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Chou no Ko

蝶の子
von

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Ich hätte nichts anderes tun können oder wollen. Ich wagte die Worte nicht auszusprechen. Ich wusste sie würden mich aufspießen wie die Spitzen scharfer Speere einen hilflosen Fisch. Ich würde mich ebenso in Schmerzen winden, in der Gewissheit, die sie mit sich bringen würden, zappeln im Fluss meiner Tränen, statt damit zu synchronisieren, denn ich wollte es gar nicht wahr haben. Und so schüttelte ich nur den Kopf. Tomikos Schluchzen drang wie durch eine Nebelwand zu mir und durch mich hindurch. Ich verspürte nicht den Drang sie in die Arme zu nehmen. Auch wenn die Situation es schon nahezu verlangte, trugen mich meine Schritte weg von dem Zimmer, weg von Tomiko. Vor der Leere, die sich in mir ausgebreitet hatte, konnte ich jedoch nicht fliehen.
 

Der helle Flur des Krankenhauses glänzte steril und ich hatte das Gefühl zu schweben. Der Boden der Tatsachen schien weit entfernt. Allmählich spürte ich ein feines Ziehen in meinem Kopf. Es war als würde sich ein Stück dünner Zahnseide von einer Hälfte meines Gehirns zur anderen fädeln. Der Stress machte sich bemerkbar. Ein Schwall lauwarmer Luft empfing mich, als ich aus dem großen Gebäude trat. Ich flutete meine Lungen mit Sauerstoff, doch es war weniger erfrischend wie ich gehofft hatte. Der weiße Stoff meines Hemdes klebte unter meinen Armen. Was für eine lästige Körperfunktion das Schwitzen doch war. In meinem Jackett kramte ich nach einer Schachtel Lark und meinem Zippo. Es war eines der eleganteren Modelle mit einem schlichten Wellenmuster in mattem Silber. Früher hätte ich mich sicherlich für ein verrückteres Motiv entschieden. Eine Karikatur vielleicht oder eine Bulldogge. Ich wusste selbst nicht genau, was ich an diesen Hunden fand. Sie sind dick, faltig und die Mehrzahl hat einen Überbiss. Trotz und mit diesen, für die meisten Menschen durchaus negativen, Attributen, möchten sie auch nur eines; Ein gutes Zuhause, einen Menschen, der ihnen Zuneigung schenkt. Für ihr Aussehen können sie schließlich nichts und genau genommen ist es ihnen sowieso schnuppe.
 

Ich nahm einen Zug von meiner Zigarette. Mein Jackett hatte ich mir wieder locker über den Arm gehängt. Wie ich in diesem Moment hier draußen stehen und über die Merkmale einer Hunderasse nachdenken konnte, war mir selbst ein vollkommenes Rätsel. Jemand tippte mir auf die Schulter. In meinem Magen kribbelte es. Ich wandte den Kopf nach rechts, blickte in Tomikos verweinte Augen, die mich beinahe fassungslos zu mustern schienen. Dafür wirkte ich umso gefasster. Ich dachte es müsse einen guten Ausgleich schaffen, stattdessen brachte mein Verhalten eine Unausgewogenheit in unsere Verbindung, dass es in der Leitung nur so krachte.
 

„Was zum Teufel ist bloß los mit dir?!“, tobte sie, „Muss man eine Gefühlsregung erst aus dir herausprügeln?!“
 

Ich schnippte die überstehende Asche auf das Gitter neben mir.
 

„Einer von uns muss schließlich die Ruhe bewahren“, entgegnete ich und brachte das Fass zum Überlaufen. Ich war beeindruckt von der Fülle an Emotionen, die über ihr Gesicht huschten, bis ihre Fassungslosigkeit in Wut umschlug. Wie bei einem Glücksrad, bei dem der Zeiger endlich zum Stillstand kam. Ich hätte es gerne im Zeitraffer gesehen.
 

„Wenn du so einen kühlen Kopf bewahren kannst, kannst du dich mit dem Bestattungsinstitut auseinandersetzen!“ Sie hatte ihre, vom Weinen angeschlagene, Stimme notgedrungen um einige Dezibel gesenkt. Ich drückte den Glimmstängel auf der Gitterfläche aus und ließ ihn durch eine der quadratischen Öffnungen fallen.
 

„Ja“, antwortete ich nüchtern. Damit hatte ich sie jetzt wohl endgültig in den Wahnsinn getrieben. Bildlich gesprochen, täte sich wahrscheinlich just in diesem Moment ein schwarzes Loch unter ihren Füßen auf, das sie in einen Strudel aus Verzweiflung, Trauer und Wut zerren würde. Ich blendete mein Vorstellungsvermögen aus und sah so lediglich, wie sie über den Parkplatz zu ihrem Wagen ging, die Hände zu Fäusten geballt. Wann war ich nur so hässlich geworden? Ich hätte jetzt gerne eine Bulldoge zum lieb haben gehabt. Ich glaube, ich mochte sie eigentlich gar nicht, ich war eifersüchtig auf sie.
 

Vor drei Jahren hatten wir uns getrennt. Mit ‚wir’ meine ich die Band. Wir hatten Erfolg, haben sogar Hallen gefüllt, doch wie jede Ära, nahm auch diese ein Ende. Und das Ende war früh abzusehen gewesen, nachdem Aoi geheiratet hatte und ich Probleme mit der Bandscheibe bekam. Ich glaube fast wir alle hatten zu dieser Zeit das Verlangen uns in unser, bis dahin vernachlässigtes, Privatleben zurückzuziehen. Nach unserer Auflösung habe ich mich zum ersten Mal wirklich alt gefühlt. Die Zeit mit der Band war wie im Flug vergangen und meine andauernden Rückenprobleme unterstrichen die Situation perfekt. Früher dachte ich immer, die Musik wäre mein persönlicher Jungbrunnen. Doch Körper und Geist schienen geteilter Meinung zu sein.
 

Meine Drumsticks rührte ich immer seltener an. Ich hatte mein schillerndes Bühnenoutfit gegen einen Maßanzug getauscht. Ich stand nicht mehr auf der Bühne, ich war der Hintermann, der die Fäden zog. Ich war Wegbereiter, Streitschlichter, Audioregisseur, schlicht Vertragspartner für Künstler und Plattenfirma. Dennoch erfüllte mich meine jetzige Arbeit als Produzent mit einer ähnlichen Zufriedenheit wie sie mir das Musikmachen selbst verschafft hatte. Zum Teil sind es meine Ideen, die als Töne die Hörer erreichen. Das genügte mir.
 

Ich drehte den Schlüssel im Schloss bis ich einen Widerstand spürte. Mit dem Fuß drückte ich gegen die weiß lackierte Wohnungstüre.
 

„Ich bin zurück“, sagte ich.
 

Keine Antwort. Das Klicken der Türe hallte in dem kleinen Flur wider. Ich schlüpfte aus meinen Schuhen und legte die Schlüssel auf die hölzerne Kommode. Eine weiße, selbst gehäkelte Decke zierte die Oberfläche. Mari hatte darauf bestanden dem dunklen Tischchen etwas Freundlichkeit zu verleihen. Der Anrufbeantworter blinkte. Ich griff nach dem Ultraschallbild, das am Spiegel über der Kommode pinnte und knüllte es zusammen, bevor ich den Knopf des Apparates drückte.
 

„Hallo, Kai… ich bin’s. Ich hab gehört was passiert ist. Es ist so schrecklich, ich kann es nicht fassen. Es tut mir so leid… Bitte lass mich wissen, wenn du etwas brauchst. Melde dich.“
 

Ich ballte meine Hand zu einer Faust. Als ich in den Spiegel blickte, glühten meine Wangen rot. Ich hätte wissen müssen, dass Tomiko Reita unverzüglich darüber informieren würde. Ich löschte die Nachricht. Der frühere Bassist hatte sich schon zu oft in Dinge eingemischt, die ihn nichts angingen. Ich zerriss das Papier in meiner Hand. Die übrig gebliebenen Schnipsel spülte ich in der Toilette hinunter.
 

Ich ging in die Küche und griff in meinem Kühlschrank nach einer Dose Bier. Draußen dämmerte es bereits. Seit heute Vormittag hatte ich nichts mehr gegessen. Mein Appetit hielt sich allerdings in Grenzen. Ich löschte das Licht und ging in das gegenüberliegende Wohnzimmer. Alles war unverändert, so, wie ich es verlassen hatte. Die zerwühlte Decke zeugte davon, dass hier vor kurzem noch jemand gesessen hatte. Ich stellte die Dose auf den rechteckigen Glastisch und nahm die Decke in beide Hände. Vorsichtig, als könne sie sich jeden Moment in Rauch auflösen, roch ich daran. Es war ein zarter, süßlicher Geruch, der mir in die Nase stieg. Ein wenig Lavendel, ein wenig Honig. Ich vergrub das Gesicht in dem beigen Flaum, schmiegte meine Wangen fest hinein, bevor ich anfing zu schreien.
 

Schon als ich das Bier aus dem Kühlschrank genommen hatte, war mir klar gewesen, dass mir 75ml dünner Alkohol nicht reichen würde. Seit einer Stunde saß ich auf den weißen Polstern und rüstete mich auf das, was mir bevorstand. Es bereitete mir Magenschmerzen und ließ mich einige Male sauer aufstoßen. Meine Kehle brannte von Alkohol und Zigaretten. Als ich aufstand, musste ich aufpassen, nicht über einige der leeren Dosen zu fallen. Ich schlängelte mich im Zick-Zackkurs in den Flur und riss aus der untersten Schublade der Kommode eine große Mülltüte. Ich brauchte einen Moment bis ich es schaffte, das dünne Plastik auseinander zu friemeln und biss ungeduldig die Zähne zusammen, dass ich das Blut in meinen Ohren rauschen hörte. Als ich den Kampf endlich gewonnen hatte, fielen der gelben Tüte die leeren Dosen und der volle Aschenbecher zum Opfer. Ich riss das Fenster auf und atmete durch. Mein Blick fiel auf die Schlafzimmertüre und schon jetzt spürte ich die Übelkeit in mir aufkeimen. Ich selbst fand mich noch nicht betrunken genug dafür, um mich in meine persönliche Hölle zu wagen, doch ich konnte es nicht länger hinauszögern. Schwerfällig drückte ich die Klinke hinab. Die Rollläden waren noch immer zugezogen. Es graute mir davor die Lampe anzuschalten. Doch in der Dunkelheit würde ich mich schwer zurechtfinden.
 

Mit einem leisen Summen sprang die Deckenleuchte an. Ich blinzelte einige Male als mir die Helligkeit in die Netzhaut stach. Gelbe und rote Punkte vermischten sich vor meinen Augen und was blieb, war das Rot auf weißem Untergrund. Ich schluckte trocken und wieder spürte ich meinen Magen. Meine Hände zitterten als ich das blutige Laken von der Matratze und die Überzuge von den Bettdecken riss. Grob stopfte ich es zu den Dosen und der kalten Asche in die Tüte. Mein Herz hämmerte wie wild in meiner Brust und für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich das Gefühl, es würde zerspringen. Ich sah auf die hüllenlosen Decken und die weiße Matratze. Ich glaubte nicht, dass ich heute Nacht hier schlafen können würde.
 

Mit einem Nylonband knotete ich den Sack zu und hoffte, dass dieser die Last tragen würde. Wenigstens bis ich ihn aus der Wohnung geschafft hatte. Es war noch nicht ganz Mitternacht als ich meine Autoschlüssel schnappte und die volle Tüte in den Kofferraum meines Wagens lud. Ich musste eine Last loswerden. Selbst wenn es mir nur helfen sollte, die heutige Nacht zu überstehen, ich musste sie loswerden, um mit dem Geschehenen abschließen zu können. Es war Ballast, der die Seele vergiftete. In meinem Subaru fuhr ich durch die nächtlichen Straßen Tokyos. Noch immer war es schwülwarm. Die Klimaanlage lief, doch das Radio hatte ich ausnahmsweise ausgeschalten. Ich wollte allein sein. Allein in meinem Wagen mit einer Tüte voll Bierdosen, dreckigen Laken und Zigarettenstummeln. So wie der Inhalt es widerspiegelte, fühlte ich mich. Schmutzig, leer und aufgebraucht.
 

In der Nähe einer Plastikfabrik gab es einen Schutthaufen. Eine weiß-rote Schranke versperrte mir die Zufahrt auf den Fabrikparklatz und so parkte ich den Wagen neben der Umzäunung am Straßenrand. Die Tüte hatte zum Glück noch keine Risse abbekommen und so konnte ich sie mir über die Schultern werfen ohne Gefahr zu laufen etwas zu verlieren. Ich ging die wenigen Meter zu Fuß über trockenen Rasen bis ich einen circa anderthalb Meter hohen Zaun erreichte. Einige Gummireifen waren davor zu einem Muster gereiht. Wahrscheinlich hatten sie Kinder zum Spielen benutzt. Ich lud den Sack daneben ab und lehnte ihn vorsichtig gegen den kalten Draht. Die Reifen kamen mir mehr als gelegen, denn ich wollte nicht riskieren, dass sich das Plastik am spitzen Ende des Zaunes verfängt und der Inhalt auf der falschen Seite landet. Ich stapelte zwei der Reifen aufeinander und stellte mich probeweise darauf, um zu sehen ob sie mich trugen, ohne zu sehr aus dem Gleichgewicht zu rutschen. Es schien zu funktionieren und so packte ich die Tüte, streckte mich und warf sie so gut ich konnte zwischen verwesendes Holz und Elektroschrott.
 

Ich fühlte mich befreiter als ich den Weg zurück zu meinem Wagen ging. Der Motor schnurrte in der nächtlichen Stille und ich schloss für einen kurzen Moment die Augen und atmete durch. Als ich zurückfuhr lief das Radio und erst in den frühen Morgenstunden drehte ich es aus.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Ruha_Chan
2009-03-19T11:01:08+00:00 19.03.2009 12:01
Irgendwie gefällt mir das hier sehr gut. Dabei lese ich eigentlich keine Drama. Aber etwas daran hat mich gereizt - und es ist es ganz sicher wert, weitergelesen zu werden. Daher kommt es auf die Favo-Liste!
Von:  --baozi
2009-03-06T15:52:52+00:00 06.03.2009 16:52
Hm.
Wirkt alles sehr traurig und irgendwie kann ich mir auch noch kein Reim daraus machen. Hoffentlich kommt bald Aufklärung.
Ansonsten schöner Schreibstil und Erklärungsweise
LG Kigo
Von: abgemeldet
2009-03-03T20:47:06+00:00 03.03.2009 21:47
So, habs durch.

Die Stimmung in deiner FF ist ja wirklich sehr traurig, von anfang an.
Aber jetzt sag doch mal bitte: wer ist denn jetzt gestorben?
Warum sind die Laken auf Kai-kuns Bett Blutig?
Was ist mit den anderen Mitgliedern von Gazette?

Bitte mach schnell weiter!!


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