Fighting in mind
Nein, ich war nie in Rom. Die Angaben hier sind mithilfe einer Stadtkarte entstanden.
Fighting in mind
So viel gerannt wie jetzt und vergangene Nacht war sie in ihrem ganzen Leben noch nicht. Zusammengenommen, versteht sich.
Sich die Lunge aus dem Leib keuchend blieb Heinkel in einer der charakteristischen, schummrig-engen calle Roms stehen, vorüber gebeugt, mit den Händen auf den Beinen aufgestützt. Die Gefahr, die von einem solchen Ort erst recht für ein Mädchen in ihrem Alter ausging, sah sie nicht und selbst wenn, wäre es ihr auch egal. Etwas hatte sich vergangene Nacht in dem jungen Geist unwiderruflich geändert. Sie war viel erwachsener geworden. Aber das half ihr jetzt im Moment auch nicht weitern.
Genauso wenig wie die Gefahr, erkannte sie nämlich das wahre Ausmaß ihrer Probleme.
Ihr war kalt. Sie hatte Hunger. Sie wurde verfolgt. Sie war allein. Ihr Zuhause gab es nicht mehr.
Sie hatte ihre Mutter erschoßen.
Das Blickfeld der Blonden begann zu verschwimmen. Ärgerlich wischte sie die Tränen beiseite, ehe sie über ihr Gesicht rannen. Weinen wollte sie nicht mehr. Sie würde nicht mehr zulassen, dass es jemals wieder einen Grund zum Weinen gab. Nie mehr würde sie zu schwach sein, denen zu helfen, die ihr wichtig waren. Und erst recht würde ihr kein zweiter, solch fataler Fehler unterlaufen.
Trotzig richtete sie sich auf. Sie würde das schon schaffen. Sie würde stark werden, und es würde niemand mehr jemandem wehtun, wenn sie das verhindern konnte. Wie sie das anstellen wollte, wusste sie zwar noch nicht. Aber irgendwie würde das schon gehen, zweifelsfrei.
Im Geiste überlegte sie ihre nächsten Schritte, was sich als schwieriger herausstellte, als sie gedacht hätte. Heinkel hatte nicht den leisesten Hauch einer Ahnung, was sie jetzt tun sollte.
Vielleicht wäre es sinnvoll, dafür zu sorgen, dass sie wieder halbwegs normal aussah. Das Blut musste dringend herunter – es hinterließ ein unangenehm klebriges Gefühl auf ihrer Haut – ebenso die langen, verklebt-zerzausten Haare. Die hatte sie ohnehin nie leiden können und auch die schwache Hoffnung ihrer Mutter, dass sie dann auch tatsächlich mal als Mädchen erkannt würde, hatte sich nie bestätigt. Wenn das doch mal wer bemerkte, dann höchstens an ihrer Stimme.
Blieb die Frage, wie sie das anstellen wollte.
Ihr Blick fiel auf eine Bierflasche, die sie kurzerhand zerschlug und dann eine der größeren Scherben dazu verwendete, an ihren Haaren herumzusäbeln. Das Ergebnis war schief und krumm und noch dazu hatte die Blonde sich mehr in ihre Hand geschnitten als alles andere. Ihrem Optimismus aber schadete das kein bisschen. Im Gegenteil.
Einige Meter weiter fand sie eine Pfütze, die ihr dazu diente, das Blut abzuwaschen. Das Wasser war kaum sauberer und ihr wurde davon erst recht kalt, als der Wind über ihr klitschnasses Gesicht pfiff.
Dennoch hob sich die Laune des Kindes weiter.
Wenn sie es jetzt noch schaffen würde, etwas zu essen zu organisieren…
So wirklich erfolgreich war sie nicht. Das hatte einen sehr einfachen Grund: bereits mit sechs Jahren war sie unheimlich stolz, betteln kam nicht infrage. Und Stehlen erst recht nicht. Das wäre… un… metha… dingsbums oder sowas. Irgendein komisches Wort, das sie mal irgendwo aufgeschnappt hatte.
Immerhin war ihr nicht mehr kalt. Das lag daran, dass sie jetzt, solange sie nichts Besseres zu tun wusste, über die Dächer Trasteveres kletterte und balachierte. Weniger weil sie der Meinung war, dass ihr das irgendetwas brachte, sondern weil sie sich so mehr darauf konzentrierte, nicht herunter zu fallen, dass nicht einmal mehr ihre eigenen, schuldbewussten Gedanken zu ihr durchdrangen.
Allerdings war sich die Blonde dadurch auch nicht bewusst, dass sich aller Augen Blicke auf sie selbst richteten.
Der Untergrund, auf dem sie wandelte, war nass, aber daran verschwendete Heinkel kaum mehr einen Gedanken als daran, ob in China ein Sack Reis umgefallen wäre (mal davon ab, dass sie keine Ahnung hatte, was China war). Auch ein mögliches Herunterfallen verband sie eher mit vielleicht aufgeschlürften Knien als mit den gebrochenen Knochen – dem gebrochenen Genick - die aus einem Sturz in der Höhe des fünften Stockwerkes drohten.
Ab und an drangen Bruchstücke des Stimmengewirrs zu ihr hoch. Sie achtete wenig darauf, sondern ließ sich schließlich auf dem Rücken eines der steinernen Löwen nieder, die das Dach zierten, die Ellbogen auf die Mähne des Kopfes gestützt und ihren eigenen zwischen den Händen, während ihr Blick über den Tiber glitt.
Nie hätte sie sich vorgestellt, dass es so schwer wäre, sich allein durchzuschlagen. Nichts funktionierte mehr. Zumal sie kaum klare Gedanken fassen konnte, weil jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, der vorwurfsvolle Blick der gebrochenen Augen ihrer Mutter auf ihr lag – zumindest redete sie sich ein, dass er vorwurfsvoll sei. Die durchgeschnittene Kehle ihres Vaters sie angrinste.
Mit kindlichem Starrsinn verbot sie den Tränen, über ihr Gesicht zu laufen. Nie wieder. Sie würde nie, nie wieder weinen.
Allerdings wurde es mittlerweile wieder verdammt kalt, wie sie so hier saß.
Das Mädchen sprang auf. Keine sehr gute Idee.
Der alte Stein protestierte mit einem sehr lauten, deutlich vernehmbaren Knacken, infolge dessen sie fast augenblicklich erstarrte.
Wie viel Pech konnte man am Stück haben?
Ein Schrei entfuhr ihrer Kehle, als der Löwe komplett unter ihr wegbrach.
Calle = Gasse
Unmethadingsbums = gemeint ist „unmoralisch“
Trastevere = Stadtteil von Rom, grenzt an den Tiber (ziemlich großer Fluß, fließt durch Rom… man weiß ja nie, wer wie wenig Geographie kann ;D)