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Angel Stories

Engel gibt es - und sie haben auch Gefühle
von

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Der verlorene Zwilling

Drei Jahre ist es her, dass ich meine Zwillingsschwester verlor. Mit ihrem Tod brach meine Welt zusammen. Ohne sie möchte ich nicht leben. Ohne sie ist meine Welt öde und einsam. Grau sind die Menschen die Tag für Tag durch ein Leben hetzen das mir nichts bedeutet. Grau sind die Tiere die zu mir kommen um mich zu trösten weil sie meinen Kummer spüren, auch wenn ich sie nicht spüren kann. Grau ist die Landschaft aus Bäumen und Bauten durch die ich mich bewege auf meinem Weg von einem Ort zum nächsten. Und doch schleppe ich mich weiter. Warum, dass weiß ich nicht. Tag für Tag quäle ich mich durch das ewige Grau ohne zu merken wie die Zeit vergeht. Ein ewiges Nichts in dem ich gefangen bin.

Mein Name ist Marisa, 17 Jahre jung, auch wenn ich mich fühle wie 87. Meine Schwester Sahra wurde mit einem Herzfehler geboren. Es war abzusehen, dass sie irgendwann daran sterben würde. Und doch war ich nicht vorbereitet als es geschah. Sie war noch kurz vorher voller Energie und quick lebendig gewesen. Ist mit mir herum gerannt und hat die schwächeren Kinder an der Schule beschützt. Herzensgut und stark, ja, so war sie. Und doch musste sie sterben. Ich war ihr Schatten. Ich selbst kann nichts. Immer hinter ihr her, immer an ihrem Rockzipfel. Es hat sie nie gestört. Nie. Und plötzlich war sie weg. Für immer. Hat die Reise ohne Wiederkehr angetreten, wie unsere Großmutter es ausgedrückt hatte.
 

Auch heute gehe ich wieder durch meine eintönige Welt. Grau in grau verschwimmt alles vor meinen Augen. Nur mühsam erkenne ich was für mich wichtig ist. Ein hell leuchtendes Grau sagt mir, dass ich mich an einem Straßenüberweg mit Ampel befinde. Es ist rot, ich muss warten. Trübe starre ich vor mich hin, auf die Mischung aus Grautönen die mir gegenüber steht. Sie alle wissen nicht, wie ich sie sehe. Sie alle wissen nicht, dass sie für mich nicht existieren. Vielleicht sehen sie mich auch nicht? Vielleicht bin ich ja nur ein unsichtbarer Geist der durch die Welt der Lebenden schwebt? Wer kann das schon mit Sicherheit sagen?

Ein komischer Fleck mischt sich in die Graue Suppe auf der anderen Straßenseite. Ist das Farbe? Doch woher kommt sie? Überrascht hebe ich den Blick. Langsam wird das Bild der Person mir gegenüber klarer. Ein Mädchen meines Alters. Hübsch, schlank und hochgewachsen steht sie elegant und charismatisch an der Ampelsäule und wartet auf grün. Mein Herz bleibt stehen. Sie ist es, kein Zweifel. Diese kraftvollen Augen – es muss Sahra sein. Meine Sahra! Doch wie ist das möglich? Ich habe sie doch sterben sehen! Egal! Jetzt steht sie vor mir. Lebendig und wunderschön.

Die Ampel springt auf grün. Nur vage kann ich es erkennen. Mein Blick ist auf Sahra geheftet. Sie kommt herüber. Sie kommt auf mich zu. Ob sie mich erkennt? Wie sehe ich eigentlich aus? Ich weiß es nicht. Ich habe mich schon lange Zeit nicht mehr im Spiegel betrachtet. Mit Sicherheit sieht Sahra ein Mädchen von der Sorte die sie früher beschützt hat. Auch wenn sie mich nicht erkennt, ich bin mir sicher sie wird mich ansprechen! Sie kommt immer näher – und geht vorbei.

Hat sie mich nicht erkannt? Oder ignoriert sie mich nur? Schwester, was tust du mir da an? Ich blicke mich nach ihr um. Sie geht einfach weiter.

„Sahra!“ Meine Stimme klingt verzweifelt. Keine Reaktion. Ich fange an zu laufen. Ich muss sie einholen!

„Sahra, warte doch!“ Sie geht einfach weiter. Hört sie mich nicht? Ist meine Stimme nicht mehr kräftig genug, nachdem ich sie drei Jahre nicht gebraucht habe? Ich komme ihr näher. Ihr sehe ihn. Sahras halbmondförmiger Leberfleck in ihrem Nacken, links vom Pferdeschwanz. Mir bleibt nur noch eine Wahl. Ich greife ihr Handgelenk.

„Sahra!“ Sie dreht sich zu mir um. Ihr Blick ist verwirrt, auch etwas verstört. Es liegt nichts erkennendes in ihren Augen. Sehe ich so schlimm aus?

„Verzeihung, kennen wir uns?“ So eine sinnlose Frage mit Sahras engelsgleicher Stimme ist verletzend.

„Erkennst du mich denn nicht, Sahra?“, meine Stimme ist leise und schwach. Doch sie schüttelt nur mit dem Kopf.

„Sie müssen mich verwechseln.“, sagt Sahra mit ernstem Gesichtsausdruck. „Mein Name ist Yishtoa.“ Ein verbaler Schlag ins Gesicht. Hatte ich mich denn so irren können? Nein, ausgeschlossen! Sie muss Sahra sein!

„Hör auf Spiele mit mir zu spielen.“, schmolle ich. „Sahra, dafür sind wir zu alt.“

„Ich kenne dich nicht!“ Es lag ein verzweifelter Unterton in Sahras Stimme. „Und ich kenne auch keine Sahra!“ Was für eine gute Schauspielerin meine liebe Schwester doch war. Doch mir kann sie nichts vormachen. Ich weiß, sie verstellte sich nur vor mir!

„Lass mich endlich los!“, schreit Sahra und reißt ihre Hand los. Sie nutzt so viel Kraft, dass meine Finger sich anfühlen als hätte ich sie gegen eine Wand geschlagen. Sie dreht sich um und stürzt davon. Was auch immer diese Reaktion bedeutet, ich gebe nicht auf und laufe ihr nach. Sie wird mir schon erzählen, was das soll! Und wenn ich sie dafür festbinden muss!

Ich folge ihr bis zu einem Park. Ein großer Spielplatz ist in seiner Mitte. Ich erinnere mich, dass wir hier früher sehr oft gespielt haben. Sahra und ich. Und unser großer Bruder hat immer auf uns aufgepasst. Die Geräte sind alt. Das waren sie schon als wir klein waren. Doch noch immer scheinen sie sehr stabil.

Ich sehe mich um. Die Nostalgie hat mich Sahra aus den Augen verlieren lassen. Wo ist sie nur? Wo ist der Farbklecks in meiner grauen Welt? Dort drüben. Und da sind noch mehr Farbflecken! Es sind Kinder. Sahra sitzt dort im Sandkasten mit einem kleinen Mädchen und zwei älteren Jungen. Ob sie wohl Geschwister sind? Sie erinnern mich so sehr an die schöne Zeit früher als meine Welt noch bunt und heile war. Niemand sonst ist auf dem Spielplatz. Ich will sie nicht stören. Sie spielen so schön friedlich mit Sahra. Wie eine große Schwester denkt sie sich neue Spiele für die Kinder aus und erklärt sie ihnen. Auch eine Sandburg bauen sie zusammen. Eine große mit bunten Steinen in der Wand. Was für ein friedlicher Anblick.

Einer der Jungen entfernt sich dann von der Gruppe. Er läuft zum Klettergerüst. Es ist ein echter Magnet für Jungen. Es knackt so aufregend wenn man sich von einem Streben zum nächsten bewegt. Der Junge aus Sahras Gruppe hangelt sich an den dicken Seilen hoch. Immer höher. Niemand sonst ist auf dem Gerüst. Er kann sich ganz frei austoben. Wie immer knackt und knistert es im Holz. Ich habe dieses Geräusch früher gehasst. Es hat mir Angst gemacht. Aber war das Knacken schon immer so laut gewesen? Nein. Ich realisiere es in dem Moment als aus dem kurzen verzerrten Ton ein lautes Krachen wird. Einer der großen Stützpfeiler ist gebrochen. Das ganze Gerüst bricht in sich zusammen. Der Junge verliert den Halt und fällt. Ich kann nicht hinsehen. Sicher wird er sterben. Ein Fall aus so einer Höhe kann ein kleines Kind wie er doch gar nicht überleben!

Ich halte mir die Augen zu. Zu sehr habe ich Angst noch einmal jemanden sterben zu sehen. Doch plötzlich höre ich Applaus. Lebte er etwa noch? War er gerettet worden? Vorsichtig luge ich durch meine Finger. Sahra sitzt auf dem Boden, um sie herum Trümmerteile des einst so prachtvollen Spielgeräts. In ihren Armen der kleine Junge der bitterlich weint. Er hat wohl einen Schock erlitten. Aber ansonsten sieht er gesund aus. Ein paar Kratzer, eine Schürfwunde am Knie – vermutlich vom Aufprall. Doch ansonsten ist er gesund. Gesund und lebendig. Sahra hat ihn gerettet. Wie durch ein Wunder hat auch sie nur kleine Wunden, dieser selbstlose Engel.

Die Mutter des Jungen kommt angelaufen. Überschwänglich nimmt sie ihr weinendes Kind in die Arme und bedankt sich bei Sahra. Ich kann ihr Gespräch nicht hören doch von meinem Wissen über ihren Charakter und ihre Gestik verstehe ich, dass sie der überglücklichen Frau eine Belohnung für sie ausredet. Ich kenne sie. Das Leben des Jungen ist meiner Schwester Lohn genug.

Es herrscht Chaos auf dem Spielplatz. Die Kinder, die Frau und Sahra, umringt von einer Horde neugieriger Gaffer und lästigen Reportern die nur durch die Polizisten davon abgehalten werden meine Schwester mit Fragen zu zerreißen. Die Polizei vernimmt mich als Zeugin, dann werde ich wieder in Ruhe gelassen. Ich beobachte weiterhin die Szene von meinem abgelegenen Platz. Vermutlich deswegen bin ich die einzige die merkt, dass Sahra sich von den anderen Menschen entfernt und zwischen den Bäumen und Sträuchern verschwindet. Leise wie ein Schatten folge ich ihr. Nach einer Weile – wir waren so tief im Unterholz wie noch nie zuvor – bleibt sie stehen und dreht sich zu mir um.

„Du folgst mir ja immernoch.“, sagt sie genervt.

„Denkst du, du kannst mich so schnell abschütteln?“, antworte ich trotzig.

„Was willst du von mir?“, seufzt Sahra. Sie scheint nicht mehr weglaufen zu wollen. „Ich bin nicht die für die du mich hälst.“

„Denkst du etwa, du kannst deine eigene Zwillingsschwester täuschen?“ Beleidigt sah ich sie an. Sahra legte die Fingerspitzen an die Stirn und seufzte schwer. Diese Angewohnheit von ihr ist so vertraut, sie lässt mein Herz höher springen. Sie nutzte sie früher immer an dem Punkt, an dem sie nicht weiter wusste. Jedenfalls keinen Weg durch den sie ihren Gegenüber nicht verletzen würde.

„Du brauchst dich nicht zu verstellen. Ich kann mit denken, warum du so bist.“ Aufmunternt lächle ich sie an. Während die Polizei alles absicherte hatte ich viel Zeit zum nachdenken gehabt. Ich habe meine eigene Lösung gefunden. „Du bist ein Schutzengel, nicht wahr?“ Sahras verblüffter Gesichtsausdruck bestätigt mir meine Vermutung.

„Sehr scharfsinnig.“ Eine sanfte aber Autorität ausstrahlende Frauenstimme dringt von hinten an mein Ohr. Erschrocken drehe ich mich um. Hinter mir steht ein hübsches Mädchen, etwas jünger als Sahra und ich. Doch ihr Blick sagt, dass sie schon viel gesehen hat. Ein Blick aus Auge die keine Pupille haben.

Ich höre ein Rascheln und sehe wieder zu Sahra. Meine Schwester ist ehrfurchtsvoll auf die Knie gesunken und hat die Arme ausgestreckt mit den Handflächen nach außen vor sich ausgestreckt.

„Herrin Sorria, bitte vergebt mir.“, sagt sie flehend. „Ich war nicht darauf gefasst, dass die Möglichkeit bestand sie zu treffen.“

„Es ist gut, so wie es ist.“, sagte die Herrin. „Erhebe sich, jaro-sjia Yishtoa.“ Aus irgendeinem Grund leuchten Sahras Augen freudig auf. Erst jetzt bemerke ich, dass auch ihre Augen keine Pupillen haben.

„Ich habe bestanden?“, rief sie und es schwingt eine unbändige Begeisterung in ihrer Stimme mit. Sorria nickte und beobachtet milde lächelnd ihren Schützling bei ihren Freudensprüngen.

„Bist du stolz auf deine große Schwester?“ Ich zucke vor Schreck zusammen als Sahras Herrin mich anspricht. „Sie hat soeben ihre Schutzengelprüfung, wie ihr Menschen es nennen würdet, bestanden.“ Ich überlege kurz, doch eigentlich ist es eine leichte Antwort.

„Natürlich. Auch wenn ich niemals etwas anderes von ihr erwartet hätte.“ Sorria kichert amüsiert.

„Das ist gut.“, sagt sie verständig. „Ich nämlich auch nicht.“ Überrascht sehe ich sie an. War sie nicht eine „Herrin“? Durfte eine Herrin so etwas sagen? Eine Person vor der andere auf die Knie fallen? Sorria scheint meine Gedanken erraten zu können. Das Grinsen auf ihrem Gesicht ist sehr menschlich. „Auch wenn ich jetzt die Herrin der „Engel“ bin, war ich doch einst auch nur ein gewöhnliches Mädchen wie du.“

„So wie Sahra es war.“, flüstere ich betrübt. Ich verstehe, dass Sahra nicht bleiben kann. Sie ist jetzt ein Schutzengel. Sie wird von nun an die Menschen beschützen die es in himmlischen Augen verdient haben zu leben. Ein Grund stolz auf sie zu sein. Doch auch ein Abschied für immer.

„Kopf hoch, Marisa.“ Sahra stupste mit ihrem Zeigefinger gegen meine Nase – genauso wie früher. „Auch wenn ich fort bin, dein Leben geht trotzdem weiter. Vertrau dir selbst. Verlust gehört genauso zum Leben wie Gewinn. Leide, Lache und Lebe. Denn deine Zukunft liegt in deiner eigenen Hand.“

Ich weiß nichts darauf zu erwidern. Wieder einmal hatte meine Zwillingsschwester es geschafft mich sprachlos zu machen.

Ohne ein Wort des Abschieds ging Sahra – nein, Yishtoa – zu Sorria. Diese nimmt den frischgebackenen Schutzengel an die Hand. Nur einen kurzen Augenblick später sind beide verschwunden. Als hätten sie sich in Nichts aufgelöst.

Eine Träne läuft mir die Wange hinunter während ich zum flammend orangeroten Abendhimmel hinaufsehe. Die ersten Sterne blitzen durch das immer dunkler werdende Firmament. Ich beginne laut zu lachen. So laut, dass andere Menschen mich für irre halten werden wenn sie mich hören. Es hatte schon vorher angefangen doch erst jetzt bemerke ich es. Meine Welt hat endlich wieder Farbe.

Die Tragik eines Todesengels

Die Welten sind groß, die Anzahl der Menschen im Universum ist größer als die der Engel. Arkoni nennen sie sich selbst. Mal sind sie auf dem einen, mal auf einem anderen Planeten anzutreffen. Immer versteckt unter den Menschen. Immer da wo sie gebraucht werden.

Todesengel Todias ist derzeit auf der Erde im Einsatz. Jeden Tag sterben tausende Menschen und fast genauso viele werden geboren. Todesengel leben auf der Seelenebene. Die existierenden Dimensionen haben alle ein unterschiedliches Zeitgefüge. Geschaffen von dem einzigen bekannten Lebewesen das die Macht dazu in sich trägt, dem Schöpfer der Arkoni, Dranen. Die Menschen leben auf der ältesten Dimension, der Planetenebene. Arkoni leben in der Arkonebene die nur aus einem einzigen Planeten besteht auf dem die Zeit viel schneller vergeht als auf der Erde – sechs Tage auf der Erde sind ein Jahr in Arkon. Der dimensionale Zwilling der Arkonebene ist die Seelenebene. Auch hier vergeht die Zeit schneller. Ohne diese Aufteilung könnten die wenigen Todesengel ihre Arbeit vermutlich gar nicht verrichten. Sie hätten niemals genug Zeit von einer freien Seele zur nächsten zu fliegen und diese nach Arkon zur Reinigung zu bringen. Denn nur so können sie einem neugeborenen Leben als neutraler emotionaler Antrieb dienen. Doch das interessierte Todias nicht sonderlich. Er lieferte die Seelen nur.

Besonders heute wollte er das alles einmal vergessen. Es war sein einziger freier Tag im Planetenebenenerdenmonat. Auf der Erde war gerade Weihnachtszeit. Entspannt schlenderte er über den Weihnachtsmarkt einer kleinen Stadt. Hier war er einst nach seinem letzten Tod vor dreiundvierzig Jahren zum sechsten Mal seit seiner Arkoniwerdung als Mensch wiedergeboren worden. Hier hatte er sechzehn Jahre gelebt, bis der Arkoni in ihm wieder erwacht war und er an seine Arbeit zurückkehren konnte. Denn Arkoni speichern ihre Erinnerungen nicht wie die Menschen im biologischen Gehirn, sondern in ihrer ewig lebenden Seele.

Todias spürte die Welt um sich herum mit seinen, durch sein arkonisches Dasein geschärften Sinnen. Der Ort, den er noch vor siebenundzwanzig Jahren seine Heimat genannt hatte erschien ihm fremder denn je.

Die Weihnachtszeit war überall erkennbar: bunte Lichter schmückten Häuser und Bäume, aus Süßigkeitenbuden drangen verlockende Gerüche, an den Getränkeständen drängten sich die Menschen dicht zusammen und wärmten sich mit Glühwein und Punsch in der frostigen Kälte des Winters. Die Stimmung war ausgelassen und fröhlich. Jeder freute sich auf eine gemütliche Feier mit der Familie oder bei den Jüngeren auf die Weihnachtsparty in der Disko. Wie viele von ihnen wohl wussten, dass sie bald sterben würden? Manche noch vor dem Fest, manche direkt am heiligen Abend, wie die Menschen es nannten. Was für Nachfolgen Jesus kleiner Streich damals doch gehabt hatte. Ein großartiger Comedian, dieser Jesus. Sogar die Herrin liebt die Komödien, die die Menschen mit ihren Gottesdiensten veranstalten – weswegen sie auch in jeder Kirche der Welt Hausverbot wegen zu lauten Lachens hat. Ein echter Könner.

Todias dagegen war nur ein kleines Rädchen im Getriebe. Er tat was man ihm sagte und gut war‘s. Seufzend wechselte er zur normalen Sicht der Menschen. Er wollte die Todesdaten der Menschen vor ihm nicht sehen. Er hatte immerhin frei.

Da kein anderer Platz mehr frei war stellte er sich an einer Glühweinbude zu einer Gruppe Jugendlichen an einen der Stehtische. Wenigstens würde er hier mit seinem sechzehnjährigen Aussehen nicht so sehr auffallen. Denn Arkoni altern nach ihrer Erweckung nicht mehr.

Zu seiner Überraschung nahmen die Jugendlichen ihn ganz ohne Widerworte in ihre Mitte auf. Der älteste der Gruppe bestellte ihm sogar einen großen Glühwein, ein Mädchen reichte ihm eine Tüte mit Spekulatius. Eine lustige Runde, in die er sich hier begeben hatte. Es waren fünf Oberschüler zwischen sechzehn und neunzehn Jahren die in der Schule wegen Heizungsausfall frei bekommen hatten. Der Jüngste war vermutlich der kleine Bruder vom ältesten, der dritte Junge war schwer mit seiner Freundin beschäftigt und das Mädchen mit den Spekulatius gehört mutmaßlich zu der Szene die sich „Gothic“ nannte. Jedenfalls bestand ihr Aussehen nur aus schwarzen Klamotten, schwarzgefärbten Haaren, dick schwarz umrandete Augen und schwarzbemalte Lippen.

„Biste neu in der Stadt?“, fragte der Älteste.

„Halb und halb.“, antwortete Todias. „Bin vor langer Zeit weggezogen.“

„Wie heißte denn?“, fragte der Jüngste angeheitert. Sein Bruder gab ihm einen Glühwein nach dem Anderen aus, obwohl er noch minderjährig war. Menschen eben.

„Martin.“, seinen Menschennamen hatte er schon lange nicht mehr genutzt. Wozu auch, kein Arkoni würde ihn jemals so nennen.

„Und was machste jetzt wieder in der Stadt?“, fragte das schwarze Mädchen. „Hier gibts doch nix interessantes.“

„Ich habe heute meinen freien Tag auf der Arbeit und wollte mal gucken wie sich meine alte Heimat so verändert hat.“, meinte Todias und nippte an seinem Glühwein.

„Du arbeitest schon?“, rief der Jüngste überrascht. „So dumm siehste gar nicht aus.“

„Nicht jeder der Arbeitet hat deswegen nichts im Kopf.“, rügte ihn sein Bruder. „Was machst du denn?“ Todias hasste diese Frage. Er konnte sie ja schlecht wahrheitsgetreu beantworten. Die Existenz der Arkoni sollte vor den Menschen verborgen bleiben. Sonst hätten sie ja keine Ruhe vor ihnen. Aber diese jungen Menschen würden seine Aussage vermutlich für einen Scherz oder eine Metapher halten. Er hatte nichts zu verlieren.

„Todesengel.“ Amüsiert beobachtete Todias die Gesichter der verwirrten Jugendlichen und trank noch einen Schluck Glühwein. Wie schade doch, dass Alkohol auf Arkoni keinen Einfluss hatte.

„Biste nen Auftragskiller?“, fragte der Jüngste aufgeregt.

„Unsinn.“, entgegnete sein Bruder. „Vermutlich ist er Bestatter.“

„Ich denke das trifft es am ehesten.“, meinte Todias gelassen und knabberte an einem Spekulatius. Immerhin brachte er manchmal auch Seelen die ihre Kraft verloren hatten und kristallisiert waren zu ihren letzten Ruhestätten.

Aber er merkte es, er durfte sich nicht zu lange mit den Menschen unterhalten. Sich unter Menschen wohl zu fühlen war gefährlich. Je näher man ihnen kam, desto größer war das daraus erfolgende Unglück. Arkoni leben ewig, Menschen nicht. Menschen leben die Zeitspanne die ihnen durch die Willkür des Todes zugeschrieben wurde. Arkoni sterben höchstens eines Unnatürlichen Todes. Das heißt im arkonischen Sinne, dass sie von einem anderen Lebewesen umgebracht werden. Das größte Unglück das geschehen kann ist eine Liebe zwischen einem Menschen und einem Arkoni. Besonders die daraus resultierenden Kinder sind arm dran. Auch wenn Arkoni einst auch nur Menschen waren, ein gemeinsames Leben dieser beiden Rassen ist unmöglich.

Todias sah sich seine Gesprächspartner genauer an – mit seinen arkonischen Augen. Das Pärchen konnte kaum voneinander ablassen. Ob sie wohl wussten, dass das Mädchen schwanger war? Die beiden Jungs waren in Ordnung. Ihre Seelen waren nur ganz leicht angegraut. Sie logen kaum, auch wenn sie gerne die Coolen spielten, nichts Ernsthaftes. Das schwarze Mädchen machte ihm allerdings Sorgen. Ihr Leben schien nur aus Lügen und Fassaden zu bestehen. Eine so stark ergraute Seele sah man selten bei so jungen Menschen. Das würde kein gutes Ende nehmen.

Wieder einmal seufzte Todias und verabschiedete sich. Noch länger konnte er nicht bei den Menschen bleiben. Die neugierigen Menschen wollten ihn nicht gehen lassen. Sie fanden ihn interessant und hätten sicher gerne noch mehr über ihn erfahren. Er trank seinen Gühwein der inzwischen nur noch lauwarm war aus und verließ – zu seinem Unglück nur ungern – die Gruppe um an einen Ort zu gehen an dem er unbemerkt in seine Arbeitsebene zurückkehren konnte.

Nachdenklich ging er seiner Wege. Er musste demnächst mal nachfragen, wieso es Arkoni eigentlich gab. Vermutlich konnte diese Frage ihm nur die Herrin Sorria beantworten. Also am Besten gleich wenn er zurück war einen Antrag für eine Audienz abgeben. Herrjeh, das konnte dauern.

Erst an einem Straßenüberweg an dem er auf der anderen Seite sein Spiegelbild in einem Schaufenster sah merkte er, dass ihm jemand folgte. Es war das schwarze Mädchen mit der dunklen Seele. Dieses arme Geschöpf das bereits jetzt ein trauriges, verdorbenes Leben führte.

„Was willst du noch?“ Todias dreht sich nicht zu ihr um. Ihr Gesicht sah er auch so im Spiegel gegenüber.

„Ich will den Todesengel sehen!“, sagte sie bestimmt.

„Und wenn ich ihn dir nicht zeige?“, Er hatte keine Lust auf eine große Auseinandersetzung die aus dem Abstreiten seinerseits entstehen würde.

„Ich kriege dich schon irgendwie dazu!“, sagte sie von sich selbst überzeugt. „Ich folge dir einfach so lange, bis du ihn mir zeigen musst!“

„Und was versprichst du dir davon?“

„Mein Todesdatum!“

„Für welchen Zweck?“

„Um ihn zu verhindern natürlich!“

Es war doch immer das gleiche. Alles was Menschen interessierte waren sie selbst und ihr eigenes Schicksal. Irgendwann hatte mal ein Todesengel auf einem anderen Planeten Todesdaten an Menschen weitergegeben. Die Planung des dortigen Todes wurde vollkommen zerstört. Seitdem hatte niemand mehr von jenem Todesengel gehört. Man munkelt, dass der Tod ihn immer noch gefangen hält.

„Falsche Antwort.“, antwortete Todias trocken und überquerte die Straße. Es war Zeit. In seinem Kopf zählte er die Sekunden rückwärts. Bei zwei Sekunden hörte er das Quietschen von Autoreifen. Eine Sekunde, ein Krachen. Null Sekunden – der Aufprall eines menschlichen Körpers auf den Asphalt. Das schwarze Mädchen war tot.

Engelskinder

Wieder ein neuer Planet. Mein neuer Lebensort. Eine weitere Station auf meiner Ewigen Reise ohne ein Zuhause in das ich zurückkehren kann. Nur Welten die existieren, bis sie irgendwann zerstört werden – ob nun durch Menschen oder durch Arkoni.

Meine Mutter ist ein Arkoni, mein Vater war ein Yaschirk. Auf diesem Planeten würde man ihn als Cyborg bezeichenen. Ein aus einem Menschen erschaffener Roboter. Ich erinnere mich kaum an ihn. Es ist lange her, dass er mitsamt meinem Geburtsplaneten explodierte. Nur ich durfte damals gehen, gemeinsam mit den drei verbannten Arkoni, die dort zu jenem Zeitpunkt lebten. Und das nur wegen meinem Engelsblut.

Dieser neue Planet, der im arkonischen jallrgjon – gelobtes Land genannt wird, scheint mit einem sanften blauen Licht. Eine gesunde Ballance zwischen Wasser und Land. Die Bewohner nennen ihn schlicht und einfach Erde. Ich finde diesen Namen passender. Ich weiß nicht, was an diesem Zwergenplaneten irgendwo in einem Sonnensystem am Rande einer kleinen Galaxie gelobt sein soll. Die Menschen hier sind auch nicht anders als auf anderen Planeten. Genauso dumm und naiv, chaotisch und unbeständig, herrschsüchtig und kriegerisch wie jeder andere ihrer Art im Universum. Die Länder spielen gut Freund miteinander und schielen in Wirklichkeit doch nur auf die Ressourcen der anderen. Starke unterdrücken Schwächere während sie so tun als würden sie helfen. Alles nur eine riesengroße Farce. Es ist immer und überall das gleiche. Die Menschen, egal wo, werden sich nie ändern. Ich liebe diese kritischen Karikaturen aus den Zeitungen. Sie sind so selbstheuchlerisch. Man stellt andere schlecht dar um selbst besser dazustehen ohne sein Gesicht zeigen zu müssen und bekommt dafür auch noch Geld. Großartig.

Ich bin erst seit einem Monat hier und kann jetzt schon sagen, dass diese Welt genauso untergehen wird wie jede andere die ich auf meiner Reise bereits gesehen habe: Zerstört und ausgebeutet durch die Menschen. Vielleicht sogar von ihnen in die Luft gesprengt. So wie sie sich hier mit Massenvernichtungswaffen gegenseitig in Schach halten sieht es ganz danach aus.

Ich bin kein Mensch. Ich bin es nie gewesen. Ich mache keinen Hehl daraus, dass mich die Menschen nerven. Ich habe mein Leben lang fast nur negative Erfahrungen mit ihnen gemacht. Und das sind verdammt viele Erfahrungen.

„'tschuldigung, hamse mal nen Euro?“ Ein Obdachloser. Eindeutig an der Kleidung erkennbar. Auch hier gibt es dieses versoffene Pack. Überall ist es das selbe.

„Wozu? Damit du dir das nächste Bier anstelle einer Flasche Wasser oder Saft holst? Fastfood und Süßes anstelle von Gemüse und Brot?“ Mein Gegenüber ist ein junger Mann, etwa fünfundzwanzig Jahre alt. Lange, filzige Haare, abgetragene und kaputte Klamotten. Typisch.

„Nee, ich spar grad auf nen neues Paar Schuhe. Der Winter sieht aus, als wenn er kalt würde.“ Er macht nicht den Eindruck, als wenn er Lügen würde.

„Ich habe selbst kein Geld.“ Ich warte immernoch darauf, dass meine Mutter auftaucht und mir Erdengeld gibt. Frei nach arkonischem Gesetz. Existenzen wie meine sind ein Unglück für jeden Arkoni. Denn Kinder zwischen Menschen oder menschenähnlichen Individuen und Arkoni müssen solange von ihrem arkonischen Elternteil versorgt werden, bis diese sterben. Dabei bin ich ein Sonderfall. Meine DNA macht mich durch den Einfluss der Cyborgexistenz meines Vaters unsterblich. In jeder Hinsicht. Denn selbst wenn ich in Stücke gerissen werde ist mein Körper in der Lage sich zu regenerieren. Ein ewiger Teufelskreis.

„Trägst interessante Klamotten.“ Der Fremde scheint nicht locker lassen zu wollen. Anscheinend versucht er es mit der Lobtaktik. Menschen. Meine Kleidung ist eine Eigenkreation. Kleider aus meiner vorherigen Heimat, so abgeändert, dass sie den irdischen ähneln. Es macht mir insgeheim Spaß Kleider zu ändern. Aber das ist ein Geheimnis.

„Was willst du?“

„Och, ich dachte nur, wir könnten vielleicht ein wenig gemeinsam abhängen.“ Diese Sprache die sich Deutsch nennt ist wirklich schwierig.

„Ich habe nicht vor mich aufzuhängen.“ Zu meiner Überraschung lacht mein Gegenüber.

„Bist wohl nicht aus diesem Land, was?“ Etwas freundliches liegt in seinen Augen.

„Nein.“ Warum fasziniert mich sein Blick so?

„Woher?“

„Weit weit weg...“

„Na, ich frag nicht weiter.“ Feinfühlig ist er auch noch.

„Sehr freundlich.“ Warum klingt meine Stimme so gequält?

„Ich bin Adrian – Vagabund aus Überzeugung.“ Er hält mir die Hand hin.

„Zireka.“ Ohne Nachzudenken greife ich seine Hand. „Zum sechsundvierzigsten Mal in einer Neuen Heimat.

„Wow, und dass in deinem Alter.“ Adrian pfeift bewundernd. „Wie alt biste? Fünfzehn?“

„Schließ nicht von meinem Aussehen auf mein Alter.“

„Na, trotzdem, so alt kannst du noch nicht sein.“

„Ich habe vor langer langer Zeit aufgehört mein Alter zu zählen.“ Die Ewigkeit muss nicht mit Jahren benannt werden. Außerdem hat ja eh jeder Planet seine eigene Zeitrechnung. Wie soll jemand wie ich da nicht den Sinn für sein Alter verlieren?

„Bist du ein Engel?“ Wie kommt er jetzt dadrauf? Ist das ein Scherz?

„Nur ein halber.“ Wieso zum Teufel Antworte ich ihm?

„Dann bist du genau wie ich.“ Schweigen. Wir haben uns nichts mehr zu sagen. Wir verstehen uns auch ohne Worte. Einen Leidensgenossen zu treffen ist so gut wie unmöglich. Das Universum ist zu groß. Und doch, nun ist es geschehen.

Ich tue was ich bisher vermieden habe, ich sehe ihm in die Augen. Engelsaugen. Eine farbige Fläche ohne Pupille. Braun sind die Seinen. Sie strahlen Wärme und Lebensfreude aus. Ein Zeichen, dass er noch jung ist. Selbst Arkoni die jeder für sich eine Aufgabe und einen Ort an den sie gehören haben, verlieren ihren Elan wenn sie zu lange am Stück leben. Doch mit jeder Wiedergeburt kehrt er zurück. Wie gerne würde ich doch sterben und neu beginnen können.

„Ich bin seit zwei Jahren auf der Erde.“ Adrian wirkt munter. Wir sprechen Arkonisch. Eine Sprache die uns im Blut liegt. Wir müssen sie nicht lernen, wir können sie sobald wir in der Lage sind zu sprechen. Die anderen Menschen verstehen sie nur, wenn wir das wollen. Ich habe sie bisher nur bei den seltenen Begegnungen mit meiner dauerbeschäftigten Mutter gesprochen. Mit anderen Worten jedesmal dann, wenn ich auf einen Neuen Planeten umziehe.

„Ein Monat...“

„Mein Vater war ein mächtiger Arkoni, wurde aber inzwischen verstoßen.“

„Name?“

„Jyagos.“

„Typisch. Er konnte seine Finger nie von Menschenfrauen lassen.

„Du kanntest ihn?“

„Noch bevor er zum Arkoni wurde.“

„Dann bist du wirklich sehr alt.“ Eine Bemerkung die meinem kalten und monotonen Herzen einen Stich versetzt. Was ist nur los mit mir? Ich beschließe, darauf besser nicht zu antworten. Adrian fuhr munter fort.

„Na ja, meine Mutter war eine Shidjgodshar.“ Eine Nutte also, wie vermutet. Jyagos war nicht gerade für leidentschaftliche Beziehungen bekannt. Es hieß sogar, dass er gar nicht in der Lage war zu lieben. Er wechselte die Frauen wie andere Leute seine Unterwäsche. Es ist beschämend, dass auch ich vor langer langer Zeit eine seiner Matratzen gewesen war. Dieses Schwein. Schon so oft habe ich mich gefragt, was ihn in den Augen der Herrin zum Arkoni qualifizierte. Aber Ihre Wege sind nun einmal unergründlich.

„Hast du nichts zu erzählen?“ Adrian scheint seinen Redefluss beendet zu haben.

„Ich habe dich nicht gebeten zu erzählen.“ Es stimmte ja. Kaum hatte er verstanden, dass wir ähnlich sind, da hat er angefangen zu labern. Echt vertrauensselig, der Gute.

„Ich dachte, ich hätt endlich wen gefunden, der mich versteht.“

„Wir sind zu weit auseinander, um einander zu verstehen.“

„Woher willst du das wissen?“

„Du bist noch sehr jung. Ich sehe es dir an. Vermutlich der Jüngste unserer Art. Ich dagegen war die Allererste.“

„Bist du dir sicher?“ Diesen ungläubige Unterton konnte ich ihm nicht verübeln.

„Meine Mutter ist die ach so tolle Herrin Sorria höchstselbst. Sie wird es ja wohl wissen.“ Trotz der Ewigkeit die ich schon lebe schwang der Groll auf meine Mutter die sich nicht um mich kümmerte in meiner Stimme mit.

„Dann bist du etwas besonderes?“

„In jeder Hinsicht.“

„Wie meinst du das?“

„Ich bin wahrlich und wahrhaftig unsterblich. Du nicht.“

„Das weiß ich auch so. Meine Seele wird irgendwann keine Energie mehr haben und ich werde sterben.“ Dieser Fakt scheint ihn nicht sonderlich zu interessieren. Ein kluger Junge. „Aber wieso bist du unsterblich?“

„Weil mein todverdammter Vater der mit seinem Planeten in die Luft geflogen ist eine dämliche Kampfmaschiene war.“ Die Erinnerung reizt mich immer wieder aufs Neue. Ich hatte meinen Vater geliebt. Warum konnte er nicht mit mir zusammen von Mutter gerettet werden? „Und obendrein bin ich noch Platz Sechs der Rangliste der Mächtigkeit unter den Arkoni.“

„Das ist abgefahren!“ Adrian scheint begeistert zu sein. „Und wieso biste dann ein Wanderer?“

„Weil diese eingebildeten Drecksköpfe mich nicht akzeptieren!“ Ich halte mir den Mund zu. Ich habe geschrien. Mein Frust hat mich eingeholt und sich Luft gemacht. Peinlich.

„Klingt hart.“ Ist es auch. „Und einsam.“ Volltreffer. „Ich bin auch einsam.“ Wer ist das nicht? „Einsam und einsam ergibt gemeinsam.“ Was für einen Schwachsinn redet der da? „Hast du nicht Lust, mit mir gemeinsam den Rest meines Lebens zu verbringen?“

„Und dir nachtrauern, wenn du stirbst und die Last auch noch tragen? Kein Interesse.“

„Du bist gemein.“

„Und du naiv.“

„Vielleicht bin ich auch einfach nur verliebt?“ Er sieht mich nicht an, doch ich sehe deutlich, dass die Röte in seine Wangen steigt.

„Und wenn ich verlernt habe zu lieben?“ Diese Worte kommen mir bekannt vor. Wie der Vater, so der Sohn, oder wie war das?

„Dann werde ich es dir wieder beibringen.“ Er kommt näher an mich ran.

„Du bist wirklich naiv.“ Ich muss mich zusammen reißen.

„Und du bist wunderschön.“ Es war vorbei. Seine Stimme bringt mir zum ersten Mal nach langer Zeit dieses warme Gefühl der Liebe und Geborgenheit zurück. Ich kann mich nicht wehren. Mein Bewusstsein hat sich dem Wunsch geliebt zu werden ergeben.

Verbannung und Abtrünnigkeit

Es ist eine Strafe. Eine Strafe gegeben von den höchste Mächten. Ein unsterbliches Leben als Mensch. Als stummer Mensch, der Macht seiner betörenden Stimme beraubt. Die Höchststrafe die die arkonischen Herren ihren schwarzen Schafen erteilen.

Riitas ist einer dieser Sündiger. Einstmals einer der mächtigsten Racheengel dieses Universums, aller Kraft beraubt in wenigen Sekunden. Er hat einen Fehler gemacht – einen fatalen Fehler. Im Unwissen um den experimentellen Status des im arkonischen jallrgjon genannten Planeten Erde hat er den im Gegensatz zum Rest der Welt hoch entwickelten Kontinent Atlantis als Bedrohung für das Gleichgewicht des Planeten angesehen und vernichtet – zum Ärger der Oberen. Atlantis stand unter der direkten Aufsicht eines Cherubim, eines arkonischen Wächters über das Gleichgewicht.

Seitdem lebt Riitas auf der Erde, versteckt unter den Menschen. Früher war er ein Aussenseiter zwischen den primitiven Kulturen auf dem heute Amerika genannten Kontinent. Sein Äußeres ist dem der durch Kolumbus Indianer genannten Völker ähnlich, doch nicht vollkommen gleich. Für die Indianer war er eine Legende die sie nicht wagten aufzuschreiben. Wanderer nannten sie ihn. Für sie war er ein stiller Geist, geschickt vom großen Manitu um zu kontrollieren ob sie im Einklang mit der Natur lebten. Riitas war das recht – jedes Mal wenn er in ein Dorf kam gab es ihm zu ehren ein Festmal. Opfer- und Bestechungsgaben lehnte er ab. Es reichte ihm, wenn er Nahrung bekam, auch wenn er durch den Fluch der Verbannung nicht verhungern kann.

Sein Leben wurde erst kompliziert als die Spanier kamen. Die Unstimmigkeiten zwischen Siedlern und Ureinwohnern waren unangenehm und Riitas war längst nicht mehr so willkommen in den Dörfern. Ein Siedler schoss ihn an, vor den Augen der Indianer. Da er blutet wie jeder normale Mensch erkannten sie, dass er kein Geist war. Für manche Stämme wurde er ein Gejagter. Ein weiteres Mal war er verstoßen und verbannt worden.

Riitas nutzte seine Chance und fuhr als blinder Passagier mit einem Schiff nach Eurasien. Der Kontinent war geteilt worden in Europa und Asien. Die Menschen hatten anscheinend Langeweile gehabt.

In der heutigen Neuzeit lebt Riitas in Deutschland, führt ein gewöhnliches Leben als Mensch. Hier ist er nichts besonderes, nur ein Mensch unter vielen, doch auch hier wandert er. Selbst wenn er in der Anonymität einer Großstadt einfach untergehen würde, er kann nicht riskieren, dass jemand seine Unsterblichkeit mitbekommt. In dieser global medialen Welt wäre seine Existenz eine der größten Schlagzeilen die es jeh gegeben hat – und würde seine Chancen jemals ins arkonische Reich zurückkehren zu dürfen vollends vernichten. Riitas bereut seinen Fehler. Er gibt sein Bestes, um seine Sünde zu begleichen. Doch das wird nach seiner eigenen Einschätzung sicherlich noch eine sehr lange Zeit dauern.

Aber er arbeitet hart an seinem Ziel. Derzeit als ehrenamtlicher Koch für eine Obdachlosentafel. Jeden Tag schafft er aus den Spenden der umliegenden Supermärkte warme Mahlzeiten für die Menschen, die sich ein Essen sonst nicht leisten können. Die Dankbarkeit der Menschen motiviert ihn jeden Tag aufs Neue. Doch es ist traurig zu sehen, dass viele der Menschen die zu ihnen kommen eigentlich noch voll leistungsfähig sind. Sie könnten Geld verdienen und ihr Leben ohne Sozialhilfe leben. Doch sie haben die Hoffnung verloren, jemals wieder ein sicheres Leben führen zu können.

Der neueste Zugang an der Tafel macht Riitas besonders große Sorgen. Ein junges Mädchen, keine fünfzehn Jahre alt. Riitas hat nachgeforscht und ihre Geschichte in Erfahrung gebracht. Nach einem Streit mit ihrer Mutter hatte diese ihre Tochter vor die Tür gesetzt. Den Grund für den Streit verrät sie nicht, doch Riitas vermutet, dass die Schuld bei beiden liegt und jede für sich zu stolz ist um ihre Teilschuld einzugestehen. Solche Geschichten kennt Riitas in Massen. Aber dennoch geht ihm diese Geschichte besonders nah, vielleicht weil es ihn an sein erstes Leben erinnert. Auch er hatte einen Streit mit seinem Eltern und deswegen sein Elternhaus verlassen. Er hatte sich damals auch nicht eingestehen wollen, dass er selber Schuld war an seiner Situation. Erst als er starb, einsam und verlassen im Winter erfroren gestand er sich seine Schuld ein und bat seine Eltern im Stillen um Vergebung. Ob es diesem Mädchen wohl auch so ergehen wird? Er kann nicht sehen, was der Tod für sie geplant hat. Nicht mehr.

Wenn Riitas nicht arbeitet streunt er durch die Stadt. Er hat keinen festen Wohnsitz, er wohnt mal hier, mal dort, mal auf der Straße. Heute ist es spät geworden. Es gab eine unerwartete Spende eines der größten Lebensmittelvertriebe in der Stadt. Es hat lange gedauert, alles in Lager und Kühlhaus unterzubringen. Viel Platz stand ihnen nicht zur Verfügung. Doch es war geschafft und Riitas hat Feierabend. Es ist eine warme Sommernacht. Er hat sich vorgenommen, in dem Park nicht weit von der Tafel zu schlafen. Er wird kein Dach über dem Kopf brauchen. Der Park liegt ruhig vor ihm, keine anderen Menschen sind zu sehen. Er kennt den besten Platz für einen ruhigen, ungestörten Schlaf. Ungesehen bricht er das Verbot des Verlassens der Wege und verschwindet zwischen den Büschen. Fast überall in der Grünanlage gibt es Wege, nur in diesem Bereich nicht. Es ist eine Ruhezone für die Tiere des Parks – und für wenige eingeweihte Obdachloser ein angenehmer Zufluchtsort in der Nacht. Nur an wenigen Plätzen werden Obdachlose geduldet, Schlafplätze gibt es noch weniger. Die speziellen Übernachtungsmöglichkeiten für die Menschen ohne Zuhause sind schnell voll. Die Bettenanzahlen sind begrenzt – zu wenig für die ungezählten Massen der Vagabunden. Und es gibt nur wenig legale Alternativen.

Der Platz im Park ist ein illegaler Aufenthaltsort, doch genauso unentdeckt. Die Parkwächter bekommen eingeschärft niemals dorthin zu gehen – die Tiere dürfen ja nicht gestört werden – Zugunsten der Obdachlosen.

An diesem Abend ist bereits jemand hier, bevor Riitas dort ankommt, ein Mann und eine Frau. Auf den ersten Blick sehen sie aus wie ein Pärchen, doch bei näherem Hinsehen fällt auf, dass etwas nicht stimmt. Der Mann ist über die Frau gebeugt, die Frau ist nackt, ihre Kleider liegen zerrissen neben ihr und sie bewegt sich nicht. Langsam geht Riitas näher an die beiden heran. Ein trockener Zweig knackt unter seinen Füßen. Der Mann dreht sich zu ihm um. Sein überraschter Gesichtsausdruck wird zu einem dreckigen Grinsen. Riitas kennt dieses Grinsen, kennt diesen Mann. Vor langer langer Zeit hat er ihn gejagt. Luzifos, ein abtrünniger Engel der gegen die Arkoni arbeitet. Er ist einer der Mächtigsten unter den sjia, verfolgt von den Racheengeln, doch gerissen, so dass ihn bisher niemand fangen konnte. Schon oft standen Riitas und Luzifos sich gegenüber, ebenbürtig, doch nun waren die Blätter anders verteilt. Riitas ist machtlos, während Luzifos noch immer der Gleiche ist. Doch das Gefährlichste ist die Tatsache, dass Luzifos die Macht hat Riitas mitsamt seiner Seele zu vernichten – selbst der Fluch der Verbannungsunsterblichkeit kann ihn nicht retten.

„Sieh an, der ausgesetzte Jagdhund Sorrias.“, sagt Luzifos höhnend. „Ich höre, du hast Wirua gebissen? Dummes Hündchen!“ Wäre Riitas noch ein Racheengel, er hätte Luzifos längst angegriffen. Doch Luzifos wusste um seinen Zustand, darum riskierte er überhaupt so eine große Lippe.

„Was Sorria wohl denken wird, wenn ich ihren kleinen Liebling umbringe? Was denkst du? Ups, du kannst ja nicht sprechen!“ Riitas hätte diesem arroganten Verräter zu gern geantwortet. Doch den favoritären Status hatte er schon vor langer Zeit verloren. Er ist sich sicher, der Herrin wird es egal sein was ihm zustößt. Sie hat ihn sicher längst vergessen.

Langsam weicht Riitas zurück. Seine einzige Chance Luzifos zu entkommen ist die Flucht in eine Menschenmasse. Doch er befindet sich Nachts in einem verlassenen Park, weit entfernt von auch nur der kleinsten Menschenansammlung. Aber er muss es versuchen. Er hat nicht vor sich kampflos seinem größten Feind zu ergeben – schon gar nicht so lange dieser weiterhin versucht die Herrin zu vernichten.

Riitas denkt nach, wie er Luzifos stoppen kann. Sein Gegner ist ein Arkoni der sich stark auf seine Kräfte verlässt – seine physischen Kräfte sind also schwach. Außerdem neigt er dazu, grobe Fehler zu machen, wenn er sich überlegen fühlt – gute Möglichkeiten für einen Angriff. Zuletzt spielt Luzifos gerne mit seinem Opfer – perfekte Gelegenheit seine Überheblichkeit gegen ihn Selbst zu wenden. Riitas hat sich nie nur auf seine arkonischen Kräfte verlassen. Physisches Training gehört seit seinem Dasein als Mensch zu seinem Alltag. Seine Überlegenheit in diesem Punkt muss er ausnutzen. Er muss nur nah genug herankommen – und die Chance kommt schneller als erwartet.

„Lauf doch nicht weg, Hündchen!“, ruft Luzifos herausfordernd. Er hebt dem Arm und sammelt Energie. Riitas erkennt sein Vorhaben: Ein Blitzschlag. Die Schwäche dieser Technik ist es, dass sie recht ungenau ist, da ein Blitz niemals eine gerade Linie zieht. Nur wenige können die Verlaufsbahn anhand der Luftschwankungen berechnen. Die Mathematiker unter den Arkoni. Luzifos gehört nicht dazu. Er nutzt diesen Angriff nur um mit Riitas zu spielen. Dieser duckt sich und hechtet zur Seite. Der Blitzstrahl endläd sich zu seinem Glück in die entgegengesetzte.

„Glückspilz!“, grinst Luzifos und macht sich zu seinem zweiten Schlag bereit. Diese Pause nutzt Riitas. Mit aller ihm zur Verfügung stehenden Kraft stürzt er sich auf seinen Angreifer, reißt den unvorbereiteten Mann zu Boden und nagelt ihn fest. Die gesammelte elektrische Energie entlädt sich in den Himmel. Luzifos hat der Angriff überrascht, doch er fängt sich schnell und wehrt sich, doch gegen das Gewicht voon Riitas' Muskelmassen kommt er nicht an. Er versucht es mit seinen arkonischen Fähigkeiten, doch er wird gestoppt. Das Gras auf dem er liegt beginnt sich um den Körper des Abtrünnigen zu ranken und ihn flach an den Boden zu ketten. Die Nutzung der speziellen Fertigkeiten benötigt spezielle Bewegungen des Körpers. Der gefesselte Engel ist bewegungsunfähig und somit wehrlos.

Riitas sieht seinen Retter an. Ein Todesengel, gekommen um die Seele des toten Mädchens abzuholen, hat die Seelenebene verlassen und sich in den Kampf eingemischt. Riitas, dessen Kraft nun nicht mehr nötig ist um Luzifos festzuhalten, steht auf und entfernt sich von seinem durch Blätter zum Schweigen gebrachten Erzfeind. Erst jetzt kommt er dazu, sich das Opfer Luzifos genauer anzusehen. Sein Atem stockt. Es ist das Mädchen, dass jeden Tag zur Obdachlosentafel kommt. In Zukunft wird sie nicht mehr kommen. Für sie kommt jede Hilfe zu spät. Nun wird auch sie nie mehr die Chance haben, ihrer Mutter in die Augen zu sehen und sich bei ihr zu entschuldigen. Ein trauriges Ende ihrer Geschichte.

„Ich habe erwartet einen Abtrünnigen hier zu treffen, da es ein ungeplanter Tod ist“, sagte der Todesengel. „aber dass ihn ein Verbannter gefangen hat überrascht mich.“ Mehr als zustimmend nicken konnte Riitas nicht. Er selbst hat nicht erwartet, jemals in eine solche Situation zu kommen. Weder als vollwertiger Arkoni, noch als Verbannter.

Eine weitere Person landet hinter dem Todesengel. Ein jugendliches Mädchen mit blondem Pferdeschwanz bis zu den Knöcheln und großen reinweißen Flügeln auf dem Rücken – die Herrin Sorria persönlich. Ehrfürchtig fällt Riitas vor ihr auf die Knie und streckt die Arme mit den Handflächen nach außen vor ihr aus. Es wird nicht von den Arkoni verlangt sich vor ihren Herren zu verbeugen, aber die Treue bringt diese Geste dennoch hervor. Der Todesengel verbeugt sich nur leicht, da ein Kniefall den Fesslungszauber auf Luzifos lösen würde. Der Blick der Herrin fällt nicht zuerst auf Luzifos, sondern auf Riitas. Dieser spürt plötzlich ein seltsames Gefühl in seinem Hals und beginnt zu Husten. Es ist, als liegt Staub auf seinen Stimmbändern, den er unbedingt loswerden muss.

„Sprich, Riitas, was ist hier vorgefallen?“, bittet die Herrin. Es ist kein Befehl, das kann Riitas an ihrer Stimme hören. Die Herrin befiehlt nur in Notzeiten. Dennoch, Riitas spricht, zum ersten Mal seit seinem Fehler. Er gibt ihr einen ausführlichen Bericht über die Geschehnisse an diesem Abend. Sie hört ihm geduldig zu und betrachtet dabei den Tatort. Es ist, als würde sich die Szene in ihren endlosen grünen Augen abspielen.

„Du hast mutig und richtig gehandelt.“, spricht sie, nachdem Riitas seinen Bericht beendet hat. „Es zeigt mir, dass du in all dieser Zeit deine Treue zu mir beibehalten hast.“ Sie sieht Riitas direkt in die Augen. „Ich gebe dir das Recht des Arkoni zurück.“ Als wenn ein Schalter umgelegt wird fühlt Riitas sich wieder wie früher – als wäre er nach einer Wiedergeburt neu erwacht. „Bring Luzifos bitte nach Arkon in den Raum der Unendlichkeit der jallrgjon zugeordnet ist.“ Sie geht an dem vollständig gefesselten Gefangenen vorbei. „Melde dich bitte anschließend bei mir.“ Ein letztes Mal sieht sie Riitas an. „Ich habe Arbeit für dich.“ Die Herrin breitet ihre Flügel aus und fliegt davon in den sternenklaren Nachthimmel. Riitas senkt den Kopf zu Boden.

„Jawohl, meine Herrin.“, flüstert er leise. Seine Verbannung hat ein Ende – er kann dorthin zurückkehren, wo er hingehört.

Todes Wahnsinn

Sie kommt jeden Tag in das Lebensmittelgeschäft in dem ich arbeite. Sie, das hübsche Mädchen mit den roten Haaren und den großen himmelblauen Augen. Ich arbeite jeden Tag, nur um sie zu sehen. Ich liebe sie. Wie sie sich bewegt, wie sie geht, wie sie steht, alles an ihr ist vergötterungswürdig. Ihr zierlicher, wohl geformter Körper der den Eindruck macht als würde er zerbrechen wenn man ihn berührt. Wie eine Figur aus Kristallglas die lebt und geht, weckt Phantasien in mir die ich niemaks irgendwem, schon gar nicht meinen Eltern und erst recht nicht meinen Freunden mitteilen würde. Niemand weiß etwas von meinen Gedanken. Niemand weiß, dass ich dieses Mädchen liebe. Ich habe bisher nicht gewagt es ihr zu sagen, es irgendwem zu sagen. Sie hat etwas überirdisches an sich, was mich davon abhält mit ihr zu sprechen. Als wäre sie kein Mensch.

„Träum nicht!“, mahnt mich meine Chefin, als ich auch heute in Tagträume versinke nachdem ich meine Geliebte erblickt habe. Es ist gemein, wo ich doch nur zehn Minuten am Tag habe, in denen ich sie sehen kann. Ich weiß nicht wo sie wohnt, wo sie herkommt. Warum sie jeden einzelnen Tag in den Laden kommt, anstatt Lebensmittel auf Vorrat zu kaufen. Was mit den sechs Flaschen Ramune, einer sehr süßen Limonade aus Japan, die sie jeden Tag kauft passiert. Vermutlich wird sie sie trinken, auch wenn sie nicht danach aussieht. Sie kauft eigentlich fast nur Süßigkeiten. Sachen die genauso süß sind wie sie.

Meine verlangenden Tagträume scheinen immer schlimmer zu werden. Ich bilde mir ein, dass sie auf mich zu kommt. Mein rothaariger Engel mit der glitzernden Aura um sich herum. Sie sieht mich direkt an.

„Entschuldigen sie?“, fragt sie zögernd. Ihr Blick ist schüchtern zu Boden gerichtet. „Sie haben so viele asiatische Lebensmittel in ihrem Laden – Haben sie auch süßes Bohnenmuß?“

Antworten ist unmöglich. Mein Mund weigert sich zu sprechen. Wie in Trance greife ich in das Regal neben mir, nehme das in Plastik verpackte süße Muß und reiche es ihr, bedacht sie nicht zu berühren. Wenn ich sie berühre, ist das mit Sicherheit mein Ende. Mein Herz wird vor Glückseligkeit platzen und mich direkt ins Paradies befördern.

„Vielen Dank!“ Ihr Lächeln raubt mir den Verstand. Ich weiche zurück als sie an mir vorbei greift und noch neun weitere der Päckchen in ihren Einkaufswagen legt. „Wissen sie, mein Mann ist ganz verrückt nach dem Zeug!“, erzählt sie mir. „Aber er ist nun einmal genauso süß wie das Zeug das er futtert.“ Sie dankt mir noch einmal und geht zur Kasse. Ich bleibe stehen – steif wie eine Steinstatue. Meine Liebste ist verheiratet. Vergeben an einen Mann der sich mit Süßigkeiten voll stopft. Ein Mann, der vermutlich nur durch das Leben rollen kann, der einer wundervollen Frau wie ihr nichts bieten kann. Mein Kopf rattert wie eine alte Uhr. Die Zahnräder die meine Gedanken unabhängig von der Zeit antreiben laufen immer schneller, bis sich in meinem Kopf nur noch ein Gedanke befindet: Ich muss sie von diesem Mann befreien!

Ohne zu zögern, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, meinen Arbeitskittel auszuziehen folge ich meiner Liebsten aus dem Laden. Wie ein Schatten folge ich ihr, als sie die schweren Einkaufstaschen die Straße entlang schleppt. Taschen voller ungesunder Dinge die ihren Mann noch mehr aufquellen lassen werden. Viel zu schwer für meinen Liebling. Mich zwickt der Wunsch sie ihr abzunehmen, ihr die schwere Last, die ihr Peiniger ihr aufbrummt abzunehmen. Aber ich werde sie nicht ansprechen. Ich werde aus dem Nichts auftauchen, sagen, dass ich zufällig vorbeigekommen bin und dann ihren Mann umbringen, der sie so sehr quält. Ich kann den schwarzen Schatten der Sorge sehen, der über ihr liegt. Ihr Gang ist schwankend – sie muss erschöpft sein! Sicher ist ihr Mann arbeitslos und sie muss von morgens bis abends arbeiten und nachts noch den Haushalt ordentlich halten, während er auf dem Sofa sitzt und fern sieht! Oh ja, ich habe das Bild dieses Schweins sehr gut vor Augen: unrasiert, verschwitzt, mit aus der Hose quellenden Fettpolstern, das Feinrippunterhemd spannt sich über seinen Fettbrüsten. In der Hand immer eine Bierdose. Mein Hass auf ihn wird mit jedem Schritt den ich in seine Richtung mache größer.

Meine Göttin bleibt plötzlich an einer Ecke stehe. Ich bleibe ein paar Metern entfernt, tue so, als würde ich das Schaufenster vor mir studieren, doch aus den Augenwinkeln heraus beobachte ich meinen Engel. Zwischen uns liegt eine Straße, die nur wenig befahren ist – dafür jagen die Autofahrer hier wie die Irren. Sie darf mich auf keinen Fall sehen, sonst wäre meine ganze Vorstellung dahin. Sie ist jeden Tag zu mir gekommen, um mich um Hilfe zu bitten. Doch sie hat Angst vor ihrem Mann, dass hat sie davon abgehalten mich anzusprechen. Doch heute hat sie es gewagt! Heute hat ihr Hilferuf mich erreicht! Und ich werde ihrem Leid ein Ende setzen!

Möglichst unauffällig beobachte ich sie. Schweigend wartend schaut sie die Straße die zwischen uns liegt hinauf. Ich frage mich, auf was sie wartet. Ihr fauler Mann wird wohl kaum kommen und sie abholen. Vielleicht hat ein Nachbar sie hergebracht? Aber der müsste sie dann ja jeden Tag mitnehmen. Vielleicht eine Arbeitskollegin, mit der sie in der Mittagspause gemeinsam in die Stadt gegangen ist? Schon wahrscheinlicher. Ich werde es jetzt sehen, denn meine Göttin hat begonnen, die Straße hinauf zu winken. Zwischen den Häusern taucht ein junger Mann auf, fast noch ein Teenager. Er bleibt neben ihr stehen und beginnt, sich mit ihr zu unterhalten. Es ist ein unauffälliger Sonderling, das perfekte Mobbingopfer. Nicht viel größer als meine eh schon kleinwüchsige Liebste, mit schwarzen Haaren die in alle Richtungen abstehen. Ein Asiat mit einer dicken Brille die seine Augen aussehen lassen wie die einer Eule.

In mir brodelt es. Die Frage, wer dieser schwache Zwerg ist schwirrt mir im Kopf herum. Er ist so nah an meiner Schönen und unterhält sich ganz frei mit ihr. Ihr Bruder kann es nicht sein, meine Süße ist definitiv keine Asiatin. Nicht ein Funken Ähnlichkeit ist in seinem bleichen Gesicht zu sehen. Adoptiv Bruder vielleicht oder ein Kindheitsfreund. Irgendjemand, den sie schon lange kennt.

Mit stockt der Atem. Der Fremde hat mein Mädchen geküsst! Er hat sie einfach überrumpelt, sie konnte sich nicht einmal wehren! Was für ein Schwein! Dem werde ich eine Lektion erteilen, sich an meine Freundin ranzumachen!

Blind laufe ich los, wütend schnaubend wie ein Stier bei einem spanischen Stierkampf. Mir vorstellend, wie ich ihn zu Brei schlage renne ich über die Straße. Sie gehört mir, nur mir allein! Und nichts kann mich davon abhalten, sie mir zu nehmen!
 

Ungerührt sieht das rothaarige Mädchen zu der Stelle auf einer Hauptstraße, an der soeben ein junger Mann von einem Auto überfahren wurde. Sie weiß, dass er sie verfolgt hat – so wie es gedacht war,

„Ziemlich bescheuert, einfach auf die Straße zu rennen.“, kommentiert ihr asiatischer Begleiter und putzt einen Blutfleck von seiner dicken Brille. „Dein Plan hat funktioniert.“

„Ich hatte keine Wahl.“, der Rotschopf zuckt mit den Schultern. „Wäre es so weiter gegangen, hätte er seine Seele in den Wahnsinn getrieben. Sein Todesplan musste umgeschrieben werden.“

„Hast du den Wahnsinn nicht erst ausgelöst?“, wirft ihr Freund ihr vor.

„Nein, das Potenzial zum Wahnsinn hat er schon durch seine Familie vermittelt bekommen.“, erklärt die junge Frau. „Das Gehirn eines Kindes, das geschlagen und misshandelt wird übernimmt sehr gerne die Kontrolle über die Seele und beeinflusst sie indem es seinen Wahnsinn auf die Seele projiziert.“

„Na und? Du reinigst die Seele doch, wenn sie zu dir kommt.“, argumentiert der Mann. Das Mädchen schnaubt belustigt.

„Wahnsinnige Seelen lassen sich nicht von Todesengeln einfangen, geschweige denn reinigen.“, erklärt sie ihm. „Sie rasten nach ihrem Tod aus und attackieren Menschen. Je mehr Wahnsinn sie aufgenommen haben, desto gefährlicher. Solche Seelen haben schon ganze Planeten vernichtet. Manchmal sind sie so massig, dass das gesamte arkonische Heer mitsamt den Herrinnen aufwarten muss, um sie zu vernichten.“

„Und aus diesem Grund muss also der Tod persönlich eingreifen, um die Entstehung wahnsinniger Seelen zu verhindern.“, fügt der Asiat hinzu und beobachtet halbherzig den Notarzt, der vergeblich versucht den Lebensmittelverkäufer wieder zu beleben. „Weil der von ihm vorbestimmte Tod den Wahnsinn unterstützt hätte.“

„Du hast es erfasst.“ Die rothaarige reckt sich. „Ohne uns Tode würden die Menschen gar nicht erst sterben. Das hat vor unserer Zeit dafür gesorgt, dass die Seelen jegliche Emotionen verloren haben. So hat es die Herrin erzählt.“ Ihr Partner legt nachdenklich die Hand ans Kinn.

„Nehmen wir an, jeder Arkoni war einmal ein Mensch, bis er starb“, murmelt er, „und die Herrinnen sind die Ältesten der Arkoni.“ Ernst sieht er zu seiner Begleiterin. „Wenn Menschen früher nicht sterben konnten, wieso gibt es dann die Herrinnen?“ Zu seiner Überraschung lächelt seine Partnerin milde. Fast wie eine Mutter, die ihrem Kind eine Überraschung verheimlicht.

„Du wirst ihn kennen lernen.“ Verträumt sieht sie zum Himmel. „Er, der uns die Kraft gibt, über Leben und Tod zu entscheiden.“ Dann wird ihr Lächeln zu einem Grinsen. „Komm, gehen wir nach Hause!“ Sie nimmt den jungen Mann an der Hand, zu ihren Füßen erscheint ein schwarz metallener Ring in den sie hineinfallen, ohne dass irgendjemand es sieht.

Erwachen

Elfen und Feen. Vampire und Werwölfe. Engel und Harpyien. Die legendären Kreaturen die der Volksmund geschaffen hat. Sei es nun aus Angst oder Hoffnung, aus Wahn oder Aberglauben. Es gibt keinen Beweis der ihre Existenz belegt. Und dennoch glauben Menschen immer wieder, ihnen begegnet zu sein. Besonders das Engelbild tritt häufig auf.

Ich bin Professor der Psychologie. Es ist meine Aufgabe den Hintergrund dieser Wahnvorstellungen zu erforschen. Derzeit behandele ich einen sehr interessanten Fall in einer Jugendstrafanstalt. Ein sechzehnjähriges Mädchen das im Glauben lebt, sie wäre die Wiedergeburt eines Engels. Sie selbst hat darauf bestanden ins Gefängnis zu gehen. Laut eigener Aussage habe sie im Affekt ihre „Engelsfähigkeiten“ angewendet, als ihr Freund bei einem Banküberfall ums Leben kam, um die drei Bankräuber zu töten „indem sie ihre Seelen vernichtete“. Tatsächlich gibt es keinerlei Hinweise darauf, durch welche Ursache die Männer starben, es scheint aber ein natürlicher Tod gewesen zu sein.
 

„Schreiben Sie wieder einen Artikel über mich?“, fragt das blonde Mädchen, das im Türrahmen steht. Ich habe ihr Eintreten nicht bemerkt. „Ich bin nicht verrückt, auch wenn Sie das gerne der ganzen Welt erzählen.“

„Das ist eine gewagte Behauptung.“ Ein kleiner Blick auf meinen Terminplan sagt mir, dass sie keinen Termin bei mir hat. „Was führt Sie zu mir? Hat der Engel in Ihnen angefangen zu sprechen?“ Meine Patientin verdreht die Augen. Frech und respektlos ist sie geworden. Ich erinnere mich noch an die erste Sitzung. Ganz klein hat sie sich gemacht und schüchtern aus ihren zweifarbigen Augen zu mir hochgesehen. Erstaunliche Augen. Ein Spiel der Genetik. Das Linke ist groß, rund und blau. Das Rechte ist eher schmal und mandelförmig, und die Iris eine durchgängige grüne Fläche ohne Pupille. Dennoch kann sie laut augenärztlichem Befund mit beiden Augen sehen. Ein befreundeter Anatomieprofessor brennt nur darauf das rechte Auge in einer Autopsie untersuchen zu dürfen.

„Der Engel hat nicht gesprochen.“, sagt sie leise. „Er hat jemanden elektrisch gegrillt.“

„So so.“ Es ist nicht das erste Mal, dass Sie aggressive Reaktionen ihrerseits auf den Engel schiebt. „Bitte beschreiben Sie genauer.“

„Ich habe eine neue Zellengenossin bekommen.“ Logisch, die vorherige durfte gestern wegen guter Führung gehen. „Sie meinte die Chefin spielen zu müssen und beide Betten für sich zu beanspruchen: Eines für sich und meines für ihre Puppe.“ Ich erinnere mich, dass ich eine weitere Patientin zugewiesen bekommen habe. Wieder weniger Zeit für den Golfclub. „Ich sollte dann auf dem Boden schlafen. Das habe ich mir aber nicht gefallen lassen und die Puppe auf ihr Bett gelegt, da meinte sie mich angreifen zu müssen.“ Sie zeigt mir Blutergüssen an ihrer Schulter und den Armen. „Was dann passiert ist weiß ich nicht mehr.“ Die gleiche Ausrede. Immer wieder. „Als ich zu mir kam lag die Neue rauchend auf dem Fußboden. Das Mädchen aus der Nachbarzelle meinte, ich hätte auf die Zellenlampe gezeigt und schon wurde sie von einem Blitz aus der Stromleitung getroffen. Sie lebt aber noch.“ Langsam kommt sie näher an den Schreibtisch heran. „Die Blackouts kommen immer öfter. Ich glaube, dass das vollständige Erwachen nicht mehr weit ist.“ Wieder dieser Erwachen-Unsinn.

„Sie glauben also, dass Ihnen bald Flügel wachsen und Sie davon fliegen?“ Ungläubig schüttele ich den Kopf. „Wollen sie wissen was ich glaube?“ Ich brauche keine Antwort auf diese Frage. Menschen wie sie interessieren sich nicht für meine Thesen. Dennoch fahre ich fort: „Meiner Diagnose nach haben sie aus dem Trauma der Unterdrückung durch Ihre dominante Zwillingschwester und der Vernachlässigung durch Ihre Eltern eine dissoziative Persönlichkeitsstörung entwickelt. Der „Engel“ ist ein Mittel zur Selbstverteidigung der immer dann auftritt, wenn Sie nicht mehr weiter wissen.“

„Meine Schwester wurde bevorzugt weil unsere Eltern glaubten sie wäre der Engel.“ Wieder die alte Leier.

„Und wie kommen Ihre Eltern auf solche Ideen? Ich vermute, dass sie durch bereits vorhandene, unbehandelte psychische Erkrankungen in Ihrer Familie beeinflusst wurden. Die Geschichte, dass eine Fremde zu ihnen gekommen ist und sagte, dass sie ein Engelskind bekommen ist doch sehr abwegig. Die Idee werden sie wohl aus der Bibel haben.“ Meine Patientin sieht mich nicht an. Ihr Gesicht verrät nicht, was in Ihren Kopf vorgeht.

„Ich schlage vor, dass wir endlich mit einem Behandlungsansatz für multiple Persönlichkeiten beginnen. Es wird Zeit, dass Sie mit ihrem anderen Ich kommunizieren lernen.“

„Und wie habe ich dann meine Zellengenossin gegrillt?“

„Das war ein dummer Zufall, eine defekte Stromleitung. Ich werde einen Techniker zu Ihnen schicken.“

Schweigend steht sie auf und geht zur Tür. Bevor sie den Raum verlässt dreht sie sich noch einmal zu mir um.

„Ich bin nicht verrückt, bald werde ich es Ihnen beweisen können.“ Dann geht sie. So ein trauriger Fall.

Gerade will ich mit meinem Bericht fortfahren, da höre ich Tumult vom Innenhof. Ich schaue aus dem Fenster hinter mir und sehe eine Gruppe Gefangener die meine Patientin einkreisen. Das ist die Gelegenheit Ihre zweite Persönlichkeit in Aktion zu erleben. So schnell ich kann renne ich nach draußen. Meine Patientin liegt am Boden. Eine kräftige Achtzehnjährige hat sie geschlagen.

„Dein Bodyguard ist weg!“, ruft sie triumphierend. „Jetzt werden wir dir deine hochnäsige Art schon austreiben!“

„Ich habe doch gar nichts gemacht!“, ruft meine Patientin aufgebracht.

„Du hast Brigitte wehgetan!“, kreischt ein Mädchen aus der zweiten Reihe. Sie drückt eine hässliche, auseinanderfallende Stoffpuppe an sich. Wahrscheinlich die neue Zellengenossin. Es ist klar, dass die anderen Mädchen dies als Vorwand sehen meine unbeliebte Patientin zu verprügeln. Ein gut gewählter Ort und Zeitpunkt, die Wärter sind gerade alle zum Mittagessen. Es ist für mich sehr spannend, solches Verhalten in der freien Natur zu beobachten.

„Du wirst dich nie mehr aufspielen!“, ruft die Achtzehnjährige und stürmt auf meine Patientin zu.

In diesem Moment passiert etwas Unglaubliches. Ein goldener Lichtstrahl fällt vom Himmel auf die Angegriffene. Sie richtete sich auf und schwebte über dem Boden. Ihre bisher schulterlangen Haare wachsen unaufhörlich bis ein Haarband aus dem Nichts erscheint und sie zu einem Pferdeschwanz bindet. Ich wage kaum meinen Augen zu trauen. Dem Mädchen erscheint ein rundes Zeichen auf der Stirn und das runde blaue Auge wird grün und nimmt die Form des Rechten an. Ihre ganze Ausstrahlung verändert sich. Und dann kommt das, was ich nie glauben werde. Weiße Flügel sprießen aus ihrem Rücken, ohne die Kleidung zu beschädigen. Ich glaube zu träumen.

Die Angreifer weichen zurück. Das Mädchen mit der Puppe stolpert und fällt auf Ihren Hintern. Die anderen Gefängnisinsassinnen ergreifen die Flucht. Der Engel sieht das Mädchen schweigend an. Was er wohl mit dem Grund für Seine Schmerzen anstellen wird? Dann wendet er sich von ihr ab und kommt auf mich zu. Ein geheimnisvolles Lächeln erscheint auf seinen Lippen.

„Mir sind Flügel gewachsen und nun fliege ich davon.“ Dann breitet sie die weißen Schwingen aus, schlägt kräftig mit ihnen und verschwindet in den Himmel. Nur wenige Sekunden dauert es, bis der Engel, der meine Patientin war, nicht mehr zu erkennen ist.

Seelenende

Sie folgen uns Menschen wie Schatten. Mal sichtbar, mal unsichtbar wachen sie über jene, deren Leben von unsichtbaren Kräften bedroht werden, um sie zu schützen vor denen, deren Macht die der Vorbestimmung der Tode nichtig macht.

Die Menschen glauben, dass jeder von ihnen einen Schutzengel hat. Doch das, was sie als Schutzengel bezeichnen, ist lediglich das Glück, dass sie vor ernsthaftem Schaden in Gefahrensituationen bewahrt. Die Vorbestimmung des Todes kann dieses Glück nicht besiegen.

Aber es gibt Existenzen in diesem Universum, die ihre Macht übersteigen. Wesen, die so alt sind wie der Schöpfer der Engel, vielleicht sogar noch älter. Sie ernähren sich von sterbenden Seelen. Bereitet sich eine Seele auf die Kristallisation vor nimmt sie eine goldene Färbung an und gibt Energiewellen ab, die die Jäger anlockt. Sobald die Seele nur noch ein schimmernder Stein ist, wendet sich das Interesse der Wesen ab und sie entfernen sich wieder. Ein Stein schmeckt ihnen nicht.

Die Herrinnen der Arkoni wünschen die kristallisierten Seelen zurück. Sie werden benötigt, um neue Seelen zu erschaffen. Wie dieser Vorgang abläuft, dass wissen nur sie. Doch sie sind wichtig für den Fortbestand des Lebens im Universum, denn es gibt nur eine begrenzte Anzahl Seelen. Aus diesem Grund werden Schutzengel ausgesandt, um die Menschen, deren Seelen im Sterben liegen bis zu deren Tod zu beschützen. Denn die Wesen können keine Seelen fressen, die noch an einen Menschen gebunden sind.

Mirikua war ein erfahrener Schutzengel. Seit Jahrhunderten schon begleitete sie Menschen bis zum Ende ihrer Seele. Auch dieser Auftrag würde wie immer Verlaufen: in der Nähe der betroffenen Person bleiben, die Fallen der Jäger die zum Tod des Ziels führen außer Gefecht setzen und am Ende des Auftrags dem Menschen beim Sterben zusehen und den Seelenkristall mitnehmen. Doch dieses Mal war der Auftrag ein bisschen anders. Dieses Mal stand Mirikua ein Jungengel zur Seite den sie ausbilden sollte. Raweia hatte gerade erst die Probezeit abgeschlossen. Sie war noch naiv und glaubte wie so viele Neulinge, dass das Dasein als Schutzengel hieß, dass man das Leben der Zielperson verlängert. Einen Tod lernt man erst kennen wenn entschieden wurde, auf welchem Planeten man arbeitet, da man mit dem dortigen Tod zusammenarbeiten muss.

Die Zielperson dieses Auftrags war das verwöhnte Töchterchen eines deutschen Milliardärs, das auf den Namen Chantal hörte. Chantal war ein kluges Kind. Sie wusste mit ihren acht Jahren bereits genau wie sie sich verhalten musste um ihren Vater um den kleinen Finger zu wickeln und zu bekommen was auch immer sie wollte. So bewohnte sie das größte Zimmer im Haus, hatte das Nebenzimmer, das einst das Lesezimmer ihrer verstorbenen Mutter gewesen war in ihren persönlichen Kleiderschrank umwandeln lassen und der noch vor kurzem üppig blühende Wintergarten war nun zu ihrem Indoor-Spielplatz umgebaut, da sie keine Lust hatte sich mit den in ihren Augen niederen Kindern der Angestellten um die Spielgeräte im Garten zu streiten. Alle Bediensteten des Hauses mussten nach ihrer Pfeife tanzen. Wer nicht tat was sie sagt landete schneller auf der Straße als er „Entschuldigung“ sagen konnte. Papa tat alles für sein kleines Mädchen.

Damit sie ihren Auftrag gewissenhaft ausführen konnten hatten Mirikua und Raweia die Chance beim Schopf gepackt und mit einem kleinen bisschen arkonischer Mogelei die frei gewordenen Stellen als Privattutor und persönliches Dienstmädchen für Chantal erhalten. Es war kniffelig, einen Unterricht zu gestalten dem die Göre zuhörte und nicht die Nerven zu verlieren, wenn die kleine Prinzessin keine Lust hatte Mirikuas Anweisungen zu folgen. In solchen Momenten war sie froh, Raweia dabei zu haben. Selbst noch ein halbes Kind verstand sie sich prächtig mit Chantal. Sie hatte es als einfaches Dienstmädchen zur Vertrauten der Zielperson gebracht.

„Chantal fühlt sich einsam.“, berichtete Raweia eines Abends, als sie mal wieder gemeinsam unsichtbar vor den dunklen Fenstern der Villa ihre Kreise flogen. Die Wesen konnten alles durchdringen was durchsichtig war. Fast wie Licht.

„Das ist mir auch schon aufgefallen.“, erwiderte Mirikua. „Wenn ihr Vater den ganzen Tag bis spät in die Nacht arbeitet und sich sonst keiner aus der Familie um sie kümmert ist es kein Wunder.“

„Können wir nicht irgendetwas für sie tun?“ Raweia blickte hoffnungsvoll zu ihrer Mentorin.

„Nein.“ Mirikua schüttelte den Kopf. „Komme niemals einer Zielperson zu nahe.“ Ernst blickte sie ihre Schülerin an. „Sie wird sterben, ob wir ihr helfen oder nicht. Dieser Auftrag liegt allein im arkonischen Interesse.“

„Aber wir sind doch Schutzengel!“, empörte sich Raweia. „Wir sorgen doch dafür, dass sie lebt!“

„Es handelt sich aber nur noch um Tage, bis sie nie wieder erwachen wird.“ Mirikua ließ sich auf dem breiten Fensterbrett vor Chantals Zimmer nieder. „Zwei Tage, dann wird sie sich schlafen legen und sterben.“ Raweia blieb vor ihr in der Luft stehen. Die traurigen Augen erinnerten an einen Dackel. Ja, das war wohl ein passender Spitzname für diesen Frischling. Der Dackel.

„Und wir können nichts dagegen tun?“ Raweia flog zur Seite, als Mirikua einen Strahl aus elektrischer Energie auf sie schoss. Dieser kollidierte mit einer Rauchwolke, die sich auflöste.

„Wir können nur die Seele vor ihnen beschützen.“, antwortete Mirikua und pustete ihren dampfenden Zeigefinger ab wie ein Westernheld seine Kanone. „Die Seelen sind das wichtigste hier. Wenn wir sie verlieren, wird es eines Tages keine Menschen mehr geben.“

„Weil es immer mehr Menschen und immer weniger Seelen gibt?“ Raweia zeigte auf den Boden und zog die Hand dann hoch über ihren Kopf. Ein Dorn aus Erde schoss empor und spießte ein weiteres Wesen auf, das ebenso verschwand wie das Opfer von Mirikua. Anschließend ließ sie die Erde sich wieder glätten, bis nur noch ein gepflegter Stück Rasen vor ihnen lag. Im Hausflügel gegenüber sah sie in einem Fenster die alte Hausdame, die die Mitarbeiter verwaltete, stehen. Sie hielt eine offene Weinflasche in der Hand. Sie starrte mit großen Augen dorthin, wo eben noch ein Berg in den Himmel geragt hatte, dann sah sie auf die Weinflasche und schmiss diese zu Boden.

„Nur weil wir unsichtbar sind, bedeutete das nicht, dass die Menschen unsere Angriffe nicht sehen.“, bemerkte Mirikua und bedauerte innerlich den Verlust des guten Tropfens, den sich die alte Dame nachts immer heimlich einverleibte.

Natürlich griffen die Wesen nicht nur nachts an. Tagsüber war es weitaus schwieriger Chantal zu schützen, ohne dass diese etwas mitbekam. Sie war nicht so leicht hinters Licht zu führen, wie Mirikua es sich wünschte. Erst neulich bemerkte Chantal den leichten Luftzug der als Nebeneffekt auftrat wenn man etwas mit Luftdruck zerdrückte. Raweia hatte zwar schnell das Fenster geöffnet, doch Chantal blieb misstrauisch.
 

An ihrem Todestag brauchte Chantal lange, um wach zu werden. Sie war so unendlich müde. Raweia tat ihr Bestes, um das kleine Mädchen in Gang zu bringen. Sie hatte sich extra viel mit dem Frühstück gegeben. Es würde immerhin ihr letztes sein.

„Ist Papa zu Hause?“, fragte Chantal gähnend. Sie hatte keinen Appetit, auch wenn das Frühstück nur allzu verlockend aussah. Sonst hätte sie eine Szene gemacht und alles vom Tisch geschmissen. Doch an diesem Morgen wollte irgendetwas in ihr brav sein, also begann sie zu essen.

„Dein Vater ist leider noch immer in Los Angeles.“, bedauerte Raweia. „Es gab Komplikationen.“ Sie hatte Mitleid mit Chantal. Ihr Vater würde im Augenblick ihres Todes nicht bei ihr sein.

„Wo ist die Lehrerin?“, bohrte Chantal weiter. Die unsichtbare Mirikua sah Raweia scharf an, damit diese sich nicht verplapperte.

„Sie hat einen wichtigen Termin außer Haus und wird erst morgen zurück sein.“, antwortete Raweia wie abgesprochen. Beruhigt wandte Mirikua sich wieder den Massen an Jägern zu, die vor dem Fenstern lauerten. Aus der Routine heraus vernichtete sie mit jedem Schlag zwischen fünf und zehn Jäger. Doch es wurden nicht weniger. Immer mehr der Rauchgestalten drängten auf die kleinen Fenster des Raumes zu.

„Dann will ich heute im Garten spielen!“, verlangte Chantal.

„Der Wintergarten wird noch umgebaut.“, entgegnete Raweia. „Ich fürchte, dort ist es zu gefährlich.“ Die Schutzengel hatten sich abgesprochen, das Mädchen auf keinen Fall aus dem Haus zu lassen. Das würde mehr Angriffsfläche bedeuten.

„Dann will ich nach draußen!“ Chantal blieb stur.

„Draußen ist es zu kalt!“, mahnte Raweia. „Ihr würdet euch erkälten!“

„Das ist mir egal!“, rief Raweia. „Entweder du bringst mich raus oder Papa feuert dich!“

„Dann werde ich eben gefeuert!“, erwiderte Raweia. Es war sowieso ihr letzter Tag auf der Erde. „Deine Gesundheit ist mir wichtiger! Es könnte dein Leben verkürzen, wenn du nun rausgehst!“

„Ich will aber raus!“, schrie Chantal mir hochrotem Kopf. „Ich will! Ich will! Ich will! Ich will!“ Und sie trommelte mit den Fäusten auf die Tischplatte. Doch Raweia blieb stur. Da sprang Chantal auf den Stuhl und riss das Tischtuch mitsamt Frühstück und Geschirr vom Tisch.

„Ich will aber!“

Raweia schüttelte nur den Kopf. Sie sah aus den Augenwinkeln zu Mirikua hinüber, die mit aller Kraft beide Fenster verteidigte. Zu ihrem Glück waren die Wesen nicht intelligent. Sie handelten rein instinktiv und stürzten sich wie tollwütige Raubtiere direkt auf ihr Ziel.

Chantal begann inzwischen nur noch spitze Schreie von sich zu geben und schmiss die Einrichtung durch das Zimmer. Dabei ging eine sündhaft teure Vase aus Japan zu Bruch. Doch das würde nicht ihr Problem sein. Leichtfüßig wich Raweia den Wurfgeschossen aus, die sie als Ziel hatten, aus. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie müde wurde und sich zum letzten Mal zur Ruhe legen würde. Der Schutzengelpraktikant war fest entschlossen, sich das Schicksal der Kleinen nicht zu Herzen zu nehmen.

Es dauerte Stunden, bis Chantal sich beruhigte. Vollkommen entkräftet lag sie am Ende ihres Wutanfalls mitten im Esszimmer, die Augen rot vom Weinen.

„Warum ist Papa nicht da?“, wimmerte sie. „Warum ist Papa nie für mich da?“ Raweia kniete sich nieder und nahm sie in den Arm. Kraftlos sprach sie ihre letzten Worte: „Bitte sag Papa, dass ich ihn lieb habe.“ Dann schloss sie die Augen und auch der letzte Funke Lebenskraft wich aus ihrem Körper.

Der Angriff der Wesen endete von einer Sekunde auf die nächste. Gerade rechtzeitig, denn Mirikua befand sich am Ende ihrer Kräfte. Schwer atmend machte sie sich wieder sichtbar. Der Schweiß rann ihr die Schläfen herab. Müde betrachtete sie ihre Praktikantin. Raweia saß zusammengekauert auf dem Teppich und umklammerte den leblosen Körper ihrer Schutzbefohlenen.

„Ich wollte nicht weinen.“, schluchzte sie. Mirikua lächelte nachsichtig.

„Jeder weint beim ersten Mal.“



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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Von:  YoruHarusame
2009-03-16T11:11:07+00:00 16.03.2009 12:11
Also hier dein Kommi...
Als wenn du ihn nicht schon wüsstest oO
Ist dir gut gelungen :)
Mir gefällt es auf jeden Fall sehr gut ^^
Von:  YoruHarusame
2009-01-17T17:10:40+00:00 17.01.2009 18:10
Mach weiter *_*
Die ist toll~ *_*


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