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Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil 2

Zwischen Gott und Teufel
von

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Besuch bei Familie Caviness

Am nächsten Morgen fühlte ich mich erschöpft und ausgelaugt. Ich zwang mich, zur Arbeit zu gehen und sprach mit niemandem ein Wort. Der Gedanke daran, dass Morgan bald wieder auf freiem Fuß war, quälte mich. Zudem wollte ich die Sache mit Luke Caviness so schnell wie möglich hinter mich bringen. Ehe ich ging, rüstete ich mich weitestgehend aus - das Chaos in meinem Zimmer ließ ich einfach zurück. Wenn Morgan zurückkehren sollte, würde er vielleicht erneut auf die Idee kommen, alles zu verwüsten, da nutzte Aufräumen nicht viel. Mit diesen Gedanken verließ ich alles so, wie ich es vorgefunden hatte, es war mir völlig egal. Man könnte sagen, ich begann den schlechten Tag mit mieser Laune und würde ihn wohl auch so beenden.

Da ich mich schlecht fühlte und auch so aussah, bat ich Meister Pepe um ein paar Tage frei. Man sah ihm an, dass er nicht begeistert war, denn bereits öfters war ich mit blauem Auge zur Arbeit gekommen, was dem Geschäft nicht gut tat. Dennoch gewährte er es mir. Es war mir unangenehm zu spüren, wie sein Unbehagen wuchs und hätte er die Auswahl gehabt, hätte ich meine Arbeit vielleicht verloren.

Diese Gedanken beschäftigten mich, während ich durch Brehms ging, den Umhang ins Gesicht gezogen und völlig in mich selbst versunken. Ich fühlte mich in meine Klosterzeit zurückversetzt, in der ich die Kapuze trug, um in Stille zu leben um Gottes Stimme besser empfangen zu können. Nun trug ich sie, damit niemand mein Gesicht auf Anhieb sah und gegebenenfalls erkannte. Es hatte sich viel in meinem Leben geändert und das nicht nur, was meine Arbeit oder meine Gewohnheiten anging. Ich hatte alles abgelegt, was ich nicht mehr gebraucht hatte:

Meine Tunika zum Zeichen dessen, dass ich nach Gottes Bild geschaffen worden war.

Mein Zingulum zum Zeichen dessen, dass nun der Herr Gott mich gürten und führen würde.

Und meine Kapuze. Alles hatte ich zurückgelassen und würde ich diese Dinge noch einmal anziehen, wäre dies wohl eine Beleidigung gegenüber dem Herrn.

Der Himmel war über Nacht endlich aufgebrochen und die ersten Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg zur Stadt hinunter. Nicht mehr lange und auch der restliche Schnee würde schmelzen. Dann wäre das Eis endlich vollends verschwunden und man konnte wieder laufen, ohne regelmäßig auszurutschen.

Ich steuerte schlendernd das Allerlei-Geschäft in der Nähe des berüchtigten Bunten Platzes an, das ich noch immer nicht besucht hatte. Der Laden hieß Jochua Caviness’ Allerlei, benannt nach dem Vater und lag in einem Teil der riesigen Stadt, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Ich brauchte gut eine Stunde, bis ich in die Nähe kam und entdeckte unterwegs wieder etliche neue, kleine Schätze. Unter anderem erkannte ich eine kleine Kapelle aus jener Zeit, zu welcher Brehms noch nicht so groß gewesen war. Um sie herum gab es eine niedrige, alte Mauer aus Findlingen, überwuchert mit Moos und zugeschneit und dahinter war wohl eine Art Wiese. Nun sah man nichts als Schnee und ein paar herunter gefallene Blätter von den Eichen und Birken. Es waren gewaltige Kolosse an deren Stämme trotz der Kälte Efeuranken empor ragten und mit den vergabelten Ästen zu verschmelzen schienen. Einzelne Gräber, alle mit der Aufschrift Richtung Sonne und das weite Tor als Pforte zum Ort der Ruhe lag etwas weiter abseits der Straße. Ich sah mir die Kapelle vom weiten an, mit ihrem schiefen Turm und manchen, löchrigen Stellen im Dach. Diese kleine Stelle der Stadt wirkte so verkommen und so vergessen auf mich, dass sie mich irgendwie ansprach. Es erschien mir so, als wenn die Mauer einst höher gewesen wäre und die Wege gepflegter, doch nun war alles still – totenstill sozusagen.

Aber nicht nur solche Orte fand ich, sondern auch weitere Gassen und breitere Wege. Ich bemerkte, dass es Straßen für Händler gab und jene für Bürger. Manche waren so breit, dass sogar zwei Kutschen darauf Platz fänden und andere wiederum so eng, dass man sich gar nicht traute, hindurch zu gehen aus Angst, man würde stecken bleiben.

Der Allerlei-Laden lag in solch einer Gasse und mir wurde klar, wieso der Sohn andere Geschäfte belieferte. Kaum ein Kunde zwängte sich durch die engen Wege, um das Geschäft mit der Treppe und dem großen Schaufenster zu betreten.

Als ich es endlich erblickte, blieb ich davor stehen und musterte es, wie ein Kunde. Es hatte etwas sehr altmodisches und zugleich modernes. Zwar gab es ein riesiges Fenster und eine kleine Treppe zur Ladentür mit geneigten Stufen, von denen der Regen einfach hinunter plätschern konnte, allerdings waren die Wände verputzt und bröckelig, als wäre dieses Gebäude bereits älter als alle anderen zusammen. Die Tür war hölzern und mit geschmiedeten Verzierungen versehen, ebenso wie die Fensterscheibe, mit einem runden Messing-Türklopfer in der Mitte. Ich konnte durch das Glas zwar ins Innere sehen, jedoch war nichts zu erkennen und Licht brannte auch nicht. Laut den Kirchglocken war es um acht Uhr herum und die wenigstens der Straßen waren belebt. Vielleicht gab es besondere Öffnungszeiten und der Laden hatte noch geschlossen?

Ich lief umher und sah mir die anderen Geschäfte an. Töpfer, Seiler, Riemer, Papiermacher, Nagelschmiede, Kartenmacher, alles war vertreten, bis hin zum Bäcker, Weber und Gürtler. Es gab viel zu sehen, doch ich hatte eigentlich kaum Lust jeden der Läden zu besuchen, zudem war es trotz Sonnelicht kalt. Nach gut einer Stunde hatte das Geschäft noch immer nicht geöffnet, nirgendwo brannte Licht und am Himmel zogen sich einige Wolken zusammen. Kalter Wind wehte durch die Straßen und ließ meinen Umhang leicht flattern.

Frierend beschloss ich, mich anders umzusehen. Ich lief um das Geschäft herum und suchte die erwähnten Hinterhäuser. Sie zu finden, war nicht schwer, es handelte sich um einen einzelnen Häuserblock. In der Mitte lag der Hof, an drei Seiten je ein Haus und die vierte, offene Seite hatte man mit einer Backsteinmauer verschlossen. Drei kleine Fenster mit verzierten Gittern würden Blicke auf das verschneite hintere zulassen, wenn man nicht Fensterläden von innen angebracht hätte. Wenn alle drei Häuser den Hinterhof als Platz für gewisse Erleichterungen verwendeten, war es nicht verwunderlich, dass man sich vor Blicken schützen wollte. Dennoch versuchte ich, als niemand mir zusah, einen der Läden zu öffnen, um ins Innere hineinzusehen. Sie waren allem Anschein nach verriegelt und unter mir schmatzten leicht jene Dinge, die sie durch die Öffnung hindurch nach draußen schafften, sobald sie fertig waren. Ich registrierte erst nach gut einer Minute, in was genau ich stand und sah hinunter. Die Kälte betäubte meinen Geruchssinn, doch der Anblick ließ ihn wieder aufleben. Seufzend nahm ich einige Schritte Abstand und versuchte meine Stiefel an etwas Eis zu reinigen, wobei ich große, braune Schlieren über den Schnee verschmierte. Ich könnte versuchen, in eines der anderen zwei Häuser einzudringen, jedoch waren auch dies zwei Geschäfte. Ich könnte behaupten, ich hätte mich verlaufen und wäre von einem der anderen Händler ins Lager geschickt worden. Allerdings wusste ich nicht, in welchem der beiden der Hund lebte und auch nicht, ob sie die Hintertür ihres Ladens abschlossen.

Dann sah ich zur Mauer hinauf. Sie war zwar durchaus gerade und sorgfältig gebaut worden, allerdings hatte die Witterung auch hier einige Spuren hinterlassen. Mit bloßen Füßen könnte es mir vielleicht gelingen, hinüber zu klettern und auf den Hof zu springen. Wenn ich mich leise verhielt, würde vielleicht kein Hund hinaus kommen und wenn die Tür zum Allerleigeschäft geöffnet war oder nur mit einem einfachen Schloss versehen, dürfte ich es problemlos hinein schaffen. Mir blieb alle Zeit der Welt, die Tür aufzuknacken und da der Ladenbesitzer scheinbar nicht da oder im oberen Stockwerk war, hatte ich Gelegenheit mich umzusehen. Die Mauer lag an einer schmalen und unbenutzten Seitengasse, die wohl nicht einmal als Gasse galt, sondern als kleiner Spalt zwischen den Häusern für Unrat und Schmutz. Dies war einer der Gründe, wieso Brehms auf dem ersten Blick sauber galt:

Es gab versteckte Ecken und Winkel, in denen die Menschen ihren Schmutz lagerten und so blieben die Straßen sauber und rein.

Ich zog entschlossen meine Schuhe aus und trat zögernd auf den kalten Schnee. Er biss mir in die Fußsohlen und ich musste mich zwingen, nicht von einem Fuß auf den anderen zu treten. Auf keinen Fall wollte ich Frostbeulen bekommen, also band ich mir die Schuhe an den Gürtel, dann versuchte ich mich an der Mauer. Ich nahm Abstand von den Fenstern und griff dort, wo der Schnee sauber und weiß war, nach einem hervorstehenden Stück Stein. Erst jetzt merkte ich, wie kalt meine Finger bereits waren und als ich mich hoch zog und nach dem nächsten Vorsprung griff, schmerzten meine Kuppen. Manche Stellen waren vereist und stachen, andere so glatt, dass ich zu rutschen drohte. Ich hatte keine Übung im Klettern und für einige Sekunden hing ich hilflos einen halben Meter über dem Boden, nicht wissend, woran ich mich als nächsten emporziehen sollte. Dann hörte ich Bellen.

Instinktiv ließ ich los und sprang hinunter, als das Tier direkt auf der anderen Seite der Mauer angerannt kam, bellte und wild hin und her lief, um seinen Herrn auf sich aufmerksam zu machen. Irrsinniger Weise raste mein Herz. Dieser Weg, so dachte ich, war also schon mal unmöglich. Ich seufzte schwer und machte mich daran, meine Stiefel anzuziehen, als ich im Winkelblick eine Person registrierte. Durch die Kapuze war sie außerhalb meines Sichtfeldes gewesen, doch nun sah ich auf und erkannte, dass ein Mann an die Wand gelehnt stand, das linke Bein über das andere gelegt hatte und die Arme verschränkt. Er kaute auf etwas herum, was im ersten Moment wie ein Grashalm wirkte und seine Kleidung ließ darauf schließen, dass er dem unteren Stand angehörte. Er hatte braunes Haar, das zu einem Mittelscheitel gekämmt war, kurze Strähnen hingen ihm rechts und links ins Gesicht. Unsicher starrte ich ihn an, mein Gesicht größtenteils durch die Kapuze verborgen. Er grinste mir frech entgegen, ehe er sich von der Wand abstieß und die Hände in die Hosentaschen steckte. Schlendernd kam der Fremde einige Schritte auf mich zu und murmelte:

„Zum Gruße, Sir.“, der Hund hörte auf anzuschlagen, da man ihn scheinbar ignorierte und weiter im Stadtinnern schlug die Kathedrale zehn Uhr. Mit hoch gezogener Augenbraue blieb er stehen. „Darf man fragen, was Ihr da treibt?“

Ich wich instinktiv einen Schritt zurück, dann sah ich kurz hinter den Mann. Wir waren allein, sollte ich weg rennen? Die Gasse hinter mir war eng und rutschig. Sollte er mich verfolgen, würde ich sicher stürzen, ich kannte mein Glück. Ich beschloss stattdessen herauszufinden, wer er war, dass er an den Goldgruben entlang spazierte. Entweder er hatte mich von einem der Fenster aus gesehen oder aber er war ebenso unerwünscht, wie ich. Bei letzterem könnte er mir keine Gefahr werden, bei ersterem war ich mir noch nicht ganz sicher.

Ich erklärte ruhig: „Der Verkäufer aus dem Allerlei-Geschäft ist nicht da. Ich wollte sehen, ob Licht brennt.“

„Wenn er nicht da ist, wohl kaum.“, bemerkte er grinsend und drehte den Kopf zur Mauer. „Aber na ja, jedem das seine. Und? Brennt Licht?“

„Habe ich nicht sehen können.“, ich folgte seinem Blick, dann sahen wir uns wieder an. Angespanntheit lag in der Luft, keiner wusste mit dem anderen etwas anzufangen, niemand wusste sein Gegenüber einzuschätzen. „Ich bin nicht bis oben hingekommen.“

„Wegen dem Hund?“, ich nickte unbewusst. Der Fremde grinste etwas und seine Haltung schien lockerer zu werden. „Das ist ein scheiß Vieh, stimmt schon.“

„Ist es Euer Hund?“, wollte ich wissen. „Wohnt Ihr hier?“

„Ach, einerlei. Wollt Ihr immer noch wissen, ob das Licht brennt?“

Kurz hallte ein Kinderschrei durch Brehms und er klang noch lange nach. Er war so hoch gewesen, dass es fast wie ein Warnsignal auf mich wirkte. Dennoch nickte ich.

„Ja, ich möchte wissen, ob er da ist. Ich brauche dringend Tinte.“

„Dann geht doch zum Schreibladen.“, ich wusste keine Antwort und er schien das zu merken. Schmunzelt winkt er ab. „Ich stell keine Fragen mehr. Geht mich nichts an, interessiert mich auch nicht. Nun, nehmen wir an, Ihr wollt sehen ob das Licht brennt.“, nachdenklich warf der Fremde wieder einen Blick zu den Mauern hinauf. „Nun, es brennt aber nicht. Dann möchtet Ihr natürlich trotzdem wissen, ist er da? Also, nur mal angenommen, Ihr würdet also nicht nur die Mauer hinauf gehen wollen, sondern auf der anderen Seite wieder hinunter.“, dann wandte er sich wieder an mich. Seine braunen Augen schienen kurz zu blitzen und ich erkannte in seinem Gesicht ein verschlagenes Schmunzeln, fast ein Grinsen, nur schwächer. „Und ich würde auch gern wissen, ob denn da jemand zuhause ist, in einem anderen Haus. Meint Ihr, wir können uns helfen? Beim Gucken, meine ich?“

„Ihr wollt auch über die Mauer?“, ich war etwas erstaunt, als er nickte und mit den Schultern zuckte.

„Sozusagen, ja. Wir könnten ja rüber, beide gucken gehen, uns wieder hier treffen und dann zusammen zurück.“

Zögernd wog ich den Kopf. „Es kommt drauf an.“

„Und worauf?“, wollte er wissen.

„Nun, ob Ihr wirklich gucken wollt. Ich möchte nicht in Dinge verwickelt werden, die mir schaden könnten.“

„Möchtet Ihr denn nur gucken?“, da ich abermals nicht antwortete, zwinkerte er mir verräterisch zu. „Na, dann ist ja gut. Ich kenne Euren Namen nicht, Ihr nicht meinen. Also haben wir auch nichts miteinander zu tun. Also los?“, und bei diesen Worten faltete er die Finger ineinander, formte einen Korb und ging etwas in die Hocke. Ich verstand, dass ich mich nun mit dem Fuß abstützen und hinauf klettern sollte, doch als ich dem nachgehen wollte, hielt er inne und löste die Hände wieder. „Moment.“, er nickte zu den bräunlichen Schlieren im Schnee und sah mich skeptisch ab. „Ohne Schuhe oder gar nicht.“

Mit den Gedanken an den kalten Schnee und die schmerzenden Frostbeulen, sollte ich nicht bald wieder Stiefel an meinen Füßen spüren dürfen, zog ich sie aus und ließ mir hinauf helfen. Ich hatte sie mir wieder an den Gürtel gebunden, denn auf keinen Fall würde ich ohne sie gehen. Oben angekommen setzte ich mich breitbeinig auf die Mauer und half ihm durch Ziehen, auch herauf zu kommen. Zuvor hatte er seinen braunen Lederrucksack auf die andere Seite geworfen.

Der Hof lag vor mir, wie ein kleines, viereckiges und weißes Feld. Es gab Spuren vom Hund und einige von den Bewohnern, wenn sie zum Topf gingen oder mit diesen zum Fenster in unserer Mauer. In der hintersten Ecke stand ein großer Holzbottich für das Baden im Sommer und es gab einen abgetrennten Bereich für das Essen, das man in Erde und Schnee frisch halten wollte. Jedes der Häuser hatte eine eigene Tür und es dauerte, bis ich mich orientieren konnte.

Interessanterweise schlug der Hund nicht an, als er den Mann erkannte. Dieser sprang hinunter und streichelte dem großen, weißen Tier den Kopf. Es hatte ein braun gefärbtes Auge und einen gräulichen Bauch. Als auch ich mich hinunter begab wurde er zutraulicher, da er mich scheinbar als Freund des Mannes empfand. Ich sah zu, wie er in seine Tasche griff und dem Tier, er nannte es Tommy, schwarze, kleine Stücken gab. Er fraß sie so gierig, als hinge von ihnen sein Leben ab und als man ihn aufforderte, sitzen zu bleiben, gehorchte er aufs Wort. Grinsend wandte der Fremde sich dann wieder an mich und ich registrierte einen kleinen, goldenen Ohrring an seinem linken Ohr. Interessanterweise war dieser jedoch nicht im oberen Bereich der Muschel – denn das Ohrläppchen war vernarbt, als hätte man es einst durchtrennt. Ich erinnerte mich an die Gilden, in denen man einen Ohrring trug und ihn herausriss, wenn die Mitglieder nicht regelmäßig zahlten oder die Gilden hintergingen. Man nannte diese Menschen Schlitzohr und nicht selten waren sie verpönt und nicht angesehen.

Ich versuchte meine Gedanken und meine nun wachsende Vorsicht zu ignorieren, als er ankündigte:

„Nun, ich gehe nun nach meinem Licht gucken und Ich nach Eurem. Wir treffen uns dann hier?“ Dann griff er seinen Rucksack.

„In Ordnung.“, unbeholfen schlüpfte ich in meine Stiefel zurück. „Dann auf bald?“

Er grinste leicht. „Ihr aus Annonce seid meist sehr langsam und träge. Seid so gut, beeilt Euch mir zu liebe. Ich warte nicht ewig.“, ungewollt zuckte ich zusammen, da er meinen leichten Akzent scheinbar herausgehört hatte.

Ohne ein weiteres Wort schulterte er seine Tasche, drehte ab und ging. Ich sah ihm nach, wie er zur Hintertür eines anderen Hauses ging, nicht wissen, welches Gebäude dies war, doch es handelte sich wohl um ein weiteres Geschäft. Lange stand ich so da, denn ich konnte nicht wissen, ob jemand aus dem Fenster sah. Stattdessen drehte ich mich zur Tür des Allerlei-Ladens und machte mich daran, sie zu öffnen. Meine Finger waren kalt, jedoch nicht so sehr, wie das Metall. Obwohl dies das erste Mal war, dass ich die von Nevar erlernte Kunst außerhalb seines Hauses anwandte, war ich außergewöhnlich ruhig. Ich ließ mir Zeit und sah mich auch nicht mehr um. Tommy kam zu mir und sah mir erwartungsvoll zu, doch ein Kopfstreicheln stimmte ihn zufrieden genug, sich wieder unter seinen vom Schnee geschützten Bereich zu legen. Ich warf ihm einen Blick zu, wie er dort lag, unter einem alten Karren, dann öffnete ich die Tür.

Es klackte leise, quietschen tat sie jedoch nicht und ohne weiteres war ich im Haus. Nun wurde ich doch etwas nervöser, die Totenstille beunruhigte mich. Ich beschloss, mich so wenig wie möglich im Haus aufzuhalten. Wenn etwas versteckt war, dann wäre dies auf keinen Fall im Verkaufsbereich, ich musste also nach oben. Das gesamte untere Stockwerk konnte ich mir sparen, an Diebstahl war ich nicht interessiert. Bedächtig schloss ich die Tür hinter mir und trat weiter ins Innere. Zuerst jedoch säuberte ich meine Schuhe mit einem Tuch von Schnee und Feuchtigkeit. Sollte ich mich verstecken müssen, wären Fußspuren sicherlich recht amüsant – aber nicht von meiner Seite aus betrachtet.

Ich befand mich im engen Lager, voll gestellt mit Regalen und Kisten, dazwischen versteckt war die Küche. Man konnte nicht sagen, ob dies mehr zum Laden oder mehr zum Wohnbereich zählte. Ich ließ meine Augen umher schweifen, während ich auf die gegenüberliegende Tür zusteuerte und nahm alles in mir auf:

Bier, Brot, Papier, Scheren, Kämme, Nadeln, Flaschen, Holz, Salz, fast alles war vertreten, doch nichts weckte mein Interesse.

Der Übergang zum nächsten Bereich war türlos. Nur ein Vorhang trennte den Verkaufsraum von einem winzigen Bereich mit Treppe, dann kam ein erneuter Vorhang, anschließend das Hinterzimmer. Da, sollte jemand hinein kommen, er dies sicherlich durch den Vordereingang täte, ging ich ohne weiteres nach oben. Die Treppe knarrte leise unter meinem Gewicht und ich trat größtenteils auf den Hacken auf, um so wenig Lärm, wie nur irgend möglich zu machen. Sie führte direkt auf die obere Wand zu, dann konnte man rechts durch einen Türrahmen in den einzigen, letzten Raum treten. Bevor ich dies tat, verharrte ich an der obersten Schwelle, mit dem Rücken an der Wand und lauschte. Ich blieb lange so stehen, sicherlich eine halbe Minute, doch nichts regte sich. Ich war allein, daran gab es keinen Zweifel, also steckte ich vorsichtig den Kopf ins Zimmer, anschließend meinen restlichen Körper.

Das letzte Zimmer war jenes, was ich gesucht hatte: Das Schlafzimmer von Vater und Sohn. Es gab zwei Betten, ein Doppelbett und ein einfaches, zudem stand an jedem Fußende je eine Kiste. In der Ecke befand sich ein Schreibtisch, beladen in ein paar Pergamenten, so wie den üblichen Schreibutensilien, an den Wänden standen Regale.

Mir fielen zwei Schreibtischschubfächer ins Auge, an denen ich mich ohne Frage zu schaffen machen musste, doch zuerst wollte ich mich den Kisten widmen. Ich hockte mich vor sie und machte mich daran, die Schlösser zu öffnen, als mir auffiel, wie alt und zerlumpt der rote Teppich war.

Wenn es sich bei diesem Mann wirklich um einen Händler handelte, dann gehörte er ohne Frage der Handelsgilde an. Aber wieso konnte er sich nicht anständiges Mobiliar leisten? Sein Inventar wirkte auf mich heruntergekommen, die Zusammenstellung der Räume provisorisch. Vielleicht war der Mann auch einfach nur geizig?

Es war ein wohltuendes Gefühl, das leise Knacken zu hören und die Truhendeckel anzuheben, doch je mehr ich suchte, je mehr wurde mir bewusst, dass ich keine Ahnung hatte, wonach ich Ausschau halten sollte. Ich fand in allen mir vorgenommenen durchsuchten Sachen nichts, außer ein paar Hemden oder Papiere, so wie Verträge. Mir fiel nichts an ihnen auf. Weder stand irgendwo das Wort Samariter, noch ähnliches. Selbstverständlich rechnete ich nicht damit, dass ich genau dieses Wort irgendwo finden würde, aber auf was sollte ich Acht geben?

Für einen Moment hielt ich inne, denn mir war, als hätte ich ein Geräusch gehört. Doch da sich nichts regte, las ich weiter die Unterlagen aus dem Schreibtisch. Joshua belieferte viele Geschäfte, unter anderem auch die Kathedrale in Brehms mit Kerzen und Haltern. Zudem hatte er vor sechs Jahren einen geringen Kredit bei einem Geldleiher aufgenommen und ihn im letzten Jahr samt Zinsen wieder zurückgezahlt. Er hat eine große Bestellung von Tabakdosen vorgenommen und sie nach zwei Wochen zurückgezogen, da er sich angeblich im gewünschten Material geirrt hatte. In Wahrheit hat er die gleichen Dosen bei einem anderen Händler gekauft – für einen Heller weniger pro Stück. Aber was nutzten mir all diese Informationen? Der Kerl war allem Anschein nach nicht nur geizig, sondern auch noch ein guter Geschäftsmann.

Ich legte alles sorgfältig zurück und widmete mich mehr seinem Sohn, denn schließlich war Luke mein Ziel und nicht Joshua. Ich untersuchte sein Bett in der Hoffnung, auf versteckte Briefe oder andere Hinweise, von allen Seiten. Ich durchforschte noch einmal seine Kiste und überprüfte sie nach einem doppelten Boden. Ich tastete sogar sein Kissen ab, doch bis auf fünf Heller fand ich nichts. Irgendwann gab ich auf und musterte die Holzdielen unter mir. Sie waren alt und morsch, doch nirgends gab es einen Hinweis auf ein Versteck oder ähnliches. Wenn Luke ein Geheimnis hatte, dann versteckte er es zumindest nicht hier. Doch irgendwann wurde ich auf etwas aufmerksam. Nicht im Bett des Sohnes, sondern unter dem Kissen seines Vaters lugte eine kleine, rote Ecke hervor. Es handelte sich allem Anschein nach um sein Tagebuch, das er nach dem Schreiben stets mit ins Bett nahm. Wenn er es immer so schlecht versteckte, dann würde sein Sohn es gewiss das eine oder andere Mal lesen und sicherlich standen darin keine Dinge, die dieser nicht lesen durfte. Aber vielleicht machten die zwei auch gemeinsame Sache?

Ich nahm es an mich. Das Buch war in rötlich schimmerndes Leder gebunden, doch an vielen Stellen war es zerschlissen und kaputt. Der Buchrücken löste sich auf und ich warf fast einige Seiten hinaus, als ich es aufschlug. Vorsichtig hielt es den Rücken mit der linken Hand und begann mit der rechten zu blättern. Man sah an der Schrift, dass die meisten Dinge unter Müdigkeit, Wut, Trauer oder Freude geschrieben worden waren. Anders als die Dokumente war diese Schrift mal groß und mal klein, teils leserlich, manchmal verzerrt und stets voller Emotion. Standart-Berichte aus dem Alltag eines Verkäufers interessierten mich nicht, zudem hatte ich kaum Zeit und so blendete ich alles an Wörtern einfach aus. Ich sortiere anhand der Schriftart und las nur jene Einträge, die schief geschrieben worden waren und kaum lesbar. Der erste Eintrag, der für mich interessant war, handelte von einer großen Sache an der er dran war. Er durfte es keinem verraten und wenn es gelingen würde, dann wäre er die Probleme endlich los. Leider stellte sich heraus, dass es dabei lediglich um eine neue Grundidee für das Handelsprinzip ging, bei welchem er zwei Händler gegeneinander ausgespielt hatte. Sie war misslungen und nun lebten sie in Streit miteinander.

Die zweite Sache war ein Kurzeintrag, der mir förmlich ins Auge sprang. Der Schreiber hatte für nur zwei kleine Zeilen eine gesamte Seite benutzt. Oben das Geschriebene und den Rest einfach frei gelassen. Ich dachte erst, das Buch wäre zu Ende, aber auf der nächsten Seite fuhr er fort, als wäre nichts gewesen. Zwar war die Schrift sehr ordentlich, aber die Aufteilung war auffällig, als würde er diese Zeilen einem besonderen Ereignis widmen, bei dem nichts anderes aufgezählt werden durfte. Ich las:

Ich habe sie heute gesehen, ich kann es nicht beschreiben. Sie sieht großartig, besser, als sie mir beschrieben wurde. Würde ich doch nur genug Geld besitzen, sie wäre mein!

Ich lasse sie nicht aus den Augen. Sie ist zu kostbar…

So etwas finde ich nie wieder! Ich muss sie kriegen, ehe jemand anderes sie kriegt!

Der Eintrag war zu Anfang des Monats gemacht worden und ich durchsuchte die restlichen Seiten nach einer Fortsetzung des Textes. Der zweite Eintrag mit solchem Aufbau kam eine Woche später und lautete:

Er hat sie auch gesehen und weiß bescheid.

Er verbietet es mir, ist das möglich? Er hat kein Recht dazu. Das hat er doch nicht?

Ich habe sie zuerst gesehen, immer nimmt dieser Mistkerl mir das, was ich haben will.

Diesmal nicht, ich war zuerst da. Und ich spüre, dass sie zu mir will. Es ist vorher bestimmt, ich weiß das. Niemand versteht es, aber irgendwann, ganz sicher Wenn ich doch nur mehr Geld hätte…!.

Ich tue alles, um sie zu bekommen. Irgendwie muss ich sie kriegen…!

Drei Tage später folgte der Eintrag:

Ich muss sie wieder sehen.

Das war alles. Lediglich dieser Satz war hin gekritzelt worden, fein säuberlich und mit etlichen Verzierungen in den Buchstaben.

Am darauf folgenden Tag war verzeichnet worden:

Ich halte es nicht mehr aus, wann darf ich sie endlich wieder sehen?

Und am dritten Tag dann:

Ich habe sie gesehen und es war wunderschön.

Ich wusste, dass es bestimmt ist.

Ich kann damit nicht mehr aufhören. Mein ganzer Kopf ist voll damit.

Es reicht mir nicht mehr, sie nur zu sehen, ich brauche sie! Ich will sie haben…

Ich habe kein Recht dazu, das weiß ich. Sie gehört mir nicht, aber wenn ich sie nicht anfassen darf, oder wenigstens kurz sehen, dann gehe ich kaputt!

Er hat kein Recht, es mir zu verbieten!

Wenn er es erfährt, bringt er mich um…

Nein. Ich ihn.

Ich muss sie wieder sehen…Egal was es kostet… Ich muss…

Weitere Einträge folgten nicht, abgesehen von Zusammenfassungen was Monatseinkommen oder einzelne Handelsideen angingen. Er hatte verzeichnet, wie viel Waren er bei wem bestellt, erhandelt oder gesehen hatte, wer woran Interesse zeigte und zwischendrin gab es Notizen zum Tagesablauf. Es wurde eine kleine Streiterei mit dem Bäcker beschrieben – dem verfluchten Bäcker, wohl gemerkt. Die zwei schienen sich öfters zu streiten, denn es gab gut fünf lange Seiten nur darüber, wie dumm, heuchlerisch, einfältig, ungebildet, falsch, unhöflich, unfreundlich, ungelehrt, humorlos, verschlafen, ungenau, verschwitzt, überteuert, egoistisch, unpünktlich, verschmutzt, unkreativ, unzivilisiert, dreckig, träge, grob, hässlich, scheinheilig, habgierig, rücksichtslos, vulgär, fett, unzuverlässig und charakterlos er war, dass man fast den Eindruck gewann, dass er durchaus einen Charakter hatte - auch wenn dieser nur daraus bestand, alles zu sein, was irgendwie schlecht war. Ich hoffte, dass ich diesem schrecklichen Menschen niemals begegnen würde und tat das Buch dorthin zurück, wo ich es gefunden hatte.

Zu meiner Verwirrung stand in vielen der Texte Der Alte. Der Autor sprach davon, dass der Alte ihn wieder geweckt hatte oder dass der Alte wieder verschlafen hatte, was darauf schließen ließ, dass dieses Buch dem Sohn gehörte. Aber wieso lag es unter dem Kissen des Doppelbettes? Schlief etwa der Vater im einzelnen und das Kind im ehemaligen Ehebett?

Da ich nicht sicher sein konnte untersuchte ich auch dieses und fand diesmal nicht mehrere Heller, sondern gleich zwei Silbermünzen, so wie ein Seidentaschentuch. Ohne Frage gehörte es einer Frau und ich legte es mehr angewidert zurück, als wirklich freudig.

Der Sohn hatte also etwas entdeckt, was ihn interessierte und nun wollte er es haben. Worum ging es? Ein Schmuckstück? Etwas anderes? Was auch immer, er schien besessen davon zu sein. In meinem Hinterkopf entstanden wilde Fantasien von Männern auf weißen Pferden mit roten Umhängen, die sich Samariter nannten und junge Männer mit teuren Schätzen aus aller Welt zu sich lockten, um sie in eine düstere Gilde zu ziehen. Vielleicht ging es um einen besonders wertvollen Kelch oder einen Kristall. Aber egal worum es ging, Luke würde über Leichen gehen, wenn es drauf ankäme.

Nun musste ich also einen Händler finden, der versuchte, Luke etwas zu verkaufen. Außerdem musste ich jene Person ausfindig machen, die ihn umbringen wollen würde. Es galt herauszufinden, wer an den gleichen Dingen wie Luke interessiert war und welche Rivalen er hatte. Eine Liste mit verhassten Namen darauf, über der ganz groß Meine Rivalen stand wäre mir aufgefallen, im Zimmer hatte ich also nichts mehr verloren. Nachdenklich schlich ich die Treppe wieder hinunter und beschloss, zurück zur Mauer zu gehen. Gerade betrat ich die letzte Stufe, da hörte ich ein Geräusch und hielt inne.

Jemand schloss die Ladentür auf, dann rasselte laut die Glocke über der Ladentür und eine Person trat ins Innere, direkt auf jenen Vorhang unmittelbar vor mir zu.

Zu spät!



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