Die Ankunft
„IC von Hamburg-Altona zur Weiterfahrt nach Köln Hauptbahnhof wird jetzt abfahren. Bitte Einsteigen, Türen schließen selbsttätig. Vorsicht bei der Abfahrt“, krächzte eine metallische Stimme durch die Lautsprecher. Jonah bekam das alles nicht mit.
Er saß seit 5:45Uhr in diesem verfluchten Zug und hatte es geschafft trotz der, sich über alles beschwerenden, Senioren neben ihm und der lärmenden Großfamilie zu schlafen. Es war nicht die Art von Schlaf aus dem man erholt und optimistisch erwacht. Es war die Art von Schlaf, die einen betäubte, die einem wirre Träume schickte, die einem ein Stück weiter aus der Realität entfernte. Aber damit war es sowieso bald vorbei.
Jonah war auf dem Weg nach Bochum, eine Stadt die nicht viel kälter und kaputter hätte sein können. Jedenfalls nicht für Jonah. Er musste seine Heimatstadt verlassen um nach Bochum zu ziehen. Bochum: Kohle, Plattenbauten, sozialer Brennpunkt, Ruhrpott. Das sagte schon alles.
Wie so viele Jugendliche hatte es Jonah mit der Schule nicht ganz so ernst genommen. Gut, er hatte sein Abitur bestanden, sogar mit 2,2, aber das reichte nicht. Jedenfalls reichte es nicht um in Hamburg bleiben zu können. Seitdem Jonah denken konnte wollte er alles außer Medizin studieren. Unglücklicherweise sahen seine Eltern, Martha und Tom, das ganz anders. Ihr Sohn, ihr Wunderkind, sollte es gut haben, er sollte Medizin, Jura, oder etwas mit dem man noch mehr Geld und Ruhm ernten konnte studieren. Als wäre die Tatsache, etwas die nächsten 8 Jahre machen zu müssen, nicht schon schlimm genug, kam nun noch dazu, dass der sogenannter „NC“ in Hamburg für Medizin bei 1,1 lag und Jonah davon meilenweit entfernt war. Und so ging es nun mit dem IC nach Bochum. Auf in ein Leben ohne die alten Freunde, ohne Tinkerbell, die gestörte Katze, ohne die leicht salzige Luft Hamburgs und ohne eine Perspektive auf Besserung.
Es war wie ein bitterer Nachgeschmack den man einfach nicht loswerden konnte. Eine Mischung aus Wut, Enttäuschung und Hilflosigkeit.
Alles was ihn hier erwartete war der Platz in einer WG, die er über das Internet gefunden hatte. Er hatte bisher mit einem seiner zwei Mitbewohner Telefoniert. Einer der beiden hatte sich als Benjamin vorgestellt, 23 Jahre, Philosophiestudent und zu dem Zeitpunkt des Telefonats offensichtlich bekifft, oder schlimmeres. Aber naja so schlimm würde es schon nicht werden dachte sich Jonah. Das Zimmer war laut Beschreibung immerhin 19m² groß und 10min von der Universität entfernt. Mit ihm bewohnten drei Personen die 75m² große Wohnung. Der zweite Mitbewohner, oder die zweite Mitbewohnerin würde frühestens heute Abend bzw. er morgen kennenlernen. Blockseminar hatte Benjamin ihm kurzangebunden via SMS geschrieben.
Momentan gab es schlimmeres, die nächste Station würde der Hauptbahnhof sein. Allein bei dem Gedanken schauderte es Jonah. Er packte langsam und unmotiviert seine Sachen in seinen Rucksack: Die neuste Ausgabe der Musik Express, seinen MP3 Player, die halbleere Cola-Light, die Kaugummis und sein Handy. Missmutig schleifte er seine zwei Koffer durch den engen Flur und wartete vor der Tür, bis metallisch krächzend die Ansage „Nächster Halt Bochum Hbf“ aus den Lautsprechern drang.
Der Zug hielt mit eine Ruck, sodass Jonah fast das Gleichgewicht verloren hätte.
Als ob der Tag nicht noch schlimm genug begonnen hätte schaute der Schaffner Jonah mit vernichtenden Blicken an, als dieser ihn bat ihm beim Ausladen der Koffer zu helfen. Genaugenommen kam der Blick erst, als der Mann Mitte 40 feststellte wie schwer der harmlos aussehende Stoffkoffer in Wirklichkeit war. Jonah konnte sich das Grinsen nicht verkneifen, was den Schaffner mit Sicherheit zu einem dummen Spruch provoziert hätte, wäre er nicht dermaßen außer Atem, dass er sich abwendete und in den Gängen des Zugs verschwand.
Der Blick der sich Jonah nun bot überraschte und verwunderte ihn zugleich. Keine Drogendealer, keine Schlägereien und auch keine schwarzer ätzender Regen. Alles sah nach einer normalen Stadt aus. Der Bahnhof machte den Eindruck als sei er gerade renoviert worden, gut so! Als Jonah sich und sein Gepäck umständlich in den nach Urin stinkenden Aufzug verfrachtet hatte fragte er sich wieder:
"wieso um alles in der Welt habe ich es nicht dieses eine Mal geschafft meinen Eltern nein zu sagen? Wieso? Wieso? Wieso muss ich so ein Feigling sein?!"
Im Grund genommen wollte er überhaupt nicht, dass es ihm gefiel, wollte sich nicht einleben und wie seine Mutter gesagt hatte "neue Freunde finden", er wollte einfach nur nach Hause.
Die Türen des Aufzugs öffneten sich geräuschlos und nur das zetern einer Dame mittleren Alters, die sich mit Sicherheit in den letzten drei Jahren nicht mehr abgeschminkt hatte, riss Jonah aus seinem Selbstmitleid.
Die Taxifahrt war nicht besonders spektakulär: Der Deutsch-Pakistaner „Chem“ bugsierte den Mercedes, der auch schon bessere Zeiten erlebt hatte, durch die Bochumer Innenstadt. Die sich größtenteils aus grauen Betongebäuden, Kiosken, Straßenbahnen und Schulen zusammensetzte. Doch alles in allem grau, grau und ein bisschen braun. Die Gegend in der das Taxi hielt war nicht gerade vertrauenserweckend:
"Schaust du, da ist die Uni", sagte der Fahrer mit eine ausschweifenden Handbewegung zu Jonah
"Erm… ja danke, hübsch" entfuhr es Jonah offensichtlich etwas zu verhalten, da der Taxifahrer nur mit einem Kopfschüttel reagierte und etwas auf Pakistanisch murmelte, während er Jonahs Koffer aus dem Kofferraus lud.