Zum Inhalt der Seite

Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil

Das Tagebuch eines Gesuchten
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Im Tollhaus

Der Anblick überwältigte mich, aber bevor ich wirklich alles wahrnehmen konnte, taumelte ich zurück. Der Gestank nahm mich vollkommen ein und ich begann zu würgen. Als könnte ich meine Reaktion damit verhindern, schlug ich mir die Hand vor Mund und Nase, dennoch würgte ich nur erneut. Ich musste unwahrscheinlich blass gewesen sein, kreidebleich wie man sagt. Mein Körper begann zu zittern und wie versteinert starrte ich in den Raum vor mir.

Es dauerte, bis meine Augen sich an das Dämmern gewöhnten, das herrschte, da ich geradewegs in zwei Fenster sah aus denen die Sonne mich leicht blendete. Obwohl diese weit entfernt waren, denn vor mir lag ein endlos großer Raum, reichten sie vollends aus, um alles zu erhellen.

Gesichter starrten mich an. Gesichter von Frauen, Kindern und Männern. Jene, die ich bereits vom Hof aus sah und etliche mehr. Gut hundert Wesen, vielleicht mehr, in Lumpen und Nachthemden hockten auf dem Boden, zusammengedrängt und –gekauert, dreckig und verkommen. Der Zuchtmeister ließ mir Zeit zu verdauen, wofür ich sehr dankbar war, denn hätte ich in diesen schrecklichen Raum, voller Exkremente und Ausdünstungen, Fliegen und Erbrochenem gemusst, hätte ich ohne Frage das Bewusstsein verloren. Ich registrierte halb verhungerte Gestalten und angeschwollene Körperteile, gereizt und entzündet durch den Unrat. Fäulnis und Tod, diese zwei Worte beschrieben all jenes am Besten.

Langsam tat ich die ersten Schritte ins Innere, leicht schwankend und um Fassung bemüht. Der Gedanke, dass ich diese Gerüche einatmen sollte erschwerten mir das Luftholen ungemein.

Der Meister schloss die Tür, verschloss sie drei Mal und zog eine Art Lederriemen von seinem Gürtel. Ich registrierte es nur halb. Viel mehr starrte ich auf den feuchten Boden. Er glänzte vor Nässe und in den Rinnen schien er zu leben. Ich erkannte die seltsamsten Dinge. Dampfende Suppe, schwarze, krabbelnde Tiere, Würmer die aus einer toten Ratte krochen und anderes schien sich zu überhäufen. Ich fragte mich, wie es den Gefangenen ein Stockwerk tiefer gehen musste, denn irgendwohin sackte all die Feuchtigkeit schließlich ab. Und zugleich fragte ich mich auch, wo ich besser aufgehoben war:

Hier, an der Quelle dieses Ekel erregenden Regens oder unten, in einer Zelle, wo es mir auf den Körper tropfte?

Der Zuchtmeister begann zu erklären, auf wen ich acht geben musste, wer ab und an biss, angriff oder schrie, wer wen anstachelte, wer welche Krankheit hatte und bei wem ich mich zurückhalten sollte aber ich hörte kaum zu. Wie unter Hypnose beobachtete ich, wie er mal nach hier, mal nach da ging, auf den zeigte oder auf die. Jede Gestalt wich zurück, begann zu wimmern und die Menge drückte sich ängstlich in die hintersten Ecken hinein. Sie hatten Angst vor ihm, das war offensichtlich, fast schon Panik. Jene, die mit behelfsmäßigen Stricken und Ketten befestigt waren mehr, als jene ohne.

Dann war es endlich vorbei und wir gingen wieder hinaus.

Es kam mir vor wie ein Traum. Als die Tür erneut geschlossen war klopfte er mir auf die Schulter. „Du wirst dich dran gewöhnen.“

„Ach ja?“, fragte ich trocken und starrte die Tür an. Die Gesichter, die Blicke, das Flehen… Es hatte sich in meinen Kopf eingebrannt. Die Menschen schienen mir sagen zu wollen. „Hol mich hier raus! Ich flehe dich an, hol mich hier raus!“

„Es sind keine Menschen.“, entgegnete der Zuchtmeister ernst und sah mich düster an. „Es sind Tolle, Irre, Narren. Besessene. Du musst dort Grenzen ziehen, Kleiner. Sonst wirst du selbst bald einer von ihnen.“

„Aber die meisten wirkten gar nicht verrückt, sondern nur verängstigt.“, er drehte mich düster von der Tür weg, die ich noch immer anstarrte.

„Nun hör mir mal zu…!“, und mit einem Mal war seine Stimme bedrohlich. Unsicher sah ich ihm ins Gesicht. „Das dort drinnen sind keine Menschen, ich sage es dir gern noch einmal: Es sind Verrückte, allesamt. Satan hat Besitz von ihnen ergriffen. Du darfst kein Mitleid mit ihnen haben, sonst bist du der Nächste. Wir müssen das Übel einsperren, ehe es sich verbreitet, verstehst du?“, und mit einem Schlag gegen die Brust fügte er hinzu: „Genug jetzt. Geh auf den Hof, von dort aus links ist das Lager. Hol dir eine Schüssel und lass dir von der Hausmutter warmes Wasser geben. Los, ab mit dir.“

Der Mann starrte mich an, als würde er damit rechnen, dass ich anfangen würde zu schreien und zu diskutieren, aber ich gehorchte, ein wenig zittrig und ging schlurfend. Die Stille, die eingetreten war, als wir den Toll-Raum betreten hatten, verschwand nun allmählich. Immer lauter begann wieder das Klagen, Wehjammern und Wimmern der Gefangenen.

„Sie sind Irre.“, flüsterte ich leise um mich zu beruhigen und ging weiter. Ich wagte es nicht, zurück zu sehen, aus Angst der Zuchtmeister würde mich erwischen. Die Stimmen gingen nicht aus meinem Kopf. „Sie sind Irre. Und Besessene. Und außerdem geht mich ihr Schicksal nichts an. Ich hab genug eigene Probleme. Es sind nur Irre, keine Menschen. Nur Irre.“

Wahrscheinlich hatte der Meister Recht. Wenn ich Mitleid hatte und mich darauf einließ ihnen Aufmerksamkeit zu schenken - ihnen gar helfen wollte! – dann wurde ich wohl selbst bald verrückt. Das konnte ich mir auf keinen Fall leisten, unter keinen Umständen. Es galt durchzuhalten, bis zu meiner Anhörung. Dann würde ich meine Unschuld beweisen, fein raus sein und ein neues Leben beginnen. Ich würde ins Kloster gehen, ich hatte immerhin das Recht zurück zu kommen. Aus meinem Fehler gelernt hatte ich auf jeden Fall: Nie mehr würde ich die Mauern verlassen, nie mehr! Ich müsste nur durchhalten, bis der Richter meinen Fall bearbeitete und das konnte ja schließlich nicht mehr lange dauern.

Dachte ich zumindest.

Ich schlich eher durch das Gebäude, als dass ich ging und als ich den Hof erreichte, überkam mich das Bedürfnis, davon zu laufen. Ich wollte hier nicht arbeiten, ich wollte hier nicht einmal sein. Es bereitete mir mehr als nur Unbehagen, wieder in diesem verfluchten Heim zu stecken und nun auch noch mit dem Tollhaus zu tun zu haben. Aber ich hatte keine Wahl.

Am Eingang zum Hof erkannte ich zwei rot gerockte Diener des Königs, Soldaten der Armee, bereit auf jeden Flüchtling zu schießen. Ich seufzte und sah mich um. Da es Mittag war, schien die Sonne hell und erleuchtete erneut die grauen Wände mit den hässlichen Fratzen unter den Fenstern. Ich blieb stehen und musterte sie. Sie und die Fenster darüber, mit den dicken Gitterstäben und den Fensterläden rechts und links, in dunklem Umbra gehalten. Jedoch blätterte der Lack bereits ab, wodurch sie spröde und zerfranst wirkten. Ich fragte mich, ob man sie über Nacht geschlossen hatte oder ob man es nicht wagte sie anzufassen, aus Angst, sie würden zu Staub zerfallen. Der Himmel wurde immer Wolkiger und der Wind frischer. Vielleicht würde es heute regnen und in den nächsten Tagen würde es doch Unkraut auf diesem verfluchten Pflaster geben?

Ich begab mich zum Lager – auch ohne die Beschreibung des Zuchtmeisters hätte ich gewusst, wo es war. Eine alte Tür, die von der Art sehr an die Läden erinnerte, führte in einen winzigen und recht stickigen Raum. Zu meiner Verwunderung war sie nicht verschlossen. Ich zog sie an dem abgerundeten Holzgriff auf, der an den Träger eines Koffers erinnerte und nur mit Mühe schaffte ich es, sie ganz zu öffnen. Die alte Tür war ganz verzogen und schabte über den Stein, so dass sie oben herum zu wackeln und zu ruckeln begann. Als das Licht dann ins Innere fiel, fiepten Ratten und suchten das Weite. Einige Sekunden wartete ich, bis ich sehen konnte, erst dann trat ich ein. Der Raum war voller Sand und ich war unsicher, ob es Steine gab oder nur Holzdielen, irgendwo darunter. In der Mitte stand ein riesiger und veralteter Tisch, an den Wänden waren Regale und Schränke, die eher provisorisch wirkten. Noch nie zuvor hatte ich so viel Platz und so wenig Inhalt gesehen. Ein paar Seile hingen herum, Ketten, Zaumzeug, auf dem Tisch standen einzelne Schüsseln, ein verrostetes, altes Messer und unter dem Tisch, neben einem dreibeinigen, einst vierbeinigen Schemel, standen zwei Eimer für die Pferde der Gäste. Einer voll Hafer, einer voll Wasser. Der Sand knackte fast ein wenig wie Schnee, als ich darüber lief und den Rattenkot zertrat, auf der Suche nach einer geeigneten Schüssel. Ich wusste nicht, wofür ich sie brauchte und dadurch auch nicht, wie groß sie sein musste. Ein Mann huschte an der Tür vorbei, aber er beachtete mich gar nicht und er war so schnell, dass ich ihn nicht hatte ansehen können. Aus irgendeinem Grund machte mich das nervös, doch ich zwang mich, mich weiter umzusehen, wie aus einem Zwang heraus. Ich wollte alles wissen, was es hier gab. Nur für den Fall, dass ich einmal etwas brauchte, also schob ich die Tür geheimnistuerisch etwas zu, so dass nur noch ein Spalt Licht hinein fiel und dass niemand mich sah. In den Regalen standen Krüge und Tonkannen, mit Korken geschlossen oder Stoff überdeckt, der dann mit Garn zugebunden worden war. In einem der Regale stand eine große Tonschüssel. Neugierig nahm ich sie herunter, sie war verdammt schwer, dann entfernte ich vorsichtig das große Tuch darüber. Sie war voller dunkelgrauem Sand, aber als ich ihn vorsichtig anfasste erkannte ich Asche. Eine riesige Schüssel, voller Asche durch und durch.

Ich musste ein wenig schmunzeln über meinen Fund und sah erneut zur Tür, doch natürlich war niemand zu sehen, also grub ich vorsichtig meine Finger ins Innere hinein.

Die Asche war kühl und trocken, wie zu erwarten. Wenige Holzstücke waren noch darin und Sand, was zeigte, dass man sie mit normalem Bodensand gemischt hatte. Ich musste vorsichtig sein, dass die Asche nicht in alle Richtungen flog, während ich ausatmete. Dann wurde mein Schmunzeln zu Grinsen. Ich zog eine Handvoll kleiner, verdreckter Knubbel heraus, die ein wenig an unförmige Kugeln erinnerten. Zufrieden legte ich sie neben die Schüssel und tat das schwere Tongefäß zurück. Keiner sollte merken, dass ich daran gewesen war. Geheimnistuerisch widmete ich mich meinem geheimen Schatz. In der Schüssel waren weitaus mehr davon, aber würde ich zu viele nehmen, würde es wohl auffallen. Mir mussten die fünf, sechs Stück reichen. Ich wusch sie vorsichtig im Wassertrog der Pferde, ohne auf den Speichel darin und die toten Fliegen zu achten. Als meine Brombeeren dann einigermaßen gereinigt waren aß ich sie, zufrieden und heimtückisch.

So etwas hatte ich schon oft getan, auch während der Klosterzeit, aber für mich galt es nicht als Diebstahl. Wenn das Essen dann verteilt wurde, verzichtete ich einfach auf meine Ration – die zwar weitaus kleiner ausgefallen wäre, aber das spielte keine Rolle.

Mein Magen rumorte leise und wie ich glaube dankbar, denn ich hatte schon lange nichts mehr gegessen. Auch wenn es mir etwas Sorgen bereitete. Die Früchte schmeckten ungewohnt frisch. Weder nach Essig, noch, als wenn sie gekocht worden wären und ich hatte in unserer Klosterküche gelernt, dass, wenn man Früchte und Obst unzubereitet essen würde, der Magen sie nicht fertig kochen könne. Deswegen würden dann die schlechten Säfte, die nicht weg gekocht worden waren, in meine Milz aufsteigen und so würde ich ein schreckliches, schmerzendes Geschwulst bekommen. Mir wurde ganz heiß, vor ansteigender Panik, als mir das klar wurde und ich sah die letzten drei Beeren unsicher an. Ich beschloss sie nicht zu essen und steckte sie zurück in die Asche. „Diese Irren.“, flüsterte ich dabei. „Konservieren Früchte, ohne sie abzuschrecken.“ Dann griff ich eine der Holzschüssel und ging wieder hinaus, in der Hoffnung, dass sie nicht zu klein war. Als ich die Tür schloss, begann es unter meinem linken Brustkorb zu schmerzen und erschrocken legte ich die Hand darauf. Was, wenn so wenige Beeren ausreichten, um ein Geschwulst heraufzubeschwören? Und wie behandelte man so etwas, wenn man es erst hatte?

Die Küche lag am anderen Ende des Ganges. Man musste vom Haus aus seitwärts in das Gebäude gehen, um sie zu erreichen. Noch ehe ich die Küche betrat, nahm ich den Geruch von Gewürzen wahr. Es roch nach Lauch, Pfefferkraut, Kümmel und ein wenig Petersilie. Ich wunderte mich, dass meine Nase überhaupt noch Gerüche registrieren konnte. Nach der letzten Folter hatte ich erwartet, dass sie nie wieder funktionieren würde.

Die Küche war nicht sonderlich groß, aber groß genug. Warum ich die Hausmutter gerade hier erwartete, wusste ich nicht. Vielleicht aus einer früheren Gewohnheit heraus, denn hier hatte ich sie oft schreien und fluchen gehört.

Zu meiner Enttäuschung war sie jedoch nirgends zu sehen. Ein alter Steinofen stand in der Ecke, aus hellbraunen und cremefarbenen Steinen. Neben ihm waren Regale mit Kräutern und Bündeln getrocknetem Unkraut. Das meiste davon kannte ich nicht, im Kloster hatte ich nur selten Dienst gehabt und selbst wenn, hatten wir dort nicht viel besessen. Der Geruch nach Gewürzen und Kräutern verstärkte sich und eine kleine, gestreifte Katze mit weißen Pfoten schmiegte sich an mein Bein. Sie war eine Gotteskatze, denn sie trug auf der Stirn das heilige M, das für „Maria“ stand. Ihre grünen Augen hießen mich herzerweichend willkommen, so dass ich fast schon gezwungen war, ihr durch das Fell zu fahren.

„Mäusefänger.“, sagte eine dunkle und sehr alte Stimme. Ich fuhr herum, wie ein Kind, das man beim Naschen erwischt hatte. Direkt neben der Tür ging eine kleine Nische ab und dort saß ein alter Mann. Er hatte dunkle Haut mit tiefen Falten, die wie aufgemalt wirkten. Sein Gesicht war so alt, dass seine Augen fast geschlossen waren. Ich erinnere mich daran, dass, wenn ich vor ihm stand ich mich fragte, ob es ihm schwer fiel die Augen zu öffnen. Seine Augenlieder hingen herunter und die Haut darüber schien sie zudecken zu wollen. Dennoch hatte er etwas Jungenhaftes an sich. Er grinste mir entgegen, als wäre er in der Zeit nie voran geschritten – wobei sein fast zahnloser Mund das Gegenteil zeigte – und seine wässrigen, braunen Augen glitzerten leicht. „Mäusefänger, so heißt das Vieh.“

Ich sah zur Katze hinab, die sich streckte, dann ihn an. „Guten Morgen, Herr.“

„Gott zum Gruße, mein Sohn.“, der Alte zog an seiner Pfeife. Es wirkte wie ein gemütliches Sitzen am Feuer, wobei der Holzstuhl unter ihm und das alte Kissen alles andere als bequem aussahen. „Was kann ein alter Esel für dich tun?“, unsicher sah ich ihn an. Es erschien mir unhöflich, dass ich einfach so eingetreten war und ich hatte das Bedürfnis mich zu verbeugen oder mich wenigstens zu entschuldigen, aber noch ehe ich auch nur ansatzweise etwas sagen konnte, fuhr er schmatzend fort, während der Rauch aus seinen Nasenlöchern kam: „Ja, ja, Esel nennen sie mich. Den alten Esel, warum weiß ich nicht, aber dem ist wohl so. Nicht wahr Mäusefänger? Dich nennt man ja auch so, obwohl du keine Mäuse fängst. Pennen tust du und von ihnen träumen. Mäusepenner müsste man dich nennen, Mäusefänger, jawohl, Mäusepenner!“, und dann lachte er. Es klang wie ein Ho, ho, ho, ho und hatte etwas unheimlich freundliches an sich. Ich musste leicht lächeln. Mäusefänger ignorierte den Mann und stolzierte aus dem Raum, nicht, ohne kurz vor der Tür mürrisch nach einem Floh auf seinem Rücken zu beißen. „Ja, ja, geh du nur, geh nur und putz dir das Fell, du unnützes Vieh!“, er zog an seiner Pfeife. Der Alte schien mich vergessen zu haben, doch dann erblickte er mich und lachte erneut: „Ja, ja, du auch, Junge, lach du auch nur, so lange du noch kannst, denn irgendwann, da lacht man nicht mehr, weißt du? Glaub dem Esel, der weiß das, der lacht viel. Für die anderen mit, verstehst du? Ich lache viel, damit die anderen weniger lachen müssen.“, wieder grinste er und schmatzte kurz, um den Geschmack seiner Pfeife zu genießen. Anschließend blies er den Rauch aus. Der bläuliche Nebel zwirbelte durch die Luft. „Aber wenn keiner mehr lacht, wo sind wir dann? Dann gibt’s nichts mehr zu lachen!“, und schon lachte er erneut. Ich musste grinsen, ich konnte nicht anders. Das Großväterchen war mir mit einem Mal unheimlich sympathisch. „Lachst du viel, Junge?“

„Ähm… Nein, Herr, eher selten.“

Da nickte der Alte, wie, als wäre das die Bestätigung für sein Gerede. „Tja, was sage ich? Gut, dass ich für dich lache, sonst würde keiner mehr lachen! Komm, Kleiner, nimm dir einen Stuhl und setz dich zu mir. Der alte Esel hat selten Gesellschaft.“

„Ich muss die Hausmutter-…“

„Ach, Firlefanz und Wackelpudding!“, er winkte ab und ich gehorchte. „Die alte Schreckschraube, die kann warten. Die braucht nur was sagen und alle hier drehen die Zeit zurück vor Schiss, mein Junge!“, und als ich neben ihm saß, beugte er sich leicht vor und klopfte mir väterlich auf die Schulter. „Eins sage ich dir:

Jemand wie sie, ist niemand, denn wir sind ja was und wenn wir alle was sind, dann muss sie Nichts sein. Verstehst du?“

„Ehrlich gesagt, nein.“, gab ich zu und lächelte ein wenig schief.

Er lachte nur wieder „Ich auch nicht!“, und zog an seiner Pfeife. Amüsiert fügte er hinzu: „Wenn du wüsstest, was ich hier rede, dann wäre es erschreckend, denn ich weiß ja selbst nicht mal, was ich von mir gebe! Und denk ja nicht, dass ich ein Toller bin…“, der Esel zwinkerte mir verschwörerisch zu und flüsterte leise: „Aber wenn man alt ist, Kleiner, dann kannst du einfach verrückt sein. Du musst sogar! Früher, da musste ich aufpassen und stolz sein und gut aussehen und weiß der schwarze Peter, was noch alles, aber heute bin ich alt. Und wenn man alt ist…“, er zog an seiner Pfeife. „…dann hört einem keiner mehr zu. Und dann kannst du reden und reden, was du willst und so viel du willst.“, wieder kam der Rauch in dicken, bläulichen Wolken durch seine Nasenlöcher. Ich sah zu und staunte. „Und es ist ganz gleich, was du sagst, du wirst nicht mal eingebuchtet dafür. Nein, was für ein Spaß!“, der alte Mann lachte erneut und ich musste wieder grinsen. „Ja, ja außer ab und an mal, dann hören sie dir zu. Dann kommen Jungs wie du hier her, die arbeiten müssen, zum alten Esel. Ah oder die aus dem Heim. Und dann wird geredet und gelacht, dass es für die nächsten Jahre reicht, ja, ja… Ja, ja… Da muss man vorsorgen, Kleiner. Vorsorgen.“, der Blick des Alten wurde verträumt und er sah vor sich, die Hände auf den Bauch gelegt. „Ja, ja… Da lachen wir ganz viel. Damit es reicht, für schlechte Zeiten, weißt du?“, kurz sah er mich an, um sicher zu gehen dass ich auch wirklich zuhörte, dann versank er schon wieder in seinen Gedanken. „Man kann nie genug lachen. Und wenn’s mal düster wird, tja, dann hast du ja schon gelacht und musst nicht traurig sein, dass du es dann nicht mehr kannst. Ja, ja… So ist das mit der Marmelade. Den holen die Bienen. Aber im Pudding, Junge, da ertrinken die Mäuse drinnen. Lass dir das gesagt sein! Die ersaufen, einfach so und keinen interessiert es.“

„Ich werde es mir merken.“, schmunzelte ich nur.

Eifrig begann der Alte zu nicken. „Tu das, Junge, tu das. Das ist wichtig für’s Leben, nichts ist so wichtig wie das. Das und das Auge der Königin. Denn die hat ja schließlich die Krone im Buffet, nicht wahr? Ja, ja… So ist das…“, er zog an seiner Pfeife, langsam und verträumt.

„Tja…“, seufzte der Esel dann. „So ist das…“

Eine kurze Zeit lang sah ich ihn an, doch der Esel, wie er sich nannte, schien in Gedanken versunken und mich nicht zu registrieren. Er saß einfach nur da und schmatzte und kaute zahnlos an seinem Pfeifenhals herum. Der Blick des Alten ging ins Leere und seine wässrigen Augen schienen Dinge zu sehen, die überall waren, aber nicht bei uns im Raum. Ich beschloss ihn zu lassen. Langsam stand ich auf und leise, fast als würde er schlafen. Ich mochte ihn, der verrückte Mann war mir sympathisch und ich hoffte, ich könnte noch öfters zu ihm kommen. Der Ofen war vor mir und die Pumpe war neben dem Alten in der Ecke, also beschloss ich, mein Wasser ohne die Hausmutter zu kochen, doch plötzlich hielt er mich fest am Arm und sein Blick war wieder klar. Fast wie wahnsinnig stierte er mir direkt in die Augen und sagte leise, als könnte man uns belauschen:

„Aber lass dir eines gesagt sein, Junge…! Der alte Esel ist nicht dumm, er kennt Jungen wie dich, die ihr Leben versauen und dann hier landen. Lass dir eines gesagt sein…!“, und mit einer Kraft, die ich ihm niemals zugetraut hätte, zog er mich zu sich herunter. Er zischte: „Gib Acht, dass du hier nichts verlierst, Junge, auf keinen Fall. Du siehst es nie wieder…!“

Unsicher sah ich ihn an, dann ließ ich mich auf den Schemel zurück sinken, gewillt, seinen wirren Worten weiterhin zuzuhören.. „Was sollte ich denn verlieren können? Ich habe doch nichts.“

Der Esel lachte, aber nur kurz, dann beugte er sich zu mir: „Dein Verstand, mein Junge, den kannst du verlieren! Sieh zu, dass du auf ihn Acht gibst! Besonders bei den Tollen! Ich kenn die Leute, beim Hans noch mal, ich kenne sie. Wie Äpfel sind die, nur süßer. Trau dich da nicht zu nah ran, Kleiner und denk immer an-…“

„Nun quatsch den Jungen nicht zu, du alter Esel!“, unterbrach ihn die Hausmutter etwas unfreundlich. Sie war gerade herein gekommen und ohne zu wissen, worum es ging, hatte sie das Gespräch zwischen uns beiden einfach beendet. Ich fand es unhöflich und respektlos, besonders einem Mann mit solchem Alter gegenüber, doch als ich aufstand um sie zu begrüßen, kam sofort die damalige Unsicherheit in mir hoch. Die etwas kleinere Frau mit dem großen Busen und dem eingequetschten Kreuz dazwischen schloss die Tür. Sie schien mies gelaunt zu sein und es nicht zu mögen, dass ich mit dem alten Mann sprach. „Du kaust allen ein Ohr ab und hältst sie ab vom arbeiten, dummer Esel, halt den Rand und rauch deinen Tabak. Verrückter Narr!“, und tatsächlich schwieg der alte Esel. Seine Augen waren düster, aber er sagte keinen Ton, sondern sah sie nur an. Dann, als sie sich umdrehte, nickte er und zeigte zu ihr. Der Alte verdrehte die Augen und ich grinste über die Geste. Als die Hausmutter sich wieder zu mir drehte, zuckte ich zusammen. „Und wer bist du, hä? Dich habe ich doch gesehen, gestern, auf dem Hof?“

„Ich-…“

„Du arbeitest beim Zollmeister, was?!“, ich lernte die Hausmutter als stets beschäftigte und sehr geschäftige Frau kennen. Noch während sie mit mir sprach, wenige Sekunden ehe sie überhaupt eingetreten war, wickelte sie ein kleines Messer aus ihrer Schürze und begann Kartoffeln zu schälen. „Wie ist dein Name, Junge?“

„Mein Name ist-…“

„Spar dir die Luft. Frage, Antwort.“, erklärte sie unfreundlich. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Nase, dann schälte sie weiter, im Stehen. „Hier ist Reden unwichtig, man sieht Redner nicht gerne. Leute die viel reden, die denken viel und Leute die denken sind gefährlich. Die machen alles kaputt, sind arrogant und denken, sie haben den Durchblick. Also Mund zu, knappe Antwort reicht. Kapiert?“

„Kapiert.“, bestätigte ich.

Sie nickte. „Das ist mir klar, du bist ja nicht dumm. Na los, komm her, hilf mir schon schälen und steh da nicht nur dumm herum! Das kannst du doch wohl?“, und wie ich das konnte! Wie viele Kartoffeln hatte ich bei Black geschält? Tausend? Zweitausend? Ich schob den Schemel an den Tisch, dann setzte ich mich. Fast schon herausfordern legte sie mir ein zweites Messer hin. „Also? Wie heißt du? Was willst du?“

„Sullivan O’Neil, Herrin. Und ich brauche warmes Wasser.“

Sie sah mich kurz an, dann schälte sie weiter. Ich überlegte, ob sie sich wohl an diesen Namen erinnerte, aber es kam keine Reaktion. Wieso sollte es auch? Sicher kannte sie endlos viele Kinder, warum sollte sie sich gerade an mich erinnern?

Doch ich irrte mich. Sie sah mich erneut an.

„Sullivan? Der kleine Sullivan von früher?“, ich schwieg, als würde ich sie nicht hören. „Natürlich, dich kenn ich doch. Der kleine Lausebengel, der mir den Topf zertrümmert hat.“

„Ja, Herrin.“

Sie begann zu lachen, ein wenig übertrieben vielleicht. „Ja, ja, Unkraut vergeht nicht, was? Die meisten von euch Bälgern kommen hier her zurück! Hab ja gleich gesagt, aus dir wird nichts werden, hat man gleich gesehen. Dumm wie Stroh! Ich frag mich, wieso wir euch überhaupt weg schicken. Undankbar!“, sie gab mir einen leichten Schlag auf den Hinterkopf. „Na? Wo haben wir dich hingeschickt, hä? Sag’s der alten Mutter. Welche Chance hast du vergeudet?“

„Vergeudet ist nur Salz in der Suppe.“, murmelte der Esel.

„Du halt den Rand.“, warf die Alte ihm über die Schulter hinweg zu, dann gab sie mir einen erneuten Klaps, deutlich fester. Sie hatte sich wirklich nicht ansatzweise verändert. „Na sag schon, Junge, wo haben wir dich undankbares Blag hingeschickt, dass du einfach zurück kommst und Sünder wirst? Ich will nicht wissen, wie viel Geld wir verschleudert haben für dich! Nur, dass du wieder hier landest! Manche Kinder sollte man in den Fluss werfen, die bringen es eh zu nichts.“

„Ins Kloster. Und ich war kein Sünder.“, ich griff zwei weitere Kartoffeln, darauf bedacht, ruhig zu bleiben. Ihre Art machte mich aggressiv. Ich hatte keine andere Wahl, als mir dieses Gespräch anzutun und mir solche Dinge einreden zu lassen, aber Wut oder Zorn gönnte ich ihr nicht. „Ich bin unschuldig angeklagt worden.“

„Das sagen sie alle.“, spottete sie nur. „Kannst gut schälen. Lernt man wohl im Kloster?“

„Kann schon sein.“

„Wenn du aus einem Kerl ein Weib machen willst, schick ihn ins Kloster, sagte meine Mutter immer – Gott habe diese Armselige Hure selig. Recht hatte sie. Solltest dich mal ansehen, dürr und schlank, zudem bildhübsch. Fast wie ein Weib, fast Ekel erregend. Du willst ein Kerl sein?“

„Also muss man fett, groß und hässlich sein, damit man ein Mann ist?“, fragte ich ehrlich interessiert. Ganz ruhig erhob ich mich und lächelte die Alte freundlich an, während ich das Messer auf den Tisch zurücklegte. Hier war ich fertig. „Ihr seid aber eine Frau oder?“

Der Kopf von der Hausmutter wurde knallrot und ich war nicht sicher, ob durch Wut oder Scham. Ich hatte noch nie erlebt, dass sie sprachlos gewesen war. Hinter uns brach der alte Esel in schallendes Gelächter aus.

Schnaubend steckte sie das Messer zurück in ihre Schürze, dann griff sie die Schüssel und mit einem wütenden Blick füllte sie diese mit Wasser. „Geh zurück zum Zuchtmeister!“, befahl sie schroff und deutlich lauter. „Ich lasse es hinauf bringen! Verschwinde!“

Ich verbeugte mich tief, fast ein wenig veralbernd, dann ging ich hinaus und schloss die Tür, noch immer das lachend des Esels hörend.

Als ich im Hof stand und zum bewölkten Himmel hinauf sah, begann ich zu grinsen. Ich mochte die Frau nicht, ganz und gar nicht und das war von Anfang an so gewesen. Ob sie mich ein Weib nannte, weil ich wusste, wie man Kartoffeln schälte oder ob sie mich schimpfte, da ich schuld sei, dass meine Mutter mich hatte im Heim abgeben müssen. Ich hatte sie schon mein ganzes Leben verabscheut. Damals, als ich ins Heim kam, hatte ich bereits im ersten Moment beschlossen, dass ich sie hassen würde. Hassen dafür, dass sie uns Kinder permanent irgendwie schlug oder demütigte und dafür, dass sie uns so etwas wie Liebe nie spüren ließ. Dafür, dass sie uns von Anfang an aufgab und zu dem machte, was wir waren.

Und während ich so hinauf sah, wurde mir bewusst, was für einen Ausmaß an Macht Wörter in dieser Welt hatten. Sie tat gut daran, mir zu sagen, ich sollte nicht viel reden. Denn mit Worten, Sätzen, konnte man so viel Gigantisches anstellen. Jahrelang hatte sie auf mich eingeredet, dass ich wertlos sei und nur durch dieses Zureden hatte die Kirche es weiter fortführen können. Sie hatte den Weg geebnet und im Kloster hatte man es weiter vertieft.

Ich beneidete den alten Narren, denn er konnte reden, was immer er wollte. Allerdings, konnte er damit noch etwas bewirken?

Ich beschloss, mich eingehender damit zu befassen. Meine Gefangenschaft hier würde ohne Frage noch länger andauern und irgendetwas musste ich ja tun. Ich hatte kein Buch und meine Zimmergenossen konnte man schlecht als geeignete Gesprächspartner bezeichnen. Ob ich es mit den richtigen Worten schaffen könnte, sie zu besiegen? Ganz ohne Fäuste? Wenn man Menschen Dinge einreden konnte, dann konnte man sie auch dazu bewegen, zu tun, was man wollte oder nicht? Man hatte mir eingeredet, kuschen zu müssen. Man hatte mir eingeredet, Ja und Amen zu sagen. Wieso sollte ich das nicht auch tun können? Ich war nicht mehr der kleine Bengel vor damals, der Angst vor dem Rohrstock hatte. Ich war ein Mann geworden, erwachsen, größer und auch stärker.

Ich erinnerte mich an Pater Antonius. Jener Priester, der uns im Heim damals Gottes Worte näher brachte. Wenn er nicht gerade wutentbrannt auf einen der Jungen losging ihn schlug und anschrie, dann schaffte er es jeden von uns mit seinen Worten zum Schwiegen zu bringen. Fast wie Black zog er alle in seinen Bann, indem er mit seiner Stimme spielte. Mal war sie wie Honig, mal wie schmerzhafte Dornen. Je nach Bedarf konnte er sie einfach verändern, die Menschen locken oder Angst machen, das Gegenüber einlullen und verführen oder aber zurückschrecken lassen, Ehrfurcht auslösen.

Ich beschloss das zu lernen, irgendwie. Das musste einfach gehen! Wieso sollte ich das nicht auch können?

Und wenn es so weit war, würde ich meine Künste beim Richter ausprobieren.

Die Hausmütter hätte mich ohrfeigen können, hinaus jagen, auf mich losgehen wie früher, die Wachen oder den Zuchtmeister rufen… Aber nichts davon hatte sie getan. Sie war nur rot geworden und hatte um ihre Fassung gerungen.

Ich beschloss, dass ich so etwas wie eine Gabe haben musste. ‚Pfiff’ sozusagen. Und diese Gabe würde ich nutzen. Irgendwie… Denker reden viel, richtig? Also wieso sollten Redner nicht viel denken?

Und wieso sollte das etwas Schlechtes sein?



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Momachita
2013-03-22T09:09:59+00:00 22.03.2013 10:09
Ich hätte zu Beginn des Kapitels eindeutig kein Butterbrot essen sollen. Das wäre mir ja fast wieder hochgekommen. Da kann man ja schon sagen, dass ich "zum Glück" von der Arbeit um mich herum ein wenig mehr vom Text abgelenkt war.

Der alte Esel und die Katze. Fehlen nur noch ein Hund und ein Hahn und wir haben die Bremer Stadtmusikanten zusammen!
Bei der Beschreibung von Esels Rauchstil hatte ich sofort Gandalf vor Augen, wie er in Herr der Ringe seine Pfeife pafft und ein Segelboot (war doch eins, oder?) aus Rauch ausbläst. Esel scheint mir ein Typ zu sein, der das auch drauf hätte, wenn er nur könnte.
Wieder ein Charakter auf jeden Fall, den du sehr schön greifbar für den Leser gemacht hast. (Wobei die meisten deiner Charaktere so sind! Bei ihm fällt es mir nur mal wieder so gut auf.)

Man hat sehr schön gemerkt, wo Sons Punkt war, sich wieder zusammenzureißen.
Und das Ende des Kapitel lässt ja schon schwer hoffen, dass er sich bald irgendeinen Plan zurechtschrauben wird. Einen Plan um da rauszukommen, aber vielleicht auch ein ganz allgemeiner Plan zum Leben. Wir werden sehen~


Zurück