Der Tag war bereits angebrochen.
In der Detektei des ‚großen’ Kogoro konnte man keinen einzigen Atemzug wahrnehmen.
In mitten der Stille und Idylle lag der geschrumpfte Oberschüler noch in seinem Bett.
Die ersten Sonnenstrahlen fielen durch die Schlitze seines Rollladens und erhellten das Zimmer. Wie Scheinwerfer, die auf ihn gerichtet waren, gewährte das Licht einen Einblick in seinen verzerrten Gesichtsausdruck. Die Decke saß schon lange nicht mehr auf ihm. Schweißdurchtränkt lag er breit ausgestreckt noch in seinem Bett und schien zu träumen. Ein leichtes Zucken durchfuhr seine Glieder.
Shinichi hatte seine Schuluniform an und stand mitten im Nichts. Von Dunkelheit umgeben, versuchte er mit zusammengekniffenen Augen irgendetwas zu erkennen. Er trat näher.
Vor ihm zogen sich plötzlich lange Stäbe aus dem Boden hoch. Verzweifelt drehte er sich um, um in die entgegengesetzte Richtung zu laufen, als auch dort Gitterstäbe aus dem Boden ragten und immer länger wurden. Er befand sich in einem eisernen Käfig, aus dem er nicht mehr entkommen konnte. Ein klein wirkendes Schlüsselloch tauchte genau vor ihm auf. Doch er hatte nicht den dazu passenden Schlüssel, um endlich aus diesem Gefängnis zu entfliehen.
Mit aller Kraft rüttelte er an den Stäben. Doch was war das? Seine Hände wurden plötzlich immer kleiner. Er schaute an sich herab und fand sich im Körper eines Grundschülers wieder. Von oben herab fiel eine Brille auf den Boden. Durch den Aufprall zersprang das Glas in tausend Stücke.
Ruckartig drehte er sich um, um eine Möglichkeit zu suchen, den Käfig aufzusperren. Er rief um Hilfe, doch bekam keine Antwort. Ein leises Geräusch zog seine Aufmerksamkeit wieder nach vorne. Genau vor ihm stand ein kleines Mädchen mit rötlichen, kurzen Haaren.
Ihre Augen schauten genau in seine. Sie standen so nah aneinander, dass sie nur noch die Eisenstäbe trennten.
„Hilf mir, Ai“, bat sie Conan in einer leicht panischen Stimmlage.
„Ich habe aber keinen Schlüssel“, entgegnete das Mädchen und schaute ihm weiterhin in die Augen.
Langsam verschwand der Boden unter seinen Füßen...
„Haibara! Hilf mir...“, rief er noch mit letzter Kraft, bevor er nur noch von Dunkelheit umgeben war.
Mit einem Mal wachte Conan unsanft aus diesem Traum auf. Er richtete sich langsam im Bett auf und atmete beruhigt aus. In Gedanken versunken zog er sich seine Brille an, die neben ihm auf einer Kommode lag und ging in zügigen Schritten ins Bad.
Er wusste genau, was dieser Traum zu bedeuten hatte. Für einen Schülerdetektiven würde das kein schwerer Fall sein. Allerdings bedarf es diesem Traum keiner Aufklärung. Das Schlimme war ja, dass er diesen Albtraum durchlebte.
Bei jedem Blick in den Spiegel fragte er sich, wie lange er wohl noch in diesem Körper gefangen bleiben wird. Es war schlimmer als ein Gefängnis. So oft er auch versuchte, sich mit der Situation abzufinden, genügte ihm schon ein Blick in sein geschrumpftes Spiegelbild, um ihn wieder anders zu stimmen. Conan musste mit seinem alten Freund, dem Professor, darüber reden.
Leichter Regen nässte die Straße. Da das Haus des Professors nur ein Katzensprung weit entfernt war, stand Conan schnell vor der Eingangstür, die komischerweise einen Spalt weit offen stand.
„Professor? Sind Sie da?“, fragte er in den Eingangsbereich rein und trat dann ein.
„Der Professor hat gerade eben das Haus verlassen“, ertönte eine Stimme, die der Eingangstür nahe zu sein schien.
„Ai...“, murmelte Conan leise, trat ein und schloss die Tür hinter sich, „etwas unvorsichtig, die Tür offen zu lassen“, fuhr er fort.
„Willst du einen Kaffee?“, fragte Ai, ohne wirklich auf seine Aussage zu antworten.
„J-Ja, gerne“, antwortete der Kleine leicht irritiert. Er folgte ihr. Noch auf dem Weg zur Küche bemerkte Ai die Veränderung in seinem Gesicht.
„Was ist los?“, fragte sie.
Nachdenklich schaute Conan sie an, als sie sich umgedreht hatte.
„Du Haibara... darf ich dich etwas fragen?“, wollte Conan vorsichtig wissen.
„Wenn ich nein sagen würde, würdest du doch sowieso fragen“, gab sie zur Antwort und ein provozierendes Lächeln legte sich leicht auf ihre Lippen. Sie drehte sich wieder um, um ihm den frischen Kaffee in den Becher zu schütten.
„Du arbeitest doch immer noch an einem Gegenmittel, oder?“
Kaum hatte er die Frage ausgesprochen, weiteten sich Ais Augen. Sie hasste diese Frage. Er verstand es einfach nicht – er verstand rein gar nichts. Sprach immer nur von einem Gegenmittel, als sei sie nur eine Forscherin, die ihn ans Ziel bringen soll. Er verstand einfach nicht, dass er für sie mehr war- viel mehr.
Schlagartig drehte sie sich um und ließ ihn feurigen Zorn spüren.
„Willst du mir damit unterstellen, ich würde dir nicht helfen wollen? Natürlich arbeite ich noch an einem Gegenmittel.“
„Ai, das war nicht so gemeint. Ich hatte da nur so einen Traum...“, fing er an, doch sie ließ ihn nicht ausreden.
„So? Und nur weil du einen Traum hattest, beschuldigst du mich jetzt?“
Ihre Stimmlage veränderte sich von Wut in pure Trauer um. Ohne nachzudenken, ließ sie alles liegen und rannte aus dem Haus.
„Aber ich beschuldige dich doch gar nicht..“, murmelte Conan leise, als dann auch schon die Tür laut hinter ihr zu fiel.
„Na toll, Kudo, das hast du ja wieder super hinbekommen!“
Er rannte zur Eingangstür und riss diese auf. Es regnete wie aus Eimern und der Wind blies die Tropfen heftig an die Fensterscheiben der Häuser. Conan griff sich schnell den Schirm, der immer im Eingangsbereich bei Professor Agasa hing.
Während er den Schirm öffnete, rief er unaufhörlich ihren Namen.
Ai bleib abrupt stehen. Mitten auf der Straße einer kleinen Seitengasse fand sie sich wieder.
„ Wieso bin ich nur die Forscherin? Der Schlüssel zu seinem Problem? Wieso sieht er nicht...“, spukte es in ihrem Kopf herum. Sie war nass- und das überall. Zur selben Zeit kullerten ihr kleine Tränen die Wange herunter. Sofort erhob sie ihren Kopf und schaute hoch in den Himmel. Die Regentropfen durchfluteten ihr Gesicht, sodass man nicht mehr sehen konnte, dass sie weinte. Ja, Ai weinte. Auch sie hatte Gefühle. Verborgene Gefühle, offensichtliche Gefühle, Gefühle der Freude und die der Trauer. Sie schloss die Augen und hörte dann Schritte hinter sich.
„Ai, hier bist du ja...“, rief der Junge erleichtert.
„Geh weg“, murmelte sie so leise, als würde sie nicht wollen, dass er es hört.
„Es tut mir leid...“
„Es kann dir doch egal sein. Du willst nur das Gegengift und sonst nichts. Hab ich nicht recht?“
Er trat näher an sie heran und stellte sich ihr gegenüber. Den Regenschirm warf er zu Boden. Der Wind blies diesen leicht wie ein Blatt über den Asphalt. Langsam legte er seine Arme um sie. Einige nasse Strähnen fielen ihr ins Gesicht.
Er drückte sie fest an sich heran und ihre nasse Kleidung nässte seine. Sie konnte seine Körperwärme spüren und sie genoss den Augenblick. Einerseits war sie froh, dass sie einfach so weggerannt ist, allerdings erkannte sie sich nicht mehr wieder. Ai verstand nicht, wie er sie dazu gebracht hatte.
„Nein, Ai, du liegst im Unrecht...“, erwiderte er leise.
„Ai, du bist doch nicht nur eine Forscherin für mich. Ich lasse dich nicht alleine, falls es das ist, vor dem du Angst hast.“
Seine Worte klangen im Inneren ihres Ohres wie eine leise Melodie. Eine Melodie, die sie am liebsten immer und immer wieder abspielen wollte. Auch sie legte langsam ihre Hände um ihn und schloss die Augen. Endlich einmal wieder das Gefühl der Geborgenheit in seiner Nähe spüren. Hier gab es niemanden- außer sie zwei.
„Versprichst du es mir?“, wollte sie sich vergewissern und hauchte die Worte mit letzter Kraft heraus. Im Regen stehend und in den Armen haltend, vergaß Ai die Welt um sich herum.
„Ja, Ai, ich verspreche es dir. Ich werde dich niemals alleine lassen.
Versprochen!“