Zum Inhalt der Seite

Katzen spüren alles

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Irgendetwas war anders, das merkte John Winchester bereits in dem Moment, als er nach fünftägiger Abwesenheit die Tür des Apartments öffnete. Eine Welle abgestandener Luft umspülte seine Nase wie eine ihn willkommen heißende, kleine Welle an einem tropischen Sandstrand – nur dass es weder Sandstrand noch Urlaub noch traumhafte Temperaturen gab. Draußen hatte eine windige Spätsommernacht ein pechschwarzes Schlafgewand übergeworfen. Ohne Strass, also kein Sternenglanz, und keine Brosche, demnach auch kein Mond.
 

Abgesehen von der befremdlichen Atmosphäre war es still. Dean schien zu schlafen, wobei John der Ruhe nicht recht über den Weg traute. Kontrolle war seiner Meinung nach nun mal seit je her besser und entsprechend vorsichtig pirschte er durch die Dunkelheit. Ließ das Licht ausgeschaltet und schloss die rechte Hand fest um den Griff seiner Pistole.

Was auch immer in diesem Apartment war – abgesehen von Dean – es musste ja nicht wissen, dass in Johns Magazin nur noch drei Kugeln waren, weil er die restlichen gebraucht hatte, um sie einem Bastard von tötungswilligem Zombie durch die verfaulenden Eingeweide zu jagen. Alternativ dazu hätte er sich natürlich auch delikat anknabbern lassen können, aber das erschien John schlichtweg nicht lukrativ.
 

Etwas knarzte und John erhaschte einen flinken Schatten aus dem Augenwinkel. Im Nu wirbelte er herum und probierte, das Wesen zu sichten. – Erfolglos!
 

Wo zur Hölle war Dean?
 

Wenn hier etwas sein Unwesen trieb, dann musste Dean das doch merken!
 

Ob es ihm gut ging? Er klang okay beim letzten Telefonat. Den Umständen entsprechend eben…
 

Aber wo war er jetzt bitte?
 

Jeder Muskel in Johns Körper spannte sich an wie ein Flitzebogen, in seinem Kopf ratterte es, in der Küche klapperte es, dort oben, bei der Spüle, wo das Licht des Fensters fehlte. Der Schatten, das Ding, das was-auch-immer, wieselte über die Anrichte, schien mit Geschirr zu kollidieren und hüpfte mit einem seichten „Poff“ zurück auf den Boden.

John versuchte, das Biest ins Visier zu nehmen, doch im Dunkeln war er machtlos. Er hörte es nur; er hörte, wie es geradewegs auf ihn zugelaufen kam. Auf vielen Beinen – auf definitiv zu vielen, als es John lieb war. Dann war es plötzlich still, im nächsten Moment wieder da. Er schreckte zusammen, als sich etwas an seinem Bein zu schaffen machte. Er war vorbereitet auf Schmerz, den es zu ignorieren galt, um das seltsame Vieh dort unten zu töten, bevor es noch zu Deans Schlafzimmer vordrang – wenn es nicht von dort kam…
 

Doch es kam kein Schmerz. Kein Zähnefletschen. Und wäre es doch gekommen, so wäre es wahrscheinlich unlängst zu spät gewesen.

John spürte, wie sein Instinkt ihn beruhigte, noch bevor sein Verstand ihm mitteilte, die Situation sei harmlos. Ausnahmsweise einmal…
 

Das, was dort unten neben ihm stand, sich an seinem Bein entlang schlang und ihn umkreiste, war irgendwie sanft. John machte zwei weite Schritte, um den Lichtschalter an der Wand zu erreichen. Über dem Tisch nahm die armselige, nackte Birne ihre Arbeit auf und spendete eine staubige Helligkeit. John blinzelte dennoch, und als er zu Boden sah erst recht.
 

Auf dem hellgrauen Parkett befand sich ein getigertes Kitten.
 

Ein Kitten!
 

Mit vier Pfoten, langen, weißen Schnurrbarthaaren, einem Schwanz mit schwarzer Spitze und einem weißen Fleck auf der Brust, von dem aus sich das Tigermuster über den restlichen Pelz erstreckte.
 

Wie um alles in der Welt kam hier dieses Kitten rein?

Wie kam hier überhaupt irgendetwas rein?
 

Wütend, weil er seinen Sohn beschuldigte, unnachsichtig ein Fenster oder eine Türe offen gelassen zu haben und das mehr als böse hätte enden können, blickte John Winchester zurück zum Küchenfenster. Es war verschlossen. Dafür stand auf der Anrichte, neben der dreckigen Pfanne, ein kleines Tellerchen, das zu blank geputzt war, als dass es einfach so dort hätte stehen könnte.
 

Da war man fünf Tage weg und Dean holte sich eine Katze ins Haus?!

John wusste selbst nicht, warum es ihn urplötzlich noch wütender stimmte, aber sein Blick zum Boden war missbilligend. Verachtend. Hasserfüllt. Selbst als ihn die tiefen Augen erwartungsvoll anstarrten und das Kitten zwischen Anrichte und ihm hin- und herpilgerte.
 

Offenbar war es hungrig.
 

John gönnte sich einen tiefen Atemzug und stellte dabei seine schwere Tasche neben dem Esstisch ab. Das Kitten schien die Geste miss zu verstehen und begann direkt mit seiner rostfarbenen Nase die Tasche zu durchforsten.
 

Sogleich „Nein“ murrend schob John es rüde beiseite und wurde abermals erstaunt aus den großen, grünen Augen angesehen. Das Licht fiel zu Johns Nachteil: ihm war die Farbe bisher nicht mal aufgefallen. Ihr verdankte er es jedoch, von seinen Erinnerungen mit der Nachsicht eines Krampfanfalls überfallen zu werden.
 

Grüne Augen…
 

Er achtete nicht mehr auf Augen, früher hatte er das getan. Damals eben. Und aus eben jenen Tagen bahnten sich die Bilder ihren gleißenden Weg in sein Bewusstsein.

Grüne Augen – das waren Deans Augen. Große, weiche, grüne Augen – das waren vor allem Deans Augen im Kleinkinderalter, wenn sie John um etwas anbettelten. Ein Eis, einen Lutscher, ein Stück Kuchen…

Wann immer John mit Dean unterwegs gewesen war, hatte er seinem Jungen den Wunsch nach einer Leckerei nicht abschlagen können, selbst wenn er wusste, dass Mary ihn rügen würde, sobald sie nach Hause kämen, weil sie der Meinung war, es sei viel besser für Dean, wenn dieser Obst aß.

Recht hatte sie ja gehabt, aber vielleicht war sie einfach immun gegen Deans charmante Augen gewesen. Dean hatte nicht mal ein zusätzliches Lächeln oder ein „Bitte“ gebraucht, sondern John allein mit seinen Blicken um den Finger gewickelt.

Aber das war lange her. Heute war John froh, kein junges Mädchen zu sein, das seinem Sohn über den Weg lief…
 

Heute fürchtete er sich vor Deans Augen. Nicht etwa weil sie grün waren und er einem eventuellen, versteckten Flehen unterliegen könnte, sondern aus anderen Gründen…
 

Sich durch die Haare fahrend, wandte sich John dem Kühlschrank zu, um ein Bier hinaus zu holen. Zu seinen Füßen miaute das Kitten mit piepsiger Stimme.
 

Wenn das hier tatsächlich Deans Kitten war – und die Indizien sprachen eindeutig dafür – dann sollte er sich auch darum kümmern. John war schleierhaft, was sich sein erwachsener Sohn bitte dabei gedacht hatte… Als ob sie eine Katze halten könnten bei dem Leben, das sie führten. Nicht mal Menschen ertrugen dieses Leben.
 

War es vielleicht das?

Sollte das Kitten so was wie ein entfernter Ersatz sein? Jetzt, wo Sam weg war.

Gut, die Katze machte wohl weniger Probleme als Sam, wobei es anders auch kaum möglich war…!
 

Verbittert zog John mit seinem Bier ins Wohnzimmer um und ließ sich in den Sessel fallen. Kaum hatte er die Flasche angesetzt, hörte er es: ein ächzendes Kratzen.
 

Das Kitten kletterte mit allen Vieren wacker die Sessellehne hinauf.
 

„Dean…“ Es war wieder nur ein Knurren, bei dem John realisierte, seinen Sohn gar nicht wirklich wecken zu wollen, damit dieser sich dem neuen Problemkind annahm. Weil Erziehung eben immer Deans Job gewesen war, nicht Johns.
 

Trotzdem verweilte John still. Auch als sich das Kätzchen erfolgreich bis auf die Lehne vorgekämpft hatte und ihn stolz wie Oskar ansah.

Lob mich, lieb mich, fütter mich, schrie es mit dem Blick. Mit diesen erstaunlich grünen Augen. Als wäre John sein Vater…
 

Als wäre John nicht Vater genug im Leben…

Als hätte er nicht genug vermasselt in diesem Berufsfeld…
 

Er schloss die Augen, als er die Hälfte seines Biers hinunterspülte und riss sie beinahe erschrocken wieder auf, als ihm Sams Bild in Gedanken begegnete. Sich richtiggehend in sein inneres Auge brannte.

Sam war gegangen, hatte sich entschieden. Gegen seine Familie. Was für ein Sohn!
 

Was für einen Sohn er doch hatte...

Sam war ein starker, junger Mann, der genügend Rückgrat hatte, um seinen Entscheidungen treu zu bleiben.
 

Sam würde ein guter Anwalt werden, das hatte John niemals bezweifelt. Doch darum ging es gar nicht.
 

Gegen seine von der Jagd noch schmutzige Hand ebbte ein feiner Luftstrom. Ein Hauch Feuchtigkeit, ein feines Kitzeln. John zog die Hand weg. Das Kätzchen legte anscheinend irritiert den Kopf schief.

Was in drei Teufels Namen hatte Dean mit dem Vieh gemacht, dass es glaubte, jeden Wunsch von den wundervollen Augen abgelesen zu bekommen? Hatte er es genauso verzogen wie Sammy? Und was, wenn es irgendwann kein Futter, keine Streicheleinheit und kein warmes Plätzchen zum Schlafen bekäme? Würde es dann auch einfach verschwinden und Dean in einem Zustand zurücklassen, dem John so machtlos gegenüber stand, dass er lieber 24 Stunden am Tag irgendwelchen Dingern den Gar ausmachen wollte als auch nur zwei Sekunden in Deans triste, grüne und zutiefst enttäuschte Augen zu sehen?
 

Miau…
 

Das Geräusch stimmte John spontan so aggressiv, dass er das Kitten am allerliebsten mit voller Wucht von der Lehne gefegt hätte. Sollte es doch gehen! Besser jetzt als später! Und wenn es weg war, sollte es bloß nie wieder zurückkehren!

Voller Bosheit vibrierte sein Brustkorb, zuckten seine Muskeln und durchbohrte sein Augenmerk das winzige Wesen. Zwischen ihnen schien die Zeit still zu stehen und eine Spinne wob ihr unsichtbares Netz. Hielt sie in einem Kokon gefangen, in dem die Luft anfing, knapp zu werden.
 

John spürte, dass ihm Sauerstoff fehlte. Seine Lunge leer war, seine komplette Brust leer war. Alles in ihm schrie danach, diese Leere zu füllen und zwischen zwei und drei Uhr morgens ertappte er sich plötzlich dabei, mit einem Kitten auf dem Arm zurück in die Küche zu marschieren. Es aus praktischen Gründen auf die Anrichte zu seinem Tellerchen zu setzen und die Milch aus dem Kühlschrank zu holen.
 

Das Kitten schnurrte begeistert, als es den weißen Karton in Johns Händen identifizierte, und umrundete aufgeregt den Teller. Legte sich auf die Seite, drehte sich herum. Zeigte elegant das getupfte Fell auf seinem Bäuchlein.
 

John starrte, als habe man ihn geohrfeigt:
 

Das Kitten war dressiert…
 

Fünf Tage – und das Kitten war tatsächlich schon dressiert!
 

Verdammt, hatte Dean dieses Vieh lieb...
 

Die Anspannung waberte aus Johns Körper hinaus wie von Dannen ziehender Nebel, derweil er in der Küche stand und dem Stubentiger zuschaute: Wie jener den Teller blank putzte mit der kleinen, rosafarbenen Zunge. Keine Ecke und keine Kante aussparte und zu winzig war, um von der einen Seite des Tellers die andere erreichen zu können. Deswegen mit zwei Pfötchen den Teller erklimmte, um auch das letzte Tröpfchen Milch zu ergattern.
 

Es vertilgte alles, was es kriegen konnte. Erst die Milch, dann die spontane Streicheleinheit, bei der John abwesend die in Relation zum Rest des Körpers verhältnismäßig großen Ohren kraulte. Seine Finger empfanden die Sänfte des Katzenfells als etwas Fremdes, etwas, das ihn an lange Vergangenes erinnerte.
 

Das Kätzchen rollte sich dankbar schnurrend umher.
 

Es geht doch, es geht doch!, funkelten die grünen Augen dabei voller aufrichtiger Begeisterung. Und dieser Blick entfachte noch viel mehr Emotionen, noch viel mehr Schmerz als alle vorangegangenen. Als habe er sich an der Katze verbrannt, zog John die Hände zurück und stellte die Milch wieder in den Kühlschrank. Warum er sie so lange hatte draußen stehen lassen, wusste er nicht mal. Er war erschöpft, das musste es sein.
 

Wann hatte ihm einer seiner Jungs zuletzt einen auch nur annähernd ähnlichen Blick geschenkt?
 

Am liebsten hätte er über sich selbst den Kopf geschüttelt, so grotesk erschien ihm der nächtliche Gedanke mit einem Male. Sam war gegangen, das sagte mehr als genug. Dean war seitdem zutiefst deprimiert (selbstverständlich ohne es sich anmerken lassen zu wollen), das sagte sogar noch mehr als genug. Und John versuchte beides mit gleichmäßig großer Kraft zu verdrängen. Das sagte letztendlich dann endgültig alles.
 

Das Miezen des Kittens ausblendend, hob John es von der Anrichte. Mit wenig Fingerspitzengefühl, es zappelte dieses Mal, trug er es zu dem Zimmer des Apartments hinüber, in dem er seinen ältesten Sohn schlafen wusste. Die Tür war, wie könnte es auch anders sein, einen Spalt breit geöffnet. Ohne jeden Zweifel hatte sich der kleine Rabauke dort hindurch gemogelt.
 

Von den Gedanken in seinem Kopf hölzern, setzte John das Kitten plump vor die Türe. Es wusste schon, was zu tun war. Doch anstatt direkt zurück zu Dean zu laufen, suchte es erneut Blickkontakt zu John.
 

Was wollte es? War es verwirrt?
 

Himmel, es sollte zurück zu Dean gehen!
 

John ging als Verlierer aus dem Blickduell hervor, als er sich rasch hinunter beugte und das Kätzchen wenig nachsichtig durch die Türe schob. Ein kurzes Miau ertönte, doch es kehrte nicht zurück. Auch nicht, nachdem John jegliches Zeitgefühl endgültig verloren hatte und nur noch die Uhr ihm mitteilen konnte, dass er letztlich fast eine halbe Stunde dort gestanden hatte. Ruhe inhaliert hatte.
 

Dean schien tief und fest zu schlafen.
 

Sammy war noch keinen Monat fort.
 

Es war das erste Mal seit Sammys Entscheidung, nach Stanfort zu gehen, dass John nicht hörte, wie sich Dean im Schlaf unruhig hin- und herwälzte.
 

Das war gut. Sehr gut sogar, wie Johns Herz unabhängig von seinem Verstand entschied.
 

Es sollte auch die erste Nacht werden, in der er selbst schlief; ohne ständiges Aufschrecken und ohne die ständige Angst davor, am nächsten Tag in Deans grüne Augen blicken zu müssen und vor den dort residierenden Gefühlen namens Verlust und Einsamkeit sogleich Reißaus nehmen zu wollen.
 


 

E n d e
 



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Engelchen_Fynn
2009-06-22T11:50:45+00:00 22.06.2009 13:50
Ich kann mir nicht vorstellen, dass Dean sich ein Kätzchen anschafft. Und noch weniger, dass John sich damit befasst.

Aber ... ich find die Geschichte richtig gut. ^^
Du hast einen schönen Schreibstil und hast John's Gefühlslage sehr glaubhaft rübergebracht. Da fühlt man richtig mit. Er tut einem richtig leid, und Dean auch, obwohl er eigentlich gar nicht wirklich aufgetaucht ist.

Ich würd mich freuen noch mehr von dir zu lesen. ^-^
lg


Zurück