkeit ein gutes Zeichen. Ich tastete nach dem Saum meines Hemdes, streifte es mir über den Kopf und warf den Stoff in die Richtung des Stuhles. Ich traf sauber daneben und ließ mich auf die Kante des Bettes sinken, machte mich am Knopf meiner Hose zuschaffen und blickte Tim nach, der es sich schon auf dem Kopfkissen gemütlich machte.

Dieser kleine Kerl, dachte ich mir, hat bestimmt keine Probleme, wenn es darum geht, zur Ruhe zu finden. Manchmal war ich fast neidisch auf diese Tatsache.

Er dachte nicht nach, bewegte sich nach einprogrammierten Schemata. Wie praktisch musste diese Automatik sein. Träge streifte ich die Hose hinab, warf sie zum Fußende des Bettes und schob mich unter die Decke. Mein Kopf suchte sich seinen Platz neben Tim auf de, großen Kissen und in den ersten Augenblicken drehte und wälzte ich mich auf der Suche nach der richtigen Bequemlichkeit. Es dauerte seine Zeit, bis ich reglos dort lag. Gemütlich auf der Seite, den Kopf auf dem Oberarm gebettet und die Augen absent auf das Fenster gerichtet.

Was war das nur für ein Tag gewesen?

War ich froh, dass er hinter mir lag oder könnte er ruhig noch länger andauern?

Wenn meine Kräfte mitmachten... würde ich ihn weiterhin genießen können?

Er war so prickelnd wie auch marternd gewesen, war von einem Extrem in das andere gependelt. Hatte mich gefordert... teilweise auch überfordert.

Ich blinzelte behaglich, bewegte die Lippen aufeinander und irgendwann tastete ich mit den Fingerkuppen nach ihnen.

Was hatten sie getan...?

Was war ihnen nur widerfahren?

Sie verzogen sich zu einem müden Schmunzeln.

Durfte ich davon ausgehen, ja, durfte ich mir anmaßen, mir der Tatsache sicher zu sein, dass Kanda sich um mich sorgte?

Dass ich mich auf ihn verlassen konnte, wenn ich in Situationen geriet, an denen er etwas ändern konnte?

Es war ein völlig neues Gefühl für mich.

Während ich auf dem Schlachtfeld die Rückendeckung durch meine Freunde genoss, fand ich mich viel zu oft einsam vor, wenn ich meine eigene Schlacht führte. Dinge, die ich niemandem sagte. Dinge, die ich vor anderen verleugnete... und darin stets so erfolgreich war, wie ich es mir nur wünschen könnte.

Lavi, Linali, Crowley, Marie, Miranda... vor allem der ältere Bookman. Von ihnen erwartete ich nicht, dass sie mein Verhalten durchschauten. Dass sie bemerkten, was unter meiner lächelnden Oberfläche lag. Das, was sie daraufhin tun würden, würde mir zuwenig helfen, als dass ich mich danach sehnen könnte.

Besorgnis...

Fragen...

Einfach zuviel Aufmerksamkeit ohne Sinn und positiven Ausgang.

Sie mussten es nicht sehen, es nicht verstehen... sie mussten nichts wissen.

Doch Kanda...

Wie profitierte ich von seiner Wahrnehmung?

Er spürte es, sah es mit einem Blick... und das Handeln, das sein Verstehen nach sich zog, war stets so... wärmend gewesen, so aufbauend und befreiend.

Sein Verständnis, als ich meinen Saft über seine Beine schüttete...

Wie er mich von Lavi befreit hatte, als dieser einen zu redseligen Tag genoss und ich einen viel zu Finsteren.

Und nun hatte es auch Johnny getroffen.

Er stellte keine Fragen, war nicht neugierig...

Wie einzigartig war nur seine Art, darauf zu reagieren?

So selbstverständlich, so gekonnt und auf eine irritierende Art und Weise... herzlich.

Dieses Verhalten schien mich durch und durch zu wärmen. Selbst hier und jetzt spürte ich diese Hitze, die nur von mir ausgehen konnte. Ich zog die Decke höher, rutschte mich zurecht und schloss die Augen.

Ich fühlte mich... gehalten... fixiert, doch nicht auf negative Art und Weise.

Ich würde ihn auskundschaften, nahm ich mir vor, ihn erforschen wie eine Höhle, die die prunkvollsten Schätze versteckt hielt. Und ich würde testen, wie weit ich bei ihm zu gehen hatte. Wie weit ich gehen durfte.

Ich ließ ihn nicht gehen...

Nicht, nachdem er soweit auf mich zugekommen war.
 

Irgendwann versuchte ich bewusst in den Schlaf zu kommen. Die Augen zu schließen, den Atem zu beruhigen und doch blinzelte ich nach einiger Zeit und öffnete die Augen. Vor dem Fenster wurde es immer dunkler. Immer wenn ich spürte, wie wach ich noch war. Obgleich diese Müdigkeit auf mir lastete, schien sich mein Körper ihr doch nicht ergeben zu wollen. Ich lag still, versuchte meine Gedankenwelt zum Erliegen zu bringen und trotzdem war es nur Tim, der seit einiger Zeit reglos verharrte. Ich drehte mich zur anderen Seite, wandte mich der Mauer zu, zog die Decke weiter über mich und suchte mir die richtige Gemütlichkeit auf dem Kissen.

Ich wollte schlafen...

Ich musste schlafen... und keine Stunde später lag ich dort und kratzte an der steinernen Wand, die sich vor mir erhob. Draußen war es bereits finster. Mitten in der Nacht und ich tat nichts anderes, als diese rauen Strukturen zu erforschen.

Durchaus verbittert und mürrisch.

Ich konnte mir nicht helfen, doch ich wurde den Gedanken nicht los, dass es in jedem Moment jemanden gab, der über mich lachte, der mein Leben führte und mich verhöhnte! Der mir aus heiterem Himmel Panikattacken zusandte und anschließend Ruhelosigkeit in der Nacht!

Ich fühlte mich verspottet.

Ich fühlte mich schlecht.

Und am Ende blieb es vielleicht bei drei Stunden. Auch keine Zeit, die ich vollständig durchschlief, doch der Morgen kam mit einem Mal so rasch, dass ich geschlafen haben musste. Nur oberflächlich... es war nicht wirklich erholsam und ich fühlte mich nicht besonders erholt, als ich mich irgendwann aufrichtete und zerzaust zur Bettkante rutschte. Tim wurde sofort wach... umflatterte mein müdes, fahles Gesicht und wurde von einer genervten Hand zur Seite gedrängt.

Ich brauchte meine Zeit.

Vor allem heute.

Mir entrann ein laues Stöhnen, träge blieb ich sitzen und es dauerte wirklich eine ganze Weile, bis ich mich dazu entschloss, auf die Beine zu kommen. Nur langsam. Ganz langsam. Ich tastete mich über die Matratze, stand auf und taumelte kurz unter einem leichten Schwindel.

Es kam selten vor, dass ich mich so wenig bereit fühlte. So wenig bereit für den Tag.

Mein kopf tat immer noch weh. Auch die Schläfen zu massieren, brachte nicht den gewünschten Effekt und so schlürfte ich zu meinem Schrank, öffnete ihn und starrte hinein.

Hoffentlich bekam ich eine Mission.

Auch, wenn ich mich gerade nicht fit genug fühlte... hierzubleiben und Lavis Anwesenheit ausgesetzt zu sein, war ein Gedanke, der noch viel mehr ernüchterte. Bestimmt war auch Linali bald wieder hier und die beiden zusammen zu erleben, musste mit meiner Laune einfach nicht sein. Ich würde zu meiner unauffälligen Bissigkeit neigen, kein angenehmer Zeitgenosse sein.

Träge griff ich nach einem Hemd, zog es aus dem Chaos meiner Sachen und schlüpfte hinein.

Ich musste meine Sache bald mal wieder waschen lassen, fiel mir auf. Die Hälfte der Kleider, die in diesem Schrank lagen, waren schon mal getragen und am Ende zeugte all das doch nur wieder davon, dass ich zu gewissen Zeiten mit allem überfordert war.

Wenigstens dieses Hemd schien frisch zu sein. Lahm stieg ich auch noch in eine Hose und irgendwie stand mir heute der Sinn danach, auf die Schuhe zu verzichten. Es war einfach bequemer und ich würde jede Gelegenheit, meine Stimmung aufzufrischen, sofort nutzen. Nur kurz fuhr ich mir durch den Schopf, versuchte eine gewisse Ordnung hineinzubringen und gab es ebenso schnell auf.

Heute stand es wirklich nicht gut um mich.

Gähnen öffnete ich die Tür, ließ Tim durchschlüpfen und schloss sie hinter mir. Im Treppenhaus war es wieder angenehm kühl. Ich regte die Zehen auf dem kalten Boden, rückte an meiner Hose und machte mich auf den Weg zum Frühstück.

Jetzt war mir fast danach, einen Kaffee zu trinken. Einfach irgendetwas, mit dem ich der Wachheit auf die Sprünge helfen könnte. Von alleine schien sie heute nicht kommen zu wollen. So trottete ich vor mich hin. Die Hände in den Hosentaschen, bog ich um Ecken, näherte mich meinem Ziel und spürte, wie dort das Glück nach mir griff.

Ich war der einzige. Keiner meiner Kollegen war anwesend. Niemand, zu dem ich hätte setzen müssen, um meine Fassade aufrecht zu erhalten. Nur Finder und Wissenschaftler. In einer Ecke entdeckte ich River und Johnny aber deren leicht abgeschiedenen Plätze erlaubten es mir, so zu tun, als würde ich sie nicht sehen. Außerdem waren sie in ein scheinbar wichtiges Gespräch vertieft. So blieb wohl auch ich unbemerkt.
 

„Einen Kaffee?“ Mit großen Augen starrte Jerry mich an, sah mich etwas unentschlossen mit dem Kopf wackeln. „Liebes, meinst du nicht, mit sechzehn Jahren ist man dafür zu jung?“

„Aber ich brauche irgendwas, um wach zu werden.“ Seufzend stemmte ich mich auf den Tresen, bot höchstwahrscheinlich einen traurigen Anblick.

„Hast du schlecht geschlafen?“ Jerry schloss sich mir sofort an. Er seufzte so gebrochen, als würde ihn mein Zustand direkt ins Herz treffen. Diesmal gab ich es auch gerne zu.

Wenn die Wissenschaftler ihre nicht enden wollenden Schichten mit Kaffee überstanden, dann musste es mir auch helfen. Nachdenklich rieb sich Jerry das Kinn, brummend kratzte ich mich im Schopf und plötzlich hatte Jerry eine Idee.

„Weißt du was?“ Sein Gesicht entgleiste ihm vor Freude und er hob den Zeigefinger. „Ich mache dir einen leckeren Cappuccino!“

„Einen Cappuccino?“, wiederholte ich skeptisch. „Das wirkt?“

„Und wenn nicht...“, Jerry bekam meine rechte Hand zu fassen, drückte sie liebevoll. Seine Unterlippe zitterte, „... dann mache ich dir noch einen und noch einen! Bis zu zufrieden bist!“

„Das klingt gut.“ Leicht verhalten nickte ich und sofort bekam meine Hand die alte Freiheit wieder.

„Und was magst du sonst noch zum Frühstück?“

„Eh...“

Da war sie wieder – die Frage des Tages.

„Alles, wo Eier drin sind“, entschied ich mich dann und war fest entschlossen, diesmal derjenige zu sein, der anderen alle Eier-Vorräte wegaß!

„Omelett?“

„Auf jeden Fall.“

„Rühreier? Spiegeleier?“

„Alles“, stimmte ich zu.

„Eiersalat?“

„Natürlich.“

„Hartgekochte Eier?“

„So viele du da hast.“

„Dibbelabbes?“

Was das war, das wusste ich nicht aber nicken tat ich trotzdem.

„Und Curry-Eier“, fügte ich hinzu.

„Bekommst du alles, Schätzchen! Ich bin sofort wieder da!“ Er war voller Tatendrang, als er in die Küche zurückstürzte und ich gab mich wieder einem Gähnen hin.
 

Diesmal genoss ich das Essen in aller Ruhe. Es gab niemanden, der sich durch nichts und wieder nichts genötigt fühlte, abstruse Geschichten zu erzählen. Auch keinen anderen, obwohl mir ein schweigsamer, ruhiger Zeitgenosse nichts ausgemacht hätte. Aber in diesem Frieden und dieser Lautlosigkeit zu essen, war doch schon etwas Besonderes. Ich konnte mich auf mein Essen konzentrieren, musste nicht vorgeben, aufmerksam zu sein oder zu nicken, obwohl ich kein Wort verstanden hatte. Ich blieb einfach für mich und ließ mir alle Zeit, die mir gegeben war. Der leichte Kopfschmerz schien sich auch etwas zu legen, als ich mir den Magen füllte. Es wurde wirklich besser und spätestens, als ich meinen Mangosaft trank, entrann mir dieses Seufzen, das fast von Zufriedenheit zeugen könnte. Ich fuhr mir über die Lippen, griff dann nach meinem Cappuccino und genoss auch ihn. Er schmeckte so sehr nach Schokolade, dass eigentlich nicht viel mehr drin sein konnte aber ich vertraute auf Jerry und ließ es mir schmecken. Er war so wunderbar heiß, dass ich die Hitze bis in den Bauch spürte. Und dieser Schaum... einige zeitlang befasste ich mich nur mit dieser einen Tasse, schlürfte und nippte, bis es sich besser trinken ließ. Von da an ging es schnell und die Tasse war binnen kürzester Zeit leer.

Diese Cappuccino, ging es mir durch den Kopf... den konnte ich vielleicht zur Gewohnheit machen. Der war wirklich gut.

Bequem tastete ich so wieder nach dem Besteck und machte mich über die ganzen Eier her. Das Omelett war einfach herrlich... auch der Salat. Mit jedem Bissen schrieb ich diesem Tag mehr Chancen zu. Er hatte doch eigentlich recht gut begonnen. Was mir jetzt noch fehlte, war eine Möglichkeit, eine gewisse Ablenkung zu finden.

Ich mochte nicht mehr daran denken.

An die Nacht... das Dilemma des vergangenen Tages. Vor allem nach solchen Vorfällen neigte ich dazu, in meine depressive, dumpfe und leblose Denkweise zurückzufallen.

Ein tiefes Durchatmen half fürs erste. Es machte mich für kurze Zeit etwas leichter und anschließend fixierte ich mich einfach wieder auf all die Leckereien, die sich vor mir türmten. Tim saß auf dem Tisch und nahe der Curry-Eier, weshalb ich diesen Teller kurz darauf argwöhnisch zu mir zog. Er sollte nicht auf dumme Gedanken kommen, doch gerade hatte ich den Teller vor ihm in Sicherheit gebracht, da erhob sich dieses Rauschen und Tim schlug mit den Flügeln. Da rief mich jemand und langsam tastete ich mit der Gabel nach den Curry-Eiern.

„Allen?“ Es war Komui und langsam verstaute ich ein Ei in meinem Mund. „Bist du bitte in zehn Minuten bei mir?“

„Mm...“, ich begann zu kauen, „... klar.“

„So ist fein.“

„Krieg ich eine Mission?“ Schon tastete ich nach dem nächsten Ei und die Zustimmung, die ich erhielt, ließ mich fast ungläubig werden.

Was für ein Zufall...

Ich sehnte mich nach Abwechslung und schon kam sie herbei...

Dieser Tag war gruselig. Kopfschüttelnd wandte ich mich dem Rest meines Frühstückes hin.
 

Als ich Komuis Büro betrat, wirkte dieser etwas aufgewühlt. Nur flüchtig winkte er mich näher und war sonst damit beschäftigt, in wahllosen Unterlagen zu wühlen. Die schwarzen Mappen schob er zur Seite, eine andere Kate zog er hervor und während ich auf dem Sofa Platz nahm, begann er in ihr zu blättern. Ein tiefes Durchatmen drang an meine Ohren. Etwas schien ihn zu belasten und was das war, erfuhr ich bald.

„Es ist passiert!“ Er zog die Nase hoch, schüttelte ungläubig den Kopf und kurz darauf starrte er mich entrüstet an. „Allen, es ist wirklich passiert!“

„Was ist passiert?“, fragte ich sofort und seufzend legte er die Akte zur Seite.

„Kanda hat eine Mission abgelehnt!“ Er atmete aus, schüttelte den Kopf. „Was mache ich nur? Was ist, wenn alle anfangen, mir auf der Nase herumzutanzen?“

„Ich tanze nirgendwo“, konnte ich ihn beruhigen und plötzlich griff er nach einer der schwarzen Mappen.

„So ein Rüpel“, regte er sich auf, als er sie mir reichte und Stirnrunzelnd nahm ich sie entgegen. „Meinte, ich soll dir die Mission geben, weil du angeblich so faul sein sollst.“

War ich das?

Hatte er das gesagt?

Flehend sah Komui mich an.

„Du nimmst die Mission doch an, oder?“

Wie tief war er gesunken, dass er jetzt schon bettelte? Ich wusste nicht, warum er es bei mir tat. Ich sah bestimmt nicht so aus, als würde ich mich über eine Mission ärgern. Nein, eher war ich erleichtert, das Hauptquartier zu verlassen. Möglicherweise Ablenkung zu finden und so auch zur Besserung.

Wie interessant... schmunzelnd öffnete ich die Mappe.

Ich war mir der Tatsache bewusst, dass mir eine Mission gut tun würde und plötzlich schob mir Kanda eine zu.

Ich verstand es sofort, war wohl langsam geübt darin, die Kehrseite der Kehrseite zu erblicken und Verständnis zu entwickeln. Scheinbar war Kanda doch immer da. Auch, wenn wir uns nicht sahen, schien er Einfluss auf mich zu nehmen... auf mich aufzupassen. Eine versteckte Aufmerksamkeit, die ich problemlos für mich annehmen konnte.

Es fühlte sich gut an... richtig gut.

„Es ist nicht viel“, seufzte Komui da und lehnte sich zurück. „Im spanischen Lager wurde ein Innocence sichergestellt. Gerade sind dort leider nur Finder stationiert, weshalb du dich sputen solltest. Wir können es uns nicht leisten, das Innocence zu verlieren.“

„Heißt, ich soll es nur abholen“, schloss ich aus seinen Worten und schon wurde genickt.

„Mehr ist es nicht.“

Okay... allmählich hatte ich das Gefühl, Kanda hatte doch mehr Gründe gehabt, diese Mission abzulehnen. Aber es war in Ordnung. Ich freute mich darauf, einfach etwas unterwegs zu sein. Viel würde bei dieser Mission wahrscheinlich nicht passieren aber Ablenkung würde ich trotzdem finden. Wie freute sich Komui über meine zufriedene Bereitschaft. Erleichtert winkte er mir, als ich die Mappe unter den Arm klemmte und sein Büro verließ.

„Mach dich bitte sofort auf den Weg!“, rief er mir noch an und flüchtig hob ich die Hand, bevor ich die Tür passierte und in die Wissenschaftsabteilung trat.

Sofort...?

Kein Problem.

Zielstrebig kehrte ich in mein Zimmer zurück, zog mich um und als ich keine fünf Minuten später wieder im Treppenhaus stand, da kam mir diese Idee in den Kopf. Vielmehr war es schon ein Sehnen und nachdenklich sah ich mich um, spähte vor allem zu dieser einen Tür.

Kanda...

Konnte ich ihn nicht noch einmal sehen, bevor ich aufbrach?

‚Sofort aufbrechen’ war doch eigentlich relativ.

Wenn ich Kanda sofort fand, konnte ich ebenso sofort aufbrechen. Soweit meine Logik und der Gedanke, ihn noch einmal zu sehen, gefiel mir wirklich. Vielleicht gab mir allein sein Anblick die Kraft für die folgende Mission.

Vielleicht half sie mir, so wie er es selbst tat?

Ich wollte ihn doch erforschen... wollte herausfinden, wie weit ich bei ihm gehen durfte... und nicht minder wollte ich ihm nahe kommen. Nur kurz. Ich wollte ihn nur kurz wahrnehmen, ihn nur kurz fühlen. Die beste Therapie, der ich mich unterziehen konnte und ohne mir Zeit für Zweifel zu lassen, machte ich mich auf die Suche nach ihm.

Um ihn im Speiseraum zu finden, war es zu spät. Er schien nie sehr lange zu schlafen. Frühstücken tat er infolgedessen auch recht früh. Ich hatte woanders nach ihm zu schauen.

Was tat er, wenn er sich nicht auf Missionen vorbereitete?

Training...

Es war eine der wenigen Möglichkeiten, doch stellte sich mir da wenigstens nicht die Frage, welche der vielen Übungshallen es nutzte. Die Kleine schien es ihm angetan zu haben. Wenn man ihn suchte, während er trainierte, dann fand man ihn nur dort und sofort stattete ich dieser Halle einen Besuch ab. Und ich war dabei so aufgeregt. Der schiere Gedanke, Kanda gleich zu sehen, trieb mich zur Eile an... und ließ mich noch enttäuschter sein, als ich die Halle unbesucht und leer vorfand.

Er war nicht hier...

Ich lehnte mich hinein, blickte auch zur oberen Etage und zog mich doch zurück. Leise schloss ich die Tür hinter und meinen nächsten Weg hatte ich schnell vor Augen. Die Chancen, dass ich ihn bei der Meditation vorfand, standen auch gut. Wo er es tat, das wusste ich natürlich auch. Nur einmal war ich aus Versehen in diesen Raum hineingeplatzt und hatte ihn gestört.

Was ich daraufhin zu hören bekam, das wusste ich noch gut, doch diesmal hatte ich ein besseres Gefühl.

Durfte ich es wagen?

Würde er meine Anwesenheit akzeptieren?

Es war wohl eine Probe aufs Exempel.

Den kleinen Besprechungsraum, den er eigentlich immer für seine Meditation nutzte, war nicht weit entfernt. Ich erreichte ihn innerhalb weniger Momente und wie vorsichtig griff ich nach dieser Klinke und drängte sie hinab.

Ein leises Quietschen erhob sich, als ich sie leise öffnete und den Kopf durch den engen Spalt streckte. Ich spähte in den Raum und wie entspannte sich meine Mimik mit einem Mal. Der Griff meiner Hand um die Klinke lockerte sich, langsam folgte ich ihrem Verlauf mit den Fingerkuppen und spürte dieses Schmunzeln auf meinen Lippen.

Ich hatte ihn gefunden.

Dort saß er... schien mit seiner reglosen Gestalt geradezu mit diesem Raum zu verschmelzen. Auf einer kleinen Anhöhe hatte er sich niedergelassen, verharrte in einer bequemen Haltung. Im Schneidersitz, die Hände im Schoß versenkt und den Kopf leicht geneigt. Eine simple Haltung, die mich dennoch faszinierte. Selbst, wenn er nur dort saß... wenn er nichts tat, hielt sich meine Begeisterung kaum in Grenzen. Und es zog mich zu ihm. Ohne Gedanken, ohne Befürchtungen... ich schob mich einfach durch diesen Spalt und schloss die Tür hinter mir.

Nur ganz kurz. Ich wollte ihm Gesellschaft leisten, nur wenige Momente... wollte mich kräftigen lassen durch dieses Aufeinandertreffen und auf leisen Füßen trat ich an ihn heran.

Hörte er mich?

Nahm er mich wahr?

War er nicht viel zu tief in der Meditation versunken?

Ich behielt sein Gesicht im Blick, erwartete Regung... erwartete irgendeine Reaktion auf diese wenn auch vorsichtige Störung. Dass er die Augen öffnete, mich sah... etwas sagte oder anderweitig reagierte, denn ich tat nichts anderes, als meine Grenzen auszutesten.

Durfte ich es wagen, zu ihm zu gehen... mich einfach neben ihn zu setzen und ein wenig von seiner Wärme auf mich übergehen zu lassen? Erlaubte er mir, von sich zu profitieren? Gab er mir ein wenig Kraft mit auf den Weg?

Würde er mich abweisen, nachdem er mir seine Hilfe hatte zukommen lassen?

Ich tat diesen Schritt. Hinauf auf seine Anhöhe und er regte sich nicht, öffnete nicht die Augen. Keinen Spalt weit. Selbst, als ich neben ihm stand, wirkte er so entrückt... im Grunde einfach nicht anwesend. Er schien mich wirklich nicht zu hören und so nahm ich mir Zeit, als ich dort neben ihm stand. Zeit, ihn zu mustern, ihn mir einfach ein wenig zu betrachten.

Wie ordentlich sein Haar gebunden war. Der Zopf saß tief, keine Strähne genoss Freiheit, während sich das lange, blaue Band über seinen Nacken schlängelte. So säuberlich sah er eigentlich meistens aus. So gepflegt, mit Liebe zum Detail. Er gefiel mir. Ein weiteres Mal und es fiel mir nicht schwer, mich bald darauf einfach neben ihn zu setzen. Ich ließ mich sinken, setzte mich ebenfalls in den Schneidersitz und war ihm recht nahe. Fast berührten sich unsere Knie, als ich mich zurechtrückte, die Hände auf die Oberschenkel stemmte und tief durchatmete. Hier fühlte ich mich gut... so richtig gut. So leicht, so unbeschwert. Weil er neben mir ausharrte und auch, wenn er mich nicht ansah, wenn er mich nicht wahrnahm, war er dennoch anwesend und mir so nahe. Ich ließ mich behaglich sinken, schloss kurz die Augen und versuchte seine Wärme mit meinen Sinnen zu erhaschen, sie zu spüren. Ich tat es so oft, stets wenn kaum noch eine Distanz zwischen uns war. Und jetzt wieder. Meine Schulter... meine gesamte rechte Seite badete in der Hitze seines Körpers. Ich spürte sie wirklich und dankte meinen feinen Sinnen für diesen besonderen Genuss.

Nur das leise Flattern Timcanpy’s erhob sich über uns, während ich reglos verharrte. Mein Golem erinnerte mich daran, dass ich rasch aufzubrechen hatte. Dass mir eine Mission bevorstand... doch es hielt mich weitere Augenblicke an diesem Platz. Es waren wohl wenige Minuten, die ich einfach dort saß, die ich auch damit verbrachte, zu ihm zu spähen und so entging mir sein Blinzeln nicht. Plötzlich zuckten seine Lider, plötzlich öffnete er die Augen. Nur einen Spalt weit... und blickte nicht zu mir. Völlig reglos verharrte er, stumm, während er zur gar nicht weit entfernten Tür blickte.

Meine Anwesenheit...

Sie wurde akzeptiert. Still und doch einvernehmlich.

Und es fühlte sich gut an.

Kein mürrisches Zucken der Miene, kein kritischer Blick geschweige denn Worte, mit denen er mir beibrachte, dass ich mich hier und jetzt störend auf ihn auswirkte.

Vermutlich, weil ich es einfach nicht tat.

Ich störte ihn nicht, ich nervte ihn nicht und unter einem leichten Schmunzeln schloss ich mich seinem Schweigen an, fixierte mich auf den Boden. Nebeneinander saßen wir dort, richteten die Augen auf unterschiedliche Punkte und schwiegen uns aus.

Kein Wort könnte diesen Moment schöner machen.

Hier und jetzt begriff ich, wie weit er mich gehen ließ... wie sehr er mein Dasein zu begrüßen schien. Ich machte keinen Fehler, wenn ich nach ihm suchte... nach ihm und all seiner Wärme. Wenn mir danach war, ihn zu sehen oder danach, einfach ein bisschen bei ihm zu sein. Aufgeregt bewegte sich Tim über unseren Köpfen und keiner von uns bedachte ihn mit Aufmerksamkeit. Ich wusste es ja. Ich konnte nicht mehr lange bleiben und behaglich begann ich mich zu regen. Ich richtete mich etwas auf, bewegte die Hände auf den Oberschenkeln und schöpfte tiefen Atem.

„Ich...“, nur leise erhob ich die Stimme. Friedlich in diesem abgeschiedenen Raum, „... muss los.“

Das wollte ich ihm sagen... und ihm im Geheimen meine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen. Dass mir seine Mission sicher war, dass ich sie wirklich bekommen und ebenso nötig hatte. Er hatte keinen Fehler begangen... mir nur ein weiteres Mal geholfen und weitere Momenten vergingen in völliger Stille, bis er mit einem leisen Brummen antwortete. Er hatte es verstanden. Mehr brachte er nicht zum Ausdruck und erneut wandte ich das Gesicht zu ihm und nahm ihn offenherzig in Augenschein. Noch immer blickte er zu dieser Tür, noch immer blieb sein Körper so reglos, als befände er sich noch in der Meditation.

Es wurde Zeit, sich zu verabschieden. In den folgenden ein oder zwei Tagen würden wir uns nicht sehen und es fiel mir schwer, daran zu denken. Ich hatte mich aufzufüllen mit seinem Dasein, wollte ein Teil von ihm mitnehmen und ohne zu zögern hob ich die Hand und führte sie zu ihm... führte sie zu seinem Kinn und berührte dieses mit allerlei Ehrfurcht. Eine vorsichtige, zaghafte Bewegung, auf die ein leichter und doch bestimmter Druck folgte. Ich wandte sein Gesicht zu mir und er ließ sich durch mich bewegen. Seine Augen lösten sich von der Tür, zielstrebig drifteten sie zu mir und kaum hatte ich sein Gesicht vor mir, kaum sah er mich an, da trieb es mich in seine Richtung. Ich neigte mich zu ihm, streckte mich hinauf und kaum spürbar war der Kuss, den ich auf seinen Lippen platzierte.

So zärtlich wie ich imstande war, so vergänglich und doch Kraft spendend. Es kitzelte meine Lippen und nur leicht nahm ich die knappe Bewegung der seinen wahr, bevor ich mich von ihm löste. Er hatte reagiert, den flüchtigen Kuss etwas erwidert und wie genüsslich senkte ich die Lider, als ich mich zurücksetzte und mit den Fingerkuppen sein Kinn hinab strich. Ich löste die Hand von ihm, zog sie zurück und weitere Augenblicke saß ich nur dort und schwelgte in der süßen Reaktion meines Körpers. Dieses leichte Kribbeln, dieses kühle Gefühl auf meinen Armen und als ich bald darauf die Augen öffnete, hatte sich Kanda wieder abgewandt. Wieder spähte er zu dieser Tür und nachdenklich schloss ich mich dieser Musterung an.

Durfte ich ihm danken?

Es aussprechen, was er ohnehin von sich weisen würde?

Nein... weshalb.

Er wusste es.

Ich wusste es.

Mehr brauchte es nicht und so zwang ich mich bald darauf dazu, auf die Beine zu kommen. Ich musste aufbrechen. Mehr als diese wenigen Minuten durfte ich nicht hergeben und ohne Kanda einen weiteren Blick zu schicken, trat ich an ihm vorbei und über die Stufe hinab zur unteren Fläche.

Es genügte. Mehr hatte ich nicht gebraucht und als ich mich an der Tür ein letztes Mal umwandte, sah ich seine Augen wieder geschlossen und ihn in die alte Meditation vertieft. In derselben Haltung, als wäre gerade nichts geschehen, als hätte ich ihn nicht gestört.

Genauso entspannt...

Und wie schmunzelte ich unter dem Wissen meiner Grenzen, als ich die Tür hinter mir schloss und mich von ihm losriss.

Ich hatte dieses einzigartige Recht erhalten... hatte es soeben herausgefunden. Dass ich ihn stören... dass ich bei ihm sein durfte, ohne mich rechtfertigen zu müssen. Dass ich zärtlich zu ihm sein durfte und sofortige Reaktion erhielt.

Soweit durfte ich also gehen.

Bis dahin und vermutlich noch weiter.
 

Ich bereute diesen kurzen Weg nicht. Es hatte sich ausgezahlt und wirklich fühlte ich mich der folgenden Mission weitaus gewachsener, als zuvor. Kanda hatte mich auf diese Mission entsandt, hatte entschieden, dass für mich einen Nutzen hatte und ich war derselben Meinung. Ich war nicht unterwegs an die Front, erwartete auch nicht, mich in große Gefahr zu begeben. Es war ein einfacher Weg, der vor mir lag. Kein sehr Langer, bis ich das Innocence in den Händen hielt und sicher zurückbrachte. Was mir wichtig war, war die frische Luft und die Zeit, die mir dadurch gegeben wurde. Ich konnte mich etwas erholen... hoffte zumindest darauf, dazu imstande zu sein. Etwas Abgeschiedenheit, etwas Ruhe und Distanz würden mir sicher sehr hilfreich sein, um die finsteren Gedanken und die schweren Gefühle aus meinem Inneren zu verbannen. Ihnen zu zeigen, dass sie in mir nichts verloren hatten. Noch nie.

So trat ich hinaus in die Kälte, mummelte mich in meinen Mantel und machte mich auf den Weg in die Stadt. Wenn die Züge und deren Zeit mir zugute kamen, war ich spätestens morgen Mittag zurück. Das spanische Lager war schnell zu erreichen. Je nachdem, wie es mit meiner Muse stand, würde ich dort übernachten, mich keiner Hast aussetzen und ausgeschlafen zurückkehren. Bald stieg ich in den Zug und suchte mir ein angenehmes, stilles Abteil, in welchem ich es mir gemütlich machte. Eine fünfstündige Fahrt erwartete mich und somit ausreichend Gelegenheit, um den alten Grübeleien zu verfallen.

Eigentlich unglaublich... hätte man mir früher erzählt, dass Kanda sich unauffällig und permanent um seine Kollegen kümmerte, hätte ich nur ein belustigtes Schmunzeln für diese Anmaßung übrig gehabt. Ich wäre dem mit herzlich wenig Glauben begegnet, hätte den Erzähler nicht ernst genommen und noch viel später darüber den Kopf geschüttelt. So verhielt man sich in einer Rolle, in der man die Augen schloss und die Ohren versiegelte. So verhielt man sich, wenn man nichts mitbekam und die Meinung sowie die Reaktion nur nach eigenen Erfahrungen formte. Kanda tat so etwas nicht, Kanda war viel zu sehr auf sich selbst konzentriert. Niemals war er dabei zu erwischen, wie er einen besonders musterte oder wie nachdenklich er war. Wie er sich mit fremden Angelegenheiten auseinandersetzte und dementsprechend handelte oder reagierte. Doch ich... ich hatte ihn jetzt schon so oft in dieser Rolle erlebt.

Er sah, wenn es mir schlecht ging... spürte es, nahm es einfach wahr, bevor es andere taten. Seine Sensoren waren so empfindlich, so aufmerksam und feingliedrig.

Er sah, dass es mir schlecht ging und reagierte so ruhig, als ich meinen Saft über ihn verschüttete.

Er sah, dass es mir schlecht ging und forderte Lavi dazu auf, still zu sein, obwohl er sich noch nie für sein Gerede interessiert hatte.

Er sah, dass es mir schlecht ging und schob mir diese Mission zu, die Abgeschiedenheit und Ruhe bereithielt.

Ich... war es nicht gewohnt. Kannte es nicht.

Dass man sich so um mich sorgte. Nie war ich darauf angewiesen gewesen, hatte es einfach nicht kennengelernt und war mit meinen Problemen stets alleine geblieben, weil ich sonst niemanden an sie und gleichermaßen an mich heranließ.

Doch es fühlte sich... gut an. Ich verglich es mit einem warmen Gefühl, tief im Inneren, das entstand, wenn ein anderer ein Auge auf einen hatte. Wenn ein Anderer sich zuständig fühlte und es doch nie in dem Maß tat, dass man ihm dafür danken könnte, beziehungsweise Schuldgefühle aufbaute.

Was für ein zuvorkommendes Verhalten von meinem schweigsamen, abweisenden Kollegen.

Ich spürte diese Wärme.

Ich tat es wirklich.

Seit kurzem.

Und ich wollte von nun an nicht mehr auf sie verzichten. Ich wollte seine Hilfe annehmen, seine Worte und sein Handeln durchschauen und ihm stille Dankbarkeit entgegenbringen. Ich wollte bei ihm sein, wollte ihm ein Lächeln schenken, das so unbeschwert und ehrlich war, dass der die Früchte seines Handelns deutlich vor sich sah. Einen besseren Dank konnte ich ihm nicht geben, einen anderen Dank würde er nicht annehmen. Er war so einfach... so direkt und geradlinig ehrlich. Er war so unkompliziert und umgänglich. Soviel anders, als ich es war. Und ich bewunderte ihn dafür. Ich tat es wirklich.

Fast permanent ruhte dieses Schmunzeln auf meinen Lippen, während ich in meinem Abteil saß und an ihn dachte. Eigentlich tat ich seit geraumer Zeit nichts anderes mehr. Ich erforschte ihn, weil es viel an ihm zu erforschen gab. Soviel interessantes. Er war wie ein Buch, das sich nicht einfach so aufschlagen ließ, doch sehr aufklärend und verständlich war, sobald man es schaffte. Hatte ich es geöffnet?

Vielleicht... doch wenn dem so war, dann hatte ich mich höchstens durch den Prolog gelesen und hatte noch soviel vor mir. Soviel, das meine Neugierde verschlingen würde.

Ich streckte die Beine von mir, spielte mit Tim, der es auf meinem Schoß bequem hatte. Er schien sich auch über unsere kleine Reise zu freuen. Mindestens so sehr, wie ich es tat. Zugegeben, ich fühlte mich immer noch müde, etwas ausgelaugt und in einem anderen Fall kaum bereit für eine lange Mission, die vorgesehen viele Gefahren in sich barg. Viele Kämpfe sowie viele Gegner. Ich bezweifelte, dass ich einer solchen Mission gewachsen wäre und als wäre ich nicht der Einzige gewesen, der so dachte, befand ich mich hier und jetzt auf einem ereignislosen Weg. Einfach auf einer Reise, auf der ich nichts zu befürchten hatte. Doch ich musste sie nutzen. Das wusste ich. Irgendwie... ja, irgendwie musste ich zurück auf die Beine kommen, musste die alte Stärke zurückerlangen und alles vergessen, was geschehen war. Der Alptraum, der mich zu fassen bekam, sobald ich die Augen schloss und mich den sinnlosen Versuchen hingab. Die Panik, die jäh in mir aufstieg und mich des Bewusstseins beraubte. All diese Dinge, die sich in der letzten zeit verschlimmert hatten.

Wusste Kanda von meinem wahren Zustand?

Sah er mehr, als oberflächlich besorgte Augen?

Wusste er, wie viel mit mir nicht stimmte und wie nötig ich eine solche Pause in Wirklichkeit hatte?

Er wusste viel. Zweifellos. Irgendwie hatte ich das Gefühl, es auch ihm schuldig zu sein. Mich zu kräftigen, wieder sicher auf den Beinen zu stehen und den Schlaf mit weniger Graus und Vorsichtig zu begrüßen. Ich schuldete es ihm einfach. Genauso sah es aus. Ich wollte es ihm zeigen, wenn ich wiederkam. Ich wollte, dass er sich keine Sorgen mehr zu machen brauchte. Ich wollte seine Gedankenwelt nicht zu sehr für mich beanspruchen. Sie musste größtenteils ihm selbst und den eigenen Problemen gehören. Nicht mir. Ganz bestimmt nicht nur mir.

Ich tastete nach Tims Flügeln, zog sie in die Länge, knautschte den Golem zusammen und blickte unterdessen aus dem Fenster. Es schneite. Schon wieder. Ich hatte das Gefühl, dass es das seit Tagen tat. Seit einer so langen Zeit. Es wollte gar nicht mehr aufhören. Wie wild sich die Schneeflocken tummelten, wie sie sich umspielten. Wenigstens sie hatten ihre schiere Freude. Ich atmete tief durch, lehnte mich zurück und gegen das angenehme Sitzpolster und schloss kurz die Augen.

Und ich versuchte mich zu erinnern, suchte und wühlte in meinen Gefühlen und stellte mir die Frage, wann ich zuletzt aus vollem Halse gelacht hatte. Wann man mich so amüsierte, dass es sich nicht länger in mir hielt und diese Reaktion und dieses Verhalten so ehrlich aus mir heraus brach. War es überhaupt schon einmal geschehen? Kannte man mich so oder sah man mich als einen ewigen Melancholiker?

Seit wann war ich nicht mehr der Junge, der selbst die eigene Finsternis mit seiner Stärke in die Flucht schlug?

Wann hatte ich mein Veto eingereicht... wann gegen sie verloren?

Hatte ich mich ihr gebeugt? War sie stärker geworden und ich nur umso schwächer?

Ich wusste nur eines. Dass ich zu jenem Zustand zurückzukehren... dass ich mich wieder zu stärken hatte. Eine andere Möglichkeit blieb mir nicht, um zu verhindern, dass meine ganz persönliche Dunkelheit mich mehr und mehr verschluckte.

Vielleicht könnte... er... mir dabei helfen...?

Von dem Zeitpunkt an, an welchem ich nicht mehr stolz genug war, um Hilfe dieser Art abzulehnen. Bis dieser Moment kam.

Hoffentlich tat er es nie. Ich war doch von mir überzeugt, so wie es auch andere waren. Ich wusste, was in mir steckte und was ich noch zu erwecken hatte.

Ich war nicht schwach... ich war ein Kritischer und seit langer Zeit auf der Treppe unterwegs, die nach oben führte.
 

Irgendwann kam ich auf die Beine und löste mich schweren Herzens von dem angenehmen Polster. Der Zug erreichte Saragossa und ich den Punkt, an welchem ich umzusteigen hatte. Das spanische Lager befand sich in der Nähe Tarragonas und war in weiteren drei Zustunden zu erreichen. Noch vor dem Abend war ich also an meinem Ziel, stieg an einer abgelegenen Station aus und schlug mich eine knappe Stunde durch einen dichten, kahlen Wald und durch Schneegestöber, bevor ich die Zelte des Lagers vor mir sah und ebenso das Ende dieser Reise. Es fühlte sich ganz gut an und jetzt, wo die Fahrt hinter mir lag, beschloss ich sofort, in diesem Lager zu übernachten. Gerade jetzt hatte ich meine Kräfte zu schonen und dafür zu sorgen, dass stetig Neue dazu kamen. Ich wollte mir den sofortigen Rückweg nicht abverlangen. Nicht in meinem Zustand und heiter begrüßten mich die in Spanien stationierten. Schon von weitem erkannten sie mich, erleichtert kamen mir zwei Finder entgegen und wie oft wurde meine Hand geschüttelt, nachdem ich das große Hauptzelt erreicht hatte. Man war glücklich über mein Erscheinen und die anfängliche Heiterkeit war beinahe etwas belastend. Doch die Finder und anderen Menschen des Personals hatten Grund zur Erleichterung. Man hielt nicht gerne ein Innocence versteckt, wenn man nicht dazu imstande war, es gegen eine Großmacht zu verteidigen. Gegen eine Großmacht, um die ich mich kümmern würde, würde während meines Aufenthaltes doch noch ein angriff folgen. Es war seltsam, wie rasch der Graf von vereinzelten Standorten erfuhr. Wie flink er seine Handlanger aussandte und wie schnell diese den richtigen Ort erreichten. Als hätte die Welt Ohren.

Zufrieden schüttelte mir auch der leitende Finder die Hand. Die anfängliche Freude war glücklicherweise etwas abgeklungen und keine Stunde später fand ich auch die Gelegenheit für eine warme Mahlzeit. Der Koch des spanischen Lagers wirkte etwas langsam, etwas lethargisch aber Essen zubereiten das konnte er. Ich hatte daran gezweifelt, als er mir zu Gesicht kam aber es war wirklich gut. Es wäre noch besser, hätte ich während dem Essen meine Ruhe, doch es waren so einige Finder, die mir wieder Gesellschaft leisteten.

Irgendwann waren die Fragen alle gleich.

Was sich im Hauptquartier so tat...

Wie es meinen Kollegen ging...

Fragen, auf die ich routiniert antwortete. Diesmal sogar umso schneller und eifriger, da ich die Hoffnung hegte, man würde mich in Ruhe lassen, sobald man seine Antwort hatte. Doch die meisten Finder schienen es sogar zu mögen, mir beim Essen zuzusehen und so wurden meine Nerven sowie meine Kräfte alles andere als geschont. Ernüchternd. Man hielt mich immerzu für einen offenen, freundlichen und allzeit bereiten jungen Mann. Es mochte an meinem falschen Lächeln liegen, an meiner Bescheidenheit und dass ich nie etwas sagte, was andere in ihre Schranken wies. Bei all meinen Fähigkeiten war ich in Gebieten wie diesen beinahe völlig unfähig. Es steckte nicht anders in mir. Ich hatte noch nie anders gelebt, doch allmählich sah ich den Ernst dieser Lage und die Notwendigkeit, vielleicht etwas deutlicher und ehrlicher zu werden. Zu meinem eigenen Wohl. Doch an diesem Tag schwieg ich und akzeptierte alle, die mir Gesellschaft leisteten, an meiner Seite.

Und es war so anstrengend.

So lästig.

Das Lächeln fügte meinem Gesicht Schmerzen zu. Ich spürte diese Verspannungen in meinen Wangen und dass meinem Inneren nicht nach dieser Geste zumute war. Vermutlich fügte ich mir immensen Schaden zu, indem ich all das nicht bedachte und von mir wies. Wieder einmal trieb ich mich zu Verhaltensweisen, die meinem Zustand nicht angemessen waren.

Ich verursachte meine eigenen Schmerzen. Tief in meinem Inneren, das sich nach Ruhe und regungslosen Lippen sehnte. Kein vorgetäuschtes Wohlbefinden, kein Schmunzeln, keine Heiterkeit. Und kaum verließ ich die Runden der Finder und trat in mein kleines, abgelegenes Ruhelager, bröckelten etwaige Mimiken aus meinem Gesicht. Sie bröckelten von mir wie trockener Putz und wie ausdruckslos und müde blieb mein wahres Gesicht zurück. Ich stand vor diesem Bett und die Ohren schmerzten mir von all den aufgeregten, neugierigen Stimmen. Meine Lippen schienen selbst zu erschöpft, um nur ein weiteres Mal zu lächeln und ächzend begann ich mich von meiner Uniform zu befreien. Hier in der Ecke hatte ich meine Ruhe. Dieses Lager war für Gäste meines Ranges eingerichtet. Eine leise Abgeschiedenheit, weit entfernt von den Ecken des Zeltes, in denen sich viele tummelten. Träge warf ich meine Uniform zu einem nahen Stuhl, ließ mich auf die Pritsche sinken und tastete nach meinen stiefeln.

Das war er wieder – der Kopfschmerz. Weshalb dieser Tag so anstrengend gewesen war, konnte ich nicht genau sagen. Wie lange hatte ich ihm Zug meine Ruhe gehabt und wie kurz im Gegensatz die Gesellschaft der Finder ausgestanden. Es war nicht mehr als eine Stunde gewesen und doch eine lange Zeit?

Mein Körper bejahte diesen Fakt und stöhnend schob ich die Stiefel zur Seite und ließ mich einfach auf die dünne Matratze fallen. Es war nicht wie das eigene Bett aber für eine Nacht würde es gehen. Es quietschte leise, als ich mich lang machte. Träge richtete ich auch das Kopfkissen und nachdem ich wenige Momente an die Plane des Zeltes gestarrt hatte, schloss ich die Augen und rollte mich auf die Seite. Draußen wurde es allmählich dunkel. Ich tat nichts Schlechtes, wenn ich mich jetzt schon um etwas Schlaf bemühte. Morgen könnte ich umso eher aufbrechen, umso eher zurückkehren und möglicherweise auch Kanda umso eher wiedersehen. Hoffentlich war nicht auch er auf Mission, wenn ich das Hauptquartier in Frankreich wieder erreichte. Die Gefahr bestand und tat es sehr deutlich. Gerade er war doch so oft auf Langzeitmissionen, die ihm viel abverlangten. Fast öfter als ich es war und das hatte etwas zu bedeuten.

Ich zog die Beine an, kroch etwas in mich zusammen und tastete nach der Decke. Sie lag etwas schief unter mir und es brauchte seine Zeit, bis ich sie über mich streifte und die richtige Bequemlichkeit fand. Aber dann lag ich auch schon still und spürte die ganzen Ausmaße meiner Müdigkeit. Wie könnte ich auch wach sein? Seit Tagen schlief ich wenig bis gar nicht. Doch wenigstens jetzt... ich hoffte zum erneuten Mal. Einschlafen tat ich wirklich sehr rasch. Es wurde schwer. Einfach alles um mich herum und ich selbst ebenso, bis ich das Gefühl hatte, in der dünnen Matratze zu versinken. Ich schlief ein und betete inständig um einen Kraftspendenden, ruhigen und tiefen Schlaf.
 

~*tbc*~



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: abgemeldet
2010-10-17T08:57:18+00:00 17.10.2010 10:57
Ich freu mich dass es Allen jetzt besser geht ^^
Von: abgemeldet
2010-10-16T09:12:17+00:00 16.10.2010 11:12
Einfach toll wie Yuu Allen was von seiner Sicherheit abgibt. das braucht Allen jetzt echt total nötig. Die beidn sind einfach für den anderen geschaffen. Schönes Kapiel ich freu mich auch schon auf quietsymphony!


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