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Meine Therapie

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Meine Therapie

Mein erster Tag bei Dr. Sommer

Was in meinem Leben beschissen läuft?

Seufzend lehne ich mich in meinem dicken, dunkelbraunen Sessel zurück, schlage die Beine übereinander und lege mein Kinn auf meine ineinander gefalteten Hände.

„Wo fang' ich an. Meine Freundin hat mit mir Schluss gemacht. An unserem zweiten Jahrestag. Eine Fernbeziehung sei ihr zu stressig. Das würde sie nicht aushalten. Wir sehen uns nur jedes zweite Wochenende. Und diese Gegend, das sei ihr alles zu unheimlich. Fünf Monate hat es noch gehalten zwischen uns, nachdem ich hier her gezogen bin. Ich hatte ein Leben da unten. Ich war der beliebteste Kerl auf der Schule, hatte einen großen, echten Freundeskreis, dieses wunderhübsche Mädchen an meiner Seite, spielte in der erfolgreichsten Band der Umgebung die Lead-Gitarre. Die Band hat sogar neulich einen Plattenvertrag bekommen. Zwar ein unbekanntes Label, aber sie ist jetzt Vorband von den Red Jumpsuit Apparatus. Kennen sie nicht. Erwarte ich auch nicht. Was ich dazu nur sagen kann: Ich bin nicht der Lead-Gitarrist während Don't Deny, das ist besagte Band, den Red Jumpsuit Apparatus hinterherreist um deren Publikum zu Tode zu langweilen. Und es war ja nicht etwa, weil ich ein beschissener Gitarrist war. Neeeee, ich bin jetzt hier. Und es ist kein Leichtes, mal eben dreihundert Kilometer Streckendistanz zu überwinden wenn zum Beispiel Ihre Freundin heult weil ihr Hund Buma gestorben ist oder Ihre Band ne Probe machen will. Das geht nicht. Das brauch viel zu viel Zeit. Und reich bin ich auch noch nicht. Und werde es auch nie werden, denn, mag sein, dass ich das mal erwähnt habe, aber ich sags einfach nochmal, deshalb bin ich ja hier, meine Band hat mich rausgeschmissen. Kurz später hatten die sogar schon einen neuen Gitarristen. Das ist übrigens auch der neue Kerl von Leo. Also meine Freundin. Ex-Freundin. An der neuen Schule beachtet mich kein Arsch, und das mein ich so, wie es sage, mein Zimmer sieht immer noch aus wie Chaos, ich verbringe den halben Tag im Bett... eigentlich den ganzen bis auf die acht Stunden, die ich eben in der Schule bin. Na ja, und jetzt bin ich hier. An meinem siebzehnten Geburtstag. Wo sollte ich auch sonst sein. Meine Freunde sind alle in Frankfurt, meine Freundin vögelt mit dem Gitarristen von Don't Deny und meine Band steht mit The Red Jumpsuit Aparatus auf der Bühne.“

Bewegungslos starre ich ihn an. Er schreibt etwas auf. Er sieht mich nicht an, sondern blickt nur auf seinen Block.

„Noch was“, sage ich und lege die Hände auf meine Knie. Jetzt schaut er auf: „Ja?“

„Meine Eltern haben mich kommentarlos sofort hier her geschickt.“

„Wie meinst du das, Tim?“ sagt der Mann nun, er nimmt sich die Brille von der Nase, klappt sie zusammen und legt sie auf das Klemmbrett auf seinen Knien.

Ich seufze schwer: „Ich liege fünf Monate lang in meinem Bett und dann plötzlich sagt M'am, ich nenne meine Mutter M'am, zu mir: Timmi, du hast morgen übrigens einen Termin bei Dr. Sommer! Natürlich halte ich sie zuerst für total bescheuert, aber sie meinte das ernst. Meine Mutter kennt Dr. Sommer aus der Bravo nicht, deshalb hört es sich für sie auch absolut nicht bescheuert an, zu sagen, dass man zu Dr. Sommer geht. Finden Sie nicht auch? Ich habe einen Termin bei Dr. Sommer. Total absurd. Auf jeden Fall war das ihre einzige und traurigerweise auch erste Lösung für das gestörte Verhalten ihres armen, kleinen Jungen...“ ich seufze genervt.

Das alles ausszusprechen dauert lange. Und ist anstrengend. Doch ich muss zugeben, es tut gut. Es ist irgendwie erleichternd.

Dr. Sommer sieht mich stirnrunzelnd an. Sein Haar ist schon angegräut und seine Falten lassen auf sein gesundes Alter irgendwo in den vierzigern schließen.

Vielleicht war er auch erst in den Dreißigern, sich den lieben langen Tag das Gejammere von fremden Menschen anzuhören konnte einen wahrscheinlich zum vorzeitigem Altern bringen.

„Tim, wie es aussieht, macht sich deine Mutter schlichtweg Sorgen um dich, und so, wie ich das sehe, war es keine falsche Entscheidung, dass du heute bei mir bist.“ sagt er freundlich aber diskret und setzt sich seine Brille wieder auf, um noch mehr auf seinem Klemmbrett zu notieren.

„Du hast ja selbst schon erwähnt, dass es dir zur Zeit nicht besonders gut geht“, sagt er, setzt sich die Brille wieder ab und sieht zu mir auf.

Ich nicke: „Ja schon. Pubertätstrara. Deshalb geht man doch nicht zu Dr. Sommer.“ verwirrt zucke ich die Schultern.

„Nun, Tim, ich denke nicht, dass es verkehrt ist.“
 

Da saß ich dann. Knapp eine volle Stunde und redete. Über meine Lebenssituation, mit der ich alles andere, als zufrieden war und was Dr. Sommer und ich gemeinsam feststellen.

Wobei das wohl übertrieben war. Das wusste ich natürlich vorher schon. Und meine Mutter. Deshalb nur saß ich ja schlussendlich hier, in diesem braunen Ledersessel und machte mir klar, dass ich meine Probleme ernst nehmen sollte.

Dr. Sommer half dabei.

Nicht selten sei es, dass Jugendliche, ungefähr solche, wie ich es war, ihre mentalen Probleme abtaten. Sei das falscheste, was man machen konnte.

Natürlich musste Dr. Sommer das sagen.

Immerhin konnte er sich pro Patienten wahrscheinlich sechs Wochen lang im Ritz-Carlton in Moskau einquartieren.

Als Psychiater lebte man vielleicht nicht schlecht; wurde immer angesagter, seine Kinder einfach dorthin zu schicken anstatt sich selbst mit ihren Pubertätsdepressionen zu beschäftigen.
 

Meine Änderung

Das Einführungsgespräch verlief dahin, dass ich jetzt einmal alle sieben Tage dort hin gehen muss, um zu erläutern, wie es in meinem Leben voran ginge. Natürlich zweifelte ich, dass sich innerhalb von sieben Tagen was ändern konnte.

Tief in meinen Hoffnungen drinnen war natürlich der innige Wunsch, dass meine Eltern sich entsannen und zurück nach Frankfurt gingen. Und mich dahin mitnahmen. Natürlich. Dass Leo ihren neuen Typen in den Wind schoss, so auch die Band und mich alle glücklich zurück empfingen.
 

An meinem siebzehnten Geburtstag kam ich am späten Nachmittag von Dr. Sommer nach Hause, schloss mich in meinem neuen Zimmer im großen, neuen Haus ein und seufzte tief. Ich wollte ins Bett.

Und nie wieder aufstehen.

Die Kartons standen noch immer wahllos im Raum herum.

Der Computer war nie richtig eingerichtet worden.

Meine Kleidung lag verteilt im Raum, lag teilweise im nicht fertig aufgebautem Schrank oder vermuffte immer noch in blauen Säcken.

Einige Packkartons hatte ich mal aufgerissen, weil ich das eine oder andere gebraucht hatte, aber im Endeffekt sah es doch so aus, als sei ich heute erst eingezogen.
 

Gerade, als ich mir genervt durch das Haar fuhr und mich auf meinem großen Bett, das einzige, was mich noch gern hatte, setzten wollte um im Selbstmitleid zu versinken, fiel mein Blick auf den schwarzen Lederkoffer, der seit Monaten unberührt in seiner Ecke verstaubte.
 

Da drinnen schlummerte meine Fender. Mein Baby, hätte ich ja fast gewagt zu sagen. Ach was, nachdem Leo mich vor zwei Wochen eingeweiht hatte, dass sie gar nicht mehr mit mir zusammen war, konnte ich nur sagen, dass meine Gitarre mein einziges Baby war.

Seit dem Umzug hatte ich nicht mehr gespielt. Wozu auch.
 

Doch jetzt fühlte es sich so an, als müsse ich es tun.

Der Wunsch, die Sehnsucht floss durch meine Finger. Ich wollte mich hören. Mein Baby hören. Mit ihr spielen.

So ging ich in die Ecke und öffnete den Koffer.

Da lag sie. Wunderschön und unberührt.

Ich nahm sie heraus.

Steckte die Kabel ein, hing sie mir um die Schulter und sah sie mir an.

Kurz zweifelte ich, ob ich überhaupt noch spielen konnte, doch dann war ich mir sicher, dass ich es noch konnte.

Und so spielte ich.
 

Der Sound hallte durch mein Zimmer.

Durch den hellen Flur.

Das Treppenhaus, die Küche, das Wohnzimmer und dem Arbeitszimmer meines Vaters, bis hinaus auf die Straße.
 

Zu diesem Zeitpunkt konnte ich nicht wissen, dass dieses Gitarrenspiel mein bis dahin so trauriges Dasein ändern würde.

Würde es aber. Gleich am nächsten Tag.
 

Da wurde ich nämlich das erste mal seit sechs Monaten freiwillig von einem meiner Mitschüler angesprochen.

„Hey“, sagte er und natürlich reagierte ich zuerst nicht. Denn ich konnte einfach nicht davon ausgehen, dass er mich meinte.

Erst, als er mich an der Schulter berührte, schreckte ich leicht zusammen und blickte zu ihm auf.

„Oh mein Gott“, sagte ich nur verschreckt und er musste natürlich anfangen, zu lachen „Nein. Jones!“ er grinste schief „du bist der Neue, oder?“

Latent genervt verdrehte ich innerlich die Augen.

„Ich bin seit einem halben Jahr hier!“ sagte ich, schüttelte dennoch seine hingehaltene Hand.

„Tatsächlich, so lange schon?“ Jones griff sich den leeren Stuhl neben mir und setzte sich „Die Zeit vergeht so schnell... nicht?“

Ich lächelte nur. Nach außen hin freundlich. Innen drin gequält.

„Wie geht’s so?“

Er grinste breit und sein stark blondiertes Haar fiel ihm ins Gesicht.

Ich war so höflich und log ihn an: „Gut. Und dir?“ Smalltalk.

„Auch. Na ja. Ich hab keine Lust auf Sozi, du?“
 

Ich hasste schon mal grundsätzlich alle Menschen, die bescheuerte Abkürzungen benutzten.

„Eigentlich nicht.“ sagte ich leise und fragte mich, ob ich es gut finden sollte, dass nach sechs Monaten jemand mit mir sprach oder ob ich mich für den ärmsten Menschen der Welt halten sollte, weil ausgerechnet so einer mit mir sprach.

„Cool. Lass blau machen.“

„Was?“

„Komm schon“, Jones sprang begeistert auf, griff sich meinen Rucksack, der bis dahin auf dem Tisch gelegen hatte und lief zur Tür.

„Was? Nein?“ sagte ich, stand ebenfalls auf um mir meinen Rucksack zurück zu holen.

Er grinste nur noch breiter, griff den Rucksack noch fester und verließ das Klassenzimmer, um im Flur davon zu rennen.

Blieb mir irgendetwas anderes übrig, als ihm zu folgen?

Im Nachhinein betrachtet genauso wenig wie zu jenem Moment.

Also lief ich.

Durch den langen Flur, die Treppen runter, immer hinter dem Typen hinterher.

Er trug so enge Jeans, dass ich mich wunderte, wie er sich damit überhaupt so bewegen konnte.

Auf dem Schulhof blieb er stehen und atmete schwer.

Ich kam auf ihn zu gelaufen und griff nach meinem Rucksack.

Er lächelte immer noch: „Na siehste, geht doch.“

Jones warf seinen Arm um meine Schulter und schob mich zum Schultor „Tim Müller, nicht wahr?“

Ich nickte verwirrt

„du wohnst doch in der Nöckerstraße, oder?“

Wieder nickte ich verwirrt.

„Vierzehn?“

Langsam wurde mir das ganze suspekt.

Er blieb stehen, stellte sich vor mich und sah mich sehr ernst an: „Hast du gestern Gitarre gespielt?“

„Hä was?“ Ich sank den Blick und ging an ihm vorbei. Dieser Mensch war mir unheimlich und ich wollte ungern etwas mit ihm zu tun haben.

„Wir suchen einen Gitarristen.“

Natürlich blieb ich stehen.

„Unserer hat aufgehört. Irgendwas von wegen Abitur oder so. Frag mich nicht.“

Ich drehte mich wieder zu ihm um.

Jones war groß und dünn, was durch seine extrem eng anliegende Kleidung sehr deutlich hervor stach und sah mich erwartend aus dunkelbraunen Augen an.
 

Ich ging einige Schritte zurück auf ihn zu.

„Du meinst, ich soll in deiner Band spielen?“

„Oh, ähm. Komm doch mal zum vorspielen vorbei“, er kam näher und griff in seine Hosentasche, aus der er einen zerknüllten Zettel nahm, welchen er mir in die Hand drückte „heute Nachmittag ab vier sind wir da. Ich erwarte dich!“

Er zwinkerte, grinste, drehte sich um und ging davon.
 

Mein zweiter Tag bei Dr. Sommer

Ich lasse mich in meinem braunen Ledersessel fallen und atme den Geruch, der von ihm ausgehr, tief ein. Ich frage mich, wie viele Menschen hier wohl jeden Tag so drauf sitzen.

„Wie geht es dir?“ fragt mich Dr. Sommer und sieht mich an.

Ich mag seinen Gesichtsausdruck nicht.

„Ganz gut, denk ich“, antworte ich schulterzuckend.

„Hast du dein Zimmer aufgeräumt?“ fragt er.

Das hatten wir letztes mal abgemacht. Ich sollte, um das Gefühl zu bekommen, zu Hause zu sein und mich endlich auf die Situation einlassen zu können, erst mal mit meinem eigenen Reich anfangen und die Kartons leer räumen. Und die Möbel aufbauen.

Ich nicke zögerlich „Ich hab meine Gitarre ausgepackt und gespielt. Ich bin jetzt in einer Band.“

„In einer Band?“

„Gut, über den Namen muss noch diskutiert werden. Oder finden sie, man kann eine Band, die Strip of a Raccoon heißt, ernst nehmen? Aber ich bin erst eine Woche dabei, ich sollte mich bei solchen Sachen vielleicht nicht einmischen.“

„Wie kam es dazu?“ Dr. Sommer nimmt sich die Brille ab und legt sie auf sein Brett.

Ich zuck wieder die Schultern und erinnere mich an Jones „Er hat mich wohl gehört, als ich neulich in meinem Zimmer gespielt habe. Mag laut gewesen sein. Und das Fenster war offen. Auf jeden Fall wohnt Jones gegenüber auf der Straße. Er ist mein Nachbar. Das hab ich die ganze Zeit nicht gemerkt, irre, oder?“ ich lache leise „ich meine, wir haben fast alle Kurse zusammen und er ist mir kein einziges Mal aufgefallen.“ Ich zucke die Schultern „Auf jeden Fall hat mir am Tag danach in der Schule angeboten, vor zu spielen bei seiner Band. Er fand mich wohl gut. Ich hab mir gedacht, wieso nicht, und bin hin. Hab The wind cries Mary gespielt. Das kennen Sie, oder?“ Ich sehe Dr. Sommer erwartend an und er nickt, während er sich wieder etwas notiert.

Ich nicke auch und fahre fort: „Dann hab ich noch Nothing Else Matters gespielt und dann Smoke on the Water. Aber die wollten mich schon bei Mary. Na ja. Und jetzt bin ich zwei mal die Woche mit ihnen im Proberaum. Na ja. Wir sind so eine Art Schulband, deshalb... ist der in der Schule. Und nach den Ferien haben wir einen Auftritt. In der Schule natürlich, aber bis dahin muss ich vier Songs spielen können mit den Jungs. Traurig, oder? Meine alte Band geht auf Tour und ich spiele ein paar Wohlstandskindercovers vor Fünftklässlern.“

Dr. Sommer nimmt die Brille ab und legt sie auf das Brett „Was meinst du, wieso du jetzt in dieser Band bist?“

Verwirrt sehe ich ihn an. Ich meine, ihm das eben erzählt zu haben „äh... er hat mich spielen gehört und mich angesprochen.“

Dr. Sommer nickt: „Ja, aber wieso hast du gespielt? Wie kam es dazu, dass du deine Gitarre nach sechs Monaten wieder raus geholt hast und gespielt hast?“

Verwirrt zucke ich die Schultern: „Na ja, ich hatte Lust dazu.“

Er sieht mich schweigend an.

Und ich fühle mich auf eine seltsame Art unwohl: „Was ist?“

„Du bist letzte Woche von unserem Gespräch nach Hause gegangen und...?“

„Ich habe gespielt...“
 

Mein Pianist

Ich saß auf der halbhohen Mauer vor dem Schulgebäude, welche das Schulgelände vom Grundschulhof trennte und nuckelte an meinem Coffee to go.

Seit einer halben Stunde.

Die Jungs nahmen Pünktlichkeit nicht so ernst, was durchaus zu Problemen führte, denn wollten wir uns mal außerschulisch treffen, was in den Ferien zu den Bandproben nun mal sehr häufig der Fall war, missverstanden wir uns alle gegenseitig, da keiner so genau wusste, wann wir wo zu sein hatten.

Ich für meinen Teil hielt es einfach so, um die Uhrzeit von zu Hause los zu fahren, wann wir uns ursprünglich hatten treffen wollen.

Das reduzierte die gesamte Wartezeit.

Heute jedoch ließen sich die anderen Zeit.

Nachdem ich meinen Kaffee leer getrunken und den Becher auf dem Grundschulhof entsorgt hatte, drehte ich mich händereibend zum Schultor um und sah Jones' blondiertes Haar in der Sonne leuchten.

Er kam auf mich zu und er grinste nicht.

Kam selten vor.

„Tim“, rief er einige Meter von mir entfernt „heute proben wir nicht zusammen“, erklärte er und kam letztendlich vor mir zum Stehen. Ich sah ihn verwirrt an.

„Oma von den anderen ist gestorben.“ sagte er.

Ich nickte.

Und wusste nicht, was ich tun sollte. Oder sagen.

„Wollen wir einen Kaffee trinken gehen?“ fragte er dann und sah mich erwartend aus seinen braunen Augen an.

Ich blinzelte zu meinem Pappbecher, den ich vorhin auf das Klettergerüst gestellt hatte und nickte dann: „Okay!“

„Prima.“
 

Jones kam mit zu mir, damit wir bei mir zusammen proben konnten. Er war unser Sänger und hatte daher eigentlich nichts zu spielen, sodass wir nicht aufeinander abspielen konnten, doch er sagte, ich kannte die Songs, die ich bis zum Schulfest können sollte, ja noch nicht so lang.

Das Haus war groß und modern eingerichtet und eine angenehme Kühle kam uns entgegen, als ich die Haustür auf schloss und Jones und ich in den Flur traten.

Die Tür an dessen Ende stand ein Stück offen und Jones entdeckte sofort das weiß lackierte Pianino meiner Mutter im Wohnraum stehen.

Ohne etwas zu sagen ging er mit einem leisen Quietschen durch den Flur, stieß die Tür auf und sah entzückt auf das Instrument hinab.

„Kannst du Klavier?“ fragte er begeistert und drehte sich zu mir um.

Ich stellte meine Gitarre auf den Boden und kam kopfschüttelnd auf Jones zu: „Das gehört meiner Mutter.“

„Hm“, sein Seufzer klang etwas enttäuscht.

„Kannst du?“ sagte ich.

Er schüttelte den Kopf, strich mit den Fingerspitzen über die Abdeckung auf den Tasten und nickte dann.
 

Dann sah er zu mir auf, ein Glitzern in den Augen und fragte: „Wie geht’s dir eigentlich, Tim?“

Ich runzelte die Stirn und starrte zurück.

Er hatte mich das nie ernst gefragt und diese Tatsache war mir bis jetzt nie aufgefallen.

Ich zuckte die Schultern: „Ganz gut, denk ich.“
 

Jones lächelte, er setzte sich auf den weißen Hocker vor dem Klavier und klappte die Verdeckung hoch.

Vorsichtig strich er über die Tasten, dann drückte er eine hinunter.

Die Musik klang laut in meinen Ohren und hallte durch das Haus.

„So ein Loser-Instrument“, sagte er dann zum Klavier, positionierte seine Hände auf die Tasten und spielte die ersten Klänge von Ode an die Freude.

Er spielte nur zaghaft und ich fand, dass man sofort merkte, dass er sich zurückhielt.

Ich setzte mich neben ihn, so nah, dass sich unsere Schultern und Beine berührte und ich konnte fühlen, wie er ganz leicht zusammen zuckten. Ich ignorierte das und beobachtete seine Finger die schüchtern über die weißen und schwarzen Tasten flogen.

„Wieso Loser-Instrument?“ fragte ich.

Jones zuckte neben mir die Schultern: „Das ist voll uncool.“

Er hörte auf zu spielen, lehnte sich etwas zurück und drehte den Kopf zu mir.

Jones Gesicht war blass und rein. Ein matter Rotschleier legte sich auf seine Wangen und er lächelte unsicher, als er sich abwandte, wieder mit den Fingern über die Tasten strich und dann vom Hocker aufstand und zurück zur Tür ging. Er blieb stehen und sah mich wieder an „ich weiß nicht, die Jungs und alle finden es total luschig. Klavier, mein ich. Und wenn man das noch spielen kann. Und es auch noch gern tut...“

Er sank den Blick und spielte mit seinen Fingern.

„Aber Klavier spielen zu können ist doch nichts... luschiges.“ sagte ich.

Er zuckte die Schultern „Findest du?“ und sah mich zögernd an.

Seine Unsicherheit sprang sukzesseziv auf mich über und ich nickte befangen „Ja klar, ist doch n tolles Instrument...“

Er lächelte und nickte und deutete auf die Tür hinter sich: „Das ist cool, dass du das so siehst. Ich... ähm... muss gehen. Man sieht sich. Ich ruf dich an. Schreib dir 'ne Mail. Oder SMS. Im ICQ. Bis dann.“ Er stolperte ungeschickt in den Flur und wenig später hörte ich die Haustür, die ins Schloss fiel.

Er war ziemlich absonderlich und irgendwie bescheuert.

Wem war es peinlich, dass man Klavier spielen konnte?
 

Mein dritter Tag bei Dr. Sommer

„Wem ist es peinlich, dass man Klavier spielen kann?“ frage ich laut und lehne mich ungläubig lachend in meinem braunen Sessel zurück.

„Ich meine, wer kann das schon? Ist doch total out...“ Unverständlich schüttle ich den Kopf.

„Genau deshalb ist es ihm wahrscheinlich peinlich.“ sagt Dr. Sommer.

Ich nicke „Ja, wahrscheinlich.“

„Hast du dir mal Gedanken darüber gemacht, wie Jonas zu dir steht, Tim?“

„Jonas?“ entgegne ich verwirrt, Dr. Sommer nickt und deutet mir, auf die Frage einzugehen.

Sei eine Schwäche von mir, gern von Themen abzulenken. Bewusst oder unbewusst. Wenn man nicht gern über etwas sprach, leitete man beim Ansprechen besagten Themas das Gespräch gern aktiv in eine andere Richtung.

„Ähm“, mache ich und dache kurz darüber nach, wieso mir diese Angelegenheit wohl unangenehm sein konnte. „Wie meinen Sie das, zu mir stehen? Er ist der Sänger in meiner Band... wir waren 'nen Kaffee trinken, als die Oma der anderen gestorben ist. Die Jungs sind Cousins, daher haben sie dieselbe Oma. Gehabt. Der Bassist und der Drummer. Ich frage mich, wieso der Bassist nicht die Lead-Gitarre übernommen hat, nachdem ihr früherer Mann abgesprungen war.“ Nachdenklich lege ich den Kopf schief.

„Tim“, sagt Dr. Sommer und ich schrecke leicht auf „Konzentrier' dich bitte auf unser Gespräch.“ Dr. Sommer klingt freundlich und taktvoll, hat aber einen bestimmenden Unterton.

Ich räuspere mich, setzte mich im Sessel anders hin und entschuldige mich.

„Ja, na klar. Jones ist, denk ich mal, so etwas wie ein... nein, tut mir Leid, aber Freund kann ich einfach nicht sagen. Noch nicht vielleicht. Vielleicht irgendetwas davor. Kamerad... ne, Kumpel. Aber auch das trifft es wohl noch nicht so. Ich weiß es nicht. Und na ja... ich denke, ich bin nichts anderes für ihn auch als er für mich. Weniger, wahrscheinlich. Bloß der blöde neue Gitarrist mit dem Seitenscheitel. So hat er mich mal genannt. Na ja, blöd nicht und neu auch nicht. Was eigentlich merkwürdig ist, weil Jones hat auch einen Seitenscheitel. Wissen Sie, so eine angesagte Frisur, wie sie so viele haben, wo das Haar von einer Seite über die Stirn komplett zur anderen rüber gekämmt ist“, ich will Dr. Sommer gerade pantomimisch erklären, was ich meine, als er sich räuspert und die Beine übereinander schlägt.

Ich lege die Hände auf meine Beine und nicke betreten: „Ja, tut mir Leid. Das Thema. Leitgedanke. Jones. Wissen Sie, Dr. Sommer, er ist der Einzige aus der Stufe, der je mit mir geredet hat. Privat, mein ich. Die Kiddies hier sind so strange drauf, unglaublich, wie gekonnt die einen ignorieren können.“ Erstaunt über dieses Verhalten schüttele ich den Kopf „Und ich gestehe, ja, ich bin froh, dass er mich gefragt hat, ob ich in seiner Band mitspielen darf und ich bin froh, dass wir Kaffee trinken waren und ich bin froh, dass er mir gesagt hat, dass er gerne Klavier spielt. Das macht mich ein bisschen glücklich und ich fühle mich integrierter. Sie haben mir echt geholfen, Dr. Sommer.“

Der alte Mann nickt lächelnd, während er sich Notizen macht.
 

Wir redeten noch darüber, dass ich anderen Menschen weniger abwehrend gegenüber treten solle und mir Gedanken darüber machen sollte, was Jones für mich ist beziehungsweise was ich für ihn bin. Hielt ich für vollkommen idiotisch, denn was sollte ich für ihn sein? Ich war sein Nachbar, Klassenkamerad und Bandmitglied.

Als ich nach Hause ging dachte ich an Ode an die Freude und an Jones' Interpretation des Songs, an seine Freude darüber, dass wir einen Kaffee zusammen getrunken hatten, dass er zusammen gezuckt war, wie ich mich neben ihn setzte, an die roten Wangen, als er mir auf dem Klavierhocker so nah war und daran, wie seltsam verlegen er danach im Wohnzimmer herumgefingert hatte und er fast über seine eigenen Füße gestolpert war, als er Heim ging.

Und fand die Tatsache, dass er mit zu mir gekommen war, um mit mir die Songs zu proben und dann nach zehn Minuten wieder verschwunden war, ziemlich komisch.
 

Meine Musik

Wir probten in einem Nebengebäude der Schule, weniger zwei mal als ein mal in der Woche. Und vom richtigen Proben konnte auch nicht wirklich die Rede sein. Es war ein amüsanter Zeitvertreib und es erschien mir so, als würden die Jungs Strip of a Raccoon nicht wirklich ernst nehmen. Was man bei so einem lächerlichen Bandnamen vielleicht auch einfach nicht konnte.

Aber merkwürdigerweise machte mir das nicht viel aus.

Musik war wichtig für mich.

Zunächst spielte ich vier Jahre Akustik Gitarre, dann wechselte ich auf eigenen Wunsch zur Elektro-Gitarre.

Und seit ich wieder regelmäßig zur Bandprobe ging, lächelte meine Mutter wieder. Für sie war Musik ein sehr wichtiger Bestandteil ihres Lebens und in meinem Leben.

Dass Musik nach und nach von anderen Dingen, die mir mehr und mehr wichtiger erscheinen, abgelöst wurde, sagte ich ihr nie.
 

Die Jungs waren sehr spät dran, als wir uns nach einer sechstägigen Pause wieder trafen.

Jones traf kurz nach mir in der so leeren Schule ein. Er warf seinen Kaffeebecher achtlos auf den Boden und zwinkerte mir zu.

„Hey Tim“, sagte er grinsend.

Seit seinem spontanem Besuch bei mir hatten wir uns nicht mehr gesehen und er benahm sich so, wie immer.

Meinte ich.

Seine Augen waren anders, was mir sofort auffiel aber was ich nicht weiter beachtete.

„Hey“, antwortete ich und lächelte auch. Etwas verunsichert.

Jones hatte einen, oder den, Schlüssel für das Gebäude und unseren Raum.

Verstärker und Drums waren hier immer aufgebaut, sodass wir eigentlich nur los legen brauchten.

Anlagen eingeschaltet, Instrumente kurz eingestimmt und schon erklangen die Töne von Lied eines Träumers durch den absolut Schalldichten Raum.

Da die Jungs auf sich warten ließen, spielte ich mich kurz ein und wurde dabei von Jones beobachtet.

„Wie lang machst du das schon?“ fragte er dann plötzlich und griff nach dem Mikrophon.

„Ich ließ von meiner Gitarre ab und sah zu ihm auf. Er sah mich ehrlich interessiert an.

Ich zuckte die Schultern „acht Jahre oder so.“

Ich sank den Blick wieder auf meine Saiten und wollte erneut zum spielen ansetzten, doch dann hielt ich inne und sah wieder zu Jones auf.

„Und du?“ fragte ich.

Seine angespannten Züge lockerten sich und er lächelte.

„Seit vierzehn Jahren.“

Ich war in der Tat sprachlos. Er auch.

Er wurde leicht rot, lächelte verlegen, sah zu seinen Füßen und in dem Moment kamen die Jungs.
 

Die Probe verlief schleppend. Sie verlief beschissen.

Drums, Gitarre und Bass kamen ziemlich gut miteinander klar, aber die Vocals hatten immer mehr Probleme.

Bisher hatten wir weniger mit dem Sänger als nur mit den Instrumenten geprobt.

Das war das erste Mal, dass Jones nun auch richtig singen sollte.

Es hieße, er konnte die Songs bisher eigentlich gut und es erschien den Jungs vor allem und mir etwas atypisch.

Wir brachen vorzeitig ab, räumten ein bisschen auf und verließen gemeinsam das Schulgelände.

An der Bahnhaltestelle trennen sich unsere Wege und Jones und ich saßen bald allein nebeneinander in der Straßenbahn auf dem Weg nach Hause.

Er hielt den Blick stur nach unten, achtete penibel darauf, dass er mich nicht berührte und hielt sein Gesicht gesund im blassen Rot.
 

Mein vierter Tag bei Dr. Sommer

Ich sehe Dr. Sommer in die Augen.

Will etwas sagen, ordne die Worte nochmal in meinem Kopf, senke kurz den Blick und sehe ihn wieder an.

„Was glauben Sie denn?“ frage ich ihn.

Dr. Sommer lächelt, kritzelt auf sein Brett und sieht mich dann durch seine Brille an „Nun, ich weiß ihn nur durch deinen Erzählungen, Tim.“

Ich nicke „Ja, aber als Betreuer meiner psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung, Dr. Sommer, erwarte ich schon, dass sie eine ganz kleine, subjektive Ferndiagnose stellen können. Können Sie das, Dr. Sommer?“

„Nun, Tim, ich möchte, dass du dir Gedanken darüber machst.“ Er setzt sich die Brille ab, legt sie auf sein Brett und schlägt die Beine übereinander.

Ich starre ihn an.

Mein Kopf ist leer.
 

„Mach es so, Tim. Du schreibst alles, was du über Jonas weißt, auf. Dass er Klavier spielt und einen Seitenscheitel hat, dein Nachbar ist und in die gleiche Klasse geht wie geht. Dadurch kannst du dir ein besseres Bild von ihm machen.“

Ich nicke.

Und weiß immer noch nicht, wozu diese ganze Sache überhaupt gut sein soll.
 

Wir redeten noch über Frankfurt und meine Eltern und wie ich zu ihnen stand, nachdem wir wegen meinem Vater weg gezogen waren.

Er war Finanz... v.... er machte irgendwas, wobei man so verboten viel Geld verdiente, davon aber nichts hatte, weil man den ganzen Tag und die ganze Nacht arbeitete.

Er wurde vor neun Monaten versetzt und pendelte ein viertel Jahr immer hin und her, bis meine Mutter zusammen mit meinem Vater beschloss, hier her zu ziehen.

Durch den Job waren wir schon einige Male umgezogen.

Den größten Teil meines Lebens aber verbrachte ich in Frankfurt.

Nun sollten wir uns hier etablieren.
 

„Ich bin mit meinem Zimmer fertig. Ich habe gestern den letzten Bilderrahmen aufgestellt. Er ist schwarz. Wissen Sie, Dr. Sommer, ich mag Schwarz-Weiß Aufnahmen. Die Aussage im Bild ist so viel deutlicher. Wenn alles voller Farben ist, das ist ja fast Reizüberflutung. Aber wenn alles nur in den Graustufen gehalten wird, intensiviert das die eigentliche Bildintention, finden Sie nicht?“

Dr. Sommer nickt und schreibt sich etwas auf sein Brett.
 

Mein Jones

Natürlich habe ich alles, was ich über Jones wusste, auf ein Blatt geschrieben.

Absolut alles, was mir zu ihm eingefallen ist.

Da steht jetzt, dass er mein Sänger ist, mit blondem Haar und braunen Augen, dass er größer ist als ich und Klavier spielt, dass er auf der anderen Straßenseite wohnt, mit seinen Eltern und einer Schwester, dass diese Schwester drei Meerschweinchen hat.

Dass er es liebt, Klavier zu spielen und dass er Musik als wichtig empfindet. Dass er nach den Ferien in die zwölfte Klasse gehen würde und dass er Musik- und Englischleistungskurs gewählt hatte.

Er geht auf die Theodor-Körner-Schule.

Er liebt Norwegen und will am liebsten jede Ferien dort verbringen.

Seine Mutter ist Fachärztin für Frauenheilkunde und sein Vater ist Facharzt für Orthopädie und die hatten je eine eigene Praxis.

Er liebt seine Schwester.

Er ist gut mit den Jungs aus der Band befreundet, aber sein bester Freund ist im anderen Jahrgang.

Er ist achtzehn Jahre alt und hat ein Tattoo am Knöchel, eine kleine Figur mit Fledermausflügeln.

Er spricht ausgezeichnet englisch und ein wenig norwegisch. Er liebt die Musik von Mando Diao und Beethoven.

Als er zwölf war, hat er sich das linke Schlüsselbein gebrochen, als ihm ein Fingerflip auf dem Skateboard misslungen war.

Nachdem seine Mutter ihm dann erklärt hatte, dass er, wenn sowas nochmal passieren sollte, sich vielleicht die Hand verletzten könne und der dann vielleicht nicht mehr Klavier spielen könne, hörte er auf, jegliche gefährliche Sportarten zu machen und beschränkte sich aufs Joggen.

Nach der Schule will er Musikwissenschaften an der freien Uni in Berlin studieren, aber davon hat er nur mir erzählt, weil ich ihn nicht verurteile, weil er Musik so sehr liebt. Nicht über alles, aber schon bestimmt.

Die anderen glauben, dass er Wirtschaftsinformatik studieren will, dabei weiß er nicht einmal, was das genau ist.

Er hat sein Zimmer im Haus seiner Eltern ganz oben, direkt unterm Dach, mit einem kleinen, eigenen Badezimmer.

Dass er eigentlich Jonas heißt, aber den Namen nicht sonderlich mag und sich deshalb Jones rufen lässt.
 

In meiner alleinigen Gegenwart benimmt er sich anders, als wenn wir mit den Jungs zusammen sind und er achtet penibel darauf, mir nicht zu nah' zu kommen oder mich gar zu berühren, auch wenn wir oft von den Bandproben zusammen nach Hause fahren.
 

Da ich so viel über ihn wusste, mir aber ziemlich sicher war, dass er bei weitem nicht so viel über mich zu berichten hatte, beschloss ich, ihn am Abend zu besuchen und etwas aus meinem Leben zu erzählen.

Etwas, was ich unter allen Umständen vor absolut jeden geheim gehalten hätte.
 

„Ich geh zu Dr. Sommer.“

„Zu Dr. Sommer?“
 

Ich lächele und sehe ihn an „Natürlich. Den kennst du ja nicht. Nun“, ich drehe meinen Kopf wieder weg und schau in den dunklen Himmel „seit ich mit meinen Eltern aus Frankfurt weggezogen bin... vor einem halben Jahr, seitdem hab ich dieses... mir geht es nicht gut. Vielleicht ist dir aufgefallen, dass ich ein wenig... abweisend war.“

Jones lacht leise und nickt „ein wenig, na ja. Du hast seit Februar mit niemanden auch nur einmal geredet.“

Ich senke den Blick „Nun ja. Es heißt... Bipolar. Das hat auch schon in Frankfurt angefangen, aber durch die Umstände ist das ganze irgendwie aus dem Ruder gelaufen. Na ja, aber es ist in meinem Kopf“, ich tippe mit dem Zeigefinger auf meine Stirn „irgendwas neurologisches. Und Hormone. Auf jeden Fall bin ich seit einiger Zeit... keine nennenswerte Zeit, aber seit kurzem bei Dr. Sommer deswegen. Das ist nichts schlimmes, eigentlich. Ich geh zu ihm hin und rede mit ihm. Über alles, was in meinem Leben passiert.“

„Auch über mich?“

Ich nicke „Ja. Über dich auch. Und ich nehm' diese Pillen und Tabletten. Zur... Stabilisation der Stimmung. Oder so. Eigentlich ist das ganze gar nicht so dramatisch, wie es vielleicht klingt.“
 

Jones dreht sich zu mir „Was redest du über mich?“

Ich sehe ihn an. Zuerst eine Weile schweigend. Der Mond leuchtet heute fahl und sein Gesicht wirkt seltsam blass unter dem trüben, blonden Haar.

Wir sind durch sein Dachfenster auf das flache Dach gekommen und sonnen uns im Nachtlicht und betrachten die Sternbilder.
 

„Alles.“ Ich zucke mit den Schultern „Ich erzähl ihm von den Tagen, die wir zusammen verbringen und er macht mich mir über dich Gedanken zu machen. Zum Beispiel hat er mir heute gesagt, dass ich mir alles, was ich über dich weiß, aufschreiben soll. Deshalb... habe ich dir das auch erzählt. Also ich meine, ich hatte das Gefühl, viel zu viel über dich zu wissen und du weißt nichts über mich.“

Jones lächelt wieder.

„Wir gehen seit einem halben Jahr in dieselbe Klasse. Ich weiß eine Menge über dich.“

„Ach ja?“

Er nickt und starrt ins Nirgendwo „Du heißt Tim Müller und bist geboren am fünfundzwanzigsten Juni. Zweiundneunzig. Damit bist du anderthalb Jahre jünger als ich. Du färbst dein Haar schwarz, aber von Natur ist es Braun. Du hast grüne Augen, aber deine Eltern haben beide blaue Augen. Und du bist ein Einzelkind. Dein Vater ist Treasurer und hat einen besseren Job hier angeboten bekommen, weshalb ihr jetzt hier seid. Deine Mutter ist Kunst- und Musiklehrerin, Herzlichen Glückwunsch dazu, an der Jugendkunstschule in Wanne. Dafür, dass du so schräge Eltern hast, bist du total cool geblieben und ich bin verdammt froh, dass du an die normale, öffentliche Schule gehst.

Du bist übrigens kein besonders guter Schüler. Na ja, mittelmäßig. Du scheinst kein NC zu wollen. Deine Leistungen sind in allen Fächern konstant ausreichend und es scheint, als würdest du dich für nichts wirklich begeistern zu können. Na ja, außer für die Musik. Du liebst Musik. Wie ich. Du spielst Gitarre und ich glaube, dass du singen kannst. Und Klavier würdest du sehr schnell lernen.“

Jones sieht mich musternd an.

Ich hatte ihm nichts davon erzählt.

Und das waren mir irgendwie zu viele Informationen, die er hatte.

Über mich und mein Leben.

„Du bist depressiv. Darauf hätte ich kommen können. Ich meine, weil du so abweisend... und abwesend warst.“

Ich schlucke hart und starre Jones an.

Er lächelt, verschränkt die Arme hinter dem Kopf und legt sich wieder hin.

„Leo. Deine Ex-Freundin.“
 

Dann schweigen wir.

Eine Weile.

Ich sehe zwei Sternschnuppen über uns hinweg fliegen und ein leichter Wind kommt auf und die Bäume um uns herum rascheln.

Mein Herz schlägt so schnell, als ich mich auch umdrehe und wieder in den Himmel starre. Ich bin sprachlos.
 

„Ich finde, Sex ist eine der elementarsten Angelegenheiten in einer Beziehung. Du auch?“
 

Verwirrt drehe ich meinen Kopf zu ihm. Er starrt immer noch hinauf ins dunkle Blau.

„Ich hatte eine Freundin, das ist ewig her, wir waren ein Jahr zusammen und hatten genau einmal Sex. Das funktioniert nicht. Es ist wundervoll und durchaus wichtig für eine gute Beziehung zwischen den Beteiligten. Wenn Sex fehlt, fehlt was in der Liebe.“

Ich nicke verunsichert „Okay.“
 

„Ich hätte gerne Sex mit dir.“
 

Mein letzter Tag bei Dr. Sommer

Ich atme den Geruch des braunen Ledersessels tief ein.

Es würde das letzte Mal sein, dass ich hier sitzen würde. Dass ich mit Dr. Sommer reden würde.

Ich hatte mir schon genau überlegt, was ich ihm heute erzählen würde.

Wie immer fragt er mich, wie es mir geht.

Und erinnert mich daran, dass das unsere letzte Sitzung sei.

Das weiß ich.

„Ich werde Sie vermissen, Dr. Sommer. Immerhin waren Sie mein erster Psychiater. Glauben Sie, ich werde Sie jemals vergessen? Ich nicht. Wie Sie sich in einer Sitzung achtzundzwanzig Mal die Brille aufsetzten und wieder abnehmen. Und wie Sie sich immer diese Notizen auf ihrem Brett machen. Der neue Psychiater hat bestimmt nicht diese Macken.

Jonas hat mir zum achtzehnten Geburtstag eine Überraschungsparty geschenkt. War wirklich toll. Die Jungs aus der Schule waren da und die von der Band. Und wissen Sie, was das Stärkste war?

Er hat alle meine Freunde aus Frankfurt kontaktiert. Sogar Leo und ihren neuen Freund hat er eingeladen. Das hätte ich wahrscheinlich total ätzend gefunden, aber na ja. Leo hat sich über die Einladung gefreut. Und es war schön, sie wieder zu sehen. Vor allem ihr Gesicht, als sie mit bekommen hat, dass ich jetzt mit Jonas zusammen bin.“

Ich lächle kurz in mich hinein.

„Es war echt super. Don't Deny hat ein Album draußen, können Sie sich mal anhören. Der neue Gitarrist ist nicht so schlecht. Wir haben sogar einige Songs von ihnen auf dem Abiball gespielt.

Die Jungs wollen jetzt groß rauskommen mit der Band. Ich habe übrigens eine Zusage bekommen von Berlin. Die Uni der freien Künste hat mich genommen. Ich fange im Oktober an, zu studieren. Jonas auch. Musikwissenschaften. Wie er immer wollte. Na ja. In Berlin geht’s dann richtig los.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  _haiiro_
2011-02-02T21:24:48+00:00 02.02.2011 22:24
ich hätte gerne sex mit dir.
huch da is aber einer direkt :D
ich liebe es ♥
Von:  blaumina
2010-01-01T20:06:50+00:00 01.01.2010 21:06
Ich mag die FF x3
Sie ist irgendwie ... anders ... aber schön :3
Aber warum gibts hier kaum Kommis? v_v
Toll gemacht x3

LG
blaumina =)
Von:  Saki-hime
2009-09-02T04:38:51+00:00 02.09.2009 06:38
Hm? o_o
warum hast du noch kein Kommi? O_O
Die FF is klasse, mal was anderes =D
hm... oke ka was ich schreiben soll o-o
...ich schreib zwar immer Kommis.. aber wissen was ich schrieben soll tu ich trz nie |D
naya egal^^
ich mag deine FF jeden Falls :3

Saki-hime *flausch*


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