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Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil 2

Zwischen Gott und Teufel
von

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Erwischt

Ich wich zurück und sah hektisch zur Küchentür, gleichzeitig hasste ich mich für meine Panik. Das Holz verriet, dass ich die Küche verlassen hatte. Überall lagen Holz, Sand und Pfeifenteile. Dann warf ich einen Blick zur Treppe und mir fiel ein, dass es oben zwar ein Fenster gab, aber dieses war genauso verriegelt, wie das untere. Wo hatte sich Gilian versteckt, als ich hinunter gekommen war? Ich entdeckte den Spalt zwischen Treppenunterseite und Wand, doch zu spät:

Das Schloss vor mir knackte, ich wich abermals einen Schritt zurück, dann warf ich mich hinter die Tür. Diese wurde geöffnet und die zwei Wachmänner, begleitet von Gilian, betraten das Zimmer. Zu meiner Verzweiflung blieben sie unmittelbar in der Tür stehen, nur wenige Zentimeter vor mir. Der Händler war der erste, der reagierte und aufgebracht feststellte: „Er ist entkommen!“ Er stürmte vor in die Küche, das war meine Chance. Mit einem heftigen Schlag stieß ich die Tür gegen den ersten der Wachmänner, sprang vor und ergriff die Flucht.

Ich bekam mit, wie er taumelte und Gilian zu schreien begann: „Nein! Lasst ihn nicht entkommen!“ und dann setzten sie mir nach.

Die erste Wache ließ bereits nach einigen Schritten von mir ab und wandte sich dem Weg zur Wachstation zu, um Verstärkung zu holen, die zweite jedoch jagte mir nach, wie ein Besessener. Ich versuchte dem Mann zu entkommen, indem ich in die kleineren und engeren Gassen schlitterte, doch ich schaffte es einfach nicht, mehr an Tempo zuzulegen, als er. Der Soldat hatte wesentlich mehr Ausdauer, zudem schien er sich bestens in der Stadt auszukennen. Ich bog in eine Seitenstraße ein und registrierte gerade noch rechtzeitig, dass er mir plötzlich entgegen kam. Dann riss er mich am Umhang zu sich. Unbeholfen schlug ich ihn weg und so bekam er nur meine Kapuze zu fassen, woraufhin er sie mir vom Kopf riss. Gilian, der uns nach gehechtet war, schrie laut: „Ihr?!“

Schockiert starrte ich ihn an, dann riss ich mich los und flüchtete weiter. Nun war es vorbei, sie hatten mich gesehen. Ich rannte, so schnell ich konnte, ohne wirklich darauf zu achten, wohin eigentlich und nach einigen Minuten registrierte ich, dass die Blauröcke sich vermehrt hatten. Der Mann war mit Verstärkung zurückgekehrt.

Lautes Rufen hallte durch die Gassen, überall entzündete sich Licht und etliche Schritte kamen näher und näher. „Bleib stehen!“, brüllte mir einer immer und immer wieder hinterher. „Bleib endlich stehen!“

Doch ich dachte gar nicht daran. Ich rammte gegen einen Heuwagen, als ich um eine Ecke eilte, stolperte über Fässer oder rannte eine Leiter um, Stoßgebete zum Himmel sendend und um Luft ringend. Schon packte man mich erneut.

Diesmal versuchte ich nicht, mich versteckt zu halten, sondern trat meinem Häscher in die Magengrube und keifte: „Lasst mich los!“

Für einen Moment, einen winzigen Augenblick, sahen wir uns direkt an. Der Soldat mit den buschigen, schwarzen Augenbrauen schaute mir direkt ins Gesicht und unsere Blicke trafen sich in dieser nicht einmal Sekunde. Nun wissen sie, wie ich aussehe!, schoss es mir durch den Kopf, dann ging die Hetzjagd weiter.

Als ich Brehms betreten hatte und das erste Mal die vielen Winkel und Ecken gesehen, hatte ich gedacht, nirgendwo konnte man so gut entkommen, wie hier. Nun merkte ich, dass ich damit falsch lag. Wenn man sich so wenig auskannte, wie es bei mir der Fall war, dann hatte man bei einer Flucht lediglich Probleme. Immer wieder rannte ich in Sackgassen hinein, musste umdrehen und wieder hinaus rennen, dabei Zeit und Freiraum verlierend. Nur durch einen Straßenabschnitt, der kaum beleuchtet war, gelang es mir, zu entkommen. Ich taumelte durch Brehms, schweißgebadet und mit so starkem Herzschlag, dass es mich in Seiten und Brustkorb zog. Die Blauröcke suchten noch immer nach mir, das hörte man und in manchen der Gassen liefen Männer mit Fackeln umher.

Ich war in einem Haus eingebrochen und die ganze Stadt wusste davon.

Marie wusste es jedoch noch nicht. Sie begrüßte mich knapp und ließ mich aufs Zimmer gehen, besorgt mein erschöpftes Gesicht musternd, aber kein Wort sagend. Ich war dankbar dafür, denn in meinem Kopf machten sich Paranoia und Verfolgungsangst breit. Ich sah mich in meinem Zimmer um, als könnte überall ein Uniformter stehen und obwohl der Hinterhof nicht zugängig war, starrte ich immer wieder hinunter. Wie sollte ich Nevar dieses Missgeschick erklären, wie Domenico und wie sollte ich sie davon überzeugen, mir eine neue Chance zu geben? Ich fand keinen Schlaf in dieser Nacht und ununterbrochen musste ich aufstehen, um an der Tür zu lauschen, aus Angst, sie würden die Gäste nach mir befragen. Was sollte ich nur tun?

Allem Anschein nach hatte Gilian nicht annähernd etwas mit Samaritern zu tun, im Gegenteil, er wirkte wie ein gottesfürchtiger Mann. Das bedeutete, dieser ganze Aufwand war völlig umsonst gewesen. Ich hatte nichts vorzubringen, mit dem ich meinen Fehler entschuldigen konnte. Ich begann auf und ab zu gehen und vergaß vollkommen, meine Kleider auszuziehen, so sehr war ich in Unruhe. Sie würden mich hängen, schlimmer noch, foltern, wenn sie heraus bekämen, wer ich wirklich war. Ich war ein Ketzer, ein Mörder, ein Verräter des Christentums, das mussten sogar Brehmser Soldaten einsehen. Es brauchte nur einer von ihnen zu mir kommen und mich ansehen, sicher kannte nun jeder von ihnen mein Gesicht. Hätte ich doch nur hinter die Treppe geschaut, hätte ich Gilian doch nur bemerkt und hätte ich doch nur einen Fluchtweg bereit gelegt! Ich war vorgegangen, wie ein Anfänger, nein, ich war ein Anfänger! Das musste sogar Domenico einsehen, ich war nutzlos und nicht weiter verwendbar.

Als die Sonne aufzugehen begann, wurde ich etwas ruhiger, denn nach so vielen Stunden hatte scheinbar noch immer niemand herausgefunden, wo ich eigentlich war. Ich durfte kein Aufsehen erregen, ich musste zu Meister Pepe und arbeiten, wie an jedem Tag.

Das war leichter gesagt, als getan. Die Schwierigkeiten begannen schon darin, dass ich unter starken Schwindelgefühlen litt und allein schon auf dem Weg zum Skriptorioum eine Pause machen musste. Meine kaputte Hand versteckte ich unter meinem Hemdärmel, aber auch meinem restlichen Körper sah man meine Probleme an. Brad bemerkte meine Blässe als erstes und versuchte, mir so viel ab zu nehmen, wie möglich und auch dem Meister fiel meine Übelkeit früher oder später auf. Öfters saß ich einfach nur am Pult und starrte aus dem Fenster, aus Angst, ein Blaurock würde hineinsehen und mich erkennen und die Pause verbrachte ich das erste Mal im Schreibladen, denn auf keinen Fall wollte ich über den Marktplatz. Ich zuckte zusammen, sobald man mich nur ansprach und wenn Meister Pepe mir längere Blicke zuwarf, fiel mir das Schlucken unheimlich schwer.

Wie erleichtert ich war, als der Abend sich näherte, denn ein ganzer Tag ohne entdeckt zu werden hieß, dass sie von mir abließen. Vielleicht war ich in ihren Augen nur ein einfacher Straßendieb und eine Verfolgung gar nicht wert? Doch ich sah beim Vorbeigehen, wie ein Soldat mit düsterer Miene umher lief und scheinbar nach mir suchte. Es war nicht vorbei, auf keinen Fall. Sie suchten mich, das bildete ich mir auf keinen Fall ein. Während meines gemeinsamen Laufens mit Brad zum Platz des alten Henrys sprach ich kein einziges Wort und ich sah mich so oft um, dass es sogar ihn nervös machte und er immer wieder fragte, was denn bloß mit mir los sei. Er erkundigte sich, ob Morgan wieder in der Rum-Marie wäre – scheinbar hatte Meister Pepe ihm davon erzählt und nun machte er sich Sorgen, ich hätte Angst vor ihm. Ich konnte Brad kaum dankbar dafür sein, viel mehr fürchtete ich, im Gasthaus würden sie bereits auf mich warten. Ich spielte sogar mit dem Gedanken, draußen zu übernachten, doch einen halberfrorenen zu finden und dann als Dieb zu enttarnen würde alles nur erleichtern.

Der nächste Tag verlief ähnlich ab und der darauffolgende ebenfalls, doch ich wurde immer ruhiger. Die Soldaten wurden wieder weniger, bis auf wenige Patrouillen die die Skulpturen bewachen sollten und am dritten Tag war ich langsam wieder ich selbst.

Ich wagte es, in meiner Pause über den Markt zu spazieren und auch, wieder normal mit Brad zu sprechen, dennoch ließ es mir keine Ruhe. Statt nur Angst vor den Blauröcken zu haben, bekam ich nun auch Angst, Nevar würde auftauchen. Ich wollte nicht mit ihm reden, ich wollte mein neues Leben nicht aufgeben müssen.

Gegen Abend, als ich allein zurückkehrte, wurde mir dieses Gefühl nur umso bewusster. Ich ging durch die dämmrigen Tunnel auf dem Weg zur Rum-Marie und ein unbewusstes Zittern erfüllte meinen Körper. Ich hatte Angst vor Domenico und auch vor seiner Reaktion. Ich hatte Angst vor der Deo Volente, mehr als davor, an einem Strick am Baum zu hängen aufgrund eines Einbruches. Diesmal war nirgends eine Prostituierte und die Gänge waren nur matt beleuchtet. Wäre kein Gewölbe über mir, würde ich wahrscheinlich den abnehmenden Mond sehen, einen bewölkten Himmel und einige, hell leuchtende Sterne. Es wirkte auf mich, als würde ich den Gängen zur Hölle folgen, denn jede Heimkehr könnte bedeuten, dass Nevar auf meinem Bett saß, die Arme unter dem Umhang verschränkt und mit ruhigem Blick auf mich wartend.

Plötzlich hörte ich eine Stimme unmittelbar hinter mir. Ein Mann sprach leise und gedehnt: „Falcon O’Connor.“, und fast wie ein lauerndes Tier, das endlich seine Beute gefunden hatte, flüsterte er: „Was für ein Zufall, dass wir uns gerade hier begegnen, nicht wahr?“

Ich verlangsame meine letzten Schritte, dann blieb ich stehen, wie ein ertapptes Kind. Vor mir traten fünf Blauröcke aus dem Gasthaus und ich erkannte anhand der Schatten, dass hinter mir ebenso viele waren. Bemüht ruhig drehte ich mich herum und zwang mich zu einem Lächeln, doch meine Knie wurden mir weich und sofort konnte ich kaum noch stehen. Den Mann vor mir hatte ich noch nie zuvor gesehen. Er war groß, muskulös und wirkte durch das wenige Licht bedrohlich.

„Ja, richtig, wie kann ich helfen?“, krächzte ich etwas. Nun war es aus.

Meine Gedanken schlugen Purzelbäume und unbewusst griff ich an das Messer unter meinem Umhang. Die Kapuze hatte ich noch immer tief ins Gesicht gezogen, doch das störte den Soldaten nicht. Er lächelte ebenfalls und bat mich freundlich:

„Wenn Ihr mir bitte Euer Gesicht zeigen würdet?“

„Aber natürlich.“, stotterte ich und gehorchte. Ich kam mir schrecklich nackt und enttarnt vor. Unsinniger Weise dachte ich sofort, sie wüssten alles über mich, jede noch so kleine Minute meines Lebens. Ich versuchte, mich zur Ruhe zu zwingen, doch die etlichen Blicke auf mir ließen es nicht zu. War der Wachmann dabei, der mich festgehalten hatte? War jemand anwesend, der wusste, wie ich aussah? Ich wagte es nicht, mich umzusehen, stattdessen sah ich dem scheinbaren Kommandanten entgegen. Mir fiel ein kleines goldenes Kreuz auf, das an seiner Halskette sichtbar über seinem Hemd hing, dann schoss mir ein Gedanke durch den Kopf:

Die Kreuzer!

„Ihr seid also Falcon O'Connor. Mein Name ist Stewart, Norman Stewart.“

„Freut mich, Euch kennen zu lernen.“, sagte ich unsicher und warf einen Blick über die Schulter zum Eingang des Wirtshauses. Keiner war zu sehen, bis auf die Soldaten, die Tür war wieder geschlossen worden.

„Leider ist die Freude nicht ganz meinerseits.“, gab mein Gegenüber zu und baute sich etwas näher vor mir auf. Er war ein imposanter Anblick im dämmrigen Licht, mit seinem gigantischen Schatten und den hellen, blauen Farben der Uniformen. „Aber das lässt sich ja ändern.“

„Ich verstehe nicht ganz.“, gab ich zu und wich einen Schritt zurück. „Was genau ist denn los?“

„Ihr werdet des Einbruches verdächtigt, Falcon und des Mordes.“

„Mordes?“, entfuhr es mir. „Einbruch? Aber das ist Unsinn, ich war im Skriptorium, ich arbeite dort!“

„Ich muss Euch bitten, mit uns zu kommen.“, erklärte mir Stewart ungerührt. „Für eine...Befragung. Das stört Euch doch nicht?“

„Selbstverständlich nicht. Ich bin nur sehr erschöpft und-...“, doch weiter kam ich nicht. Zwei Blauröcke traten vor, packten meine Arme und verdrehten sie mir schmerzhaft in den Rücken, während einer meine Haare hielt. Ich stieß einen gequälten Laut aus, als sie an meine blauen Finger kamen, dann wurde ich gezwungen, gebeugt mit ihnen zu laufen. Schweigend ging ich mit, zu protestierten brachte ohnehin nichts. Die Blauröcke hatten mich gefesselt und abgeführt, ohne eine weitere Reaktion abzuwarten.

Wir steuerten ein kleines, steinernes Gebäude an, bewacht von einigen Soldaten. Es glich einer kleinen, einräumigen Steinhütte, mehr nicht, allerdings ging es von dort aus eine Steintreppe hinunter in die Tiefe.

Bereits auf dem Weg hinein vorbei an den zwei finsteren Posten wurde mir immer klarer, dass meine Chancen mehr schlecht als recht aussahen, aber bei den Gängen im Inneren erschien mir die Lage aussichtslos. Hinter jeder Tür stand scheinbar eine neue Wache und man brachte mich weit hinunter in eine Zelle, also an verdammt vielen Türen vorbei. Dort stieß man mich gefesselt in ein Zimmer und wies mich an, stehen zu bleiben. Ich gehorchte unsicher, den drohenden Blick eines Blaurockes direkt vor mir, der andere untersuchte mich, keine Rücksicht darauf nehmend, ob ich Schmerzen hatte. Er befahl mir unfreundlich, aus meinen Stiefeln zu schlüpfen und durchsuchte jedes meiner Kleidungsstücke ganz genau. Dabei fand er mein Messer und etwas Geld, mehr nicht, doch das schien ihn zufrieden zu stimmen. Anschließend ging er hinaus. Es dauerte, bis er mit einem Holzstuhl zurückkam und Anweisung gab, mich darauf zu setzen und so sah ich mich um, während man mich fesselte. Wie tief unter der Erde waren wir? Es war kalt und muffig.

Das Zimmer war lediglich ein normaler, viereckiger Raum durch und durch aus kaltem, grauem Stein. In der Mitte stand mein Stuhl, an der Wand gegenüber der Tür war ein Holztisch. Ich fragte mich, wofür er war, denn die dunklen Flecken auf der Tischplatte und auf dem Boden ließen nicht vermuten, dass man hier fröhlich Äpfel schälte, um sie zu Essen. Neben der Tür erkannte ich eine Art Rad. Es erinnerte mich an das Steuerrad eines Schiffes, aber wofür es war, wusste ich nicht. Da es nur eine Kerze je Wand gab waren Decke und Ecken für mich fast vollkommen schwarz. Ob Nevar wusste, wo ich mich befand? Vielleicht war es ihm auch einfach egal. Vielleicht war ich nun in die Ungnade der Deo Volente gefallen und es gab niemanden mehr, der Interesse daran hegte, mich hier hinaus zu holen.

Die Tatsache, dass ich nicht zu einem Richter gebracht wurde, zeigte, dass ich vielleicht doch noch Chancen hatte. Man befragte mich, man klagte mich nicht an. Vielleicht wusste man nicht, wer ich wirklich war.

Doch wieso Mord? Wieso wurde ich schon wieder des Mordes beschuldigt?

Lange Zeit saß ich mit dem Rücken zur Tür, die Arme schmerzhaft fest einzeln an die hinteren Stuhlbeine gefesselt, meine Beine an die vorderen und meinen Oberkörper mit einem Seil um die Lehne herum gebunden. Es fiel mir schwer zu atmen, da die Schnürung zu fest für meinen Brustkorb war und mehrmals versuchte ich wie aus einem Zwang heraus tief Luft zu holen. Es wirkte fast, als müsste ich regelmäßig testen, ob es denn noch möglich wäre. Dann öffnete sich die Tür und ich zuckte ungewollt zusammen.

Weder hatte ich vorher Schritte gehört, noch jemanden die Klinke herunter drücken und da der Eingang sich hinter mir befand, konnte ich nicht sehen, was geschah. Die Tür musste unheimlich dick sein. Ohne zu wissen, wieso, schoss mir der Gedanke durch den Kopf:

Wenn du schreist, hört dich niemand, Sullivan.

Ich hörte kurze Schritte, dann knallte die Tür erneut zu. Unsicherheit legte sich über mich und ich verstand, dass das Absicht war. Wie viele standen hinter mir? Oder waren sie hinausgegangen? Würde jemand plötzlich seine Hand auf meine Schulter legen? Mir ins Ohr schreien, wenn ich nicht mit rechne? Wie lange wollten sie dieses Spiel nun spielen? Bis ich von mir aus gestand?

Doch nichts davon geschah. Ich versuchte Atem zu hören, Schlucken, sogar Herzschlag, aber umso mehr ich es wollte, desto mehr meinte ich es von überall zu hören. Ich schloss die Augen und zwang mich zur Ruhe. Ich würde mich nicht erschrecken. Diese Spielchen würden mich nicht verunsichern, niemals. Niemals würde ich auch nur zucken, wegen solchen Kindereien! Das sagte ich mir immer und immer wieder, eine halbe Stunde lang, während ich fieberhaft überlegte, was genau hier vor sich ging. Slades Worte über die Kreuzer spukten in meinem Kopf umher und versuchten, mich verrückt zu machen. Das schlimmste war, es funktionierte.

Ich sprang fast hoch, so sehr riss mich die aufdonnernde Tür aus den Gedanken. Mein Herz machte einen Satz und ich schloss die Augen um mich zu beruhigen. Vor Schreck hatte ich Luft geholt und nun stach mein Brustkorb schmerzhaft.

Ein Blaurock marschierte vor mich und stellte unsanft einen weiteren Holzstuhl vor meine Füße, ein anderer platzierte fast liebevoll ein rotes Samtkissen mit goldenen Verzierungen und Bommeln an Rändern und Ecken und dann hörte ich die Schritte eines dritten, ruhigeren Mannes. Die zwei Soldaten platzierten sich rechts und links hinter dem Stuhl und Norman Stewart stolzierte wie ein stolzer Hahn in den Raum. Es widerte mich an sein breites Kreuz in dem blauen Mantel zu sehen, die schwarzen Haare – er hatte seine Perücke abgenommen - und das Schwert an seinem Gürtel. Aber noch mehr widerte es mich an, als ich seine Visage von vorne sah. Es sah fast menschlich aus, ohne Puder und mit schwarzbraunem Haar. Mir war der Mann unsympathisch, ehe ich ihn eigentlich kannte. Wahrscheinlich sah er mir mein Missfallen an, denn er schmunzelte amüsiert und begrüßte mich freundlich: „Willkommen in Eurem Zuhause für die nächsten vierundzwanzig Stunden – wenn alles zu unserer Zufriedenheit läuft. Nächste Woche werdet Ihr dem Gericht überbracht, aber bis dahin bleibt Ihr hier.“

Ich sah ihm unsicher entgegen, aber aufgrund meines Hasses etwas gefestigter. Während der letzten fast Stunde hatte ich versucht, mich zu beruhigen und nun schien es Früchte zu tragen. „Ich verstehe nicht, was ich getan haben soll.“

Stewart schüttelte den Kopf. „Natürlich nicht. Ihr seid bei Gilian Daly eingebrochen und habt vor gut zwei Wochen Luke Caviness getötet.“

„Wen?“, fragte ich etwas bissig.

„Es ist in Ordnung, dass Ihr es nicht mehr wisst. Ich weiß es ja.“, war seine Antwort. Er lehnte sich zurück, legte den rechten Knöchel auf sein linkes Knie und verschränkte die Arme. Nachdenklich, aber durchaus überlegen, starrte Stewart mich an. Ich versuchte seinem Blick stand zu halten und drehte meine Hände etwas, um den Druck des Seils zu reduzieren – vergeblich.

„Ihr seid also ein Dieb“, überlegte er laut. Ich schwieg und sah ihn nur weiter an. Der Soldat wog den Kopf. „Aber Ihr seid Kopist. Wieso sollte ein Kopist stehlen? Aber Ihr wolltet stehlen. Zumindest hat es den Anschein.“, einige Sekunden sagte er nichts mehr, dann flüsterte der Blaurock: „Man könnte glatt meinen, Ihr wärt bei Gilian gewesen, um etwas ganz anderes, als Reichtum zu suchen. Ist es nicht so?“

„Wenn Ihr das sagt?“, wich ich der Frage ungekonnt aus und gab auf. Nun schmerzten meine Handgelenke nur umso mehr.

Mein Gegenüber bewegte sich nicht annähernd, sondern grinste nur. „Und? Was habt Ihr bei ihm gesucht?“

„Vielleicht hatte ich Langeweile.“, scherzte ich. „Kopist zu sein ist eintönig.“

„Ihr wärt dumm, wenn Ihr ein solches Leben für Langeweile riskiert.“, und nach einigem Schweigen flüsterte er: „Aber das seid Ihr nicht, O'Connor. Ganz und gar nicht. Ich muss sagen, die Art und Weise, wie Ihr aus der Küche entkommen seid, war eine wirklich Meisterleistung.“

„Ich danke für das Kompliment, Herr, aber was genau meint Ihr?“, lächelte ich hilflos, Stewart schwieg abermals. Ich meinte das Rattern in seinem Kopf richtig hören zu können, während er mich anglotzte, als würde allein mein Anblick ihm tausend Antworten liefern. Insgeheim hoffte ich, dass dem so war. Lieber war mir, er würde auf alles selbst kommen, als dass er mich ernsthaft befragte. Ich hob kurz meine Zehen an, um sicher zu gehen, dass sie noch durchblutet waren, dann atmete ich tief ein, so weit es ging. Die Seile engten mich ein und machten mich nervös, ich hatte das Gefühl zu ersticken. Zudem wollte ich weg. Ich wusste nicht, ob ich über die Deo Volente sprechen durfte, das hatte man mir niemals gesagt. Nur Domenico durfte ich nicht erwähnen. Oder war es bei den Kreuzern in Ordnung? Schließlich unterstanden sie Domenico oder nicht?

Stewart setzte die Stiefel zurück auf dem Boden, lehnte die Ellenbogen auf seine Oberschenkel und beugte sich zu mir vor. Leise flüsterte er, jedoch völlig ruhig: „Falcon O'Connor, ich frage ein weiteres Mal: Was habt Ihr bei Gilian gesucht?“

„Nichts?“, gab ich zögernd zurück. „Eigentlich war ich sogar nur durch Zufall dort in der Nähe.“

„Durch Zufall?“

„Ja. Reiner Zufall sogar. Sozusagen.“

Er lehnte sich wieder zurück, bevor er den Wachen deutete, sie sollen verschwinden. Die zwei tauschten unsichere Blicke aus, ehe sie dem höflichen Befehl nachgingen und die Tür ein letztes Mal zufallen ließen. Dann wurde abgeschlossen, ungewollt schluckte ich schwer.

Nun war sein Blick nicht mehr so freundlich, sondern eher düster. „O’Connor? Wisst Ihr, wofür der Tisch hinter mir ist?“

Ich warf einen Blick zum gemeinten Möbelstück, als hätte ich es bis jetzt noch gar nicht registriert, dann sah ich ihn wieder unsicher an. „Ich…nehme an, nicht um daran Mittag zu essen, nicht wahr?“

„Nicht wirklich.“, brummte er nur, ohne den Blick von mir abzuwenden. „Ich breite darauf gerne meine Werkzeuge aus. Ich habe diesen Tisch extra dafür anfertigen lassen. Er hat die ideale Größe und Breite, so dass ich all meine Geräte fein säuberlich darauf anordnen kann und zwar so, dass es dennoch symmetrisch und ordentlich wirkt, fast schon elegant.“, nun drehte der Blaurock sich herum und betrachtete sein Werk, ehe er verliebt fortfuhr: „Oben rechts stelle ich eine Kerze hin, dann glitzern die Klingen und die Griffe schimmern leicht orange. Zuerst meine Messer, sieben Stück, in sieben Größen. Dann folgen meine zwei Scheren, meine drei Zangen, meine fünf Klemmbänder, meine sechs Riemen, meine Katze, mein Hammer, meine Nägel, meine zwei Pfähle, Schraubzwingen...“, er ließ die genannten Dinge kurz auf mich wirken und sah mich wieder an. Ich erwischte mich, wie ein Schweißtropfen sich aus meinen Haaren löste und meinen Nacken hinunter lief. Leise fuhr er fort: „Oben links stehen ein paar kleine Fässer und Gläser mit den interessantesten Dingen wie Betäubungsmittel, Alkohol, Pfeffer, Salz, Essig. Wusstet Ihr, dass es in Napaj ein Gewürz gibt, dass so schmerzhaft scharf ist, dass selbst mir die Tränen kommen?“, ungewollt schüttelte ich mit dem Kopf. Stewart grinste etwas breiter. „Ganz links, dort wo kein Blut hinkommt, platziere ich mein Pergament, die Feder und die Tinte für das Protokoll. Das Tintenfass hat übrigens dieselbe Form, wie jene mit den Gewürzen, ein ganz entzückender Anblick. Und rechts daneben, wieder zur Kerze hin, liegen säuberlich zusammengerollt meine schimmernden Ketten, ein paar Gewichte, ein Nadel-Etui, eine kleine Säge… Die Säge ist mein absolutes Lieblingsstück. Wenn man sie richtig hinlegt ist der Lichtpunkt immer direkt am oberen Rand. Schade, dass Ihr es wohl nicht sehen werdet, es ist wirklich ein wunderschöner Anblick. Ich habe bereits überlegt, ob ich es malen lassen soll. Aber ich denke, einige meiner Gäste fänden ein solches Bild im Esszimmer recht…makaber.“, ich sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren, wagte es aber nicht, ihn mit einer Antwort womöglich zu provozieren. Der Blaurock warf wieder einen Blick nach hinten und plauderte munter weiter: „Wenn Ihr genau hinseht, erkennt Ihr rechts am Tischrand fünf kleine Haken. Man kann sie lösen und verwenden oder aber ich hänge dort ein paar meiner Sachen auf. Seile zum Beispiel, einen Wassereimer, heiße Kohlen in einem Blechtopf…“, dann brach er ab und stand auf. „Ich möchte Euch nicht langweilen.“

„Tut Ihr nicht.“, flüsterte ich etwas heiser, doch der Blaurock ignorierte meine Antwort. Er ging zu den Kerzen und pustete sie eine nach der anderen aus, bis auf die letzte vor mir, diese ließ er an. Und dabei murmelte er, fast zu sich selbst, aber bewusst hörbar für mich:

„Das Licht kam in die Welt, doch die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht. Jeder, der Böses tut, hasst das Licht und kommt nicht zu diesem, damit seine Taten nicht aufgedeckt werden. Also wollen wir es Euch doch etwas gemütlicher machen, nicht wahr?“

Sein Schatten wurde nach hinten geworfen und so konnte ich nicht sehen, wo er war. Ich hörte nur, dass Stewart etwas aufhob und damit zum Tisch lief. Während der Mann mit dem Rücken zu mir stand erkannte ich, dass er die aufgezählten Geräte aufzubauen begann. Panik stieg in mir hoch und meine Gedanken überschlugen sich. Jedes leise Geräusch, wenn er etwas aufs Holz legte, ließ in meinem Hinterkopf das Bild eines Messers, einer Säge oder schlimmerer Dinge aufblitzen. Durfte er von der Deo Volente wissen? Den Samaritern? Meinem Auftrag?

Was sollte ich tun?!



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