Hac Conditione - Unter dieser Bedingung
„Yura! Telefon!“
„Lass den AB dran gehen.“
„Mudak!“, schnauzt Bryan aus dem Keller und lässt es tatsächlich weiterhin klingeln. Ich grinse. Meine Autorität ist eben einmalig und ich genieße diese Dominanz. Irgendwann erstirbt das Klingeln.
„Petrov?“, höre ich unseren Serge in den Hörer brummen.
Beruhigt widme ich mich wieder dem Buch in meiner Hand. Lord of the Flies von William Golding. Ein merkwürdiger Schinken. Doch für meinen inneren Seelenfrieden will ich es zuende lesen. Seit einer Woche verfolge ich mein neues „Yura-wird-jetzt-schlau“-Projekt.**
Weil ich nicht aufhören kann an dich zu denken. Und darum muss ich schlauer werden. Klüger. Um mit der Situation umgehen zu lernen. Ich weiß, wir sind kein Liebespaar. Wir haben nichts mit den typischen Pärchen gemein. Aber was haben wir dann für ein Verhältnis zueinander?
Um Antworten darauf zu finden, habe ich beschlossen, nun klug zu werden. Schon immer stand ich für klare Verhältnisse ein.
Ich greife zum Weinglas, das auf dem kleinen Beistelltischchen bereit steht, und führe es an meine Lippen, ohne von meiner Lektüre aufzublicken. Englisch zu lesen ist doch schwieriger als gedacht und die Kernaussage hinter den ganzen Metaphern und idiomatischen Ausdrücken zu entdecken, ist auch nicht besonders einfach. Deshalb liegt nicht nur ein Wörterbuch sondern auch ein Lexikon der englischen Redewendungen neben mir.
Wiederholt seufze ich. Irgendwie will es mir nicht gelingen, mich selbst abzulenken. Dabei war es sonst immer so einfach.
„Yura, sto ti hotschis? Schariny, atwarnoj ili bliny swarjenjem?“
Ich erschrecke. Ach ja, Sergej ist heute mit Kochen dran. Mir ist überhaupt nicht nach essen zumute, Hunger habe ich auch keinen.
„Schykaladnaje sa wsbitymi sliwkami“, plappere ich unüberlegt drauf los. Sergej hebt eine Augenbraue und mustert mich gründlich. Ich gebe vor, mich wieder in mein Buch vertieft zu haben, um lästigen Fragen zu entgehen. Natürlich ist mir bewusst, dass Sergej nun irgendetwas ahnt. Zumindest, dass etwas mit mir nicht stimmt. Süßes esse ich nur, wenn es mir nicht gut geht oder ich angespannt bin. Sergej lässt mich jedenfalls in Ruhe. Er wird auch wohl Stillschweigen bewahren. Vielleicht beschäftigt es ihn, aber lange wird er nicht darüber nachdenken.
Es klingelt an der Tür. Ich sehe auf die Uhr. Unglaublich, ich habe mich tatsächlich mit Golding anfreunden und zwei Stunden am Stück ohne Störung lesen können!
„Geht mal einer hin?“
Das penetrante Klingeln geht weiter. Anscheinend bin ich alleine. Oder die anderen sitzen mal wieder auf ihren Ohren. Schwerfällig erhebe ich mich also und schlurfe zur Tür.
„Wer will da was?“, brumme ich lustlos.
Mir wird eine schwarze Reisetasche vor das Gesicht gehalten.
„Ist das deine? Da steht dein Name drin.“
Ich nehme sie von dem Herren entgegen, überrascht. Ja, es ist tatsächlich meine. Aber…
„Wo haben Sie die her?“
„Sie wurde nicht mehr abgeholt. Kennst du das Tropical Sunset? Hast du sie vielleicht vergessen?“
Ich überlege kurz, schüttele dann aber den Kopf. Dennoch kann ich ihm bestätigen, dass die Tasche mir gehört. Nachdenklich schließe ich hinter mir die Tür. Ich hatte sie mal Kai geliehen. Vielleicht sogar geschenkt.
Ich runzele die Stirn und setze die Tasche auf dem Küchentisch ab. Neugierig öffne ich den Reißverschluss und sehe hinein. Ich fühle weichen Stoff. Meine Finger streifen über verschiedene Kleidungsstücke. Ich packe zu und hole einen Slip heraus. Der gehört Kai. Ich erkenne das Muster eindeutig.
Mist, ich erwische mich selbst bei einem aufkommenden Grinsen. Das wollte ich doch unterbinden!
Nun, aber jetzt mal aus rein objektiven und rein freundschaftlichen Gründen gefragt: Warum ist diese Tasche voll gepackt mit seinen Sachen?
Ich schließe sie wieder. Wenn er irgendwas will, wird er schon kommen. Hat er sonst auch immer gemacht. Kai kann sich selbst verteidigen. Er ist ja nicht blöd… Meistens jedenfalls.
Aber unter diesen Umständen… ist er ja vielleicht genauso verunsichert wie ich?
Nein! Nein, nein, nein! Ich muss aufhören, mir solche Gedanken zu machen. Freunde. Das sind wir. Und wenn ich mir Sorgen mache, ist das, weil er mein bester Freund ist. Mehr nicht.
Ich werde jetzt wohl abwarten, vielleicht meldet er sich ja.
** Copyright © Hurby^^
Mudak – Dummkopf! Arschloch!
Serge – sprich: „Särdsch“
Yura, sto ti hotschis? Schariny, atwarnoj ili bliny swarjenjem – Tala, was willst du? Bratkartoffeln, Salzkartoffeln oder Pfannkuchen mit Marmelade?
Schykaladnaje sa wsbitymi sliwkami – Schokoladeneis mit Schlagsahne