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der Mann im Wolfspelz

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Der Mann im Wolfspelz

Der Leichnam lag an einem Hang oberhalb des Dorfes. Es war der einer jungen Frau, kaum sechzehn Jahre alt.

Einige der Kräftigsten und Tapfersten des Dorfes wurden zur Stelle gerufen, doch kaum einer konnte beim Anblick, der uns bot, sein zuletzt zu sich genommenes Mahl bei sich behalten. Es war ein einziges Massaker. Der Körper lag in einer riesigen Blutlache, er war völlig ausgeweidet. Ein Arm fehlte, später fand man ihn in einer fünf Meter entfernten Hecke.

Dies konnte nicht das Werk eines Menschen gewesen sein.

Seit einigen Monaten schon waren Personen in der Gegend verschwunden. Zuerst war es eine alte Frau gewesen, die wie so oft zum Wäschewaschen an einen abgelegenen Bach gegangen und nie mehr gesehen worden war. Dann hatte es zwei Männer getroffen, die nach einem Schänkenbesuch nicht mehr heimgekehrt waren. Später einen Knaben und dann eine wohlhabende Frau. Es wurden immer mehr.

Alsbald waren die Gerüchte aufgekommen, Dämonen trieben sich in den Wäldern herum, Geister raubten die Körper Unschuldiger, und letztendlich hatte man den Wölfen die Schuld gegeben. Ich hatte dem allen keinen Glauben geschenkt. Es war doch sicherlich nur das Werk irgendeines Gesindels. Raubmorde. Nichts Außergewöhnliches. Doch jetzt fand man den zerfleischten Leib dieses Mädchens, und es konnte nichts Geringeres als eine Bestie gewesen sein. Die Jäger bestätigten es. Die Wunden waren durch einen gewaltigen Kiefer und riesige Klauen beigefügt worden.

Wölfe.

Nie zuvor war solch ein aggressives Verhalten der Tiere dokumentiert worden, geschweige denn war je bekannt geworden, dass ein Wolf einen Menschen angegriffen hatte, ganz gleich, wie hart ein Winter war. Und nun gehörten Menschen zu ihrer Beute?

Ein Korb mit Buttergläsern wurde nicht weit von der Leiche gefunden. Der Bäcker erschrak: „Ich kenne das Mädchen,“ Er war kreidebleich, wie wohl jeder andere auch. „Sie heißt... Sie hieß Engelstine und kommt aus einem nahe gelegenen Dorf, einen Tagesmarsch entfernt. Sie kam immer wieder her und verkaufte ihre Butter.“

Viele der anderen waren über diese Nachricht sichtlich entsetzt, anscheinend hatten sie die Magd ebenfalls gekannt.

Ärzte waren gekommen, um den Leichnam fortzutragen, die Jäger suchten nach weiteren Spuren, und schließlich erklärte der Fürst Uslars den Wolf zu unseren Todfeind. Er befahl jedem Arbeiter und jedem Bauern, die Wölfe zu jagen und so begann im Jahre 1736 die letzte und größte Jagd auf die Wölfe.

Einige waren von dem Befehl entzückt und so erbittert, dass sie ihre Jagd auf der Stelle beginnen wollten, doch einige waren weniger erfreut. Viele fürchteten sich, wussten aber, dass dem Schrecken ein Ende gesetzt werden musste, doch viele Bauern hatten den Wolf bisher als nützlich angesehen, da er, schädliche Tiere wie Wildschweine und Füchse von ihrem Gut fernhielt. Auch meine Familie zählte zu diesen Bauern. Bisher hatten wir keine Probleme mit dem Wolf gehabt, und ich bezweifelte, dass ein Wolf einem Menschen solche

Wunden zufügen konnte. Doch niemand konnte sich ein noch größeres Tier vorstellen, außer Bären, aber die gab es hier nicht. Nichtsdestotrotz wurde die Jagd zum Gesetz, und wir mussten den Befehlen nachgehen.

Aus meiner Familie waren mein Bruder Albert der Zweitgeborene, und ich, Marius, der Erstgeborene, die Einzigen, die zur Jagd entsandt werden konnten.

Mein Vater war durch die Arbeit längst dahingesiecht, und zwischen uns und den anderen Burschen lagen einige Schwestern, weshalb diese deutlich zu jung für die gefährliche Jagd waren. Wir hatten längst das stattliche Alter erreicht. Mit meinen fünfundzwanzig Jahren hatte ich eine Gemahlin sowie zwei junge Söhne. Mein Bruder war dreiundzwanzig, und auch seine kürzlich angetraute Gattin war guter Hoffnung.

Also wurden binnen eines Monats unzählige Wölfe gejagt und gemeuchelt. Etliche wurden erschossen oder ähnlich grausam wie die arme Engelstine zugerichtet. Doch damit sollte das Grauen nicht wie erhofft ein Ende haben.

Kurz darauf wurde erneut ein Opfer gefunden. Von der Stadtmitte bis hin zum Waldesrand verlief eine Blutspur, und diese führte zu einem stadtbekannten Trunkenbold, zumindest zu dem, was von ihm übrig war.

Von Neuem begann das Grauen. Die Wölfe würden Rache nehmen, riefen die bisher so verbitterten Jäger nun voller Entsetzen, Weiber kreischten und weinten auf offener Straße, und flehten die Männer an, die Bestien zu beseitigen, um der lieben Kinder willen.

Ja, immer mehr bekamen auch Albert und ich es mit der Angst zu tun. Zum ersten Mal waren die Wölfe durch die Stadtmauern ins Innere der Stadt gedrungen. Hatte es sich um Rache gehandelt? Waren einfache Tiere zu so etwas fähig? Waren es tatsächlich Wölfe gewesen? Ein Rudel ausgehungerter Wölfe würde seine Beute doch nicht nur töten ohne sie zu verspeisen. Was ging nur vor in dieser Stadt? Auch die übrigen Bürger begannen, sich dies zu fragen.

Die Wissenschaftler die geschickt worden waren, zweifelten die gemeinen Wölfe ebenfalls an. Zum ersten Mal fiel der Begriff.

Werwölfe.

Werwölfe, oder auch Mannwölfe. Bisweilen hieß es, Werwölfe holten die Toten her und verzehrten sie, aber nicht etwa würden sie selbst für Tote sorgen. Der Sage nach legten Männer den Pelz eines Wolfes an und übernahmen somit seine Kraft und Mordlust. Doch abermals bezweifelte ich, dass ein Mann in Wolfsgestalt, für diese Morde zuständig gewesen sein konnte, ganz gleich, wie blutrünstig er sein sollte.

Einer der Wissenschaftler erzählte uns von seinen Reisen in die nordöstlichen Länder Europas, wo er viele Sagen dieser Gestalten gehört hatte.

Bei dem Werwolf handelte es sich nicht nur um einen Mann in einem Wolfspelz. Es war eine Bestie, die die Größe eines Pferdes erreichen konnte, aufrecht stand und Klauen und Kiefer größer und grausiger als die eines Bären besaß.

Ich war mir nicht sicher, ob ich dem großen Glauben schenken sollte, doch nach dem, was ich gesehen hatte, war ich ratlos.

Verstand hin oder her, Aberglauben hin oder her.

Hier handelte es sich wohl oder übel tatsächlich um etwas, das meine Vorstellung übertraf.

Dennoch wurde die grausame Jagd auf die Wölfe aus Gründen der Sicherheit fortgesetzt, und weiterhin verschwanden Menschen und wurden immer wieder grausam verstümmelt entdeckt.

Nie konnte man sich sicher sein, wann der Nächste Mord stattfinden würde. Manchmal geschah es in einigen Tagesabständen, dann wiederum dauerte es Wochen, und manchmal lag sogar ein Monat dazwischen.

Langsam bemerkte ich, dass mich die Jagden belasteten. In meiner Eitelkeit unterschätzte ich sie, doch spürte ich nun die Veränderungen an meinem Körper und Geist.

Zuweilen fühlte ich mich schwach, trunken, als wäre ich wahnsinnig, dem Veitstanz verfallen. Oftmals fehlten mir die Erinnerungen an vergangene Nächte, vage nahm ich meine Umgebung wahr und wusste die Antwort auf so viele Fragen nicht. Fragte mich jemand, was denn mit mir wäre, wies ich die Person barsch ab. Lange sprach ich nicht über diese Beschwerden, doch eines Nachts, als mein Bruder Albert und ich ein bestimmtes Gebiet auskundschafteten und ich schwankend vom Pferde zu stürzen drohte, erzählte ich ihm von meinen Leiden und dass mein Verdacht auf diese Hetzjagd fiel.

„Lass uns Halt machen, Bruder, sodass du dich ausruhen kannst, denn das was du mir schilderst, sorgt mich“, antwortete er mir, und wir hielten, um zu ruhen.

So verging geraume Zeit, in der wir uns unterhielten, wie Brüder es zu tun pflegen, und auch über die Wölfe und über mein Leiden sprachen.

Plötzlich befiel mich wieder dieser schreckliche Schwindel, ich glaubte, dass mein Kopf zu bersten drohte, ich hörte mich keuchen, ich hörte mich schreien, dann spürte ich die Hände meines Bruders auf meinem Leib, er hielt mich fest, zog mich zurück, er rief mir etwas zu, doch verstehen konnte ich es nicht. Ich nahm kaum mehr meine Umgebung wahr, die Sicht war getrübt und meine Haut durch, wie mir schien, infernalische Hitze versengt. Ein Schrei, ein entsetzlicher Schrei. War ich es, der schrie? Dann war es dunkel.

Als ich erwachte, lag ich nackt auf einer Wiese am Waldesrand. Die Sonne war längst aufgegangen und brannte scheußlich in meinen Augen.

Am ganzen Körper spürte ich grässliche Schmerzen.

Ich hatte das Gefühl, als hätte ich dieses Erwachen schon einmal erlebt, der selbe Schmerz, die selbe Leere.

Ich versuchte, die Geschehnisse zurückzuverfolgen, an die ich mich zuletzt erinnern konnte. Mir fiel ein, dass ich mit meinem Bruder in einem Wald gewesen war, ich entsann mich, dass wieder dieselben Beschwerden aufkamen, wie so oft, und ich mich an nichts weiter zu erinnern vermochte.

Albert. Wo war er? Was war geschehen? Wieso lag ich hier? Völlig unbekleidet und mit lückenhafter Erinnerung an die vergangene Nacht. In meinem Mund hatte ich einen seltsamen, metallenen Geschmack, und an meinen Händen und Armen klebte getrocknetes Blut. Doch hatte ich keine Wunden davongetragen. Dies war fremdes Blut.

Ich beschloss, dass ich zuerst versuchen sollte Kleidung zu finden, um danach Albert zu suchen, um den ich mich nun äußerst sorgte. Was war geschehen? Wessen Blut klebte an mir?

Nach einigen beschämenden Metern, auf denen ich glücklicherweise keinem Menschen begegnete, erspähte ich auf einer Weide einen Schuppen, dem ich mich schnellstens in der Hoffnung auf irgendwelche Bekleidung näherte.

Der Besitzer des Schuppens war nicht in der Nähe, hatte jedoch ein schlechtes Wams hinterlassen. Nachdem ich dieses angelegt hatte, machte ich mich auf die Suche nach meinem Bruder.

Langsam kehrte die Orientierung zurück. Ich befand mich in einem abgelegenen Dorf und war Meilen von der Stelle entfernt, an der Albert und ich geruht hatten. Dennoch hoffte ich, Spuren an dieser Stelle zu finden, und begab mich ohne Rast zu dem Ort, an dem mein Gedächtnis mich verlassen hatte. Als ich endlich den Weg wiederfand, an dem wir zwei entlanggeritten waren, war die Sonne kurz vor dem Untergang. Ich war den halben Tag gewandert.

Wie vermutet, war nichts mehr dort aufzufinden. Die Spuren der Pferde ließen mich jedoch grübeln. Es schien, als wären sie davongallopiert, gar von diesem Ort geflohen. Ich sah mich noch eine Weile um, bis ich weitere Spuren fand. Blut.

Im Gras und an einem Baumstamm hatte ich feine Tropfen entdeckt. Einige Meter weiter waren die befleckten Stellen intensiver. Es sah nach einem Kampf aus. Panisch schaute ich mich um und entdeckte eine blutige Spur, als wäre jemand den Weg entlanggeschleift worden. Ich rannte diesen Pfad hinunter, der zu einem Abhang führte. Als wüsste ich, was mich erwartete, senkte ich langsam den Kopf und suchte das Gebiet ab. Und dann sah ich einen Leichnam, kletterte den Abhang hinab und eilte zu dem toten Körper.

Die völlig entstellte Leiche erkannte ich an ihrer ebenfalls zerfetzten Kleidung. Es war Albert, mein kleiner Bruder Albert. Ich verlor jegliches Gefühl in den Beinen und fiel auf die Knie, begann entsetzlich zu schreien und zu weinen, kroch zu ihm, drehte ihn auf den Rücken, umklammerte meinen Bruder, rüttelte ihn und flehte, natürlich vergebens, er möge wieder erwachen. Wer weiß wie lange ich so schreiend verharrt hatte.

Die Bestie hatte ihn mir geraubt. Meinen Bruder, meinen besten Freund. Und nie zuvor hatte ich solchen Schmerz verspürt, solchen Hass, solchen Gram.

So nahm ich ihn, meinen lieben Bruder und trug ihn zurück in unser Dorf, unter Tränen, konnte kaum aufrecht stehen, kaum gehen, doch war es meine Pflicht, ich dürfte ihn nicht hier verrotten lassen. Und zugleich fürchtete ich mich vor der Nacht, könnte doch dann das Ungeheuer auch mich reißen, und wer könnte Albert dann beisetzen, wenn wir beide tot wären?

Als ich ankam, schlug ich an die Tür eines Hauses, mir gleich welches es war, bat um einen Arzt, und um einen Priester und erzählte stammelnd von den Geschehnissen, sogut ich konnte.
 

Einige Stunden später war der Leichnam meines Bruders beim Medicus und ich saß in meinem Hause, das Erlebte wieder aufrufend und meiner Familie unter Schluchzen und Tränen wiedergebend. Es war ihnen, so wie mir, unerklärlich, was mit mir geschehen war. Auch der Arzt, der mit mir gesprochen hatte, wusste noch keine Erklärung.

Nachdem ich mich langsam zu beruhigen begonnen hatte, legte ich mich ins Bett und kam nicht umhin, an die letzte Nacht und an heute Morgen zu denken. Dann dämmerte es mir.

Ich war nackt erwacht, mit blutigem Leibe, vor meinem Gedächtnisverlust hatte jemand geschrien. Dann erinnerte ich mich, dass es Alberts Stimme gewesen war.

Und das war nicht das erste Mal. Ein anderes Mal, erinnerte ich mich nun, war ich nackt in der Frühe am Stadtrand zu mir gekommen, doch hatte ich es auf den Wein geschoben, und unzählige Male, erinnerte ich mich, war ich ähnlich in meinem Bett erwacht, aber hatte ich mich hier nicht über meinen entblößten Leib gewundert, da neben mir meine Gemahlin schlief. Aber nun begann ich zu verstehen. Wie die Glieder einer Kette waren die Ereignisse, und jetzt reihten sie sich aneinander und ergaben einen Sinn. Wieso war es mir nicht vorher aufgefallen? Jedes Mal, wenn ich erwacht war, jedes Mal, wenn ich mich nicht mehr zu erinnern vermocht hatte, war auch ein neues Opfer gefunden worden. Plötzlich vergegenwärtigte sich mir, wie ich halb betäubt meinen blutverschmierten Körper rein wusch. Der Mann im Wolfspelz, der war ich. Ich war das Ungeheuer, dass Knaben und Mädchen zerfleischte, das Ungeheuer, dass seinen eigenen Bruder, wie Kain den Abel, getötet hatte.

Welch Schmach, welch Grauen. Wie war dies möglich? Wieso geschah dies? Wieso war ich die Bestie von Uslar? Wessen Ungunst hatte ich gewonnen, dass ich so schrecklich verflucht worden war? Und wenn ich mein Geheimnis preisgäbe, so gäbe es für mich nur noch den grausigsten Tod. Welch Feigling ich doch war! Denn was als den Tod verdiente ich? Doch der entsetzliche Mörder fürchtete den Tod.
 

Und so verließ ich mein Haus, verließ die Stadt, ging in den Wald und lief und lief und ließ mein ganzes Leben hinter mir und lief und lief, bis es nur noch den Wolf und keinen Marius mehr gab.

Ende.



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  Yommy
2008-12-14T20:42:36+00:00 14.12.2008 21:42
Tolle Geschichte.
Wenns es um Wölfe als bestien geht muss ich irgendwie immer an "Der Packt der Wölfe" denken xD
Aber echt ist sehr gut die Geschichte ~ wie meine englisch Lehrerin sagen würde >Kurz, prägnat und Inhaltsschwer< ^^d

was mich nur ein bisschen gestört hat ist der begriff "Wissenschaftler" ~ hätte da eher eine mittelalterliche bezeichnung dafür verwendet, wie du es weiter unten auch gemacht hast (medicus hast du da verwendet). wenn ich ans mittelalter und die damalihen heiler denke, kommt mir mehr der begriff "quacksalber" in den sinn ^^" gibt vll. noch passendere mittelalterliche titel dafür.

nu ja :D find ich cool, dass die geschichte verlegt wird ^^d (<- sagt man das so?) wo erscheint sie denn dann? musst du da noch mehr zu schreiben oder kommt das in einen sammelband rein?

lg
de yommy
Von:  MilliVanilli
2008-08-04T16:57:45+00:00 04.08.2008 18:57
*Q*
Von:  Kairi-Chan
2008-04-16T20:38:14+00:00 16.04.2008 22:38
ich find die geschichte einsame spitze, echt *_______*
toll geschrieben, tolle geschehnisse.. alles toll <3
Von:  leewes
2008-03-06T20:11:54+00:00 06.03.2008 21:11
aaahh wie geil...
ich finde dise geschichte wieder mal super... *g*
*weißt ja*
lee


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