„Johannes, aufstehen, du musst zu Tobi!“
Wer hätte es gedacht? Als ob er Samstag morgens irgendwo anders hinginge.
„Ja, ich weiß.“ Müde krabbelte er aus dem Bett und stellte überrascht fest, dass er nur noch eine halbe Stunde Zeit hatte. Vielleicht sollte er sich ein bisschen beeilen. Oder auch nicht, Tobi vermisste ihn sicher nicht.
Genau wie letzte Woche ließ ihn Sarah ins Haus – dieses Mal im grünen Schlafanzug –, er klopfte an Tobis Zimmertür und wartete. Keine Reaktion.
Entweder stellte sich Tobi tot, um nicht von ihm genervt zu werden oder... er war gerade mit seinem Typ beschäftigt und bekam deshalb nichts mit. Na toll, eigentlich wollte er so etwas nie wieder sehen, gestern Abend hatte völlig gereicht, aber zweieinhalb Stunden lang vor einer unheimlich spannenden Tür zu stehen gehörte nicht unbedingt zu seinen Lieblingstätigkeiten.
Extrem langsam drückte Johannes die Klinke hinunter und spähte in den Raum. Oder versuchte es zumindest, denn es war so dunkel, dass er nicht einmal das Chaos im Zimmer sehen konnte, wie schade.
„Huhu, jemand zu Hause?“, fragte Johannes und drückte nach einiger Zeit schließlich auf den Lichtschalter, um sich selbst eine Antwort zu geben.
„Mann, mach das verdammte Licht aus“, plärrte plötzlich jemand aus Richtung Bett und überrascht kam Johannes sogar dem Befehl nach. Anscheinend befand sich momentan doch ein Bewohner hier drin. Und hoffentlich nur einer.
„Wie soll ich mich hier zurechtfinden, wenn ich mir gleich den Fuß breche? Fliegen kann ich leider noch nicht, Schlaukind.“ Das wüsste er.
„Dann lern es und sei still, ich will pennen.“
Vorsichtig suchte Johannes sich einen Weg bis zum Fenster, krachte dabei in einige herumliegende Gegenstände und erreichte erleichert sein Ziel. Kurz tastete er an der Wand entlang, bis er das Band zum Öffnen des Rollladens fand und daran zog, damit er wenigstens unbeschadet durch das Zimmer latschen konnte. Ein Erfolg.
Nun erkannte er außerdem, dass Tobi allein in seinem Bett lag. Trotzdem beruhigte das Johannes nicht, denn sein 'Fan' sah wirklich aus, als hätte ihn sein Neuer die gesamte Nacht durchgenommen. War der Alptraum vielleicht doch real gewesen oder war er der neue Hellseher? Dann sollte er sich schnell bei Uri Geller bewerben.
„Was glotzt du mich schon wieder an? Machen dich Jungs in Kleidern doch geil oder was? Ich bin doch kein Porno!“
„Das glaubst auch nur du.“ Manche Leute würden sich sicher über so ein Angebot freuen, aber eher er sich selbst beim Gedanken an Tobi einen runterholte, ließ er sich lieber in die Psychiatrie einweisen oder machte ein Praktikum im Kindergarten. „Willst du vielleicht mal aufstehen? Wir sollten langsam Englisch lernen, dafür bin ich ja da.“ Gezwungenermaßen, außerdem wollte er das nicht, weil er – wie Tobi gerne meinte – Streberlein der Nation spielte, sondern weil er irgendetwas tun wollte statt dauerhaft Nervfischi beim Gammeln zu beobachten.
„Junge, kannst du knicken. Ich war gestern bis fünf Uhr weg, bin total müde und wahrscheinlich noch nicht ganz nüchtern.“ Die erste gute Selbsteinschätzung von Tobi Lohr.
„So sieht auch aus. Ist mir aber egal, dein Problem, wenn du nicht früh genug nach Hause gehst. Du stehst jetzt auf, sonst schalte ich das Licht an und nehm dir die Decke weg“, drohte Johannes genervt und ging ein paar Schritte auf Tobi zu, der das überhaupt nicht nett fand, sich aber trotzdem aus den Federn quälte, zum Schreibtisch schleppte und auf einen Stuhl pflanzte.
„Geht doch“, meinte Johannes zufrieden, setzte sich zu ihm und musste erkenne, dass sein kleiner Sieg gegen Tobi nichts gebracht hatte, weil dieser so aufmerksam war wie ein Fisch in der Vorschule. Er benutzte nämlich wieder Johannes als Kopfkissen und reagierte auf gar nichts mehr. Juhu.
„Tobi, wach auf!“ Johannes bewegte seinen Arm etwas hin und her, damit gewisse Personen nicht für immer und ewig an diesem kleben blieben, nur leider funktionierte das nicht unbedingt so wie geplant; Tobi rutschte einfach ein ganzes Stockwerk tiefer, lag nun halb auf Johannes Schoß und machte das Lernen endgültig unmöglich.
„Super gemacht, ignoranter Zwerg.“ Konnte der Junge nicht wie früher ihn schlagen statt zu belästigen und einzuengen mit seinen unmännlichen Anfällen? Hatte er nicht seinen doofen Freak, der auf solche merkwürdigen Dinge stand?
Egal, zuerst musste er Tobi ins Bett zurückbringen; bei seinem Glück kam sonst irgendjemand ins Zimmer, interpretierte die Szene falsch und erlitt einen kleinen – oder etwas größeren – Schock. Besser nicht.
Behutsam packte er Tobi unter den Armen, zog ihn in die Höhe und verfrachtete ihn wieder in sein tolles – das Ding war echt gemütlich – Bett. Mission erfüllt, theoretisch konnte er nun nach Hause gehen, sich langweilen und Tanja auf den Keks gehen, weshalb sie ihn gestern einfach allein gelassen hatte. Immerhin hatte er dadurch – und durch andere Faktörchen – beinahe ein Trauma erlitten. Oder so etwas Ähnliches.
Allerdings könnte seinen Pseudonachhilfelehrer auch wegen gestern ausfragen. Wenn er überhaupt zuhörte und antwortete.
„Tobi?“
„Hm?“, murmelte es zurück.
„Was war das gestern für eine bekloppte Aktion mit dem Typ auf der Party?“
„Hä?“ Tobi schien nachzudenken. „Ach so, das meinst du. Hast uns ja fast die ganze Zeit beobachtet und dabei ziemlich böse geguckt. Willst du nicht zugeben, dass du eifersüchtig bist?“
„Warum sollte ich etwas zugeben, was ich gar nicht bin?“ Das Gespräch verlief ja wirklich großartig, also genau wie immer. „Außerdem hast du mich auch öfters sehr blöd angestarrt.“
„Komm, wenn an einem wie dir so ein kleiner Junge hängt, darf man ja mal gucken, oder?“
„Der hat sich selbst eingeladen und wollte nicht mehr verschwinden.“ Manche Menschen gehörten nun mal nicht auf solche Veranstaltungen. „Und du bist jetzt mit deinem Typen für die nächsten zwei Wochen zusammen oder hat er endlich gemerkt, dass du doch kein Mädchen mit komischen Komplexen bist?“
„Mit dem Jungen will ich gar nicht zusammen sein“, brummte Tobi abweisend. „das ist Javier aus der 11., außer gut aussehen kann er nicht wirklich viel. Und er spinnt voll, glaubt an Geister und so ein Zeug, wahrscheinlich hält er sich selbst für den Kaiser von China. Nein, auf Gestörte kann ich echt verzichten, die sind höchstens als Ersatzlösung gut.“
„Wow, und ich dachte, du nimmst jeden, der sich nicht schnell genug versteckt.“
„Du und dein Wunschdenken, damit du dir auch Chancen ausrechnen kannst. Noch irgendwelchen schrottigen Behauptungen oder Fragen von dir?“
„Habt ihr miteinander geschlafen?“ Wenn man schon fragen durfte, dann nutze man das gefälligst auch!
„Hallo?“ Empört setzte sich Tobi auf – hatte er eben nicht noch einen auf Dornröschen gemacht? – und funkelte Johannes an. „Zum tausendsten Mal für dich zum Mitschreiben: Ich bin keine dumme Schlampe, weder für Javier, für dich oder sonst irgendeinen Idioten in diesem Universum, gecheckt? Langsam glaub ich echt, du willst, dass er und ich was miteinander anfangen, damit du dich darüber aufregen kannst.“
„Stimmt doch gar nicht“, verteidigte sich Johannes sofort, „aber was kann ich dafür, wenn es so aussah, weil ihr stundenlang nicht anderes zu tun hattet als gegenseitig an euch rumzumachen.“
„Okay, halt mal kurz die Klappe und komm her.“ Tobi klopfte auf den klitzekleinen Platz zwischen sich und der Bettkante und Johannes erwartete fast, dass er ihn mit einem 'Putt, putt, Hühnchen' zu locken wollte. Zutrauen würde er es ihm.
Misstrauisch platzierte er sich neben Tobi, der ihn kurz prüfend musterte und plötzlich anfing hinterhältig zu grinsen. Irgendetwas plante dieser Chaot wieder.
„Damit du wirklich einen Grund hast, dich aufzuregen“, warnte er Johannes vor und drückte ihm einen Kuss auf den Mund. „Los, beschwer dich.“
„Äh...“, brachte Johannes nur überrumpelt heraus. „Ich glaube, ich geh mal nach Hause.“
„Bleib doch da, gerade wird’s lustig.“
„Nein, lieber nicht, bis Montag, tschüss.“ Konnte man Sonnenstiche in geschlossenen Räumen bekommen? Tobi war ein eindeutiges Opfer davon.
Überstürzt verließ Johannes das Zimmer, rannte dabei beinahe Sarah um und lief schnell nach Hause. Nein, er würde nicht über Tobis neuste Dummheit nachdenken, auf keinen Fall, dazu war er zu zivilisiert.
Wieso hatte ihn dieser Hohlkopf geküsst? Und wieso redeten sie über so einen Schrott wie Tobis Sexualleben, das ging doch 99% der Menschheit am Arsch vorbei!
Mehr als ein wenig verwirrt sauste Johannes in die Küche, leerte eine ganze Wasserflasche, um sich abzulenken, bis ihm die verdächtige Stille im Haus auffiel.
Dass man von Vera nichts hörte, leuchtete ihm ein, die hing die ganze Zeit bei ihrem Freund, dessen Namen er immer noch nicht auswendig konnte, herum und seine Eltern veranstalteten sicher auch nicht eine Lautstärke einer Grundschulklasse, aber Kevin hörte man meistens. Oder eher seinen besten Freund, die Glotze.
Seine Eltern sollten wirklich bald mit Kevin zum Arzt fahren, er hatte zwei Tage hintereinander etwas Besseres zu tun als sich zu verdummen. Apokalypse die zweite!
„Ah, Johannes, du bist ja schon da.“ Seine Mutter kam mit einer ihrer super mega tollen Frauenzeitschriften in der Hand in die Küche gelaufen, um sich einen Stift aus der Küchenschublade zu holen – sicher für ein verdammt einfaches Kreuzworträtsel. „Stell dir vor, dein Bruder ist heute freiwillig zum Frisör gegangen.“ Sie strahlte richtig.
Oh nein, der Weltuntergang nahte tatsächlich.
Tobi knutschte ihn fast ab.
Sein Bruder ging zur interessantesten Sendezeit im deutschen TV zum Frisör, obwohl er das höchstens einmal in einem Jahrtausend tat und eher gezwungen als etwas Anderes wurde.
Was kam wohl als nächstes?