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Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil

Das Tagebuch eines Gesuchten
von

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Der schwarze Kater

Man sprach mich frei und es war ein gutes Gefühl.

Am nächsten Morgen rüttelten mich die Wachen unsanft wach und geleiteten mich hinaus. Und das war alles. Kein feierliches „Ihr seid hiermit freigesprochen, Oliver Sullivan O’Neil!“, von Fulligan und auch kein „Ich kriege Euch noch, wartet nur ab…!“, von O’Hagan.

Sie stellten mich vor dem Gebäude ab, lösten meine Fesseln und schlossen das Holztor. Ich sah unsicher hinauf, tatsächlich hatte ich mich die ganze Zeit im Richtergebäude befunden, dann ließ ich meine Blicke kreisen. Die Straßen waren recht belebt, trotz so früher Stunde. Marktstände wurden aufgebaut und Waren vor die Schaufenster gehangen. Keiner nahm Notiz von mir. Niemand schien sich dafür zu interessieren, wer ich war oder woher ich kam. Ich könnte ein frei gesprochener Mörder sein, ein Vergewaltiger, schlimmer noch: Beides.

Keiner befasste sich mit diesem Gedanken. Zu viele wurden in diesen Komplex gezerrt oder wieder hinaus geworfen. Es war Alltag dieser Stadt geworden. Ein vornehmer Herr rempelte mich an und eine ältere Dame scheuchte mich beiseite, mehr nicht. Und da stand ich nun, ohne Anfang und ohne Ende. Ich war frei… Frei… Aber was tun?

Zurück ins Kloster? Oder ein Neuanfang auf einem Schiff?

Ich musste nachdenken, dringend. Sollte ich Mary-Ann nun befreien? Oder etwa nicht…?

Ich beschloss, mir einen ruhigen Platz zu suchen, um dann alles noch einmal zu überdenken.

Dann erblickte ich Pater Johannes. Er stand ungemein abseits in einer engen Gasse und winkte hektisch nach mir. Etwas übertrieben lugte er in alle Richtungen, als wäre es schon ein Verbrechen, überhaupt dort zu stehen. Ich musste grinsen und ging lässig auf ihn zu. Als ich in seiner Nähe war, zog er mich grob ins Innere der Gasse hinein. Trotz der dunklen Kutte und seiner riesigen Kapuze konnte man ihn problemlos erkennen. Sein Gesicht wirkte blass und eingefallen auf mich, als wäre er krank oder hätte kein Auge zugetan.

„So seid doch vorsichtig!“, zischte er mir angsterfüllt zu. „Sonst sieht man uns noch!“

Ich atmete tief durch, der Gestank war fast unerträglich. Irgendetwas schien in der Sackgasse hinter uns zu verwesen. Summen von Fliegen drang zu uns herüber. Ich versuchte es auszublenden. Johannes bemerkte von dem Gestank scheinbar nichts. Er steckte nur wieder seinen Kopf heraus, um zu gucken, ob denn jemand anderes guckte. Natürlich war das nicht der Fall, wieso auch? Wer sollte uns beobachten und wozu? Seine Paranoia amüsierte mich und ich gab mir keine Mühe, das zu verbergen.

„Und selbst wenn?“, fragte ich grinsend. „Was ist dabei? Niemand interessiert sich für mich oder Euch.“

Johannes beachtete meine Worte nicht, dann drückte er mir einen Geldbeutel in die Hand. „Hier, das ist alles, was ich kriegen konnte.“

Das kleine Stück Leder wog schwer und ich hob und senkte es Testweise. Als ich es leicht schüttelte, erklang das sanfte Rasseln von Münzen. Mit einem skeptischen Blick fragte ich: „Nicht wenig, nehme ich an?“

„Nein! Nein, gar nicht wenig.“, der Vater bekreuzigte sich und murmelte mehr zu sich selbst: „Ich fasse es nicht, dass ich das tue.“

Lächelnd tätschelte ich halbherzig seine Schulter. „Ihr tut es für einen gottesfürchtigen Mann.“

Nicht weit entfernt fuhr eine Kutsche vorbei und für einen Moment konnten wir bis auf die schwarzen Pferde und das ebenfalls schwarze Gestell nichts mehr von der Straße sehen. Johannes schien das noch nervöser zu machen, dabei hätte es ihn eigentlich beruhigen müssen, für einen kurzen Moment unsichtbar zu sein. Er zog seinen Kragen zurecht, als wäre er ihm zu eng. Nachdem sie verschwunden war und wieder das Geschrei des Marktes zu uns herein drang, gab ich ihm das Geld zurück. Verwirrt starrte der Priester mich an. Er war sich nicht sicher, was los war. Erst hatte er das Geld besorgen sollen und nun gab ich es ihm zurück?

„Ich kann Black nicht freikaufen.“, erklärte ich.

Johannes jappste erschrocken nach Luft. „W-Was meint Ihr?! Ihr… Ihr könnt nicht?! Wieso denn nicht…?! Es reicht, ich bin mir sicher! Ich habe so viel genommen, wie es ging! Oh Herr im Himmel, wenn man es bemerkt, bin ich ein toter Mann...!“, wieder bekreuzigte er sich.

„Ich glaube Euch ja…“, versuchte ich ihn vergeblich zu beruhigen. „Es ist nur… Ich möchte neu anfangen, da kann ich unmöglich dort hinein gehen und einen alten Seebären freikaufen. Sie würden sofort Verdacht schöpfen und mich nicht mehr aus den Augen lassen.“

„Aber ich bin Priester…!“, stammelte er hilflos und wieder zitternd. „Ich kann nicht-…“

„Ganz ruhig. Beruhigt Euch, ich weiß doch. Beauftragt jemand anderen.“, wir hielten inne. Eine ältere Dame humpelte langsam und gebeugt am Eingang der Gasse vorbei. Erst nachdem sie weg war, wandte ich mich erneut an den Mann. „Sucht einen Waisenjungen auf, gebt ihm ein paar Heller und schickt ihn, Black freizukaufen. Ich bin mir sicher, er würde es tun.“

„Einen Waisenjungen?“

„Richtig. Ich werde hier warten.“, ich sah mich kurz um. Hinter mir war eine Wand, feucht und bemoost, mit Müll und Dreck. Irgendetwas lag unter einem Stapel Holz, es war in Stoff gewickelt und scheinbar die Ursache des Gestanks. Vielleicht ein Mensch? „Oder zumindest hier in der Nähe.“, korrigierte ich mich etwas angeekelt. „Ihr habt eine Stunde, dann humpelt der alte Black da aus dem Holztor.“

Pater Johannes nickte schwitzend, aber das reichte mir nicht. Also fragte ich mit Nachdruck: „Habt Ihr das verstanden? Eine Stunde. Nicht länger.“

„Eine Stunde.“, erneut zog er an seinem Kragen.

„Wenn nicht…“, aber ich sprach den Satz nicht zu Ende. Johannes nickte, schluckte schwer und sah zum Richtergebäude. Sein Gesicht war blasser als blass, fast schneeweiß. Er murmelte irgendetwas Unverständliches zu sich selbst, ehe er losgehen wollte. Ich hielt ihn am Arm und zog ihn sanft zurück.

„Und noch etwas… Sagt Black nicht, dass ich es war, der ihm half.“

Der Pater nickte nur, dann eilte er davon.

Seufzend sah ich ihm nach. Mir blieb keine andere Wahl, als zu warten, ob Johannes wirklich das Verlangte tat. Ich sah ihm zu, wie er in der wilden Menge verschwand. Mittlerweile herrschte stärkeres Treiben. Die Menschen begannen nun ihre Einkäufe oder damit, Tratsch herum zu erzählen. Die Jungen aus den Handwerksläden hatten frei und durften herum toben, die Taschendiebe gingen nun ihren Geschäften nach und manche der Händler feilschten laut um ihre besten Waren Kurz: Es war voll und so beschloss ich, mir ein geeigneteres Plätzchen zu suchen, um das Richtergebäude zu beobachten. Viel Auswahl blieb mir leider nicht. Ich lief zwischen den Ständen umher und musterte die Waren. So lange, bis die Verkäufer mich finster anstarrten. Wenn jemand so oft an ihren Ständen vorbei schlich, konnte dieser schließlich unmöglich etwas Gutes im Sinn haben. Danach lungerte ich auf dem großen, runden Brunnen herum und beobachtete die Leute. Sie hatten die seltsamsten Angewohnheiten und Gesichter. Es fiel mir schwer, mich wirklich nur auf das Gebäude zu konzentrieren. Schielende Blicke und buckelige Gestalten hielten mich davon ab. Ich war Menschenmengen einfach nicht mehr gewohnt und hatte mich unbewusst nach solch einem Trubel gesehnt. Es dauerte länger als eine Stunde, doch dann kam Black tatsächlich in Begleitung eines Jungen hinaus. Beinahe hätte ich ihn übersehen, ein Karren mit Äpfeln lenkte mich zu sehr ab. Ehe er mich erkannte, stand ich auf und verschwand in der Menge. Warum genau ich ihn mied, konnte ich nicht erklären. Wahrscheinlich hatte ich einfach Angst, er würde mich in Schwierigkeiten bringen wie damals, bei Beginn meiner Reise. Aber vor allem wollte ich diesmal keine Hilfe, ob gut gemeint oder nicht. Ich wollte meine Dinge erledigen und dann mein Leben komplett neu beginnen – alleine, ohne Hilfe. Und ohne Piraten-Geschichten.

Als ich mich zurück drehte, war der Seebär bereits verschwunden. Leise verfluchte ich mich für meine Dummheit. Hätte ich Pater Johannes doch nur nach ein paar Münzen für mich gefragt! Und wäre ich doch bloß nicht so stur! Black kannte mit Sicherheit einige Leute, bei denen er nun Unterschlupf und eine warme Mahlzeit bekam. Ich hingegen stand nun da und hatte nicht einmal einen Wirt, den ich beim Namen kannte – abgesehen jener zwei, die ich kurz nach Verlassen des Klosters kennen gelernt hatte. Aber weder wollte ich erneut von Blackborns Komplizen auf ein Schiff verschleppt werden, noch unwissend von einer Hure ausgenommen. Annonce war die Stadt der Taschendiebe und Streuner. Es gab keinen ort, der ungefährlich war.

Niedergeschlagen irrte ich weiter umher. Ich war zu abhängig geworden. Abhängig vom Kinderheim, abhängig vom Kloster, abhängig von Black und dann abhängig von Pater Johannes. Es wirkte fast, als wäre ich zu nichts selbst im Stande. Etwas, was mich aufregte, aber vor allem kränkte. Ich wollte nicht so schwach sein.

Früher, bevor man mich gefangen und ins Heim gebracht hatte, da hatte ich ein anderes Leben gehabt. Ich lebte nicht von Almosen und aus der offenen Hand jener, die mich beherrschten. Ich klaute, was ich brauchte und log, wenn es mich weiter brachte. Ich hatte mir nie Sorgen darüber gemacht, ob das Sünde war und was mit mir geschah, wenn ich so weiter mein Unwesen trieb. Natürlich, ich war ein Kind und kannte die Hölle nicht. Aber es brachte mich scheinbar weiter. Seit ich das Kloster verlassen hatte, hatte ich so einiges erlebt und stets brachte es mich voran, zu sündigen. Ich war ein Mörder geworden, ein Lügner, ein Dieb, ein Ketzer und aus Armut heraus wohl zu einem Streuner. Aber ich fühlte mich gut. Wesentlich besser, als in einer Bibliothek oder hinter Klostermauern und das sprach für dieses Leben. Das Leben als Lump, als Aufsässiger. Ich brauchte nur noch etwas Zeit, mich wieder in diese Rolle zurückzufinden. Doch ich hatte nicht vor rebellisch zu werden, so wie Jack es wohl bei mir erhoffte. Viel mehr wollte ich wie ein Schatten leben. Ohne Name, ohne Gesicht und doch irgendwie…bekannt. Meine Kindheitsfantasien kamen in mir hoch und ich stellte mir ein einwandfreies Leben vor. Versteckt, in einem alten Haus oder vielleicht sogar so reich, dass ich mir ein Zimmer mieten konnte. Und niemand wusste, wer ich eigentlich war, aber jeder kannte mich. Bei jedem stand ich gut dar, hatte einen Gefallen schuldig und überall erzählte man Gerüchte über meine wahre Identität.

Leider wurde ich schnell in die Realität zurückgeholt. Weder hatte ich Geld für ein Wirtshaus, noch eine geheime Unterkunft und am wenigstens Menschen, die mir etwas schuldeten. Nicht einmal Black schuldete mir wirklich etwas. Im Gegenteil: ich hatte ihm viel geschuldet und ihn nun aus dem Gefängnis freizukaufen war wohl das Mindeste, was ich für ihn hatte tun können. Es war ein Versprechen gewesen, dass nun eingelöst worden war, mehr nicht.

Ich kam an den Fluss, der durch Annonce lief. Er entsprang in den Bergen, floss in großen Kurven quer über das Land, ins Klostergebiet um dort die Mühlen zum Drehen zu bringen, durch die Stadt hindurch und mündete dann letzten Endes ins Meer. Hier, zwischen Gebiet und Stadtmitte, war er sauber und rein. Anders als in der Stadtmitte, wo er gefüllt war mit Körpern, Müll und Unrat. Schweigend ließ ich mich auf der kleinen Holzbrücke nieder und die bloßen, verdreckten Beine baumeln. Ich gönnte mir Ruhe, ich musste nachdenken.

Das Holz unter mir bebte sanft, wenn Menschen hinter mir entlang gingen und das Wasser unter mir plätscherte leise. Weiter fern, am Ende der von der Brücke ausgehenden Pflasterstraße, war das riesige Tor zum Klostergebiet mit seinen alten Mauerresten. Die Glocke der dortigen Kapelle läutete, als würden sie mich nach Hause rufen wollen, ebenso wie die Möwen schrieen, weiter unten am Hafen. Ich entdeckte ein paar Karpfen. Als Kinder hatten wir oft versucht, sie zu fangen, aber gelungen war es uns nie. Ob das in meiner Natur lag? Das alles misslang? Sollte ich es wirklich riskieren, Mary-Ann zu helfen oder wäre das mein sicherer Tod? Durch die wenigen Tage in der Zelle war meine Zeit im Tollhaus schon fast völlig in den Hintergrund gerückt. Jeder noch so kleine Schritt dorthin zurück könnte mein letzter Schritt in Freiheit sein und die hatte ich doch erst vor wenigen Stunden erworben. Nach endlosem, stundenlangem Überlegen kam ich zu dem Entschluss, dass ich Mary-Ann helfen wollte. Aber erst nach gutem Pläne schmieden. Vielleicht war sie schon tot, vielleicht war sie längst hingerichtet worden, aber ich würde nicht für eine Tolle meine eigene Freiheit aufs Spiel setzen. Die Sache musste reichlich überlegt sein. Man würde sofort mich mit ihrer Flucht in Verbindung bringen und allein das verlangte nach einem gut überlegten Fluchtort. Zudem war sie schwach und betäubt durch die lange Gefangenschaft und die Medikamente. Die Wachen würden sicherlich nicht schlecht gucken, wenn ich mit einer Ohnmächtigen und halb Toten durch die Stadt rannte. Vielleicht würden sie sogar vor lauter Erstaunen eine Verfolgung völlig vergessen? Aber das wollte ich nicht herausfinden und das wiederum hieß, dass ich Hilfe brauchte. Ich konnte unmöglich eine Halbtote weg schleppen und gleichzeitig die Rotröcke ablenken. Ich möchte nicht behaupten, dass ich sonderlich entschlossen war, aber ich ging ohne zu Zögern los und fragte mich durch die gesamte Stadt. Es dauerte zwei Stunden, bis ich mein Ziel erreichte, was daran lag, dass ich mir dessen Namen falsch gemerkt hatte. Statt Schwarzer Kater, hatte ich Schwarzer Hund im Hinterkopf gehabt, weswegen ich nach endlos langem Suchen vor dem völlig falschen Wirtshaus stand. Aber am Ende dann fand ich das Richtige und war alles andere als begeistert. Weiß der Teufel, was meine Erwartungen gewesen sein mochten, erfüllt hat diese Ruine jedenfalls keine einzige. Sogar der kleine Schuppen unseres Klosters war größer und um einiges schöner, als dieses abscheuliche Bauwerk. Es war förmlich ein Sinnbild für Annonce: Ich stand vor einem zweistöckigen Wirtshaus, mit vermoosten Dachziegeln und schiefem Trapezgiebel an der Front. Darunter hing ein altes Schild, voller Ruß und mit einer dunklen, eingeschnitzten Katze. Noch nie zuvor hatte ich ein so hässliches Tier gesehen! Zwischen den zwei Stockwerken gab es einen morschen, splitternden Holzbalken, an dem seitlich abermals ein solches, hässliches Schild angebracht war, das beängstigend quietschte und scheinbar herunter fallen wollte. Ich stand lange da und wusste nicht, ob ich wirklich hinein gehen wollte. Ein Betrunkener kam hinaus, stieß mich an und rülpste dabei. Unsicherheit stieg in mir auf. Ich kann nicht sagen, was mich mehr erschrak: Sein Gestank oder jener, der aus dem Inneren des Hauses kam. Ich nahm einen tiefen Atemzug, dann trat ich ein.

Einige Sekunden blieb ich an der Tür stehen, um den beißenden Gestank auf mich wirken zu lassen und meine Augen an das Dämmern zu gewöhnen. Der typische Kneipengeruch war weitaus weniger schlimm, als das wenige Licht. Man hatte die Fensterläden geschlossen. Wie ich später erfuhr, vermied Jacks Mutter das Sonnenlicht, damit man ihre Falten nicht sah – ein recht misslungener Versuch, wie ich fand. Wer sie kannte, weiß, warum.

Über mir erschellte schmerzhaft eine schlichte, verstaubte Türglocke. Sie war schwarz, und auf der Haltestange war eine flache, kleine Katze abgebildet, die sich gerade streckte. Ihr Klang war das einzige Geräusch im gesamten Raum, es herrschte fast schon Totenstille. Zögernd tat ich einen Schritt vor und stolperte fast, denn direkt vor der Tür war eine Stufe. Man hatte einen Holzboden über den Sand gebaut, ein Zeichen von ärmlichem Wohlstand. Langsam begann ich zu erkennen:

Direkt vor mir war ein großer, viereckiger Stützbalken, an jeder Seite je eine Kerze. Er bezeichnete die Mitte des quadratischen Raumes. Links ging eine Tür ab, wahrscheinlich in die Küche. Davor war der Tresen, jedoch gab es keine Hocker. Zum Sitzen standen überall kleine, viereckige Tische herum mit je vier Stühlen. Rechts neben dem Tresen, in unmittelbarer Sichtweite des Wirtes, führte eine Treppe hinauf in das obere Stockwerk. Ich konnte erkennen, dass sie um die Ecke führte und auf der Knickebene standen ein kleiner, brauner Schrank und eine leere Blumenvase. Alles in allem wirkte es fast ein wenig nobel. Das einzige, was einen ärmlichen Hauch über alles warf, waren die riesigen Staubschichten auf den Deckenlampen, den Regalen, den umstehenden Fässern und Flaschen und den Fensterbrettern. Der Staub wirbelte durch die Luft wie Rauch und bewirkte ein Kratzen in meinem Hals. Ich war scheinbar allein. Nirgends waren der Wirt oder gar Gäste zu sehen und so schlurfte ich in die hinterste Ecke. Von diesem Punkt aus hatte ich alles im Blick:

Tür, Küche und Treppe. Etwas, was Black mir immer wieder gesagt hatte, während unserer gemeinsamen Fahrt:

Behalte stets jeden der Ausgänge im Auge. Man weiß nie, von wo die Presser kommen.

Und Presser suchten stets in solchen Behausungen ihre Männer für die Marine. Ich hatte auf alles Lust, aber nicht darauf, als Deserteur bezeichnet zu werden und einen Heuervertrag für zehn Jahre unterschreiben zu müssen.

Es dauerte gut zehn Minuten, ehe etwas passierte. Ein dicker Mann kam aus der Küche hinaus, in den Händen ein dreckiges Tuch und auf dem Kopf eine große, braune Stoffmütze. Er hatte eine rote Knollnase und seine Schürze war voller Fett und Schmutz. Bevor ich ihn sah, hörte ich den schlurfenden Gang seiner schweren Schritte. Er kam auf mich zu, grunzte und krempelte seine Ärmel hoch. Es wirkte fast, als würde er sich bereit machen, mich raus zu werfen. Mir fiel auf, dass ich gar nicht wusste, wieso genau ich mich gesetzt hatte. Eigentlich hoffte ich, auf Jack zu treffen und nun saß ich an einem Tisch, mit einem leeren Geldbeutel, einem roten Buch und einem knurrenden Magen.

„Gott zum Gruße.“, begann ich das Gespräch, noch ehe er mich erreichte.

Der Mann grunzte nur erneut und verschränkte die Arme. „Ihr wünscht?“

„Ein warmes Mahl wäre ganz angenehm.“, schlug ich zögernd vor.

Der Alte, er war um die vierzig aufwärts, zog eine seiner blonden, buschige Augenbraue hoch. „Ist aus, der Herr.“

„Aber Ihr habt doch gar keine Kunden.“, stellte ich erstaunt fest.

Seine Miene wurde etwas düsterer. „Ist aus, sage ich.“

„Dann… ein Stück Brot, bitte.

„Ist aus.“

„Oder etwas Brei?“

„Ist auch aus.“

Ein wenig beleidigt sah ich ihn an. „Habt Ihr denn überhaupt noch etwas da?“

„Bier.“

„Außer Bier? Nichts zu Essen?“

Der Mann dachte kurz nach, dann wog er den Kopf. „Vielleicht ein paar Linsen.“

„Dann Linsen und Bier, bitte.“

Der dicke Mann beugte sich vor und stützte seine mächtigen Hände auf den Tisch. Seine grünen Augen sahen direkt in die Meinen, während er drohend zischte:

„Kann der Kunde denn zahlen?“, er war ein Wirt aus Annonce, was erwartete ich? Leichtgläubigkeit und Naivität? Und das, bei meinem Aussehen? Ich war noch immer dreckig, meine Kleidung voller Ruß und Schmutz und stinken tat ich wohl auch. Schon, ich sah aus, wie jeder andere, einfache Bürger hier, dennoch kein schöner Anblick.

„Wenn Ihr mir Linsen und Bier bringt, soll es Euch an Geld nicht mangeln.“, log ich ruhig.

Er starrte mich an, dann schnaubte er und hievte seinen Oberkörper wieder nach oben. Der Wirt brummte: „Aber nur kalt. Warme Linsen sind aus.“

„Gibt es denn gar nichts warmes?“, jammerte ich.

Er schnaubte etwas Ähnliches wie: „Das Bier ist wärmer als Pisse, das muss dem verwöhnten Herrn schon reichen.“, und schlurfte zurück in die Küche.

Ich seufzte schwer und sah ihm nach, dann lehnte ich mich zurück. Mir wurde allmählich klar, warum das Haus keine Kunden hatte. Etwas im oberen Stockwerk krachte laut, doch nichts rührte sich, also blieb auch ich sitzen. Ich warf lediglich einige unsichere Blicke zur Decke hinauf. Sand rieselte hinunter, als ich Schritte über die Dielen stampfen hörte und ich konnte erkennen, wie manche der Holzbalken sich unter dem Gewicht bogen. Würde man eine Horde Pferde durch das Gebäude jagen, würde es wahrscheinlich in sich zusammenstürzen, wie ein Kartenhaus.

Irgendwann kam der Mann zurück. Er ließ eine Holzschüssel mit Linsensuppe vor mir auf den Tisch knallen. Das Wasser wirkte weißlich, die Linsen ungekocht. Dennoch bedankte ich mich, ebenso für den Krug Bier und nach einem verächtlichen Schnaufen, was ich als Bitte identifizierte, verschwand er wieder. Ich würgte das Mahl hinunter. Es fiel mir alles andere als leicht. Das Wasser schmeckte wie frisch aus dem Meer. Ein Trick, den man in vielen Wirtshäusern anwandte: man versalzte einem das Essen so sehr, dass man vor Durst fast umkam. Bier war teuer und somit eine große Einnahmequelle. Zudem hing nach dem dritten Bissen ein großes Haarknäuel an meinem Löffel, bestehend aus blonden und braunen Locken. Ob er es mit Absicht in mein Essen getan hatte?

Es war ein seltsames Gefühl, ganz normal in einem Wirtshaus zu sitzen. Ohne Mönchskutte, wie ein normaler, junger Mann. Trotzdem fühlte ich mich nicht willkommen, im Gegenteil. Ich hatte das Gefühl, als Geistlicher sogar mehr Ansehen gehabt zu haben, als ohne Robe und ohne Kreuz. Aber für diesen Weg hatte ich mich nun einmal entschieden.

Als ich aufgegessen hatte, saß ich lange Zeit alleine da. Ich hätte einfach aufstehen und hinausgehen können. Dem Besitzer des Wirtshauses wäre es sicherlich nicht einmal aufgefallen, aber ich beschloss zu warten. Laut Jacks Erzählungen kam er jeden Abend zum Schlafen hierher und so bewegte ich mich nicht vom Fleck. Trotz unheimlichem Durst trank ich mein Bier nur sehr, sehr langsam. Ich bewegte meinen Mund und spürte, dass meine Mundwinkel leicht verkrustet waren. Ich hatte seit Tagen nicht mehr richtig gegessen und getrunken, mein Körper schien ausgetrocknet. Gegen Mittag waren zwei Gäste gekommen und wieder gegangen und ich saß dort bereits an meinem dritten Bier. Wie ich mich verfluchte!

Wäre ich doch bloß erst nachmittags in die Schenke gegangen. Stattdessen verplemperte ich meine freie Zeit damit, die Tür anzustarren und die misstrauischen Blicke des Wirtes zu ignorieren. Er sprach mich nicht an, dennoch beobachtete er mich ganz genau. Egal, ob er nur die Tische abwischte oder lieblos einige der Krüge mit einem Lappen vom Bier säuberte. Die Schulden bei ihm wuchsen immer mehr und als er dann zur Abendszeit die Tür abschloss, aufgrund der Ausgangssperre, wurde mir etwas flau im Magen. Nun gab es kein Hinaus mehr, ich musste mir ein Zimmer nehmen. Der Wirt grunzte leicht, als er von der Tür zu mir, seinem einzigen Gast, hinüber schlenderte.

„Wie lange?“

Ich lächelte verlegen. „Was genau?“

„Für wie lange. Das Zimmer.“

„Ah… Ich bin nicht sicher. Kann ich nicht einfach hier sitzen bleiben?“, er wurde ein wenig düsterer.

„Wenn die Küche geschlossen ist, wird hier unten nicht mehr gesessen.“

„Schön, schön… Dann für einen Tag, bitte.“, bat ich unbeholfen und sah in meinen Bierkrug.

„Das macht 3 Silberlinge, der Herr.“

„Gut, gut.“

„Im Voraus.“

Unsicher sah ich ihn an. Der Wirt schien mieser gelaunt zu sein, als zu Anfang und scheinbar hatte er verstanden, dass ich kein Geld besaß. Schwer schluckend stand ich auf und begann meine Hosentaschen zu durchsuchen. Es stellte sich als unheimlich kompliziert heraus, ins Stoffinnere zu gelangen. Zu meiner Enttäuschung war der dicke Mann vor mir sehr geduldig und auch nach zwei Minuten Suchen stand er unverändert vor mir. Ich gab nicht auf, entschuldigte mich leise und drehte ihm suchend den Rücken zu. Mein Herz hämmerte. Was sollte ich machen? Zechpreller wurden hoch bestraft und sicherlich erinnerte Fulligan sich noch an mich.

„Sagt’s doch einfach.“, brummte der Wirt und verschränkte die Arme. „Dass Ihr nichts habt.“

„Ich… hatte etwas.“, schwer seufzend drehte ich mich zurück. „Scheinbar wurde ich bestohlen.“

„In dieser Gegend hier kein Wunder, was?“, er grinste.

Ich tat es ihm gleich. „Ja, allerdings!“

Doch dann wurde sein Blick eiskalt. „Aber in dieser Gegend klaut niemand. Denn hier gibt’s nichts zu klauen.“

„Ich kann das erklären!“, ich hob abwehrend die Hände, doch der Wirt machte keine Anstalten, auf mich zuzugehen. Ich sah nicht aus, als könnte ich kämpfen, war recht mager, voller Dreck und Verbände und zudem barfuss. Ein erfolgreicher Mörder und Dieb sah sicherlich anders aus. „Ein Junge sagte mir, ich würde ihn hier finden. Sein Name ist Jack. Ich war ganz sicher, ihn hier anzutreffen.“

Der Wirt zog eine seiner buschigen Augenbrauen hoch. „Ihr wollt zu meinem Jungen?“

„Ja!“, rief ich erfreut aus. „Genau, so ist es.“

„Und er sollte dann Eure Bestellungen zahlen?“

„Ja! Äh… Nein! Ich dachte nur, das kleine Bier unter Freunden… Und ein paar Linsen…“

„Es waren fünf Bier.“, stellte der Dicke desinteressiert fest. „Und zwei Teller Linsen. Im zweiten war sogar Speck.… Ihr bezahlt oder Ihr geht vor’s Gericht. So einfach ist das.“

„Aber da komme ich doch her.“, wandte ich mich. „Vom Gericht. Außerdem seid Ihr es, der mit Jakobitenbier handelt.“

Nun wurde sein Blick fast schon tödlich. „Wir sind allein hier. Überlegt Euch, was Ihr sagt.“

„Oben habe ich Schritte gehört. So allein können wir also nicht sein.“, wandte ich ein. „Ich kann sehr laut schreien, wenn ich will.“

„Wie auch immer.“, der Wirt seufzte und griff den leeren Krug vom Tisch. Dann schlurfte er zurück zum Tresen und rief über die Schulter: „Erpressen könnt Ihr mich jedenfalls nicht. Bezahlt Eure Schulden oder seht zu, wie Ihr hinaus kommt!“, und damit verschwand er wieder. Ich sah ihm nach und kratzte mir verlegen den Kopf. Den Beginn einer jahrelangen Freundschaft hatte ich mir wahrlich anders vorgestellt. Einige Minuten blieb ich unschlüssig stehen, doch er schien nicht zurückkommen zu wollen, also folgte ich dem Wirtshausbesitzer. Die Tür zur Küche war nicht groß, ich musste mich etwas ducken und der Raum war noch dunkler, als die Schenke. Direkt vor dem Eingang gab es einen riesigen, quadratischen Tisch voller Gemüse und links an der Wand stand ein alter Steinofen. Der Wirt saß davor auf einer Bank und schnitt Kartoffeln. Als er mich bemerkte, sah er kurz auf. Durch das wenige Licht und seine zusammen gepresste Haltung wirkte er wie ein alter, trauriger Mann auf mich. Ich nahm mir schweigend einen Hocker, ließ mich vor ihn sinken und half ihm bei der Arbeit. Die einzigen Geräusche bestanden aus den Klingen der Messer, dem Knarren des Hockers wenn er sich bewegte, das Fiepen einiger Ratten und dem Knacken des Feuers neben uns. Wir schwiegen lange Zeit und ich erwischte mich mehrmals, wie ich in Gedanken abdriftete. Ich könnte ihn einfach nieder stechen, mit dem Kartoffelmesser. Es wäre schwer, seine Leiche zu verbrennen, aber bis man mit dem Löschwasser diese abgelegene Schenke erreichen würde, wären alle Beweise verbrannt. Vor lauter Pläne schmieden bemerkte ich gar nicht, dass er aufhörte und mir zusah. Meine Hände schmerzten, an manchen Fingern hatte ich Brandblasen, aber dennoch war ich noch immer sehr geschickt im Schälen. Während meiner Zeit als Küchenhilfe der Hausmutter hatte ich gemerkt, dass ich mir Blacks eigene Art des Schälens angewöhnt hatte. Zuvor war mir nie aufgefallen, dass dies eher ungewöhnlich war. Ich hatte es so bei Black gesehen und einfach übernommen. Während alle immer mit der Klinge von sich weg schnitten, als würden sie an einem Holzstück schnitzen, umfuhr ich das Gemüse und bildete lange Kartoffelschalen-Schlangen. Ich registrierte eher nebenbei, dass der Wirt nun versuchte es mir nachzumachen, doch die des Wirtes wurde beim Schälen dann so dünn, dass sie einfach rissen. Während er die Kartoffeln drehte und wendete und Stück für Stück von ihren Schalen befreite, war ich doppelt so schnell mit meiner Arbeit fertig. Ich musste grinsen und beeilte mich mit Absicht noch mehr, um ihm zu imponieren. Irgendwann lachte er und gab auf.

„Ihr seid schneller als ein Weibsbild!“, ich sah auf und tat verwirrt. „Was seid Ihr?“, der Wirt schien ernsthaft interessiert und warf sein Messer achtlos in den Eimer voller Schalen vor uns. „Schiffskoch oder so etwas? Nein, dafür seid Ihr zu blass.“

„Schiffsjunge trifft es eher.“, ich grinste ihn an, nicht wenig stolz, ihn beeindruckt zu haben. „Ich war kurze Zeit Küchengehilfe an Bord eines ehemaligen Marineoffiziers.“

„Die Marine!“, staunte er nicht schlecht. „Ihr seht nicht aus, wie ein Soldat.“

„Ja.“, lachte ich. Dann widmete ich mich wieder meiner Arbeit. Ich tat verlegen und senkte meine Stimme etwas, als würde es mir an Selbstbewusstsein mangeln. „Das sagen leider die meisten.“ Das Feuer neben uns knackte kurz, als ein Stück Holz abrutschte.

„Nun… Wenn Ihr so talentiert seid, dann arbeitet hier zwei, drei Tage für mich und Eure Schulden sind vergessen.“

„Ehrlich?“, staunend sah ich auf. „Für drei Tage Arbeit kann ich Essen und Schlafen?“

Das brachte den Wirt zum Lachen. „Oh nein, ich rede von Euren heutigen Schulden! Schlafen werdet Ihr in der Küche oder aber, Ihr arbeitet noch mehr.“

Ich protestierte: „Das ist ja Wucher! So viel Arbeit für warmes Bier und kalte Suppe?!“, doch der Alte antwortete nicht und nahm seine Arbeit wieder auf. Ich tat es ihm gleich, eher aus Langeweile und tat, als würde ich überlegen. In Wahrheit genoss ich die Wärme des Kaminfeuers und hoffte, er würde aufstehen und hinausgehen. Dann könnte ich mir die eine oder andere Kartoffel klauen. Stattdessen blieb er sitzen und holte nach einigen Minuten einen weiteren Sack voller Erdäpfel. Wir sprachen kein Wort, gut dreißig Minuten lang. Mehrmals spielte ich mit dem Gedanken, ihn nach Jack zu fragen oder nach Hilfe, wo ich ihn finden könnte, doch als ich ihn auf seinen Jungen ansprach, wirkte er fast schon desinteressiert. Es hatte ihn nicht sonderlich überrascht, dass ich ihn suchte. Ich nahm an, Jack würde noch kommen und er dachte, das wusste ich. Und so schälte ich munter weiter. Meine Handgelenke schmerzten mich irgendwann und wie zur Erlösung brummte der Wirt:

„Da ist er auch schon.“

Verwirrt sah ich ihn an. „Wer?“

„Der Junge.“, er seufzte und machte sich daran ein paar Holzscheite in den Ofen zu schieben. „Hat sich wieder rum getrieben, der Bengel.“

Unsicher sah ich zu ihm, dann hörte auch ich Schritte und das Rasseln eines Schlüssels. Jemand schloss die Tür zum Wirtshaus auf, schlich hinein und verschloss sie eilig wieder. Das alles, ohne das grässliche Gebimmel der Katze zu wecken. Unsicher stand ich auf und wischte meine Hände an meiner Hose ab. Der Kartoffelsaft hinterließ weißliche, krümelige Flecken auf meinem Stoff. Nach einigen Sekunden lugte Jacks strohblonder Kopf um die Ecke.

„Vater? Ich bin zurück.“, der Wirt brummte nur, ohne sich zu ihm zu drehen, also wollte der Junge schon wieder verschwinden, dann erblickte er mich. „Nanu? Sir? Ihr? Hier?“, er trat ganz in die Küche. Noch immer trug Jack seine Uniform und unter dem Arm hielt er seine rote Mütze. „Wieso das?“

„Ich habe dich gesucht, Junge.“, erklärte ich.

„Und gefunden!“, grinste er.

Unsicher sah ich zum Wirt. Dieser beachtete uns nicht, sondern begann ein Liedchen zu pfeifen. Ich folgte Jack hinaus in die Schenke. Mittlerweile war es völlig dunkel draußen und die meisten der Kerzen waren ganz hinunter gebrannt. Jack roch nach Bier und seine Stiefel hinterließen sandige Flecken auf dem Boden. Er schien sich über mich zu freuen, denn er grinste breit und flüsterte, sobald wir im Eingangsbereich standen: „Ihr seid freigesprochen, Sir? Das freut mich.“

„Ja. Mich auch.“, ich griff an meinen Hosenbund und überreichte ihm sein Buch. Meine Wärme hinterließ Fingerabdrücke auf dem kühlen Leder. „Hier. Das ist deines.“

„Richtig, danke!“, sofort ließ Jack es in seiner Jackeninnentasche verschwinden. „Das bedeutet mir viel. Ich war enttäuscht, als ich es nicht in Eurer Zelle fand.“

„Dachte ich mir.“

Wir sahen uns an und eine kurze, peinliche Stille machte sich breit. Jacks Vater klimperte laut herum und pfiff weiter seine schiefe Melodie. Ab und an sang er eine Zeile des Liedes – scheinbar die einzige die er kannte: Und sie hängten ihn kopfüber an das Kupferfass heran. Dann pfiff er munter weiter.

„Nun, wieso habt Ihr mich gesucht, Sir?“, lächelte Jack dann unbeholfen. Mit einem Mal fühlte ich mich unheimlich müde und ich bemerkte, wie erschöpft ich bereits war.

„Weil ich mit dir reden muss. Ich habe einige Fragen an dich.“

Jack wog den Kopf. „Gut, aber ich bin angetrunken und müde auch… Ich bin nicht sicher, ob ich Euch bei allem folgen kann. Die Jungs haben mich durch die Kneipen gescheucht.“, er gähnte demonstrierend.

Lächelnd winkte ich ab. „Das hat Zeit bis Morgen, ich bin ebenso erschöpft.“

„Ihr habt also ein Zimmer genommen, Sir?“

„Nein.“, gab ich beschämt zu. „Dafür fehlt mir leider das Geld.“

„Das macht doch nichts. Ich denke, das eine Mal kann ich Euch ein Bett geben. Aber ab morgen müssen wir eine neue Bleibe für Euch finden.“, ich nickte dankbar und folgte ihm die Treppe hinauf. Sie knarrte gefährlich unter unseren Schritten und ich spürte, wie einige Stufen sich sanft bogen. Jack wies mich an, eine zu überspringen.

„Sie lässt nach.“, erklärte er entschuldigend und desto weiter wir gingen, desto mehr bekam ich das Gefühl, er fühlte sich unwohl in diesem Haus. Als würde er sich für sein Zuhause schämen. Hinter der Treppe lag ein knapper Flur mit je drei Türen an einer Seite. Am Ende gab es ein verziertes Fenster mit Blick auf die Straße. Wir schlichen leise vorwärts und der Junge schloss mir die Tür ganz hinten rechts auf. Dann ließ er mich eintreten. Das Zimmer war nicht gerade groß, aber geräumig und bot mehr Platz, als ich in dem letzen halben Jahr gehabt hatte. Ein eigenes, großes Doppelbett stand mittig an der linken Wand, links daneben ein schiefer, dunkelbrauner Schrank und rechts ein Tisch mitsamt einem dreibeinigen, kaputten Stuhl. Jack ließ seine Blicke ebenso schweifen, während auch er eintrat, als müsste er sich erst vergewissern, dass es wirklich frei war. Er riss das Fenster gegenüber der Tür auf und murmelte entschuldigend: „Besser, wir lüften erst einmal…“, dann griff er den Nachttopf und zog ihn unter dem Bett hervor. Der Junge hielt ihn so weit von sich, wie möglich und entleerte ihn durch das Fenster, dann schob er ihn mit dem Fuß zurück unter das Holzgestell.

Ich wedelte mit der Hand, aber ich war zu glücklich, um auf den Wochen alten Geruch zu achten. Ich hatte endlich wieder ein ruhiges Plätzchen für mich, wenn auch nur für die Nacht.

„Decken sind im Schrank.“, erklärte Jack und deutete auf das schiefe Holzbauwerk. „Seid aber vorsichtig. Die rechte Tür nicht aufmachen, sie fällt sonst runter… Mein Vater nimmt dann Geld dafür, das macht er immer so. Wenn etwas ist, ich schlafe gegenüber.“

Ich nickte amüsiert. „Vielen Dank, Jack.“

„Keine Ursache, Sir.“, er legte mir einen Schlüssel aufs Bett. „Hier, für das Zimmer. Verliert ihn nicht, das würde teuer werden.“, lächelnd nickte er mir noch einmal zu und ging hinaus. „Gute Nacht.“, doch ehe er die Tür schloss, sah er mich noch einmal an und flüsterte: „Aber bitte nur im Notfall klopfen… Ich schlafe dort nicht allein.“

„In Ordnung. Vielen Dank.“, ich machte eine leichte Verbeugung.

„Ich helfe gern und wir haben eh kaum Gäste. Da ist es egal, ob jemand in dem Zimmer hier schläft. Gute Nacht, Sir.“

„Gute Nacht.“, dann schloss er die Tür hinter sich. Ich seufzte schwer, schloss ab und sah zum Fenster hinaus. Das Summen der Fliegen, die sich freudig auf das Ausgegossene stürzten, hätte mit etwas Fantasie Grillenzirpen sein können. Es fröstelte mich etwas und so stellte ich den Nachttopf angeekelt aufs Fensterbrett und schloss die Läden wieder. Es gab keinen Nachttisch und auch keine Kerze. Nach etwas Warten gewöhnten meine Augen sich an das wenige Licht aus dem Flur, das durch den Türspalt drang und so nahm ich mir die gemeinten Stoffdecken aus dem Schrank. Ein Insekt flatterte auf, mit Sicherheit eine Motte, doch ich ignorierte es. Ich konnte es kaum erwarten, mich in dem gewaltigen Bett breit zu machen. Ohne mich auszuziehen, ließ ich mich hinein fallen und streckte alle Gliedmaßen von mir. Ich versuchte trotz Dunkelheit und Flimmern vor meinen Augen die Decke auszumachen und so lauschte ich meiner neuen Umgebung. Der Wirt mochte mich scheinbar, der Junge war gutherzig und das Gericht nicht mehr an mir interessiert. Nun musste ich nur noch Jacks Hilfe bei Mary-Ann gewinnen und wenn sie erst einmal befreit war, konnte ich ein komplett neues Leben beginnen. Ich wusste noch nicht, wie. Ich konnte sie schlecht einfach stehen lassen, nachdem ich sie befreit hatte, aber diese Gedanken schob ich beiseite. Darüber konnte ich mir Sorgen machen, wenn sie gerettet war. Nicht jetzt. Ich drehte mich auf die Seite und konzentrierte mich auf den warmen Stoff. Mit Sicherheit würde ich von Feuer und Flammen träumen oder von entstellten Menschen in Tollhäusern. An diese Tatsache hatte ich mich gewöhnt und ich wusste nicht, wie ich das verhindern sollte. Wahrscheinlich würde ich nie wieder frei sein von der Melancholie und diese schlechten Erinnerungen niemals mehr loswerden – ebenso wenig wie die kleinen Narben. Ich nahm mir fest vor, die Ruhe zu genießen und meinen Schlafplatz ebenso. Egal wie oft ich wach werden würde, ich würde wieder einschlafen und den perfekten, ersten Tag in Freiheit beginnen: Wach, erholt und voller Tatendrang! Der wenige Uringeruch, der vom Laken ausging, war förmlich Luxus und gut gegessen hatte ich ebenso. Die Fliegen wurden aus meinem Hinterkopf verdrängt, der Gestank und auch das leise Flüstern der zwei Gäste aus dem Zimmer nebenan. Es gab nur noch mich, das warme Bett, die Stille der Nacht, das Fenster ohne Gitter und einen dicken Wirt, der pfeifend in der Küche stand und ab und an sang:

Sie packten den Mann und dann und dann?

Und sie hängten ihn kopfüber an das Kupferfass heran!

Ich war frei.



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