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Der Pfau

Deutschland, das sind wir selber
von

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26 - Kälte

Kalter, abgestandener und bitterer Kaffee. Maximilian rührte ihn nicht an. Das einzige Licht im Korridor kam von einer kränklichen Glühbirne. Das Licht war kühl und freudlos.

Ihn fröstelte. Ein Schluck Kaffee. Widerwärtig. Ein brauner Fleck landete auf dem olivgrünen Linoleumboden. An der fahlen Wand gegenüber hing eine glänzende Fotografie einer uniformierten Familie. Vater, Mutter, Sohn. Alle in Uniformen.
 

Maximilian war müde, erschöpft und konnte sich kaum auf den Beinen halten. Noch ein Schluck Kaffee. Diesmal brachte er es über sich, ihn zu schlucken. Er musste wach bleiben. Rötliche, verquollene Augen betrachteten das Bild. Die Wurstfinger des Vaters lagen auf den wohlgenährten Schultern des Jungen. Die Mutter stand daneben, als gehöre sie nicht dazu. Ihre Haare waren zu einem Dutt hochgesteckt. Niemand lächelte. Nur Maximilian musste schief grinsen.

Das war erst der Anfang solcher Bilder. Grässlich. Uniformierte, einheitliche Familien. Vater, Mutter, Sohn. Uniformen. Kein Lächeln. Sie waren nicht glücklich. Mehr Kinder. War die Mutter schwanger? Mehr Kinder für das Heimatland. Küche, Kirche, Kinder. Kinder, Kinder, Kinder. Das heilige Recht der Frau.
 

Das war ein Anfang, und ein Anfang war auch immer ein Ende. Mit ihm würde es vorbei gehen. Endgültig. Genau wie mit allen anderen. Sie würden sie alle auf die Schlachtbank zerren. ER würde sie alle auf die Schlachtbank ziehen. Und sie würden nichts sagen können. Sie hatten versucht, zu reden, aber sie waren stumm gewesen. Verbundene Münder. Verbundene Augen. Verbundene Ohren.
 

„Maximilian?“ Er wandte den Kopf zur Seite. Lukas war mit Eitel an der rechten Hand zurückgekehrt. Ein schwaches Nicken. Der Junge sah genauso fahl aus wie die Wand. Maximilian sah, wie er schwitzte. Aber er konnte es nicht über sich bringen, ihm durch die zerzausten blonden Haare zu streichen. Er konnte es nicht einmal über sich bringen, dem Schwaben zu antworten, sondern starrte nur wieder das Bild an. Lukas folgte seinem Blick.

Er sagte nichts. Eitel ließ sich schwerfällig auf den Boden sinken. Er sah so müde aus, wie Maximilian sich fühlte. Dann blickte auch er das Bild an. Er lächelte schwach.

„Eine Familie. Können wir nicht auch- Nein- Nicht, oder?“ Seine Stimme klang rau und kratzig.

„Nein, Eitel. Können wir nicht.“ Es war Lukas, der sprach. Sein Griff um die Hand des Jungen blieb hart.

Es gab keine Uhr. Aber die Zeit schritt voran. Unausweichlich. Mit der Zeit schritt ihr Schicksal voran. Die letzten Minuten. Alles konnte geschehen. Alles, was man sich nicht vorzustellen wagte.

„Kaffee?“ fragte Maximilian. Er war erschrocken, wie fremd seine eigene Stimme klang. Im kalten, aber schneidend klaren Licht sah er, dass Lukas genauso schrecklich aussah wie er selbst. Die Haare, sonst so perfekt in die einzig richtige Form gekämmt, hingen lustlos herab. Die Augen waren leer. Tiefe Augenringe gruben sich in die blasse Haut. Schlaf war Luxus. Lukas schüttelte den Kopf. Er lächelte nicht. Er konnte nicht lächeln. Die Mundwinkel waren zu fest eingegraben, als dass er sie bewegen könnte, mit allem, was er aufbringen konnte.

Die Familie auf dem Bild verspottete sie. Maximilian schloss die Augen. Nichts war schlimmer, als zu warten.
 

Die Tür öffnete sich. Schwere Stiefel gingen über zu weichen Teppichboden, versunken geradezu darin. Niemand sprach es aus, aber die drei Länder wünschten sich, diese Menschen würden tatsächlich darin versinken. Und nie wieder herauskommen. Aber sie verschwanden nicht im Teppich, hoben die Hände zum Gruß. Maximilian antwortete, Lukas nicht. Dann waren sie fort, verschluckt von dem endlosen Korridor. Nur Ludwig war da.

Er trug dieselbe Uniform wie der Vater. Sein Mund war zu einem Strich verzogen, aber man konnte das groteske Lächeln fühlen, das dahinter wuchs. Er glaubte daran, dass das richtig war. Er glaubte an die neue Welt.

Sie glaubten auch daran. Irgendwie. Weil ihre Menschen daran glauben wollten. Aber sie kannten die Realität. Sie wussten, dass das ihr Todesurteil war.

Ludwig blickte die drei einen Moment lang an. Ernst. Ernst und zufrieden.

Eitel stand auf. Er blieb an Lukas' Hand hängen. Keine Kraft, um fortzuwehen, um zu spielen, keine Kraft mehr, um zu lächeln. Er sah Ludwig mit großen blauen Augen an, endlos tief, alt und jung, weise und stumpf. Voller Liebe und voller Verachtung.
 

Ludwig sprach. Er redete nicht auf deutsch, sondern auf Juristendeutsch. Maximilian schloss die Augen. Trotzdem sah er das Licht der Glühbirne, die an der kahlen Decke hing und sie verschlingen wollte. Alle wollten sie verschlingen. Es gab nichts warmes mehr in diesem Haus, in diesem Land. Seine Finger waren kalt. Sie sollten tot sein. Ob die anderen die Nachricht auch so empfangen hatten? Ob Bayern allein dagesessen war, ganz allein, und glasig in ihr Bier geblickt hatte? Ob Rheinland-Pfalz noch blutete, aus all den Wunden, aus all den Messerschnitten, wie sie so vielen anderen Ländern zugefügt worden waren?

Nein. Maximilian öffnete die Augen. Nichts hatte sich verändert, noch immer sprach Ludwig, als wäre er kein Mensch mehr. Nicht der Funken von Emotionen lag in seiner Stimme. Eine Maschine. Kalt. Kalt, kalt, kalt. Alles war so kalt. Der Kaffee zitterte, und dann fiel die noch bis zum Rand gefüllte Tasse auf den Boden. Ludwig fluchte, bekam sich wieder unter Kontrolle.
 

Maximilian lächelte ihn an. Müde, so unendlich müde. Er wollte schlafen. In einem warmen Bett, nicht allein, mit jemandem, der warm war. Aber es gab niemanden Warmen mehr. Die klamme Hand von Lukas legte sich auf seine Schulter. Durch den dünnen Stoff konnte er den Schweiß auf der Handfläche spüren.
 

„Zigarette?“ Er kramte in seinem Trenchcoat herum. Der Umhang war verbeult, getragen und voller Flicken. Eine dünne Schachtel wurde herausgezogen. Ludwig verneinte. Lukas nahm eine.

Das Feuerzeug sprang nicht an. Es gab noch nicht einmal einen Funken. Hilfsbereit zog Ludwig eine Streichholzschachtel heraus. Noch immer fehlte das geduldige Ticken einer Uhr. Der Rauch aus zwei Zigaretten stieg empor und zog in die Wände ein, zu dem anderen kalten Rauch, der seit Jahren schon hier hing. Maximilian nahm einen tiefen Zug, und der blaue Dunst umwaberte seinen Kopf, ehe er sich verzog.
 

„Es ist gut, Ludwig. Du musst nichts mehr sagen. Alle Straßen führen nach Berlin.“ Er lachte zu sich selbst, als hätte er einen Witz gemacht. Freudlos und dumpf, wie durch ein Leichentuch.

Lukas' Blick auf Ludwig war so kalt wie das Licht, das sie alle berührte mit seinen spitzen, nüchternen Fingern. „Wir hatten seit 1871 keine wahre Souveränität mehr. Wir haben verstanden. Wir sind ein Hindernis bei der neuen Welt.“
 

Ludwig nickte. „Ich will euch nicht töten. Niemand will euch töten.“

Maximilians Lachen wurde lauter. Fratzenhafter. Verzerrter und distanzierter, als würde es nicht von ihm selbst kommen. „Niemand will uns töten.“ Lukas sah zu Boden, seine Mundwinkel hatten sich nach oben verzogen und er hatte die Augen geschlossen. Eitel drängte sich eng an ihn, ließ die Hand los und stellte sich vor ihn. Sofort fanden sich Lukas' Hände auf den dünnen, abgemagerten Schultern des Jungen wieder. „Niemand will uns töten.“, wiederholte er Maximilians Worte. Sanft und zerbrechlich.

Ludwig schüttelte den Kopf. Das wurde ihm zuviel. Kopfschmerzen begannen, an seine Schläfen zu pochen. Der Kaffee floss langsam unter seine Stiefel. Er würde sie wieder polieren müssen. „Ich will euer bestes. Gau Baden und Gau Württemberg-Hohenzollern. Ihr habt zwei der besten Männer der Partei.“ Lukas wollte niemanden von der Partei. Maximilian sah die Wand hinter Ludwig an, und er lächelte immer noch. Ludwig beugte sich zu Eitel hinab. „Kleiner. Das ist doch in Ordnung für dich?“ In seiner Stimme war kein Hauch von Interesse zu spüren. Eitel schloss die Augen krampfhaft, versuchte, sich zu verstecken.
 

Ludwig richtete sich wieder auf. Sein Blick fiel auf das Bild der Familie, das an der Wand hing, und dann sah er Baden, Württemberg und Hohenzollern an. Er lächelte nicht, aber in seinem Tonfall war Amusement zu hören. „Lustig. Als wäre die Familie zum Leben erwacht. Ohne Uniformen. Aber das kommt noch.“

Als er ging, fuhr er Eitel durch die Haare. Er hob die Hand zum Gruß. Keines der Länder grüßte zurück. Dann hatte der Korridor auch Ludwig verschlungen. Plitsch, platsch, machte er auf dem Linoleum, mit von Kaffee durchtränkten Sohlen.
 

Lukas' Hände verkrampften sich um Eitels Schultern. Maximilian hörte auf, zu lachen. Er drehte sich um und nahm das Bild von der Wand. Es war auf einem einzelnen Nagel aufgehängt worden. Lange Zeit starrte er es an.

Dann hängte er es zurück. Als er redete, schien er mit dem Bild zu sprechen. „Zum Leben erwacht, hat er gesagt. Uniformen.“ Lukas schnaubte auf und er drehte sich mit mehr Energie um, als Maximilian dachte, jemals wieder greifen zu können. Wieder fand sich eine klamme Hand auf seiner Schulter, aber diesmal schüttelte er sie ab.

„Leben nennt er das?! Er nennt uns lebendig?!“ Verzweiflung war in der Stimme des Schwaben. „Er ist blind.“

„Da ist er nicht allein.“ Im Glas, der das Bild beschützte, konnte Maximilian seine eigene Reflektion sehen. Was war aus ihm geworden, seit wann sah er aus wie eine wandelnde Leiche? Blasse Haut, eingefallene Augen und tiefe Furchen in der Stirn. Hinter ihm stand Lukas. „Wir sind alle blind.“

Er konnte das Nicken hinter sich sehen.

„Und das ist unsere Rechnung.“ Zärtlich strich Lukas durch Eitels Haar, der still neben ihm stand. „Wir waren zu blind. Und jetzt haben sie uns getötet. Wieviel Zeit haben wir noch, ein Jahr? Zwei Jahre? Zeit, bis Ludwig diesen Krieg beginnt?“

„Hör auf. Sei still.“ Maximilian wandte sich um. Sie waren auf einer Augenhöhe. Helle und dunkle Augen sahen sich an. In keinem war mehr der Glanz vergangener Tage zu sehen. Nicht einmal Hoffnung funkelte noch als kleines Licht. Nichts mehr.

Er war still. Sie konnten alle spüren, dass mit diesem Regime ein neues Kapitel aufgeschlagen wurde.
 

Und sie hatten keinen Platz mehr in diesem Kapitel.
 

Eisige Kälte umklammerte sie. Die Familie starrte sie aus toten Augen an. Sie würden erfrieren. Und niemand würde sie begraben. Ihre Leichen würden auskühlen und erkalten, und ihre Blicke würden so tot sein wie die der uniformierten Familie, und sie würden den mondlosen Nachthimmel anstarren.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  moi_seize_ans
2010-08-17T10:27:59+00:00 17.08.2010 12:27
Also, zu aller erst, kalter, abgestandener Kaffee ist wirklich nicht mit Worten zu beschreiben. Das Zeug ist so verdammt eklig, meine Fußnägel rollen sich hoch, wenn ich nur daran denke. Geschweigedenn davon lese. Bäh.

Aber er passt gut in das Kapitel hinein. Ich finde es wirklich klasse, aber das kennt man ja von dir. ;P
Besonders Ludwig hat mir gefallen, und selbstverständlich Eitel. Im Allgemeinen war die Interaktion zwischen den Vieren echt verdammt gut beschrieben. Man, wie machst du das nur immer?
Wenn du einen Kuchen mit deiner Awesomeness bäckst, will ich gefälligst ein Stück abhaben. ;D


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