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December's Kiss

a X-Mas-OneShot / YuMao - ReMao
von

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December's Kiss

I hate feeling like this

I'm so tired of trying to fight this

I'm asleep and all I dream of

Is waking to you

Tell me that you will listen

Your touch is what I'm missing

And the more I hide I realize I'm slowly losing you

[Skillet - Comatose]
 

Hell wurde das Sonnenlicht der Nachmittagssonne von den Tragflächen des Airbus A330-200 reflektiert und sanft hörte man das Geräusch der rotierenden Propeller in den Triebwerken darunter. Kleine Eiskristalle hatten sich in den luftigen Höhen an den Fensterscheiben des Flugzeuges gebildet und zeugten von der eisigen Kälte, die Tausende von Metern über der Erde herrschten. Doch kaum jemand im warmen Inneren der Maschine beachtete diese – zu normal und selbstverständlich für die meisten Passagiere.

Während unter dem großen Metallvogel ein Meer aus Wolken vorbeiglitt, öffnete sich die Tür der vorderen Toilettenkabine, aus der sich wenig später ein junger Mann hinausschob und einen der beiden Gänge, welche die insgesamt sechs Sitze pro Reihe in drei Pärchen unterteilte, betrat. Er zog die Tür wieder hinter sich zu und war im Begriff zu seinem Platz zurückzukehren, als sein Körper im engen Durchgang dabei scheinbar unachtsam das Gesäß einer Stewardess streifte. Diese stand mit dem Rücken zu ihm und half gerade einem älteren Herrn, sein Handgepäck wieder im dafür vorgesehenen Fach über dem Kopf des Passagiers zu verstauen.

„Oh, entschuldigen Sie vielmals!“, flüchtig hob der junge Russe seine Hände ein Stück empor, als wolle er zeigen, dass es keine Absicht gewesen sei, während die junge Uniformierte sich überrascht umdrehte.

„Macht nichts! Das kann doch leicht passieren“, tat die Angestellte mit einem freundlichen Lächeln den Vorfall ab und schloss die Klappe des Stauraumes, ehe sie sich wieder an den älteren Herren wandte. „Bitte sehr!“

„Ich danke Ihnen“, kam es von dem Grauhaarigen, während er intensiv die Börsenseite seiner Tageszeitung studierte.

Sie drehte sich wieder zu dem Mann hinter ihr, der nun allerdings ein Stück weiter gegangen war.

„Darf ich Sie zu ihrem Platz begleiten?“, wiederum diese eingetrichterte Höflichkeit ihrerseits.

Er blickte zu ihr zurück und setzte sein selbstsicheres, charmantestes Lächeln auf: „Danke, nicht nötig.“

Sie nickte freundlich, bevor sie in die entgegengesetzte Richtung davon ging, dabei kurz, aber auch prüfend über die Passagiere hinwegsehend.

„Und? Hat sie etwa nicht angebissen?“, fragte eine raue Männerstimme in gemäßigtem Ton beiläufig, als der Russe mit den grauvioletten Haaren wieder an seinem Sitz angekommen war.

Sein rothaariger Platznachbar auf dem linken der beiden Sitzplätze, die im mittleren Sitzblock, zwischen den beiden Gängen, lagen, hatte während er dies gesagt hatte nicht von seinem Notebook vor ihm aufgesehen. Der Angesprochene blickte noch mal kurz der Stewardess nach, die sich nun am anderen Ende des Flures mit ihrer Kollegin unterhielt, stützte dann seinen linken Ellenbogen auf die Rückenlehne seines Platzes und sah nun wieder den Anderen an, der nach wie vor mit seinem Computer beschäftigt war.

Er grinste fies, während er leise antwortete: „Sah nicht so aus, als wäre sie mir abgeneigt gewesen. Dummerweise haben wir in dieser elenden Business Class keine Einzelkabinen, weshalb ich ihr Angebot, mich zurück zu meinem Platz zu begleiten, leider ausschlagen musste. Und die Toilettenkabinen sind für zweckentfremdende Aktivitäten räumlich leider nicht geschaffen – zumindest ist unser Fußraum hier größer.“

„Seit wann zählen gewissen Aktivitäten bei dir zu den Zweckentfremdenden?“, wieder stellte sein Gegenüber die Fragen im nebensächlichen Ton und bewegte dabei seinen rechten Zeigefinger über das Touchpad seines Laptops, um einige Desktopfenster zu schließen.

Ein leises, höhnisches Schnaufen des Anderen folgte: „Mein lieber Ivanov, falls das gerade wieder eine Anspielung auf meinen Erfolg in der Frauenwelt gewesen sein sollte, wovon ich ausgehe, lass dir endlich gesagt sein, dass es keinen Sinn macht, wenn du deinen Frust so versuchst an mir auszulassen.“

„Zunächst einmal, mein lieber Kuznetsov, bin ich nicht frustriert, wie du weißt. Nicht jeder hat Gefallen daran, jede junge Frau anzuflirten.“ Der Rothaarige klappte das Gerät vor ihm zu, nachdem er das Betriebsprogramm beendet hatte. „Und außerdem setz dich jetzt hin, wir landen in zehn Minuten!“

„Woher weißt du das jetzt schon wieder?“, wollte der Stehende wissen.

Nun sah der Andere erstmals zu ihm auf: „Der Pilot hat es eben durchgesagt. Und wenn du einmal nicht so sehr auf dich und deine Casanovaspielchen fixiert wärst, würdest du so etwas auch mitbekommen.“

„Die Lautsprecher auf der Toilette müssen defekt sein“, verteidigte sich der Grauvioletthaarige etwas knurrend. „Ich sage ja, elende Business Class.“

„Bitte unseren Boss doch um eine Gehaltserhöhung, mit der Begründung, du möchtest regelmäßig in der First reisen, da dort die Toiletten zweckentfremdet werden können und du zudem eine Einzelkabine buchen kannst. Er wird sicher Verständnis dafür haben.“ Der Andere wollte sich erneut gegen die leicht bissigen Worte seines Kollegen wehren, doch dieser kam ihm zuvor. „Und jetzt setz dich, trink deinen Kaffee leer und sei still.“

„Meine Güte, hast du wieder eine Laune, Yuriy.“ Etwas missmutig gestimmt, ließ er sich nun doch wieder auf seinem bequemen Ledersitz, der einem gemütlichen Fernsehsessel ähnelte, nieder und griff nach der Tasse auf dem Tisch vor ihm.

Yuriy blickte seinen Freund noch kurz an, bevor er seinen linken Unterarm, der auf der Armlehne gelegen hatte, aufrichtete und seinen Kopf auf seine Faust stützte, während er sich mit seiner rechten Hand kurz nahe des hochgekrempelten linken Hemdärmels kratzte. Er sah über den einzelnen Fluggast, einen Mann mittleren Alters, der tief und fest in seinem zurückgelehnte Sitz schlief, zu seiner Linken hinweg und musterte durch das Fenster die feinen weißen Schleierwolken weit über ihnen am hellblauen Firmament. Seit mehr als acht Stunden saßen sie nun schon wieder in diesem Flugzeug, auf dem Weg vom winterkalten Moskau in die Hauptstadt Japans. Dort war zwar auch Winter, doch wie er von vergangenen Geschäftsreisen in Erinnerung hatte, war es dort Anfang Dezember weder richtig warm noch bitterkalt. Und genau das mochte er an Ostasien nicht: Die milden Temperaturen. Er liebte die eisige, beißende Kälte, die im Winter Tag für Tag die Straßen seiner Heimat durchzog – dort wo das Leben noch seriös und tiefgründig war und nicht in der Vorweihnachtszeit zu einem Dschungel aus bunten, blinkenden Lampen und schrägen Kunststoffdekorationen mutierte. Doch ihm blieb keine Wahl, wenn er sein gutes Ansehen als Produktmanager bei Neosource - die Firma, für die er und sein Freund Boris arbeiteten - beibehalten wollte. Also ließ er auch die Kurztrips zu Besprechungen mit dem Vorstand und einigen Managern der Muttergesellschaft über sich ergehen. Zugegeben, der Juniorchef, und damit ihr primärer Ansprechpartner, war schon lange mit Boris und ihm befreundet, aber das Wiedersehen, war bisher auch immer das einzige Positive, was er dem Ganzen hatte abgewinnen können. Sein Kollege hingegen passte in diese oberflächlich- und künstlichwirkende Welt: Er hatte nicht das Feingefühl für solche Gedanken. Alles wonach ihm der Sinn stand, waren Geld, Sex und ein Leben in Saus und Braus. Das war auch der Grund, warum Boris weder verstand, dass es ihm nicht reichte, wenn eine Frau Traummaße besaß und er sie um den Finger wickeln konnte, noch in der Lage war, nachzuvollziehen, warum sein Freund schlechte Laune hatte. Doch Yuriy nahm ihm das nicht übel, denn über all die Jahre hinweg hatte er gelernt Boris aufgeschlossene, unbeschwerte, etwas überschwängliche Art zu schätzen.

Ein leises Geräusch lenkte den Blick des Rothaarigen auf die kleinen Lampen über ihren Köpfen, wo soeben wieder das Symbol mit dem Sicherheitsgurt aufgeleuchtet war.

„Meine sehr verehrten Damen und Herren, in wenigen Minuten erreichen wir Tokyo, International Airport. Wir bitten Sie daher ihre Rückenlehne wieder in eine aufrechte Position zu bringen, die Sicherheitsgurte zu schließen, die Tische vor ihnen wieder einzuklappen, den Gebrauch von jeglichen elektrischen Geräten einzustellen und die Waschräume nicht mehr aufzusuchen. Vielen Dank!“, eine kurze Pause und das Ganze erklang noch einmal auf Englisch aus den Lautsprechern über ihnen. „Ladies and Gentleman,...“

„Aber eine sexy Stimme hat sie, das musst du doch zugeben“, wisperte Boris in Yuriys Ohr, nachdem er die Stimme als die der Stewardess ausgemacht hatte, mit der er wenig zuvor etwas engeren Kontakt aufgenommen hatte.

„So sexy eine Stimme durch eine qualitativ mittelmäßigen Sprechanlage sein kann.“ Gelassen war der Andere kurz aufgestanden, um sein Notebook über ihnen zu verstaunen und sich nun wieder setzte.

Boris verdrehte die Augen, während eine andere Stewardess seinen geleerten Kaffeebecher wieder einsammelte, er seinen Tisch hochklappte, sich anschnallte und sich nun etwas genervt nach hinten lehnte.
 

Das Pfeifen des Wasserkessels schallte durch die kleine Eineinhalbzimmerwohnung, weshalb die junge Frau in der kleinen Küche, die eigentlich mehr eine Kochnische war, eilig herumwirbelte, um ihn von der Herdplatte zu nehmen. Mit einem Kochlappen bewaffnet, hielt sie den heißen Deckel des Gefäßes fest, um mit dem gekochten Wasser den Tee in der nebenstehenden Teekanne aufzugießen. Langsam stellte sie den Kessel zurück, legte den Lappen wieder beiseite und stellte die Teekanne auf das kleine Holztablett auf der Arbeitsfläche zu ihrer Linken, wo bereits eine Teetasse und ein Teller mit Keksen warteten. Vorsichtig nahm sie das Tablett hoch und wandte sich damit in Richtung Nebenraum, wo ihr Freund am von Büchern, Mappen und Zetteln bedeckten Schreibtisch saß und auf einen dicken Wälzer starrte.

„Dein Tee, Rei“, kam es leise von ihr, wobei sie den Gegenstand in ihren Händen auf einer Ecke der Arbeitsfläche und damit auf einem Wust von Papierblättern abstellte.

Der junge Mann mit den langen schwarzen Haaren, die als Zopf über die Rückenlehne des Kunststoffstuhles, auf dem er saß, fielen, sah nicht auf, sondern bedankte sich nur beiläufig mit einem knappen „Danke!“. Seine Freundin beobachtet wie er statt ihr mehr Beachtung zu schenken anfing nach einem bestimmten Ausdruck zu suchen, welchen er letztlich unter der Kante des Tabletts fand, welches er zur Seite schob, um das Papier aufzunehmen.

„Willst du nicht langsam Schluss machen?“, fragte sie ihn.

Rei sah weiterhin nicht auf, sondern griff nach dem gelben Textmarker neben dem Buch vor ihm und begann einige Wörter auf dem Zettel zu markieren: „Mao, du weißt wie wichtig das hier für mich ist. Ich will nicht...“

„...ewig in diesem Loch wohnen“, unterbrach sie ihn.

Sie hatte diese Antwort in den letzten drei Wochen mehr als oft genug von ihm zu hören bekommen. Seit fast einem Monat saß er Tag für Tag hier und büffelte für seine Semesterprüfung im Fach Medizin, die in einer Woche anstand. Rei wollte Chirurg werden – es war sein Wunsch, Menschen zu helfen. Und dafür arbeitete er hart – zu hart, wie Mao fand. Sie selbst besuchte eine Schauspielschule mit dem Traum einer großen Karriere beim Theater. Vor zwei Jahren hatte es die hübsche Chinesin daher aus ihrem kleinen Heimatdorf in den Bergen Chinas in die große, moderne Hauptstadt Japans, wo sie seitdem mit ihrem Freund in dieser kleinen Wohnung lebte, gezogen. Um diese bezahlen zu können, arbeiteten beide zusätzlich zu ihrer Ausbildung. Trotz dieser Umstände war sie anfangs auf Wolke sieben geschwebt: Sie hatte problemlos den Platz an der Schule ihrer Wahl bekommen und war glücklich mit Rei liiert. Doch der Elan mit dem sie ihre Ausbildung begonnen hatte, war längst gewichen. Vor allem in den letzten Tagen hatte ihre Stimmung den ultimativen Tiefpunkt erreicht. Mit etwas traurigem und geistesabwesendem Gesicht ging sie zum Spiegel im kleinen, fensterlosen Bad, das gerade mal zwei Quadratmeter groß war, nahm ihre Haarbürste und begann ihre langen Haare zu kämmen, wobei sie ausdruckslos ihr Spiegelbild betrachtete.

„Hiromi hat mich übrigens gestern gefragt, ob wir am nächsten Wochenende zum Essen kommen“, rief sie in gemäßigtem Ton nach nebenan.

Rei antwortete nicht. Sie legte die Bürste wieder weg und verließ den kleinen Raum. Neben der Wohnungstür stehend, griff sie nach ihrem Wintermantel, der an der Garderobe hing, zog ihn ebenso wie ihre Handschuhe und ihren Schal an, steckte ihren Schlüsselbund in ihre Manteltasche und ergriff die Klinke der Tür.

„Ich geh noch schnell ein paar Besorgungen machen“, sagte sie an ihren Freund gewandt.

„Mhm.“ Wieder sah er nicht auf, sonder schlug stattdessen die Seite seiner Lektüre um. „Kann sein, dass ich weg bin, wenn du wiederkommst. Ich habe heute Spätschicht.“

Mit dieser neuen, für sie aber inzwischen unwichtig wirkenden Information, verließ sie die Wohnung.
 

„Oh man, bin ich müde“, gähnte Boris hinter vorgehaltener Hand, während er vor der Tür seines Fünfsternehotelzimmers stand. „Ich leg mich erst mal aufs Ohr.“

Keine fünf Meter von ihm entfernt öffnete Yuriy auf der anderen Seite des Flures gerade mit Hilfe der kleinen Plastikkarte in seiner Hand die Tür zu seinem Zimmer.

„Mach das. Ich werde gleich noch ein bisschen spazieren gehen“, sagte er desinteressiert.

„Verlauf dich aber nicht!“, grinste der Andere spöttisch, bevor er sein Appartement betrat und die Tür hinter sich schloss.

Sein Freund tat selbiges wenige Millisekunden später. Yuriy hatte bewusst nicht auf Boris Worte reagiert, da diese zu seinen typischen monotonen Sprüchen zählten, denen der Rothaarige schon lange keine große Beachtung mehr schenkte. Stattdessen legte er die Zimmerkarte auf dem luxuriösen Sideboard neben der Tür ab, wo wie gewöhnlich eine reichgefüllte Obstschale und eine Flasche des besten Sekts in einem Kühler standen. Doch beides interessierte den jungen Russen nicht, der lediglich seinen Mantel auszog und ihn auf das große Bett warf, um dann umgehend ins Bad zu gehen. Warum sollte er sich auch umsehen? Sie checkten jedes Mal in dieses Hotel ein, wenn sie hier waren, weshalb es ihn im Gegensatz zu seinem Kollegen absolut nicht reizte, sich umgehend mit Minibar und internationalem Programm im großen Flachbildfernseher einen schönen Abend zu machen. Überhaupt nutzte er den Luxus ihrer Unterkunft kaum. Lediglich der Page, der sein Gepäck in den einundzwanzigsten Stock gebracht hatte, war die einzige Annehmlichkeit, die er wie immer in Anspruch genommen hatte. Ansonsten sah er dieses geräumige Hotelzimmer mit großzügigem Wohn- und Schlafbereich und einem ebenso komfortablen Badezimmer als reine Schlafstätte an. Er hatte auch keine große Lust sich mit ihrer Unterkunft anzufreunden, so wie es Boris jedes Mal tat. Denn im Gegensatz zu ihm wollte er lediglich schnell die Geschäfte über den Tisch bringen und dann zurück nach Moskau.

Nachdem er sich im Bad frisch gemacht und sich ein sauberes weißes Hemd aus seinem Koffer angezogen hatte, zog Yuriy seinen Mantel wieder an, steckte die Zimmerkarte in die Innentasche seines Jacketts, welches er immer lasziv offen trug und verließ das Zimmer wieder. Kurz darauf stand er auch schon vor dem prachtvollen Haupteingang des großen Wolkenkratzers, der in Mitten von Tokio majestätisch in den Himmel ragte. Und schon stellte er wieder fest, dass es egal war, wer man war, solange man nur in einem dieser Hotels wohnte: Ein Page öffnete ihm augenblicklich die hintere Tür des Taxis, das wartend am Ende des roten Läufers stand. Doch Yuriy wandte sich wie gewohnt ab. Warum sollte er sich in ein Taxi setzen, wenn er die teuerste Einkaufsstraße der Stadt auch bequem zu Fuß erreichen konnte? Den etwas irritierten Hotelangestellten zurücklassend, machte er sich somit auf den ihm altbekannten Weg. Dieser führte ihn bald über einige gigantische Straßenkreuzungen in ein unübersichtliches Gewusel aus Tausenden von vorbeieilenden Japanern. Um ihn herum blinkten und blitzten bunte Lichter in den Schaufenstern der Geschäfte und Kaufhäuser und alle zwei Eingänge bekam er „Jingle Bells“ oder ein anderes nervtötendes Weihnachtslied zu hören: Genau das, was er von hier gewohnt war und erwartet hatte – der pure Konsumkitsch. Hätte es ihm seine Zeit erlaubt, würde er weit außerhalb der Stadt durch die Natur spazieren gehen und damit dem Trubel kaufwahnsinniger Menschen entgehen. Doch da dies nicht möglich war, blieb ihm wie jedes Mal nur der Gang durch die überfüllten Straßen und die Verachtung, die er für diese Leute, die nur im Grunde wertlose Gegenstände kauften, um sie einander zu schenken, empfand. Überhaupt verstand er nicht, wie ein christliches Fest hierzulande Jahr für Jahr solch eine Euphorie auslösen konnte. Wenigstens war es heute so kalt, dass er sich zumindest klimatisch wohlfühlte.
 

Mit gesenktem Kopf war Mao in die U-Bahn gestiegen, ohne ein genaues Ziel im Sinn zu haben. Die angeblich noch zu erledigenden Besorgungen waren nur ein fiktiver Vorwand gewesen. Sie wollte einfach nur fliehen – fliehen vor der kalten und emotionslosen Stimmung, die zu Hause herrschte. Und nun fand sie sich wenig später auf den starkbelebten Straßen der Tokioter Innenstadt wieder. Die Sonne war längst hinter den höchsten Hochhäusern verschwunden, doch die zahlreichen Lichter der Weihnachtsdekorationen und die teils schrillen Werbetafeln an den Hauswänden um sie herum ließen die Abenddämmerung kaum auffallen. Langsam ging sie die Ginza, die Luxus-Einkaufsstraße Nummer eins in der Stadt, hinab, während viele Leute eilig in alle Richtungen an ihr vorbeihasteten, ohne sie auch nur im geringsten zu beachten. Doch das Gefühl, nicht wahrgenommen zu werden, erschien ihr längst selbstverständlich. Rei und sie hatten sich auseinander gelebt: Von Morgens bis Mittags war er täglich an der Uni, während sie zur Schauspielschule ging. Und am Nachmittag und Abend mussten beide meistens arbeiten: Er als Kellner in einem noblen Hotelrestaurant, sie als Bedienung in einem Cafe, ganz hier in der Nähe. Beide verdienten damit zwar genug, um gemeinsam die Miete für ihre kleine Wohnung und ihr Leben im Allgemeinen finanzieren zu können, doch es machte sie nicht glücklicher. Denn in der knappen Freizeit, in der sie zusammensein konnten, hockte ihr Freund in letzter Zeit nur noch über seinen Büchern. Die junge Frau blieb am Schaufenster eines Juweliers stehen und betrachtete die glänzenden und funkelnden Schmuckstücke, die hier ausgestellt wurden. Sie waren teuer – entsetzlich teuer. Um sich das günstigste Paar Ohrringe leisten zu können, hätte Mao mindestens ein Jahr arbeiten müssen, ohne das dabei verdiente Geld für irgendetwas anderes auszugeben. Sie blickte über die Waren hinweg in den Verkaufsraum des Geschäfts, wo ein junges Paar sich offenbar von einem Verkäufer beraten ließ, hinsichtlich ihrer Eheringe. Zumindest streckte die Frau begeistert ihre Hand in die Luft und bewunderte den Ring an ihrem Finger.

„Schatz, was hältst du davon, wenn wir dieses Jahr über Weihnachten wegfahren?“, Mao sah sich um und entdeckte ein anderes Pärchen, das gerade hinter ihr vorbeiging. „Wir können ja noch kurzfristig buchen. Karibik oder Europa vielleicht.“

Sie klammerte an seinem Arm, während er in der anderen Hand zwei große, prallgefüllte Einkaufstaschen mit sich herumtrug – auf der Vorderen stand der Name einer luxuriösen Modefirma.

„Und was ist mit meinen Eltern?“, hörte Mao ihn antworten.

„Eure Sorgen hätte ich auch gerne“, schoss es der jungen Chinesin angesichts des verliebten Paares und ihrem Gespräch durch den Kopf.

Sie sah wieder in den Laden und erneut auf die Schmuckstücke vor ihr: Es machte sie nicht traurig, dass sie sich diese nicht leisten konnte, aber es tat ihr weh, all diese glücklichen Verliebten zu sehen, die Hand in Hand durch die Stadt bummelten und Weihnachtseinkäufe tätigten. Im vergangenen Jahr war sie mit Rei ähnlich durch die Stadt gelaufen. Dabei hatten sie sich gemeinsam amüsiert, wie materiell so viele ihrer Mitmenschen eingestellt waren, ohne zu sehen, dass es an Weihnachten, welches hier als Fest für Liebende galt, und auch ansonsten viel wichtiger war einander zu haben. Trotz ihres bescheidenen Lebens waren beide glücklich gewesen – sie hatten einander gehabt und das hatte ausgereicht. Doch nun stand Mao alleine hier, mit leerem Blick die kalten Diamanten und Juwelen betrachtend.

Sie war immer noch in ihre Gedanken versunken, als plötzlich ein paar Kinder zwischen ihr und dem Schaufenster lachend und gut gelaunt vorbeirannten. Eines von ihnen stieß unachtsam gegen sie, sodass sie nach hinten stolperte und dabei war mit einem leisen Aufschrei zu Boden zu gehen, als sie von zwei Händen behutsam aufgefangen wurde. Nachdem die kurze Schrecksekunde vorüber war, richtete sie sich mit Hilfe der unbekannten Person wieder auf und drehte sich um, wo sie nun in das Gesicht ihres Retters sah: Ein junger Mann mit halblangen roten Haaren und westlichem Aussehen hatte sie vor dem unsanften Fall bewart.

Verlegen sah sie ihn an: „Danke sehr!“

„Keine Ursache“, antwortete er und ging wieder seines Weges.

Mao blickte ihm nach: Er musste tatsächlich aus dem Ausland kommen – seinem Gesicht und seiner Kleidung nach aus einem nicht allzu armen Land, das vielleicht in Europa oder Amerika lag – er hatte nämlich in etwas gebrochenem Japanisch geantwortet. Sie sah dem Unbekannten hinterher, bis dieser wenig später im Getümmel verschwand und damit außer Sichtweite geriet. Mit der Hilfeleistung war er ihr soeben näher gekommen, als Rei in den letzten drei Wochen. Seufzend wendete sie sich in die entgegengesetzte Richtung und lief langsam weiter.
 

„Danke für ihren Besuch. Beehren sie uns bald wieder!“, höflich verneigte sich die Bedienung vor den Kunden, bevor diese das weihnachtlich geschmückte Cafe verließen.

Die Tür fiel unter einem dezenten Glockenläuten wieder zu und die junge Frau seufzte, während sie zur Theke zurückkehrte: „Oh man, hier ist heute gähnende Leere.“

„Sei doch froh, wenn ausnahmsweise mal nicht die Hölle los ist“, antwortete ihre Kollegin, die gerade die Arbeitsfläche vor sich abwischte.

Gelangweilt stellte die Andere ihr rundes Tablett aus der Hand und stützte sich auf die eben gesäuberte Fläche.

Ihr Gegenüber belehrte sie: „Naoko, wenn der Chef kommt und dich so rumhängen sieht, bekommst du wieder Ärger.“

„Was soll ich denn stattdessen machen, Fräulein Tachibana?“, fragte die Angesprochene genervt.

Da bekam sie auch schon einen Putzlappen zugeworfen, den sie überrascht auffing.

„Zum Beispiel die Tische abwischen“, kam es von der Braunhaarigen.

Naoko zog ein langes Gesicht, richtete sich wieder auf und steuerte missmutig auf den ersten Tisch zu.

Die junge Frau hinter der Theke legte derweil ihren Lappen wieder weg und sah auf die Uhr, wobei sie die Schleife der weißen Schürze, die sie über dem kurzen schwarzen Kleid trug, welches mit dem weißen Spitzenhäubchen auf ihrem Kopf die einheitliche Arbeitskleidung für die Bedienungen im Cafe bildete, öffnete: „Ich mache dann jetzt Schluss und hole Takao ab. Wir wollen heute Abend nämlich noch ins Kino.“

Damit ging sie in den Hinterraum. Die Andere sah ihr kurz skeptisch nach, als die kleine Klingel über dem Eingang des noblen Cafes erneut läutete.

Naoko sah in die Richtung: „Hey, Mao-Chan, was machst du denn hier?“

Die junge Chinesin blieb im Eingangsbereich stehen: „Kam gerade zufällig vorbei. Ist Hiromi schon weg?“

„Nein, sie will aber gerade Feierabend machen.“ Naoko ging zu Mao hinüber, die ihren Mantel an der Garderobe aufgehangen hatte. „Soll ich dir etwas zu trinken bringen?“

„Nein, danke.“ Langsam ließ die Rosarothaarige sich an einem Fensterplatz nieder.

„Alles in Ordnung?“, Naoko hatte bemerkt, dass sie bedrückt wirkte.

Doch Mao nickte wiedererwarten.

Wenig später kam Hiromi zurück aus dem Nebenraum und erblickte den Gast: „Oh, Mao! Was führt dich hierher? Du hast doch heute gar keinen Dienst.“

Auch sie ging zu ihr hinüber, wobei sie ihren Wintermantel über ihre Zivilkleidung zog.

Offenbar bemerkte auch sie Maos Stimmung, da sie sich nun ihr gegenüber niederließ und besorgt fragte: „Rei?“

Mao nickte. Sowohl Hiromi als auch Naoko waren längst mehr als nur Arbeitskolleginnen für sie. Die drei waren auch privat ein eingeschworenes Team. Kennen gelernt hatten sie sich durch Rei, der sie wiederum von der Uni kannte. Außerdem war Hiromi schon einige Jahre mit Reis Freund und Arbeitskollegen Takao Kinomiya liiert. Doch was sie grundlegend von ihr und Rei unterschied, war dass sie immer noch glücklich waren, obwohl auch sie nicht gerade reich waren. Hiromi studierte und jobbte genau wie sie selbst als Bedienung in diesem Cafe, während Takao immer noch auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz war und als Küchenhilfe im selben Hotel wie Rei arbeitete.

„Er ist nur auf sein Studium fixiert. Egal was ich tue, er ignoriert mich“, kam es leise von ihr, wobei sie traurig die glänzende Tischplatte musterte.

Naoko seufzte: „Ich verstehe nicht, warum du das noch mitmachst.“

„Nao! Etwas mehr Mitgefühl bitte!“, fauchte Hiromi sie an.

„Schon gut, sie hat ja Recht.“ Mao ließ weiterhin den Kopf hängen.

Sie kannte Naokos Einstellung zum Thema Beziehung: Sie war die einzige der drei die Solo war. Doch das lag nicht daran, dass sie keine Verehrer hatte. Sowohl Hiromi als auch Mao wussten, dass sie unglücklich verliebt war, dies aber nie zugeben würde. Stattdessen stritt sie es jedes Mal, wenn man sie darauf ansprach, vehement ab und behauptete, ihr läge nichts an einer festen Beziehung. Dabei weinte sie sich alle drei Tage bei ihnen wegen ihrer Gefühle aus. Aber so war Naoko nun mal in diesem Punkt, wenn sie auch ansonsten ein herzensguter Mensch war. Erneut eine Fratze ziehend, um Hiromi damit einen Dämpfer zu verpassen, ging sie zur Theke zurück, während die Andere sich wieder Mao zuwandte: „Möchtest du vielleicht mit Takao und mir ins Kino gehen?“

Mao schüttelte den Kopf, denn sie wollte die Beiden nicht stören und ihnen den Abend vermiesen.

Hiromi sah aus dem Fenster: Wie es momentan zwischen ihrer Freundin und deren Freund zuging war längst unter ihnen bekannt, doch Mao wollte sich nie so Recht helfen lassen. Sie hoffte lediglich, dass nach den Semesterprüfungen alles wieder wie vorher würde. Doch ihre Freundinnen konnten es kaum noch mit ansehen, wie niedergeschlagen sie jeden Tag war. Während Naoko ihr riet, Rei schlichtweg den Laufpass zu geben, war Hiromi der Meinung, sie sollte einfach mal ernsthaft mit ihm reden. Allerdings war Mao zu keinem der beiden Schritte bereit, was sie damit begründete, dass sie ihn zu sehr liebte, um sich von ihm zu trennen, und dass er ihr sowieso nicht zuhören würde. Naoko kam zurück an den Tisch und stellte Mao eine Tasse Tee hin.

Die junge Chinesin sah sie verwundert an: „Ich wollte doch...“

„Geht aufs Haus!“, unterbrach ihre Freundin sie lächelnd.

Mao erwiderte nichts und nahm die Tasse, um ihre kalten Hände daran zu wärmen.

Hiromi sah sie erneut vorwurfsvoll an: „Der Chef...“

Doch auch sie wurde von Naoko unterbrochen: „...wiegt weder täglich das Teepulver ab, noch kann er anhand des Wasserverbrauches ausmachen, dass hier mal jemand was umsonst bekommt.“

Ein Seufzer von Hiromi folgte, während Mao kichern musste. Es war immer das Selbe mit den beiden. Seit Naoko vor einigen Monaten einmal ordentlich Ärger mit dem Chef bekommen hatte, weil sie einen Gast, der ihr gleichzeitig ihr Herz genommen hatte, lautstark beschimpft hatte, war Hiromi ständig darauf bedacht, sie davor zu bewahren erneut Schwierigkeiten zu bekommen und damit ihren Job nochmals zu riskieren. Naoko hingegen nahm das Ganze locker – manchmal allerdings so locker, dass Mao und Hiromi sie wirklich bremsen mussten, wenn sie nicht auch noch beruflich unglücklich werden wollte.

Hiromi sah auf ihre Armbanduhr: „Oh, seid mir nicht böse, aber ich muss los!“

Sie erhob sich, während Mao nickte: „Schon in Ordnung. Bis morgen!“

„Bis morgen, ihr Hübschen.“ Damit war sie auch aus dem Lokal.

Zeitgleich betrat ein älteres Ehepaar das Cafe.

„Entschuldige mich!“, sagte Naoko leise und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Gäste, während der Herr seine eigene und die Garderobe seiner Gattin aufhing.

„Guten Abend. Bitte, suchen sie sich einen Platz aus!“, hörte Mao ihre Freundin freundlich die Kundschaft empfangen, während sie selbst an ihrem Tee nippte und aus dem Fenster sah, an dem nach wie vor viele Personen vorbeieilten.

Sie versank wieder in ihre düstere Gedankenwelt, bis Naoko die Gäste bedient hatte und zu ihr zurückkehrte, wie sie im Spiegelbild der Fensterscheibe sah, weshalb sie sich wieder ihr zuwandte.

„Kann ich dir vielleicht irgendwie helfen?“, fragte Mao, wobei sie versuchte möglichst fröhlich zu wirken.

Doch ihr Gegenüber schüttelte den Kopf: „Du siehst ja, dass heute nichts los ist. In zwei Stunden ist eh Schluss. Denke nicht, dass bis dahin noch der große Ansturm kommen wird.“

„Hmm.“ Die Andere leerte ihre Tasse und erhob sich. „Dann gehe ich mal wieder nach Hause. Danke für den Tee.“

Naoko sah sie mitleidig an: „Nichts zu danken.“

Mao zog ihren Mantel wieder an und war bereits im Begriff das Cafe zu verlassen, als Naoko sie nochmals ansprach: „Wenn du mich brauchst, ruf an. Und lass den Kopf nicht so hängen, Mao-Chan, das ist ein Mann doch nicht wert.“

Sie nickte lediglich, bevor sie sich von ihrer Freundin verabschiedete. Ihr Tablett senkrecht vor dem Bauch haltend, sah Naoko ihr nach, wie sie in der Menschenmaße verschwand, bis der ältere Herr von seinem Tisch hinüberrief: „Fräulein?“

Sie drehte sich um und ging zu den Gästen hinüber.
 

Die Hände in die Manteltaschen gesteckt, betrat Yuriy wieder sein Hotel, als ihm in der Empfangshalle zufällig Boris entgegenkam: „Ah, da bist du ja schon wieder!“

„Ja, bin ich wohl“, entgegnete der Angekommene kühl.

Der Rothaarige hatte seinem Spaziergang nicht viel abgewinnen können, außer der erneuten Erkenntnis, dass Menschen oberflächlich waren, und dem Gefühl, eine junge Frau davor bewart zu haben, unsanft zu Boden zu gehen.

„Ich will im Restaurant zu Abend essen. Kommst du mit?“, fragte Boris gut gelaunt.

Yuriy sah ihn skeptisch an:„Streikt der Zimmerservice inzwischen, weil du ihn schon wieder an die zwanzig Mal in Anspruch genommen hast?“

„Nein, aber mir ist nicht danach alleine zu speisen“, antwortete der Andere.

Bei dem Gedanken, dass er selbst auch nicht wusste, was er alleine auf seinem Zimmer großartig noch tun sollte, erschien es Yuriy sinnvoller seinen Freund zu begleiten. Vielleicht konnten sie auch noch ein wenig über die für morgen angesetzte Konferenz sprechen.

„Meinetwegen.“ Somit folgte er ihm in das hoteleigene Restaurant, wo sie ein Kellner bereits an der Tür empfing und zum Tisch ihrer Wahl in einer ruhigen Ecke begleitete.

„Was dürfen wir ihnen als Aperitif reichen?“, erkundigte der Angestellte im Frack sich, nachdem er Yuriy seinen Mantel abgenommen hatte, beide Männer Platz genommen und von ihrem Gegenüber die Speisekarten gereicht bekommen hatten.

„Rotwein bitte“, kam es knapp von dem Rothaarigen.

Boris’ Antwort folgte umgehend: „Für mich bitte einen Martini.“

„Kommt sofort.“ Und in Windeseile hatte der Kellner ihnen den Rücken zugewandt, brachte Yuriys Mantel zur Garderobe und verschwand hinter der Schwenktür zur Küche, aus der er wenige Sekunden später zurückkam, um wieder seinen Posten am Eingang einzunehmen.

Boris öffnete den einzigen geschlossenen Knopf seines Jacketts und begann intensiv die ihm vorgelegte Speisekarte zu studieren, während sein Gegenüber sich entspannt zurücklehnte. Der Jüngere brauchte gar nicht erst aufsehen, um zu wissen, dass sein Freund sich nicht für die angebotenen Speisen interessierte – Er kannte ihn einfach zu lange und damit zu gut.

„Lass mich raten: Borschtsch?“, fragte er ohne von der Liste in seinen Händen aufzusehen.

„Mhm“, war die karge Antwort Yuriys.

Boris musste schmunzeln: „Hätte mich auch gewundert, wenn du mal abenteuerlustig an die uns hier angebotene, internationale Küche herangegangen wärst.“

„Wenn man mir hier schon ein Stück Heimat anbietet, dann nehme ich es auch gerne an.“ Einen Arm auf die Rückenlehne seines Stuhles und den Anderen auf sein rechtes Bein, welches er über das Linke geschlagen hatte, gelegt saß sein Freund da und schweifte mit den Augen durch den Raum.

„Kai hat mich übrigens eben angerufen“, begann Boris zu berichten, wobei er weiterhin die Speiseliste durchforstete. „Tut ihm leid, dass wir uns nicht schon heute sehen können. Aber er ist momentan selbst noch geschäftlich unterwegs und landet erst morgen früh wieder hier in Tokio. Ich soll dich jedenfalls grüßen, er konnte dich wohl nicht erreichen.“

„Danke. Na ja, er weiß ja, dass ich mein Handy grundsätzlich abschalte, wenn ich spazieren gehe.“ Beim Gedanken daran zog Yuriy sein Mobiltelefon aus der Hosentasche, schaltete es ein und bekam wenig später den entgangenen Anruf von seinem alten Freund zu sehen, bevor er das Gerät im Stummmodus wieder zurücksteckte.

„Richtig“, kam es beiläufig von dem Anderen. „Nehme ich jetzt die Shrimps oder das Filetsteak?“

Yuriy verzog argwöhnisch das Gesicht: „Du bist in der Auswahl deines Essens in letzter Zeit aber auch so abwechslungsreich wie der Wetterbericht vom Südpol.“

Bewusst ignorierte Boris ihn und schloss die Karte wenig später wieder, als auch schon ein anderer Kellner mit ihren Getränken und einigen Knabberein zum Tisch kam und ihnen beides servierte.

„Haben sie sich schon entschieden?“, fragte er.

„Ja, für mich bitte die Nummer 52 und einen Weißwein, den sie mir empfehlen können, dazu.“ Boris reichte dem Mann mit den langen schwarzen Haaren seine Karte, nachdem dieser ihm einen Wein empfohlen hatte, dem der Gast letztlich auch zustimmte.

„Sehr wohl.“ Der Ober wandte sich daraufhin an den Rothaarigen. „Und sie, mein Herr?“

Yuriy sah nicht auf, sondern zog seinen linken Ärmelsaum zu recht: „Borschtsch.“

„Wodka dazu?“, erkundigte der Angestellte sich.

Der Befragte nickte lediglich, bevor der Stehende auch seine Karte wieder an sich nahm und zur Küche ging.

„Borschtsch!“, machte Boris sein Gegenüber nach. „Sag bloß nicht bitte.“

„Muss ich jedes Mal einen genauso auswendiggelernten Text wie die Pinguine hier runterplappern?“, verteidigte Yuriy sich gelassen, wobei er wieder aufblickte.

Der Andere lachte amüsiert, während der Blick seines Freundes nun von etwas anderem auf sich gezogen wurde: Eine junge Frau mit halblangem braunen Haar betrat das Restaurant und ging auf die Küchentür zu.
 

Aus Angst zu spät zu kommen und einen mürrischen Takao vorzufinden, war Hiromi fast den ganzen Weg vom Cafe bis zum Hotel gerannt und betrat nun außer Atem über das Foyer das Restaurant. Dort angekommen steuerte sie zielstrebig auf die Küchentür zu und wartete davor. Im selben Moment kam Rei aus eben jener heraus, in der Hand ein Tablett mit diversen Getränken.

Er entdeckte die gerade Angekommene: „Ah, hallo, Hiromi!“

„Hey, Rei! Ist Takao schon fertig?“, fragte sie ihn.

„Warte einen Augenblick, ich gehe gleich nachschauen.“ Er brachte die Getränke an einen Tisch, wo vier Gäste saßen, die bereits gespeist hatten.

Kurz darauf kam er zurück.

„Moment.“ Er ging an ihr vorbei in die Küche.

Hiromi hörte ihn zwischen dem Tellergeklapper und anderen typischen Großküchengeräuschen nach Takao rufen, ehe dieser auch schon etwas in der Art wie „Bin gleich da!“ zurückrief.

Rei kehrte zu der Wartenden zurück, doch ehe er ihr Antwort geben konnte, winkte sie schon verlegen ab: „Ich hab’ ihn schon gehört.“

Ihr Gegenüber lächelte: „Na ja dann – Ich muss leider weiterarbeiten.“

Er wollte sich gerade wieder der Küche zuwenden, als Hiromi ihn am Arm packte, zu sich hinzog und ihn festhielt: „Hier geblieben! Ich muss noch kurz mit dir reden.“

Verwirrt sah er sie an.

„Wie läuft es im Moment zwischen dir und Mao?“, fragte die junge Frau leise.

Rei blickte mehr und mehr verwirrt drein: „Gut?!“

„Was heißt für dich gut?“, wollte sie weiter wissen.

„Na ja“, er hielt kurz inne, „abgesehen davon, dass ich gerade weniger Zeit mit ihr verbringen kann, als ich gerne würde – du weißt schon, wegen dem Studium und so – gut.“

Hiromi sah ihn prüfend an: „Und da bist du dir sicher?“

„Öhm, ja?!“, fragte er erneut mehr als dass er antwortete.

Sie ließ Rei seufzend los: Was sollte sie machen? Sie konnte ihm nicht einfach sagen, dass Mao sich bei ihr ausweinte, da diese das nicht wollte. Aber irgendetwas musste sie unternehmen – sie wollte ihre Freundin nicht weiterhin so unglücklich sehen. Nur schien Rei bisher nicht gemerkt zu haben, wie sehr sein Verhalten sie verletzte.

„Romi-Chan!“, mit dem Zufallen der Schwenktür hinter ihnen, kam ein junger Mann mit blauen Haaren aus der Küche und rief fröhlich ihren Kosenamen, während er sich seine Winterweste über seinen dicken Strickpulli zog.

Hiromis nachdenklicher Blick sprühte im selben Moment wieder vor Freude, als sie ihn auch schon umarmte und kurz küsste: „Hallo, Schatz! Lass uns gleich los, ich will gute Plätze haben.“

„Jeder Platz ist doch gut, wenn er neben deinem ist“, grinste er.

Sie lief rot an und zog ihn mit sich: „Komm, du alter Charmeur! Ciao, Rei!“

„Bis die Tage, Alter!“, verabschiedete Takao sich hastig von ihm, während er weiter von seiner Freundin aus dem Restaurant geführt wurde.

Der Zurückgelassene sah ihnen etwas irritiert nach: „Bis dann.“

Er beobachtete, wie sie gemeinsam durch die Tür das Hotelfoyer betraten: Sie waren wirklich ein süßes Paar. Und es war besonders amüsant mit anzusehen, wie Hiromi ihren Freund immer wieder aufs Neue herumkommandierte und dieser – häufig erst nach mehreren Aufforderungen - Folge leistete. Dennoch liebten sie einander. Doch was sollte Hiromis Frage nach seiner eigenen Beziehung? Rei war sich sicher, dass zwischen ihm und Mao alles in Ordnung war, auch wenn sie gerade kaum Zeit für einander hatten. Wäre dem nicht so gewesen, hätte seine Freundin längst mit ihm darüber geredet. Denn dies war fester Bestandteil in ihrer Beziehung: Für den anderen da zu sein und ihm zu zuhören. In seine Gedanken versunken, schweiften Reis Augen kurz über die Sitzplätze und Tische des Restaurants, bis sich sein Blick plötzlich mit dem des rothaarigen Gastes traf, der kurz zuvor bei ihm schroff Borschtsch und Wodka geordert hatte. Seine eisblauen Augen rissen ihn regelrecht aus seiner Gedankenwelt, da sie ihn nahezu durchbohrten – als wollten sie ihn provozieren. Und da Rei ohnehin Antisympathie für den jungen Mann empfand, war er wohl nur gut, dass einer seiner Kollegen gerade aus der Küche nach ihm rief. Andererseits wäre er wohl auf ihn losgegangen. Somit löste der Schwarzhaarige seinen Blick von ihm und kehrte nach nebenan zurück.
 

Die goldgelben Augen des Kellners hatten Yuriy kampflustig angefunkelt, ehe dieser wieder in die Küche gegangen war. Der junge Russe hatte ihn die ganze Zeit beobachtete, als er sich mit der brünetten Frau unterhalten hatte, die wenig später mit einem anderen jungen Mann das Hotel verlassen hatte. Kurz darauf hatten sich ihre Blicke getroffen und zwischen ihnen war einen eigenartig Spannung aufgekommen, bis der Andere wieder aus seinem Blickfeld verschwunden war. Yuriy wandte sich wieder seinem Gegenüber zu. Boris spielte mit der Olive seines Drinks im Glas herum.

„Langeweile?“, fragte der Rothaarige beiläufig.

„Etwas“, seufzte der Andere. „Wollen wir nicht gleich noch irgendwo hingehen, wo es hübsche Frauen gibt?“

„Und uns die Kante geben, um morgen mit Kopfschmerzen an der Sitzung teilzunehmen?!", war Yuriys rhetorische Antwort.

„Wir müssen es ja nicht übertreiben“, entgegnete der Grauvioletthaarige.

Sein Gegenüber verzog das Gesicht: „Das sagst du immer und stellst letzten Endes doch fest, dass auch Russen irgendwann betrunken sein können.“

„Ehrlich gesagt stelle ich das nie selbst fest“, grinste Boris.

Yuriy lächelte bemitleidenswert: „Stimmt, das stelle ich dann nur immer fest, wenn du wieder alleine den Weg ins Bett nicht findest.“

„Spaßbremse“, nuschelte sein Gesprächspartner, ehe er den letzten Schluck seines Martinis samt Olive in den Mund kippte.

Yuriy nahm ebenfalls sein Glas auf, setzte jedoch nicht zum Trinken an, sondern schwenkte den Inhalt leicht und blickte auf die rote Weinoberfläche: Ihm ging der Blick des Kellners nicht aus dem Kopf. Der Russe sah noch einige Zeit nachdenklich in sein Glas, bevor er es leerte und anschließend der Hauptgang aufgetischt wurde.

Wieder traf sein Blick sich mit dem des Restaurantangestellten – wieder lag etwas Drohendes im Blick des Anderen.

„Ihr Borschtsch.“ Während der junge Mann zu Boris noch ‚bitte’ gesagt hatte, als er ihm Essen und Getränk serviert hatte, stellte er Yuriy seine Suppe forsch vor die Nase, ebenso wie den Wodka.

Wortlos nahm er die Reste des Knabbergebäcks, Rotwein- und Martiniglas wieder an sich, wünschte noch kurz einen guten Appetit und verschwand wieder in der Küche, wobei Yuriy ihm nachsah.

Boris war bereits mit seinen Shrimps zugange, als ihm der Blick seines Freundes auffiel und er sich umdrehte, um ebenfalls in die Richtung zu schauen: „Was gibt’s denn da zu gucken?“

„Nichts“, kam es kühl von dem Anderen, der sich daraufhin seiner Suppe widmete.

Sein Gegenüber wandte sich wieder um und schüttelte wirsch den Kopf, ehe auch er sich wieder mit seinem Essen befasste.

„Der Wein hier ist einfach vorzüglich“, gab Boris sich als Weinkenner, nachdem er von seinem Getränk gekostet hatte.

Yuriy ging jedoch nicht auf ihn ein, sondern löffelte weiter sein Essen: „Hoffentlich dauert das morgen nicht wieder alles so lange.“

Der Andere verdrehte die Augen: „Fängst du schon wieder an gute Laune zu verbreiten?“

Ein Schnaufen des Rothaarigen folgte.

„Denk doch einfach an die nette, kleine Cocktailparty, die Kai wie immer geben wird“, sagte Boris.

„Du meinst wohl an all die hübschen, jungen Damen, die er dazu einlädt.“ kam es misstrauisch von Yuriy.

Sein Gegenüber grinste erneut: „Ich wollte nicht so direkt sein.“

Etwas genervt leerte sein Gegenüber weiter seinen Teller.

„Hey, vielleicht ist diesmal die Richtige für dich dabei“, meinte Boris, während er sich einen Shrimp in den Mund steckte.

Yuriy antwortete abermals nicht. Er wusste genau, was sein Freund meinte. ‚Die Richtige’ war bei ihm die, die sich ohne Problem schnellst möglich für eine Nacht ins Bett bekommen ließ. Abgesehen davon, dass er selbst – auch wenn er selbst schon den ein oder anderen gehabt hatte - nicht viel von ‚One-Night-Stands’ hielt, fand er nie die Frau, die seinen Ansprüchen entsprach. Auf den von Boris so hochgepriesenen Partys war er bisher nahezu ausschließlich Frauen begegnet, die sich nur ins Bett bekommen ließen, weil er mehr oder weniger gut aussah, einiges an Geld verdiente und den puren Luxus lebte. Keine interessierte sich für ihn als Menschen. Klar, Boris gefiel diese einfache Oberflächlichkeit, doch wann würde er verstehen, dass es seinem Freund nicht so ging? Geistesabwesend zog Yuriy seine Zigarettenpackung und sein Zippo aus der Innentasche seines Jacketts. Er nahm sich eine Zigarette, zündete sie an und legte Packung und Feuerzeug auf dem Tisch neben seinem Glas ab.

„Verdammt!“, zischte sein Gegenüber.

Yuriy sah zu ihm hinüber, nachdem er den ersten Zug Nikotin inhaliert hatte, und musste fies grinsen, da sein Freund sich mit Sauce bekleckert hatte: „Ich sag es dir immer wieder: Trag einen Schlips als Schlabberlatz.“

Boris verzog ironisch das Gesicht, während er mit seiner Serviette den Fleck auf seinem weißen Hemd abtupfte: „Ja, lach du nur wieder!“

Es war nicht das erste Mal, dass er sich beim Essen beschlabberte und Yuriy in dieser Weise darauf reagierte. Natürlich würde Boris genau wie sein Freund nie eine Krawatte tragen – das taten in ihren Augen nur alte Männer und Bürokraten. Dennoch gehörte dieser Spruch zu den wenigen, die der Rothaarige in diesen Fällen öfters vom Stapel ließ.
 

Erschöpft und durchgefroren betrat Mao ihre Wohnung, die stockfinster war, weil das Licht ausgeschaltet war. Den Schalter neben der Tür betätigend schloss sie die Wohnungstür hinter sich ab, steckte ihren Schlüssel, sowie ihre Handschuhe zurück in die Tasche ihres Mantels und hang diesen zusammen mit ihrem Schal an der Garderobe auf. Wie erwartet war Rei längst fort, weshalb sie sich direkt umdrehte und ins Bad ging, wo sie langsam die Tür hinter sich schloss und zum Spiegel ging, wobei sie ihre Haarschleife öffnete und das Band auf den Boden fallen ließ. Nicht lange und auch ihre restliche Kleidung gesellte sich dazu, während sie bereits den ersten Fuß unter die offene Dusche setzte. Sie schaltete das Wasser ein und wartete einen Augenblick, bis es angenehm warm war, ehe sie sich ganz darunter stellte und die Augen schloss. Sie genoss es, das warme Nass ihre Haut hinunter gleiten zu spüren, bevor es in einem kleinen Strudel im Abfluss zu ihren Füßen verschwand. Diese angenehme Wärme gab ihr Freund ihr schon lange nicht mehr. Seufzend öffnete Mao die Augen, griff nach ihrem Rasierer und dem Rasierschaum auf der Ablage, ließ sich auf dem kleinen Fußbänkchen an der Wand nieder und begann mit den Beinen beginnend ihren Körper von unerwünschter, nachwachsender Behaarung zu befreien.

„Warum tue ich das eigentlich noch?“, schoss es ihr durch den Kopf. „Rei sieht mich doch eh kaum noch an, geschweige denn, dass er mich noch anfasst.“

Überhaupt distanzierten sie sich immer mehr voneinander. Sie hatten sich kaum noch etwas zu sagen.

„Lass den Kopf nicht hängen, das ist ein Mann nicht wert.“ Der jungen Chinesin waren wieder die Worte eingefallen, die Naoko ihr noch mit auf den Weg gegeben hatte, weshalb sie nun halbherzig lächelte. „Sagt die richtige.“

Dass sie nicht ganz bei der Sache war, sollte sich rächen, als sie sich plötzlich mit der Klinge am rechten Schienenbein leicht schnitt.

„Aua!“, kam es leise über ihre Lippen.

Das war ihr ewig nicht mehr passiert, weshalb sie auch nicht mehr in Erinnerung hatte, wie sehr Rasierschaum in offnen Wunden brennen konnte. Mit mehr Konzentration beeilte sie sich nun, um schnellstmöglich fertig zu werden und den Schaum abspülen zu können. Als sie sich irgendwann wieder aufgerichtet und ihre Haare gewaschen hatte und nun auch mit der Körperreinigung so gut wie fertig war, blieb sie unachtsam mit der Hand an ihrer goldenen Halskette hängen. Klirrend ging diese samt Anhänger zu Boden und blieb auf dem Abflusssieb liegen. Sie stellte das Wasser ab, hockte sich nieder, nahm den kleinen Herzanhänger auf und betrachtete ihn: Auf der Rückseite war Reis Name eingraviert. Beide hatten sich diese Ketten am letzten Valentinstag geschenkt. Er trug seitdem einen Anhänger mit ihrem Namen. Doch ihrer lag nun in ihrer Hand, ohne dass es sie auch nur ein kleines bisschen traurig machte. Sie erhob sich wieder, legte die gerissene Kette auf das Ablagebrett und duschte zu Ende.

Als sie fertig war, ihre Haare gefönt und die Zähne geputzt hatte, nahm sie das Schmuckstück wieder an sich, hob ihre Schmutzwäsche vom Boden auf und stopfte sie in den kleinen Wäschekorb hinter der Tür, bevor sie nackt in den Nebenraum ging. Dort warf sie die Kette gleichgültig aufs Bett, während sie die Deckenbeleuchtung ausschaltete und im Halbdunkeln zum Kleiderschrank ging. Aus diesem nahm Mao sich frische Unterwäsche sowie ein sauberes Nachthemd und zog beides an, ehe sie die Schranktür wieder schloss, die Fenstervorhänge zuzog, sich zum Bett umdrehte und die Nachttischlampe einschaltet, bevor sie kurz zur Küchenzeile ging, um etwas zu trinken und dann zum Schlafbereich zurückzukehren. Dort setzte die junge Frau sich nieder. Sie nahm die Kette erneut auf und betrachtete den glänzenden Anhänger kurz, bevor sie die Schublade der Nachtkonsole aufzog, beides hineinlegte und die Schublade wieder zuschob.

„Rei wird es ohnehin nicht merken“, seufzte sie traurig, schaltete das Licht aus und kroch auf ihrer Seite unter die Bettdecke.

Müde drehte sie sich auf die andere Seite und blickte auf die leere Betthälfte neben sich. Sanft strich sie mit der Hand darüber und beobachtete, wie die Falten sich auf dem Stoff dabei bewegten und vom Licht der Straßenlaterne etwas erhellt wurden. Wieder schlief sie ohne ihn ein. Und sicher würde es am nächsten Morgen auch wieder kein gemeinsames Erwachen geben, da sie früh zur Schule musste und er erst später zur Uni und somit die Zeit nutzte, um sich etwas von der Lernerei zu erholen, indem er länger schlief. Die Chinesin konnte sich nicht daran erinnern, wann Rei sie das letzte Mal in den Arm genommen hatte. Und auch, dass sie das letzte Mal miteinander geschlafen hatten, war mindestens schon zwei Wochen her. Er war einfach so auf sein Studium fixiert, dass er noch nicht einmal mehr das vermisste. Eine kleine Träne rann über ihr Gesicht, ehe sie einschlief.
 

Um kurz nach neun klingelte der Wecker neben Yuriys Bett. Die Badtür öffnete sich und der junge Russe betrat den Wohnraum seines Hotelzimmers, während er noch ein weißes Hemd zu seiner schwarzen Hose anzog, welches er nun zuknöpfte. Dabei ging er zum Bett hinüber und betätigten den kleinen Schalter zum Abstellen des Pieptons – wie immer war er wach geworden und aufgestanden, bevor das elende Gerät angesprungen war. Er hatte auch schon längst geduscht und schnappte sich nun sein Jackett, prüfte noch einmal, ob er Geldbörse, Handy und Türkarte bei sich trug, ehe er sich das Kleidungsstück über die Schulter schwang, wo er es mit zwei Fingern festhaltend hängen ließ, seinen Mantel in die freie Hand nahm und das Zimmer verließ. Er ging auf das Zimmer seines Freundes zu, wo er anklopfte. Einige Sekunden später öffnete Boris nur mit seiner Anzughose bekleidet und noch dabei sich die vom Duschen nassen Haare abzutrocknen die Tür.

Er zog das Handtuch von seinem Kopf, legte es sich über die Schultern und hielt es mit beiden Händen fest, während er sein Gegenüber gut gelaunt begrüßte: „Guten Morgen!“

„Morgen!“, kam es knapp von Yuriy.

Der Andere machte ihm Platz, damit er eintreten konnte, was dieser auch tat.

„Hätte mir ja denken können, dass du noch nicht fertig bist“, sagte der Rothaarige im Zimmer stehend, als sein Blick nun auf den gedeckten kleinen runden Tisch am großen Fenster fiel. „Aber das Frühstück hat er sich schon aufs Zimmer bringen lassen.“

Boris hinter ihm drehte sich zu ihm um und verzog das Gesicht: „Hör auf rumzunörgeln! Meinetwegen setz dich und bedien dich. Ist gerade erst gekommen. Der Kaffee ist also noch heiß.“

Während Yuriy nun wortlos sein Jackett über einen der Stühle hing und sich dann auf dessen Sitzfläche niederließ, wollte der Grauvioletthaarige gerade hinter sich die Zimmertür schließen, als er plötzlich dabei einen Widerstand spürte, der dies verhinderte. Verwundert drehte er sich um und sah, dass jemand seinen Fuß in den Türspalt geschoben hatte.

Im selben Moment hörte man auch schon eine Stimme auf dem Flur: „Bekomme ich hier etwa keinen Kaffee?“

Augenblicklich öffnete Boris die Tür wieder und strahlte freudig die Person davor an: „Kai!“

„Guten Morgen!“, kam es ruhig von dem Blauhaarigen, während auch er von Boris hereingelassen wurde.

Als Yuriy ihn erblickte, ließ er das Brötchen, das er sich soeben aus dem Brotkorb, den sein Freund zum Frühstück vom Zimmerservice hatte bringen lassen, genommen hatte, auf den Essteller vor sich sinken und stand auf.

Nachdem er Boris zur Begrüßung kurz umarmt hatte und dieser nun die Tür endgültig schloss, ging Kai inzwischen auf den Rothaarigen zu: „Hey, Yuriy! Lange nicht gesehen.“

„Kann man so sagen.“ Brüderlich umarmte auch er den eben Angekommenen.

Wieder von einander losgelöst, zog Kai seine Jacke aus und warf sie über die Rückenlehne eines der beiden Sofas, die nicht allzu weit von ihnen entfernt standen.

„Setz dich!“, bot Boris ihm an. „Wenn du magst, kannst du auch was essen.“

„Danke, aber ich habe schon gefrühstückt“, lehnte Kai ab und ließ sich nieder.

Auch Yuriy setzte sich wieder.

„Und wie geht’s so?“, erkundigte Boris sich.

Kai sah nicht auf, sondern nahm sich eine der vier Tassen vom Tablett auf dem Tisch, griff nach der edlen Kanne vor ihm und goss sich etwas Kaffee ein: „Bestens. Kann mich nicht beklagen.“

„Kannst du den Smalltalk vielleicht auf später verschieben und erst mal zusehen, dass du fertig wirst, Kaktus?“, war Yuriys zynische Aussage.

Boris rieb sich kurz über sein noch unrasiertes Kinn, ehe er ein langes Gesicht zog: „Bin ja schon dabei.“

Damit verschwand er wieder im Bad.

Kai musste schmunzeln und hielt Yuriy die Kanne hin: „Auch eine Tasse?“

„Ja, danke“, seufzte der Rothaarige, während sein alter Freund ihm bereits einschenkte. „Der wird nie erwachsen.“

Der Andere stellte den Kaffee wieder beiseite: „Sind wir das etwa?“

Während er sein Brötchen belegte, sah Yuriy ihn nun fragend und skeptisch an: „Eigentlich dachte ich das bisher.“

Kai lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück und setzte seine Tasse zum Trinken an: „Mein lieber Yuriy, wir sind doch alle Kinder, die hin und wieder gerne mal das ein oder andere Spielchen spielen.“

Aus dem Augenwinkel beobachtete sein Gegenüber Kai: „Leider interessiere ich mich nur nicht für die Spielchen, die du und Boris zu spielen pflegt.“

Kai schmunzelte lediglich, während der Andere sich weiter mit seinem Essen befasste.

Einige Minuten der Stille vergingen. Doch dieses Schweigen war typisch für beide, wenn sie so zusammen saßen. Sie unterhielten sich nur wenig und genossen lediglich die angenehme Gesellschaft.

Doch irgendwann unterbrach Yuriy die Ruhe letztlich doch wieder für einen Augenblick: „Wie kommt es eigentlich, dass du schon so zeitig hier bist? Ich hatte nicht erwartet, dich schon vor dem Meeting zu treffen.“

„Oh, seit ich es mir angewöhnt habe im Flugzeug zu schlafen, spare ich eine Menge Zeit und bin wieder fit, wenn wir landen“, antwortete Kai.

Seine Gegenüber nickte verständnisvoll: „Na ja, in einem Privatjet ist das Schlafen auch sicherlich erholsamer als in einer öffentlichen Maschine.“

Im selben Augenblick kam Boris aus dem Bad: „Wieso hast du eigentlich einen eigenen Flieger und wir müssen uns in der elenden Business Class herumschlagen?“

„Weil er mehr verdient als wir?“, tat Yuriy diese unnötige Frage ab.

Kai musste kurz lauthals lachen. Die beiden hatten sich keinen Deut verändert: Boris stellte wie immer Fragen, die er kaum ernst meinte, die aber dennoch eine bissige Antwort von Yuriy erhielten. So war es schon immer gewesen.

„Ich wusste nicht, dass ihr so arm und bedürftig seid“, kam es spaßeshalber von Kai. „Soll ich mal mit eurem lieben Herr Vorgesetzten reden, damit ihr ein paar Almosen mehr bekommt?“

„Boris würde es schon reichen, wenn die Waschräume im Flieger so groß wären, dass er mit zwei Stewardessen gleichzeitig reinpasst.“ Wieder konnte Yuriy sich diesen Kommentar nicht verkneifen.

Boris äußerte nur ein kurzes „Haha“, ehe er sich daran machte, seine Schuhe anzuziehen.

Wieder lag für einige Zeit Schweigen in der Luft, bis Yuriy sein Brötchen aufgegessen hatte und Kai sich nach seinem letzten Schluck Kaffee vom dem noch reich gedeckten Esstisch erhob: „Wir sollten dann auch langsam mal los. Die Straßen sind um die Uhrzeit immer entsetzlich voll wie ihr wisst.“

„Tja, zu dumm, dass das Hotel keinen Landeplatz für deinen Helikopter hat, sonst müssten wir uns nicht jedes Mal mit der Limo durch die City quetschen.“, äußerte der Rothaarige, während auch er aufstand und sein Jackett überzog.

Kai nickte mit einem ironischen Gesichtsausdruck, bevor Boris sich beklagte: „Wie ihr wollte schon los?! Ich habe doch noch gar nicht gefrühstückt!“

„Du denkst auch wieder nur ans Essen, wie?“, sagte Kai, der sich inzwischen seine Jacke anzog.

Yuriy tat es ihm gleich: „Essen, Frauen und Geld – um mehr ist er nicht bemüht.“

„Falsch! Ich bin NUR um Geld bemüht.“ Ein obszönes Grinsen wanderte über das Gesicht des Grauvioletthaarigen. „Die anderen beiden Sachen bekommt man damit ganz leicht.“

Erneut musste Kai kurz auflachen, ehe auch er ein kleines durchtriebenes Grinsen aufsetzte: „Das ist die richtige Einstellung.“

Yuriy seufzte: Dies war der elende Punkte, in dem Kai sich kaum von Boris unterschied. Beide wollten nur Luxus und guten Sex. Nach einem tieferen Lebenssinn suchten sie erst gar nicht. Allerdings war der Rothaarige sich dem bei Kai absolut nicht sicher. Doch wonach dieser wirklich strebte, wusste auch er bis heute als sein langjähriger Freund nicht, was daran lag, dass Kai nie darüber sprach – genauso wenig wie er selbst.

„Ach, kaufe ich mir gleich noch schnell irgendwo etwas“, beschloss Boris, während er sein Mobiltelefon einsteckte, ehe er mit den anderen beiden das Hotel verließ, vor dem schon eine schwarze Limousine wartete, um sie zum Hauptsitz der Hiwatari Corporation zu bringen.
 

Es war viertel vor zehn gewesen, als Rei seine Wohnung verlassen hatte. Mao war schon längst auf dem Weg zur Schauspielschule gewesen, als er aufgewacht war – So wie jeden Freitagmorgen. Er musste an diesem Tag immer erst etwas später zu Uni, weshalb er seit kurzem die Zeit nutzte, um etwas Schlaf aufzuholen, auch wenn er dadurch seine Freundin jedes Mal verpasste. Auch als er in der vorigen Nacht von der Arbeit gekommen war, hatte sie bereits geschlafen, wofür er natürlich Verständnis hatte, da sie früh aufstehen musste. Im Moment sahen sie sich nun mal leider öfters gegenseitig schlafend als wach. Doch sicher würde sich das wieder ändern, sobald er den Prüfungsstress hinter sich gebracht hatte, weshalb Rei nicht weiter darüber nachdachte und stattdessen den Kragen seiner Winterjacke enger über seinen Schal zog, als er aus der U-Bahn-Station in der Nähe seiner Universität stieg.

Etwas durchgefroren betrat er nach kurzem Fußweg die Eingangshalle des Hauptgebäudes der Uni. Zielgerichtet ging er auf das schwarze Brett zu, um nachzusehen, ob irgendwelche wichtigen Informationen oder Planänderungen, die ihn betrafen, angeschlagen standen. Er stellte gerade fest, dass dem nicht so war, als jemand hinter ihm am Träger seiner Umhängetasche zog.

„Morgen!“, hörte er eine fröhliche Stimme.

Der Schwarzhaarige drehte sich um, ehe er den blonden jungen Mann hinter sich anlächelte: „Morgen, Makkusu!“

Makkusu war seit Jahren Reis bester Freund. Er studierte ebenfalls hier. Allerdings das Fach Anglistik, weshalb sie sich, wenn überhaupt, nur zwischen den Vorlesungen sahen. Doch der Freitag war in dieser Hinsicht ein besonderer Tag: Es war der einzige unter der Woche an dem Makkusu, Rei und ihr Freund Kyouju Azuhara, der Informatikstudent war, sich in der Mensa treffen konnten, da sie dann ausnahmsweise alle gleichzeitig an der Uni waren und sich auch ihre Vorlesungen nicht überschnitten. So konnten sie die Zeit nutzen und unter anderem darüber sprechen, was sie am bevorstehenden Wochenende planten. So ging Rei auch heute wieder mit Makkusu, der gerade erst von seiner ersten Vorlesung an diesem Tag kam, in Richtung Mensa.

An deren Eingang trafen sie auf den braunhaarigen Kyouju, der sie freundlich begrüßte: „Guten Morgen!“

„Hey, Kyou!“, kam es von Makkusu.

„Morgen!“, begrüßte auch Rei ihn, ehe die Drei sich gemeinsam in der Schlange an der Theke anstellten und auf ihr Essen warteten.

Rei, der mit gutem Grund freitags nie frühstückte, nahm gerade seinen Teller entgegen, als Makkusu ihn fragte: „Wie geht’s Mao?“

„Gut“, war seine knappe Antwort.

„Ich habe Tickets fürs Spiel Tokio – Osaka nächste Woche. Willst du nicht mit ihr, Kyou und mir hingehen?“, erkundigte der Andere sich.

„Du weißt doch, wie viel ich im Moment zu tun habe“, entgegnete der Schwarzhaarige.

Der Blonde schüttelte verständnislos den Kopf: „Langsam übertreibst du wirklich. Ich hoffe mal, du lässt Mao nicht genau so hängen, wie mich in letzter Zeit.“

„Tut mir echt leid“, sagte Rei. „Frag doch mal Takao und Hiromi.“

„Du weißt, dass Hiromi Fußball hasst.“ Makkusu nahm von der Dame hinter der Theke seinen Teller entgegen.

Im gleichen Moment sprach sie jemand von hinten an: „Was hasse ich, Makkusu Mizuhara?“

Die drei jungen Männer drehten sich um: Hinter ihnen standen Hiromi und Naoko.

„Morgen!“, grinste der Blonde die beiden Mädchen an.

Auch Rei und Kyouju begrüßten sie, bevor sich die kleine Gruppe einen freien Tisch suchte. Nur Hiromi blieb an der Theke, um sich ebenfalls Mittagessen zu holen.

„Isst du nichts?“, fragte Makkusu das blonde Mädchen, dem er sich gegenüber gesetzt hatte.

Naoko schüttelte lächelnd den Kopf: „Habe erst jetzt Vorlesung. Komme also von zu Hause und habe eben erst gefrühstückt. Und ich wette es wird gleich wieder irre spannend. Wieso habe ich mich nur dazu entschieden Journalismus zu studieren?“

„Das weiß ich auch nicht“, grinste Makkusu.

Parallel dazu kam Hiromi mit einem Tablett zu ihnen hinüber und setzte sich auf den freien Platz neben Naoko: „Hör auf zu jammern! Ich muss mir gleich wieder was über irgendwelche uralten Erziehungsmodelle anhören, die wahrscheinlich heute sowieso keiner mehr anwenden würde.“

„Wieso hast du dich auch dazu entschieden Pädagogik zu studieren?“, witzelte die Blonde.

Hiromi zog ein langes Gesicht, während Makkusu mit der Majoflasche über seinem Essen herumhantierte.

„Soll ich dir helfen?“, belächelte Rei seinen Versuch, etwas aus dieser herauszubekommen.

„Ja, indem du mir vielleicht eine volle besorgst.“ Makkusu drückte weiter auf dem Flasche herum, in der Hoffnung, dass doch noch etwas herauskommen würde. „Dass der Mist hier auch grundsätzlich leer ist, wenn ich komme.“

Hiromi schüttelte den Kopf: „Deine Sorgen möchte man haben.“

Die Anderen wusste, dass sie darauf anspielte, dass er als einziger noch bei seinem Vater lebte, der ein gut laufendes Sportgeschäft besaß und seinem Sohn das komplette Studium finanziert. Zwar musste auch Kyouju nicht arbeiten, da ihm ebenfalls seine Eltern alles bezahlten, jedoch lebte er zumindest in einer eigenen kleinen Wohnung, um die er sich kümmern musste.

Makkusu sah auf und verzog das Gesicht, als sein Blick auf den Eingang fiel und er missmutig dreinblickte: „Immerhin muss auch ich den Fraß hier essen und fahre nicht in den Pausen nach Hause, wo ein Hausmädchen auf mich wartet, um mich zu bekochen.“

Wie auf Kommando drehten sich damit auch die Köpfe der Anderen in Richtung Eingang. Dort stand ein Mädchen mit langen grünen Haaren, das sich suchend umsah.

Naoko ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken und hielt ihre Tasche über ihren Kopf: „Wenn sie herkommt und nach mir fragt, sagt ihr, ich bin nicht da.“

Rei lächelte: „Zu spät. So wie es aussieht hat sie dich schon entdeckt.“

Und scheinbar hatte er Recht, da das Mädchen nun Freude strahlend zu ihnen hinüberkam: „Guten Morgen, alle zusammen!“

Sie ließ sich zwischen Makkusu und Kyouju nieder, während letzterer rot anlief und Rei sie im Namen aller freundlich begrüßte.

Darauf hörte man mürrisch von Naoko: „Hallo, Cousinchen!“

„Gibt’s irgendwas Neues?“, fragte die Grünhaarige fröhlich.

Hiromi kicherte, da Kyouju wie erstarrt dasaß – so wie er es immer tat, wenn seine heimliche Liebe, Naokos Cousine Sayura, in seiner Nähe war. Sie war die Jüngste von ihnen und studierte gerade im ersten Semester Ernährungschemie, was einer der Gründe war, warum Kyouju so von ihr hingerissen war: Es gab nicht viele Frauen, die sich für Naturwissenschaften interessierten. Dass Sayura ihn kaum beachtete, versuchte er weitestgehend zu verdrängen. Doch er war auch der Einzige, der von ihrem Auftauchen begeistert war. Die Anderen waren lediglich froh, wenn das etwas versnobte Mädchen aus reichem Elternhause wieder weg war. Nur konnte bis dahin schon mal eine ganze Pause vergehen.

„Ja, die Majonäse ist leer.“, antwortete Makkusu gelassen.

Rei grinste.

„Ah ja.“ Max ansonsten ignorierend, sah Sayura erwartungsvoll zu ihrer Cousine.

Diese sah finster zurück: „Sieh mich nicht so an! Ich habe erstens nicht mit ihm gesprochen und zweitens habe ich dir schon zig mal gesagt, dass Kai Hiwatari zum einen nicht auf kleine Mädchen steht und zum anderen niemand ist, mit dem man sich abgeben sollte, weil er ein schlechter Mensch ist.“

Ihre Verwandte blickte nun etwas sauer drein: „Tzz, du hast wohl auch wieder deine Tage, wie?“

Sie stand wieder auf und ging zu einem anderen Tisch in einiger Entfernung, wo scheinbar einige Freundinnen von ihr saßen und sie zu sich hinüber gewunken hatten.

„Das ging heute aber schnell.“, stellte Rei fest.

„Sie macht mich wahnsinnig“, seufzte Naoko. „Wieso versteht sie einfach nicht, was ich ihr sage?“

„Du verstehst das doch selbst nicht“, äußerte Hiromi leise.

Naoko ignorierte die Aussage und sagte stattdessen: „Wo wir aber schon mal von ihm reden: Kai hat mich gestern angerufen und mich zu einer Cocktailparty heute Abend eingeladen. Ich soll ruhig meine Freundinnen mitbringen. Hast du Lust?“

„Aber deine Freunde natürlich nicht.“, Makkusu stand etwas grimmig auf und machte sich auf die Suche nach einer Majoflasche mit Inhalt.

Rei sah ihm kurz nach: Er wusste, dass er nicht wirklich daran interessiert war, auf eine Party von irgendeinem steinreichen Unternehmer eingeladen zu werden. Er konnte es nur nicht ertragen, wenn Naoko in seiner Anwesenheit über diesen Kai Hiwatari, den weder er, noch Makkusu oder Kyouju bis zum heutigen Tage gesehen hatte, sprach. Überhaupt wusste er nur von Hiromi und Mao, dass er Juniorchef eines großen Konzerns war, den puren Luxus lebte und mit Frauen lediglich spielte. Zumindest berichteten die Zwei dies, auch wenn sie ihn nur als Stammkunden aus dem Cafe kannten, in dem sie arbeiteten. Makkusu hingegen tat ihm leid, da er in Naoko verliebt war, diese aber bis heute nicht auf seine Gefühle eingegangen war, obwohl sie davon wusste und beide sich eigentlich ausgezeichnet verstanden.

„Nein, kein Interesse“, winkte Hiromi ab. „Ich möchte Takao heute etwas schönes zum Abendessen kochen.“

„Dann halt nicht“, entgegnete Naoko.

Wenig später kam Makkusu mit einer vollen Flasche zurück: „Glückwunsch, Nao. Ich bin gerade am Tisch von Sayura und ihrem Hofstaat vorbeigekommen: Eine von ihnen muss eben hier vorbeigegangen sein und mitbekommen haben, dass du auf die Feier eingeladen bist.“

„Und wenn schon... ohne mich kommt sie da eh nicht rein...“, Naoko stand auf, „...und ich werde sie sicher nicht mitnehmen.“

„Willst du schon los?“, erkundigte Kyouju sich.

Die Angesprochene nickte: „Meine Vorlesung beginnt in fünf Minuten. Wir sehen uns!“

„Alles klar, bis dann!“, kam es von dem Anderen, bevor sie ging.

Hiromi sah auf ihre Uhr: „Ah, ich muss auch los!“

Sie griff ihre Tasche, sprang auf, nahm ihr Tablett und verabschiedete sich hastig von den Anderen, bevor sie ihr Geschirr wegbrachte.

Während Kyouju ihr noch kurz nachsah, wendete Rei sich an Makkusu, der nun etwas schlechter gelaunt in seinem Essen herumschaufelte: „Lass den Kopf nicht hängen. Irgendwann wird sie schon aufwachen.“

„Hmm...“, war die knappe Antwort des Anderen.
 

Der Vormittag war längst verstrichen und nach einem guten und kostspieligen Mittagessen am Besprechungstisch und einem Meeting, das Yuriy wie immer schier sinn- und endlos vorgekommen war, saß er nun am frühen Nachmittag erneut mit seinen zwei Freunden in Kais Limousine. Diese brachte sie geradewegs zu einem Cafe in der Innenstadt, das Kai ihnen wärmstens empfohlen hatte.

„Und es ist wirklich so gut?“, fragte Boris nochmals.

„Glaub mir, ich bin vor einigen Monaten reinzufällig dort gelandet, weil ein Geschäftspartner sich dort mit mir treffen wollte. Seitdem gehe ich in kein anderes mehr. Es ist zwar kein Fünfsternelokal, aber äußerst gemütlich. Und mein Stammtisch liegt in einer schön abgeschotteten Ecke, wo man ganz ungestört reden kann.“ Abermals blickte Kai vielsagenden drein. „Und man kann von dort aus trotzdem ganz wunderbar die Bedienungen beobachten.“

„Ich hoffe doch, sie sind attraktiv.“ Boris Blick wurde wieder dreckig.

„Als würde ich mich für unattraktive Frauen interessieren“, entgegnete der Blauhaarige kühl.

Boris grinste, während der Andere zu Yuriy sah, der stumm aus dem Fenster blickte und dabei lässig die Arme zu beiden Seiten über die Rückenlehne gelegt hatte: „Hey, was ist? Mal wieder keine Lust auf schöne Frauen?“

„Er hat sicher schon wieder Heimweh“, witzelte der Grauvioletthaarige.

Kai sah von ihm zu dem Rothaarigen: „Aber du kommst doch heute Abend zu meiner kleinen Party?“

„Ja“, antwortete der Angesprochene knapp, ohne ihn anzusehen.

„Du weißt doch was für Augenweiden Kai immer einlädt. Und wer weiß“, kam es von Boris, „vielleicht ist dieses Mal auch die richtige für dich dabei.“

Yuriy wandte sich ihnen nun zu und hob skeptisch die Augenbraue, als der Wagen hielt: „Das sagtest du gestern schon.“

Der Chauffeur auf dem Beifahrersitz stieg aus und öffnete ihnen die Tür. Mit einer Verbeugung deutete er ihnen den Weg zur Tür des kleinen Cafes, vor dem sie gehalten hatten. Ohne ein Wort zu sagen stiegen die Drei aus. Kai ging voran und betrat als erster das kleine Lokal. Bereits an der Tür eilte ihnen eine hübsche junge Bedienung entgegen, um sie zu begrüßen und ihnen ihre Jacken und Mäntel abzunehmen. Yuriy sah die junge Frau mit den rosaroten Haaren irritiert an, als sie ihn überrascht anblickte und etwas zögerte, bevor sie auch seinen Mantel entgegennahm und zu denen der Anderen hing, ehe sie ihn, Boris und Kai zu einem Tisch in der hintersten Ecke führte. Dieser wurde von einem breiten Raumteiler in Form eines großen Blumenkübels noch zusätzlich verdeckt. Scheinbar musste Kai hier inzwischen wirklich bekannt sein, dass sie die Drei ohne zu fragen zu dem von ihm bereits zuvor beschriebenen Tisch geleitet hatte, wo der Blauhaarige es sich umgehend auf der weichgepolsterten Eckbank gemütlich machte.

Boris und Yuriy ließen sich auf zwei der bequemen Stuhlsessel nieder, ehe die Angestellte freundlich fragte: „Was darf ich Ihnen zu trinken bringen?“

„Für mich wie immer“, antwortete Kai.

Boris sah ebenfalls zu ihr auf, während sein Blick bereits wieder etwas lüsternes hatte: „Bitte, einen Latte Macchiato mit Schuss.“

Während sie dies noch auf ihrem kleinen Notizblock, den sie aus ihrer Schürzentasche gezogen hatte, notierte, sah sie nun fragend Yuriy an, dieser sah aus dem Augenwinkel zu ihr auf, während sie ihn genau ansah: „Einen Espresso.“

„Kommt sofort.“ Die junge Frau drehte sich um und ging zur Theke.

„Bitte“, ergänzte Boris kopfschüttelnd.

Kai schmunzelte: „Er ist nun mal freundlich wie immer.“

„Na immerhin hat er sie angesehen“, fügte der Andere hinzu.

Yuriy sah der Bedienung nach: Irgendwie hatte er das Gefühl, ihr schon mal begegnet zu sein. Ihm fiel momentan nur nicht ein, wann oder wo das gewesen sein sollte. Doch sowohl ihr Gesicht mit den weichen Gesichtszügen und ihre leuchtenden goldgelben Augen, als auch ihre warme, etwas mädchenhafte Stimme kamen ihm äußerst bekannt vor.

„Gefällt sie dir?“, Yuriy sah zu Kai, nachdem dieser die Frage gestellt hatte.

Jedoch antwortete er nicht, sondern zog seine Zigarettenschachtel aus der Jacketttasche.

„Kai hat dich etwas gefragt“, kam es daraufhin vom Dritten im Bunde.

Kais Blick war erneut vielsagend: „Lass gut sein. So ist unser lieber Yuriy nun mal.“

„Ich habe mich nur umgesehen“, gab der Rothaarige letztlich zur Antwort, während er sich eine Zigarette ansteckte und die Packung dann Kai hinhielt.

Dieser zog eine Stange heraus: „Woher weißt du, dass meine leer sind?“

„Weil ich vorhin gesehen habe, dass du die letzte aus deiner Packung genommen hast“, entgegnete der Andere, während er auch Kais Zigarette ansteckte.

Der Blauhaarige musste schmunzeln: „Ein scharfsinniger Beobachter wie eh und je.“

„Gute Idee.“ Boris suchte nun ebenfalls nach seinen Zigaretten, bis er feststellte, dass er sie nicht bei sich trug. „Verdammt, ich muss sie beim Mittagessen liegen gelassen haben.“

Er blickte breit grinsend zu Yuriy, der seufzte und nun auch ihm seine Schachtel hinhielt und ihm eine Nikotinstange anzündete.

„Was macht dein Großvater eigentlich?“, erkundigte Boris sich daraufhin bei Kai.

Gelassen antwortete dieser: „Golfplätze in Florida anlegen lassen und Bälle einlochen.“

„Hat er sich endgültig aus dem Geschäft zurückgezogen?“, fragte der Andere weiter.

Kai nickte: „Inoffiziell ja.“

„Na wunderbar.“ Boris musste schmunzel. „Dann gehört dir inzwischen ja so gut wie alles.“

Der Blauhaarige belächelte dies: „Im Prinzip ja. Mal sehen, wann der alte Mann mir die Firma offiziell übergibt.“
 

Mao konnte nicht glauben, wer dort eben zur Tür hineingekommen war und in wessen Begleitung. Nur allzu gut konnte sie sich an die roten Haare und die markanten Gesichtszüge des jungen Mannes erinnern, der sie am Vortag in der Stadt aufgefangen hatte. Und auch seine kühle, energische Stimme mit dem leichten Akzent hatte dafür gesorgt, dass sie sich wieder präzise an die Situation vor dem Schaufenster hatte erinnern können. Als er zur Tür hereingekommen war und auch beim Aufnehmen der Bestellungen, hatte sie Mühe gehabt, ihren Blick überhaupt wieder von ihm zu lösen. Irgendetwas ließ ihn ihr äußerst interessant erscheinen. Doch was sie nun mehr als nur störte war, dass bei ihm der Mann gewesen war, der eine ihrer besten Freundinnen als sein Spielzeug ansah und ihr Leben zerstörte und zu allem Übel seit einigen Monaten auch noch Stammkunde im Cafe war: Kai Hiwatari – wie sehr sie diese Person verachtete. Und in welch ein schlechtes Licht er damit ihren Schutzengel rückte. Was, wenn die beiden eng befreundet waren? Ihr Retter war dann wohlmöglich ein ebenso kaltblütiger und gewissensloser Geschäftsmann, der Frauen nur wie Gegenstände behandelte. Aber vielleicht waren er und der Grauvioletthaarige, der ebenfalls mit ihnen das Lokal betreten hatte, nur Geschäftspartner, die nun außer Hörweite in der stillen Ecke hinter dem großen Raumteiler mit ihrem Gegenüber verhandelten und sonst nichts weiter mit diesem zu tun hatten. Hinter dem Tresen stehend und die Bestellungen abarbeitend sah sie in die Richtung, wo der Tisch stand. Am breiten Pflanzenkasten vorbei konnte sie noch gerade das feuerrote Haar des einen Unbekannten sehen.

Während sie weiter beobachtete, kam Naoko aus dem kleinen Lagerraum im Keller des Cafes, wo sie neue Trinkhalme und Kaffeesorten, die hier oben aufgefüllt werden mussten, geholt hatte. Während sie die Utensilien hinter der Theke verstaute, fiel ihr Blick auf das Tablett, welches ihre Freundin augenblicklich belud, und damit auf die Mokkatasse, in die sie neben dem Kaffee noch Rotwein, Wodka und Zucker gekippt hatte. Reflexartig blickte die Blonde in Richtung Raumteiler, hinter dem Zigarettenqualm aufstieg. Eilig ließ sie die Trinkhalme auf der Arbeitsfläche liegen und ging um den Tresen herum, wo sie das Tablett, das Mao gerade hatte nehmen wollen, an sich nahm.

„Naoko!“, die Rosarothaarige wollte sie aufhalten, doch es war zu spät: Ihre Freundin war bereits unterwegs zum Tisch.

Mao wollte nicht, dass sie dort hinging. Sie und Hiromi waren stets bemüht sie davon abzuhalten, mit Kai Hiwatari Kontakt zu haben, seit sie wussten, welches Spiel er mit ihr trieb. Doch sobald er das Cafe betrat und Naoko Wind davon bekam, schaltete ihr Verstand aus und sie mutierte von einer sonst erwachsenen Frau zu einer Art kleinem Groupie im Teenageralter, der vollkommen blind seinem Idol nachlief. Nur dass ihr Superstar, weniger ein Vorbild als ein arroganter Arsch war, wie nicht nur Mao fand.

„Verdammt!“, wisperte sie an sich selbst gerichtet. „Wieso habe ich nicht zuerst den Mokka gemacht?“

Ja, warum? Hätte sie den sogenannten Kosakenkaffee, den Kai immer bestellte, wenn er hier war, vor den anderen Bestellungen gemacht, hätte Naoko nicht mitbekommen, dass es einer mit Extraschuss war und ihr Blick wäre womöglich nicht automatisch in Richtung Qualm gewandert. Denn Kai war der einzige Gast, den sie kannten, der auf den ohnehin schon alkoholhaltigen Kaffee noch einen zusätzlichen Schuss verlangte. Und wenn dann auch noch gleichzeitig Rauchschwaden hinter der Grünbepflanzung vor Kopf aufstiegen, konnte nur er dort sitzen. Mao seufzte: Wahrscheinlich würde er Naoko gerade wieder um den Finger wickeln. Und sie konnte rein gar nichts tun, denn der Gast war König und weder sie noch ihre Freundin durften ihre Anstellung gefährden.
 

Kai sah auf, als eine andere Bedienung mit ihren Bestellungen an den Tisch kam.

Ein freundliches Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit: „Ah, hallo, Naoko! Schön dich zu sehen.“

Während er seine Zigarette über dem Aschenbecher auf dem Tisch abklopfte und die blonde Frau ansah, die ihm eine Tasse mit Mokka hinstellte, sahen auch die anderen Zwei zu ihr auf.

„Hallo“, antwortete sie kurz, aber freundlich, bevor sie sich an die anderen Beiden wandte. „Wer bekommt den Espresso?“

Kai deutete auf Yuriy, der sogleich ebenfalls eine kleine Tasse serviert bekam, bevor auch Boris seine Bestellung erhielt.

„Darf ich vorstellen?“, Kai deutete kurz auf die Blonde. „Naoko Tanikawa, meine Lieblingsbedienung.“

„Herr Hiwatari, bitte...“, dass sie etwas rot anlief, während er dies sagte, war ihm scheinbar gleichgültig.

Er machte nämlich mit der Bekanntmachung weiter und stellte seine Freunde vor: „Yuriy Ivanov und Boris Kuznetsov.“

Das nun leere Tablett mit der Oberseite zu den Gästen gerichtet vor ihren Bauch haltend, verneigte Naoko sich höflich vor den beiden Männern: „Freut mich sehr Ihre Bekanntschaft zu machen.“

„Oh, die Freude ist ganz auf unserer Seite“, antwortete Boris, während er sie genau musterte.

Von Kai war ein leichtes Lachen zuhören, ehe er sich wieder an die junge Frau wandte, die sich wieder aufgerichtet hatte: „Du kannst mich vor den Beiden ruhig mit meinem Vornamen ansprechen, Kleines.“

Sie sah ihn wieder an, wobei ihre Mundwinkel ein kurzes, zögerliches Lächeln formten.

„Hübsches Cafe“, äußerte im selben Moment Boris.

„Danke sehr.“ Naoko blickte nun wieder zu ihm hinab, bevor ihr Blick auf den Rothaarigen fiel, der teilnahmslos zurückgelehnt dasaß und mit geschlossenen Augen an seinem Espresso nippte.

„Sag mal“, als Kai sich wieder an sie wandte, öffnete er die Augen und beobachtete ebenso wie Boris, dass ihr Freund seine Zigaretten nun von der rechten in die linke Hand genommen und erstere auf die Hüfte der jungen Frau, die nicht weit weg von ihm stand, gelegt hatte, „wie steht es eigentlich mit heute Abend? Du kommst doch, oder?“

Die Bedienung sah ihn verlegen an: „Ähm, ja, natürlich. Danke noch mal für die Einladung.“

Er lächelte erneut, während seine Hand nun langsam vor den Augen der Anderen auf ihren Po wanderte: „War doch selbstverständlich.“

Kurz darauf rief die Bedienung, die ihre Bestellung aufgenommen hatte, dezent nach ihrer Kollegin: „Naoko, kommst du mal bitte?“

Die vier Personen sahen sich kurz nach der jungen Frau um, die offenbar den Zuckerstreuer auf einem der anderen Tische, den man von hier aus sehen konnte, ausgewechselt hatte und nun wieder zur Theke zurückkehrte.

Naoko sah wieder die Gäste an: „Entschuldigung, aber ich muss weiter arbeiten.“

Erneut verneigte sie sich.

Sie wollte gerade gehen, als Kai sie am Arm festhielt: „Hast du deine Freundinnen auch gefragt, ob sie mitkommen?“

„Nur Hiromi, aber sie hat schon etwas anderes vor. Mao wird zwar sicher auch nicht mitkommen, aber ich kann sie ja gleich noch fragen.“, antwortete sie ihm.

Kai nickte: „Ich bitte dich darum.“

Damit ließ er sie wieder los und die Blonde ging zurück zu ihrer Kollegin.

„Na du darfst dir ja hier was erlauben“, grinste Boris wenig später.

Kai nahm seine Zigarette zurück in die andere Hand und griff gelassen nach seiner Tasse: „Auch nur bei ihr.“

„Wie kommt es dazu, wenn ich fragen darf?“, wollte der Andere wissen.

Eine Mischung aus Lacher und Schnaufen war von Kai zu hören: „Als ich das zweite Mal hier war, konnte ich nicht wiederstehen und habe ihr einen kleinen unsittlichen Klaps verpasst. Sie ist daraufhin vollkommen ausgerastet und hat mich aufs Übelste beschimpft – bis ihr Chef kam und sie zusammengestaucht hat, wie sie es denn wagen könne, einen Gast zu beschimpfen. Und dann noch einen ‚wie mich’. Hätte ich sie nicht in Schutz genommen und behauptet, das ganze sei nur ein kleines Missverständnis gewesen, hätte sie augenblicklich ihren Job verloren. Seitdem ist sie mir sozusagen etwas schuldig, sodass sie nahezu alles für mich tun würde. Na ja, im Grunde ist sie mir längst hoffnungslos verfallen. Was man nicht alles in einer Nacht erreichen kann...“

Boris lachte kurz: „Der armselige Job hier muss ja ganz schön wichtig für sie sein.“

„Sie studiert. Frag mich nicht was, ich habe es schon wieder vergessen. Jedenfalls braucht sie dafür das Geld.“, Kai nahm einen Zug Nikotin und blies den Rauch nach oben in die Luft.

„Hmm... kann dich aber verstehen.“ Boris drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus. „Ist wirklich ein hübsches Ding.“

Kai grinste boshaft: „Gucken erlaubt - Anfassen verboten! Die Kleine gebe ich jetzt noch nicht her. Macht nämlich im Moment besonders viel Spaß mit ihr.“

„Alles klar“, lachte der Andere.

Während Boris nun einen Schluck trank, sah der Blauhaarige zu Yuriy.

„Hey, Yu!“, gedankenversunken hatte dieser seit dem Rufen der anderen Bedienung zur Theke geblickt und wurde nun von Kai zurück in die Realität geholt, als dieser auf seine Zigarette deutete.

Der Rothaarige folgte seiner Kopfbewegung und blickte ebenfalls auf den Glimmstängel in seiner Hand, an dessen Spitze die Asche bereits drohte, zu Boden zu fallen. Er lehnte sich deshalb nun etwas vor, um den Aschebecher erreichen zu können.
 

„Man, musst du hier so rumbrüllen?“, etwas grimmig kam Naoko bei ihrer Freundin an, die ebenfalls mit zornigem Gesicht dastand und Gläser abspülte.

„Erstens habe ich nicht gebrüllt“, Mao sah nicht auf, „und zweitens: Sollte ich vielleicht abwarten, bis der Mistkerl dich wohlmöglich direkt auf dem Tisch flachgelegt hätte?!“

„Ich lasse mich nicht einfach von ihm flachlegen“, zischte Naoko.

Mao belächelte dies und stellte das Glas beiseite, welches sie gerade abgespült hatte, bevor sie das nächste ins Wasser tauchte: „Nein, natürlich nicht.“

Scheinbar fehlte ihrem Gegenüber jedes Gegenargument, sodass diese nichts mehr sagte, ehe sie im Nebenraum verschwand.

Die Andere seufzte abermals: Sie hatte mitbekommen, dass Kai mal wieder dabei gewesen war, Naoko in sein Fischernetz zu lenken – so wie sie es befürchtet hatte.

Etwas niedergeschlagen hielt die Rosarothaarige in ihrer Handlung inne und legte ihre, mit Spülwasser benetzten, Hände auf dem Rand des Beckens ab, während sie ihren Kopf nach rechts drehte und durch die Fenster nach draußen auf die Straße blickte, wo wieder unzählige, gestresste Menschen entlang eilten.

Wieder musste Mao an den vergangenen Tag und an Rei denken. Wahrscheinlich war er inzwischen zu Hause und brütete wieder über seinen Büchern ohne auch nur ein einziges Mal an sie zu denken. Mao spürte, wie sehr dieser Gedanke ihr wehtat. Wann würde er sie endlich wieder wahrnehmen? Und wie lange konnte sie noch so leben? Ihr Blick wanderte wieder zu dem roten Haarschopf, den sie in einiger Entfernung noch gerade so sehen konnte. Scheinbar hatte er sie nicht wiedererkannt. Ob es nur daran lag, dass sie in ihrer Arbeitskleidung und mit den hochgesteckten Haaren anders aussah? Oder ob sie einfach doch die Art von Frau war, die nicht auffiel und kaum in Erinnerung blieb? Die junge Chinesin sah wieder auf das Spülbecken vor ihr und beobachtete den Schaum auf der Wasseroberfläche. Wieso dachte sie auf einmal so etwas? Wo war ihr Selbstbewusstsein hin?

Naoko kehrte von nebenan zurück.

Noch die Tür durchquerend und dabei ihre Haarspange, mit der sie ebenfalls pflichtgemäß ihre Haare hochgesteckt hatte, wieder befestigend, fragte sie ihre Freundin: „Kai hat mich gefragt, ob du heute Abend auch zu seiner Cocktailparty kommst. Aber ich denke mal, du sagst eh nein.“

„Richtig!“, Mao sah sie nicht an, sondern wusch weiter ab. „Und dir rate ich auch, nicht hinzugehen.“

„Ich soll nicht hingehen, weil der, in den du im Moment unglücklich verliebt bist, dich ignoriert?“, kam es gelassen von der Anderen.

„Du sollst nicht hingehen, weil der, in den du unglücklich verliebt bist, dich sowieso nur eingeladen hatte, um dich wieder ins Bett zu bekommen.“ Mao schaute sie nun an.

Der Blick ihrer Freundin wurde trotzig: „Mal abgesehen davon, dass ich ihn nicht liebe, ist das immer noch besser, als von dem Mann, den man liebt, gar nicht beachtet zu werden!“

Mao wusste worauf sie anspielte und seufzte: „Du musst es ja wissen.“

Sie trocknete ihre Hände ab, ehe sie begann die Gläser und Tassen wegzuräumen.

Naoko ging derweil näher auf sie zu und sagte nun sehr leise: „Vielleicht wäre es aber doch ganz gut für dich, wenn du mitkommen würdest. Das bringt dir sicher Ablenkung. Und du würdest sehen, dass das Leben nicht so trist ist, wie du im Moment denkst.“

„Ich brauche keine Ablenkung.“ Mao sah sie wieder nicht an. „Jedenfalls nicht solch eine.“

Naoko schüttelte verständnislos den Kopf: „Wenn du es dir doch noch anders überlegst: Ich fahre um halb sieben von zu Hause los.“

Da ihre Freundin nicht antwortete, widmete die Blonde sich nun anderen Gästen, die soeben das Cafe betreten hatten.
 

Es ging auf Halbsechs zu, als Mao endlich Feierabend hatte und etwas erschöpft die Wohnungstür aufschloss. Dahinter bekam sie wie erwartet das gewohnte Bild zu Gesicht: Rei saß am Tisch mit seinen Büchern und sah nicht einmal auf, als sie ihn begrüßte, während sie noch die Tür hinter sich schloss und sich ihrer Garderobe entledigte.

„Hi!“, das war alles, was er sagte ohne aufzusehen.

Mao ging in die Küche, da es Zeit war, das Abendessen vorzubereiten. Sie setzte zunächst Wasser auf, bevor sie einen Blick in den Kühlschrank warf: Es war kaum noch etwas zu Essen da. Eigentlich hätte sie einkaufen gehen müssen. Doch es war erst Freitag. Aus finanziellen Gründen war der Einkauf von Lebensmitteln nur alle zwei Wochen möglich – also erst wieder kommenden Montag. Sie schloss den Schrank wieder und überlegte, was sie Rei zu essen machen sollte. Damit sie noch über das Wochenende hinkamen, würde sie heute Abend einfach nichts essen. Sie öffnete eine andere Schranktür und holte ein Paket heraus. Ramen in Instantform war etwas, was sie oft aßen, da es eine der wenigen Speisen war, die sie sich leisten konnten. Sie legte die Nudeln neben dem Herd ab, füllte einen Topf mit ausreichend Wasser und stellte diesen neben den Wasserkessel auf den Herd. Während dieses nach einiger Zeit begann zu sieden, holte die junge Frau eine Essschüssel und zwei Teebecher aus dem Schrank, bevor sie die Fertiggerichtpackung öffnete.

Es dauerte keine zehn Minuten und sowohl Tee, als auch Essen waren servierfertig, sodass sie beides wie gewohnt auf das Tablett neben ihr stellte, noch Essstäbchen dazulegte und es zu Rei hinübertrug. Wortlos stellte sie es auf dem Tisch ab.

„Danke.“ Wieder sah er sie nicht an, sondern beschäftigte sich weiter mit seiner Lektüre.

Ohne eine Reaktion kehrte Mao zu ihrer Teetasse zurück, lehnte sich gegen die Arbeitsfläche und beobachtet stillschweigend ihren Freund beim Lernen, während sie ihren Tee trank.

Minuten verstrichen – Minuten in denen Rei nicht einmal von seinen Unterlagen abgelassen hatte. Selbst als er nach der Suppenschüssel gegriffen hatte, hatte er weiter gelesen. Mao hatte ihn die ganze Zeit beobachtet und mit jeder Sekunde waren mehr Zweifel in ihr aufgekommen, ob sie sein Verhalten noch lange genug ertragen würde. Ihren Becher hatte sie inzwischen geleert und stellte ihn deshalb hinter sich ins Spülbecken. Noch eine kurze Zeit schenkte sie der Beobachtung des Anderen, ehe sie ins Bad ging.

Nachdem sie kurz geduscht hatte, stand sie nun nur in ein Handtuch gewickelt vor dem Spiegel, schminkte sich und frisierte ihre Haare, indem sie diese elegant hochsteckte und mit ihrer schönsten Haarspange fixierte. Zum Schluss lackierte sie ihre Fingernägel mit klarem Lack. Es gab einen einfachen Grund, warum sie dies tat: Sie hatte beschlossen, doch mit Naoko zu der Feier zu gehen. Was sie dazu getrieben hatte, wusste sie nicht so genau, da sie immer noch nicht viel von einer gewissen Person hielt. Doch als sie vorhin Rei beobachtet hatte und wieder von ihm ignoriert worden war, war ihr eines bewusst geworden: Sie brauchte Ablenkung! Sie wollte nicht wieder alleine zu Hause sitzen oder sinnlos durch die Straßen laufen. Und schlimmer und schmerzvoller als das würde die Party kaum sein.

Nach einer halben Stunde ging Mao zurück in den Nebenraum und steuerte dort zielstrebig auf den Kleiderschrank zu, aus welchem sie ihr einziges festliches Kleid herausholte. Es handelte sich dabei um ein weißes, langes, chinesisches, das schon sehr alt war. Sie hatte es schon einige Male an den Nähten ausbessern müssen, doch da es ansonsten immer noch in Ordnung und die graue asiatische Ornamentik, die sich aus gewölbten Linien und Blüten zusammensetzte und einseitig vom Saum bis zum Stehkragen hinaufragten, zeitlos war, trug sie es immer noch. Wovon hätte sie sich auch ein neues kaufen sollen? Sie nahm das Kleidungsstück, sowie die Wäsche, die sie ebenfalls aus dem Schrank geholt hatte, mit ins Bad, wo sie sich anzog. Der einzige Schmuck, den sie anlegte, war ein goldener Armreif, den sie am rechten Oberarm trug.

Zurück im Flur, zog sie Schuhe und Mantel an, nahm ihr kleines beutelähnliches Handtäschchen, das sie mit Utensilien wie Geldbörse und Make-up gefüllt hatte und farblich zu ihrem Kleid passte, an sich und sah noch einmal kurz zu Rei. Er hatte ganz offensichtlich nicht mitbekommen, dass sie im Begriff war, das Haus wieder zu verlassen, geschweige denn, dass es ihm aufgefallen war, wie hübsch sie sich zurecht gemacht hatte.

„Ich bin mit Naoko weg“, sagte sie, als sie die Türklinke schon in der Hand hatte.

Er nahm davon offenbar keine große Notiz: „Mhm.“

Somit verließ Mao die Wohnung.

Ihre Freundin wohnte nicht weit weg, sodass sie zu Fuß in zehn Minuten da sein konnte. Draußen war es heute wieder bitterkalt. Und der Umstand, dass die Sonne im Winter um diese Uhrzeit schon untergegangen war, machte es nicht besser. Während sie gegen die Kälte ankämpfte und schnellen Schrittes auf dem Weg zu Naoko war, überkamen sie wiederum Zweifel. Dieses Mal war sie sich nicht sicher, ob sie gerade das Richtige tat. Sie hatte gute Gründe, warum sie Menschen wie Kai Hiwatari verachtete: Männer, wie er, waren nur auf Geld aus und sahen Frauen lediglich als Sexobjekte an. Sie würde vorsichtig sein müssen, damit sie nicht auch einem von ihnen auf den Leim ging. Schließlich hatte sie keine Ahnung, wie es dort zuging und wie die Männer die Frauen in ihre Fänge lockten. Aber sie sah auch etwas Positives in der ganzen Sache, außer dass sie dem Alleinsein in ihrer kleinen Wohnung entkommen war: Sie würde die Möglichkeit haben, ein Auge auf Naoko zu werfen. Vielleicht konnte sie ihre Freundin davon abhalten, sich erneut auf jenen einzulassen, der sie so unglücklich machte.

Um zwanzig nach sechs kam Mao endlich bei ihrer Freundin an. Sie betrat den Flur des großen Wohnhauses, fuhr mit dem Aufzug in den fünften Stock und stand letztendlich vor Naokos Wohnungstür. Einen Moment zögerte Mao, klingelte dann jedoch. Wenig später öffnete ihr Naoko in einem süßen, schwarzen Cocktailkleidchen die Tür und lächelte bei ihrem Anblick zufrieden.
 

Etwas überwältigt und unsicher stieg Mao eine gute Dreiviertelstunde später mit ihrer Freundin aus dem Taxi, welches vor einem noblen Anwesen außerhalb der Stadt gehalten hatte. Es war schon eine Überraschung für sie gewesen, dass Naoko und sie ein Taxi genommen hatten, was eigentlich aus dem Budget der Beiden fiel. Doch nachdem die Blonde ihr erklärt hatte, dass Kai dieses bezahlte, war ihre Überraschung wieder Missfallen gewichen - Er kaufte Naoko regelrecht und sie merkte es nicht. Und nun standen sie vor einer riesigen, modernen Villa, deren Fenster hell beleuchtet waren. Einige Gäste gingen vor ihnen auf den Eingang zu. Die beiden jungen Frauen folgten der kleinen Menschentraube die Stufen zum Portal hinauf, vorbei an den vier Säulen, die das große Vordach stützen, wo ein Butler mit Verneigung die Tür öffnete und sie eintreten ließ. Dahinter betraten sie eine große, runde Empfangshalle, an deren Decke in der Mitte ein prunkvoller Kronleuchter glänzte. Und auch die weißen Wände mit den edlen Verzierrungen wurden von silbernen Kerzenleuchtern geziert, deren Licht sich im glänzenden weißen Marmorfußboden mit den schwarzen Ornamenten wiederspiegelte. Während sie sich mit ihrer Freundin am Empfang anstellte, wo überprüft wurde, ob man zu den geladenen Gästen gehörte, blickte Mao sich weiter um: Es war für sie, als hätte sie soeben eine andere Welt betreten - und im Prinzip war dem auch so. Noch nie hatte sie in einem solch prachtvollen Gebäude gestanden.

Sie wandte sich an Naoko und flüsterte ihr leise ins Ohr: „Wohnt er hier?“

„Nein, er hat mir er erzählt, dass er sich die ‚kleinen’ Häuser am Stadtrand nur für seine Empfänge mietet. Die beiden Partys von ihm zu denen ich bisher eingeladen war, haben in anderen Villen stattgefunden.“ Naoko richtete nun ihre Aufmerksamkeit auf den Angestellten, der nach ihrem Namen fragte, als sie an der Reihe waren.

Während dieser danach auf der Gästeliste suchte, blickte die Chinesin nachdenklich ihre Freundin an: Offenbar wusste sie immer noch nicht, wo Kai wohnte. Demnach lief das Spiel immer noch so ab, dass er sich Hotelzimmer – nach Naokos Erzählungen immer die Präsidentensuite – nahm und dort mit ihr schlief, um sie in aller Herrgottsfrühe ohne ein Wort zu verlassen, während sie noch schlummerte. Wieso spielte sie dieses Spiel nur mit? Mao verstand nicht, was sie ihm gegenüber so naiv machte.

Inzwischen hatte der Bedienstet Naokos Namen auf der Liste gefunden, sodass sie samt ihrer Begleitung hereingelassen wurde. Einige Schritte weiter, gaben sie ihre Garderobe ab und erhielten kleine Karten mit Nummern, die sie in ihre Handtaschen steckten, ehe sie die zweiflüglige, offenstehende Tür zum Festsaal passierten, aus dessen Inneren bereits viele Stimmen und leise Musik zu hören war. Kaum hatten sie einen weiteren Butler hinter sich gelassen, der an der Tür stand und sich ebenfalls verneigt hatte, standen sie in einem Raum, gegen den die Empfangshalle wie eine Abstellkammer wirkte. Unzählige Menschen in vornehmer Kleidung standen überall im Raum oder an kleinen runden Stehtischen, tranken diverse Cocktails und unterhielten sich angeregt. Dazwischen wuselten einige Kellner mit Fliege und in weißen Hemden und schwarzen Westen umher und reichten den Gästen Häppchen und Getränke, während in einiger Entfernung vor Kopf eine große Bar stand, an der mehrere Barkeeper ohne Pause Cocktails mischten. Mao fühlte sich plötzlich äußerst fehl am Platze und hielt sich dicht an der Seite ihrer Freundin, als auch schon wenig später jemand Naokos Namen rief und von der Seite auf sie zukam.

Glänzende schwarze Schuhe, eine schwarze Hose, ein schneeweißes Hemd, ein offenes schwarzes Jackett und keine Krawatte unterliefen ihrem Blick, ehe Mao in das Gesicht des Blauhaarigen sah, der mit einem Champagnerglas auf sie zuging.

Naoko lief mit einem fröhlichen „Kai“ einige Schritte auf ihn zu, während die Rosarothaarige spürte, wie Wut in ihr aufkam. Doch sie versuchte sich nichts anmerken zu lassen und folgte ihrer Freundin wortlos.

Er hatte die Blonde gerade mit einem Handkuss begrüßt, als diese vorstellte: „Kai, Mao Chou. Mao, Kai Hiwatari – ihr kennt euch ja schon.“

„Natürlich.“ Kai sah Mao an und lächelte übertrieben freundlich. „Guten Abend.“

Sie lächelte lediglich gezwungen zurück, ohne den Mund aufzumachen. Den Anderen schien dies jedoch nicht sonderlich zu interessieren, da er einen Kellner aus einiger Entfernung zu sich hinüberwinkte. Dieser eilte sofort auf die Drei zu.

„Champagner für die Damen!“, auf die Aufforderung des Gastgebers hin, reichte der Mann ihnen augenblicklich das Tablett.

Mit einem „Danke“ nahm Naoko sich ein Glas, während Mao allerdings ablehnte. Der Kellner distanzierte sich daraufhin wieder von der Gruppe.

„Trinken Sie etwa nicht?“, erkundigte Kai sich.

„Doch, aber mich kannst du nicht einfach abfüllen. Und ich hätte lieber sein Tablett, um dich damit zu erschlagen“, waren ihre Gedanken, die sie jedoch für sich behielt und stattdessen antwortet. „Doch, aber erst später.“

„Na dann...“, der junge Mann machte einen Schritt zur Seite und wies ihnen den Weg zu einem Tisch, „Gehen wir darüber.“

Mao blickte in die Richtung und ihre Wut auf Kai rückte plötzlich in den Hintergrund, als sie dort einen gewissen jungen Mann stehen sah, der zurückblickte.
 

Seit Beginn der Feier war der Saal voller und voller geworden. Yuriy stand mit Boris und Kai an einem Tisch im rechten Teil des Raumes. Die Drei unterhielten sich, während sie noch an ihrem ersten Champagner tranken – zumindest hatten sie sich zu dritt unterhalten, bis Boris angefangen hatte die weiblichen Gäste auszukundschaften und sich dabei von Kai einiges über die Personen erzählen zu lassen. Der Rothaarige stand nur teilnahmslos daneben und hoffte einfach, dass Boris sich endlich für eine entscheiden, sich von ihnen lossagen würde und er selbst sich wieder mit Kai über andere Dinge unterhalten konnte. Und endlich war es nun soweit: Der Grauvioletthaarige stellte sein geleertes Glas ab und ging zum Angriff über, indem er sich vom Tisch verabschiedete und auf zwei junge Frauen zusteuerte, die etwas weiter weg standen und sich unterhielten.

Kai wandte sich wieder dem Anderen zu: „Und weg ist er.“

Doch Yuriys Freude darüber hielt nicht lange, da Kais Blick nun ebenfalls auf zwei Damen fiel, die soeben die Tür durchquert hatten: „Entschuldige mich einen Augenblick.“

Er nahm sein Glas und ging ebenfalls davon. Yuriy interessierte sich zunächst nicht näher für Kais Entdeckung und beobachtete stattdessen Boris beim Flirten. Wie üblich versuchte er gleich beide um den Finger zu wickeln. Und schon nach kurzer Zeit gab er seinem Freund einen kurzen Wink, der wohl soviel heißen sollte wie „Wir sehen uns morgenfrüh.“, und steuerte mit den beiden Damen die Bar an, wo die Barkeeper schon die ganze Zeit auf akrobatische Art und Weise Cocktails mischten, von wo aus er sicher irgendwann mit den Beiden das Hotel ansteuern würde. Yuriy sah wieder zu Kai hinüber. Auch dieser unterhielt sich inzwischen und rief gerade einen Kellner zu sich, als der Rothaarige erstmalig erkannte, wer da soeben zur Tür hereingekommen war: zum Einen handelte es sich um Kais Affäre – die blonde Kellnerin aus dem Cafe, deren Namen Yuriy schon wieder vergessen hatte – zum Anderen stand dort jedoch auch die andere Bedienung vom Nachmittag. Der Russe musterte sie von unten bis oben: Sie sah schön aus. Und plötzlich erinnerte er sich auch, woher sie ihm so bekannt vorgekommen war. Er hatte sie am Vortag auf der Straße aufgefangen, als sie gestürzt war. Doch in ihrem glänzenden weißen Kleid wirkte sie viel graziler, als in ihrem dicken Wintermantel – dieser hatte ihre gute Figur nicht im Geringsten so gut betont. Kai schien sie aufzufordern ihn zum Tisch zu begleiten, da er in Yuriys Richtung deutete und die Rosarothaarige nun zum ihm hinüberblickte, ehe sie auch schon wenig später mit den anderen Zweien hinüber kam.

„Da bin ich wieder - mit schöner Begleitung“, sagte Kai an seinen Freund gewandt.

Dieser antwortet kühl: „Das sehe ich.“

Der Blauhaarige deutete kurz auf die Blonde direkt neben sich: „Naoko kennst du ja bereits.“

Yuriy nickte, während sie ihn begrüßte.

„Und das hier ist...“, Kai sah Mao an, „Wie war noch gleich Ihr Vorname?“

„Mao – Mao Chou. Freut mich.” Sie stellte sich selbst vor, da es ihr zu wider war, das Kai zu überlassen, zumal er ihren Namen schon wieder vergessen hatte und das für sie nur zeigte, dass er hinsichtlich anderen Menschen oberflächlich war und zumindest Frauen auf ihren Körper reduzierte.

Der Rothaarige tat es ihr gleich, was doch ein wenig für Überraschen sorgte: „Yuriy Ivanov, angenehm.“

Während die beiden sich noch weiter ansahen, waren Kai und Naoko schon längst in ein Gespräch vertieft.
 

Seufzend schlug Rei sein Buch zu: „Ich mache drei rote Kreuze im Kalender, wenn die Prüfungen vorbei sind.“

In einer halben Stunde musste er wieder arbeiten. Er war gerade aufgestanden und hatte das Geschirr vom Abendessen neben der Spüle abgestellt, als es an der Tür klingelte. Gähnend ging er zur Wohnungstür hinüber und öffnete diese.

Davor stand Makkusu, der breit grinste: „Guten Tag, Herr Kon!“

„Hi!“, Rei ließ den Besuch eintreten und schloss die Tür hinter ihm wieder.

Der Blonde blieb neben der Garderobe stehen.

„Was gibt’s?“, fragte der Andere,

„Nichts. Wollte nur mal schauen wie es mit dem Lernen vorangeht und dich eventuell ein bisschen dabei stören.“ Immer noch zierte ein Grinsen das Gesicht des Blonden.

Sein Gegenüber verzog skeptisch die Augenbrauen: „Na super Idee. Nur dumm, dass ich gerade aufgehört habe, weil ich gleich zur Arbeit muss.“

„Ach so.“ Makkusu sah an ihm vorbei. „Ist Mao auch noch arbeiten?“

„Öhm... nein“, bekam er zur Antwort.

Sein Freund sah Rei wieder an: „Einkaufen?“

„Weiß nicht“, gab Rei zu.

„Wie ‚weiß nicht’?“, Makkusus Grinsen wich nun einem irritierten Blick. „Du musst doch wissen, wo deine Freundin ist.“

„Sie wollte weg. Aber ich weiß nicht mehr wohin.“ Rei kratzte sich am Kopf. „War so sehr in meine Bücher vertieft, dass ich es nicht ganz mitbekommen habe.“

Nun wurde der Gesichtsausdruck des Anderen äußerst ernst: „Kann es sein, dass sie mit Naoko unterwegs ist?“

„Ja, ich glaube, das sagte sie“, überlegte der Chinese.

Makkusu sah ihn nun aufgebracht an: „Und du hast sie gehen lassen?“

„Wieso nicht?“, Rei war nun außerordentlich verwundert über die Reaktion seines Freundes.

„Du weißt doch, wo Naoko heute Abend hinwollte.“ Er blickte ihn durchdringend an. „Schon vergessen? Heute in der Mensa?“

Rei fiel wieder ein, dass Naoko von einer Einladung gesprochen hatte: „Ach ja.“

„Ach ja?!“, Makkusu konnte nicht glauben, wie ruhig Rei blieb. „Hast du noch nicht mitbekommen, mit wem sie sich da abgibt? Was für ein Arsch dieser Kai Hiwatari sein muss? Weißt du wie viele von der Sorte da wahrscheinlich noch anwesend sind?“

Rei sah ihn sprachlos an: Er hatte sich überhaupt keine Gedanken darüber gemacht. Obwohl - warum auch? Mao war ihm genauso treu wie er ihr – da war er sich sicher. Warum sollte sie es ihr also nicht gönnen, mal mit einer Freundin wegzugehen? Er hatte doch im Moment ohnehin kaum Zeit für sie, auch wenn er dies sehr bedauerte.

Doch Makkusu schien da anderer Ansicht zu sein: „Was bist du eigentlich für ein Freund? Erst ignorierst du die Frau, die du liebst, und weißt deshalb nicht, wo sie ist, und dann bist du noch nicht mal besorgt, wenn du weißt mit was für Typen sie sich abgibt!“

„Jetzt krieg dich mal wieder ein!“, entgegnet Rei ernst. „Die Frau, die ich liebe, die liebt auch mich. Mao und ich sind uns treu.“

Der Blonde konnte es nicht glauben: „Herrje! Die blöden Prüfungen müssen dir wohl wirklich den Verstand vernebelt haben. Seit wann bist du so blauäugig?“

Sein Gegenüber wurde sauer: „Dir hat wohl eher deine unglückliche Liebe den Verstand vernebelt! Wie willst du beurteilen, wie treu wir uns sind?“

„Idiot! Es muss ja einen Grund dafür geben, dass du nicht genau weißt, wo sie ist. Entweder hat sie es dir nicht gesagt oder du hast es nicht mitbekommen, weil du wieder gebüffelt hast.“ Wütend nahm der Andere die Türklinke in die Hand. „Ich bin vielleicht Single, aber dennoch verstehe ich soviel von Frauen, dass ich weiß, dass es jede Frau hasst, ignoriert zu werden. Ich kann dir nur wünschen, dass ich mich irre und Mao vielleicht doch nur einkaufen ist.“

Aufgebracht öffnete der Blonde die Wohnungstür, ging hinaus und schloss sie lautstark wieder. Rei starrte wortlos auf die Tür: Was sollte das? Was fiel Makkusu ein, zu behaupten, Mao wäre untreu? Er liebte seine Mao und er kannte sie. Wenn sie mit der gegenwärtigen Situation unzufrieden gewesen wäre, hätte sie mit ihm gesprochen, da war Rei sich sicher. Immer noch etwas wütend auf seinen Freund, drehte er sich um und nahm seine Jacke von der Garderobe, zog sie an und band sich seinen Schal um, ehe er prüfte, ob er alles Wichtige bei sich trug, stellte dabei jedoch fest, dass er keine Taschentücher mehr hatte. Deshalb kehrte er noch mal in den Wohnbereich zum Bett zurück. Dort zog er die Schublade des einzigen Nachttisches, den sie hatten, auf und griff nach einer neuen Packung, die er einsteckte. Er wollte das Fach gerade wieder schließen, als sein Blick auf etwas Goldglänzendes fiel. Der Schwarzhaarige griff erneut in die Schublade und hielt nun die Kette in der Hand, die er seiner Freundin zusammen mit dem gravierten Anhänger zum Valentinstag geschenkt hatte. Fassungslos betrachtete Rei sie: Warum lag das Symbol ihrer Liebe zerrissen in der Schublade? Seit wann lag es da? Hatte Makkusu etwa doch Recht gehabt? Hatte er Mao in den letzten Tagen zu wenig Beachtung geschenkt und damit ihre Liebe zerstört? Wenn er genau überlegte, hatte er sich wirklich nicht um sie gekümmert. Seit Wochen hatte es für ihn nur sein Studium gegeben und er hatte nicht gemerkt, wie sehr er seiner Freundin damit womöglich weh getan hatte. Und jetzt? Jetzt fand er hier die zerrissene Kette, die sie ganz bewusst weggelegt haben musste. Plötzlich fiel dem Schwarzhaarigen wieder ein, was Hiromi am Vorabend gefragt hatte – ob alles in Ordnung sei. Mao musste mit ihr über sein Verhalten gesprochen haben. Und er hatte diesen Wink mit dem Zaunpfahl nicht verstanden. Rei schloss den Gegenstand fest in seiner Hand ein. Ein ganzer Strom von Gedanken schoss plötzlich durch seinen Kopf, als wolle dieser all die Sorgen aufholen, die er sich in letzter Zeit nicht einmal gemacht hatte, die man sich aber um Person die einem viel bedeuteten sonst tagtäglich machte: Ging es Mao schlecht? Wenn ja, wie schlecht? Liebte sie ihn überhaupt noch oder war mit dem Zerreißen der Kette nun auch ihre Liebe gerissen? War ihr vielleicht etwas zugestoßen? Er spürte, wie es in seinen Schläfen zu pochen begann. Hastig steckte er die Kette ein und verließ die Wohnung ohne sich dafür zu interessieren, dass er nicht abschloss.
 

„Ich würde dich gerne alleine sprechen“, sagte Kai an Naoko gerichtet.

Sie nickte zustimmend.

Er wandte sich an die anderen Beiden: „Entschuldigt uns kurz!“

Damit verschwanden er und die Blonde mit ihren Cocktails, die sie sich eben vom Tablett eines Kellners geangelt hatten, in der Menschenmasse im Saal.

Mao war im Begriff Naoko nachzurufen, wurde dann jedoch von Yuriy unterbrochen: „Machen Sie sich keine Sorgen. Bevor er sie ganz entführt, wird er sich zumindest noch von mir verabschieden. Sollten Sie es so lange in meiner Nähe aushalten, können Sie ihre Freundin dann immer noch aufhalten.“

Überrascht sah die Angesprochene wieder den Rothaarigen an: Woher wusste er, dass sie sich um Naoko sorgte? War sie so leicht zu durchschauen?

Nochmals sah sie in die Richtung, in die sie mit Kai gegangen war, bevor sie sich wieder ganz Yuriy zuwandte: „Sie ist leider manchmal etwas unvorsichtig. Da macht man sich schon mal Sorgen.“

Obwohl sie nichts dazu gesagt hatte, was sie von Kai hielt, antwortete er: „Verstehe. Nun ja, bei Kai ist es leider wirklich manchmal so, dass man vorsichtig sein muss – gerade als Frau. Aber wie gesagt: Er wird auf jeden Fall noch mal hier auftauchen.“

Scheinbar hatte er eine wirklich gute Menschenkenntnis – oder er konnte Gedanken lesen.

„Möchten Sie denn gar nichts trinken?“, fragte Yuriy, da Mao bisher nicht ein einziges Glas entgegengenommen hatte und das obwohl sie schon fast eine halbe Stunde hier war.

Sie zögerte: „Ich...“

„Es gibt auch alkoholfreie Cocktails, falls Sie mir auch nicht über den Weg trauen“, ergänzte er.

„Nein, nein, so meinte ich das nicht.“ Doch, eigentlich war das ihr Gedanke gewesen, dass auch er nur darauf aus sein könnte, sie abzufüllen.

Yuriy winkte einen Kellner herbei, welcher umgehend an ihren Tisch kam und ihnen sein Tablett hinhielt. Der Rothaarige stellte zunächst sein leeres Glas darauf ab und nahm sich dann ein neues. Dessen Inhalt war ein bunter Mix aus Farben in grün, gelb und orange. Automatisch griff sie nach einem Glas, das genauso aussah.

Der Kellner entfernte sich wieder von ihnen während Yuriy auf ihr Glas blickte: „Da ist aber Alkohol drin.“

„Ich weiß. Aber nach einem Glas sollte ich eigentlich noch wissen, was ich tue“, entgegnete sie und nahm den Trinkhalm in den Mund.

Sie ließ die Flüssigkeit langsam auf ihrer Zunge zergehen: Es schmeckte exotisch – nach Kiwi, Orangen und etwas anderem, dass sie nicht kannte, ihr aber durchaus schmeckte. Auch ihr Gegenüber setzte zum Trinken an, beobachtete sie jedoch weiterhin.

Während sie auf ihr Glas blickte und ein wenig mit dem Trinkhalm darin herumrührte, setzte er wieder ab: „Schon erstaunlich, wie oft wir uns jetzt in vierundzwanzig Stunden zufällig begegnet sind.“

„Mhm.“ Sie nahm kaum Notiz, von dem was er sagte, da sie in Gedanken immer noch bei ihrer Freundin war, um die sie sich sorgte.

Yuriy ließ sich jedoch nicht beirren: „Ich muss mich entschuldigen, dass ich Sie heute Nachmittag nicht wiedererkannt habe. Der gestrige Tag war so stressig, dass mir erst eben wieder eingefallen ist, dass wir uns gestern ja schon einmal begegnet sind.“

Nun hielt sie in ihrer Bewegung inne und sah ihn an – er konnte sich also doch an sie erinnern.

„Macht doch nichts“, lächelte sie. „Danke noch mal für Ihre Hilfe.“

„Nichts wofür Sie sich bedanken müssten. Das sollte schließlich selbstverständlich sein“, antwortete er ruhig und sah auf sein Glas.

Kurz trat Schweigen zwischen ihnen ein.

„Darf ich fragen, ob Sie beruflich noch etwas anderes machen, außer im Cafe zu arbeiten?“, erkundigte er sich.

Sie war überrascht, dass er sich dafür interessierte, was eine Frau tat, die in der Gesellschaft einen viel geringeren Rang als er inne hatte. Aber vielleicht gehörte das ja auch nur zu seiner Taktik. Vielleicht wollte er sie herumkriegen, indem er vorgab, sich für ihre Person zu interessieren.

Trotz ihrer Bedenken antwortete sie freundlich: „Ich studiere zur Zeit Schauspiel an einer Theaterschule.“

„Sie möchten also zum Theater?“, fragte er weiter.

Sie nickte: „Ja, das war schon mein Traum als ich noch ein kleines Kind war.“

„Beneidenswert, dass Sie so ausdauernd und zielstrebig sind.“, bewundernd blickte er sie an, ehe er kurz leise lachte, „Ich wollte damals immer zur Polizei. Und was ist aus mir geworden? Ein anzugtragender Geschäftsmann ohne Schlips, der sinnlos auf Cocktailpartys rumsteht.“

Verwundert sah sie ihn an: „Aber wenn Sie hier sind, kann dieser Weg doch gar nicht so schlecht gewesen sein.“

„Natürlich war er das nicht, was das Geld angeht. Als Beamter wäre mein Lebenstandart ein ganz anderer.“ Er blickte auf sein Glas. „Nur war ich nicht in der Lage an meinem Traum festzuhalten.“

Mao sah ihn genau an: Seine eisblauen Augen wirkten plötzlich traurig, fand sie.

Wie auf Knopfdruck wurde sein Blick jedoch wieder interessiert und richtete sich auf sie: „Aber ich will Sie jetzt nicht langweilen. Erzählen Sie mir mehr von sich. Wo kommen Sie her?“

Yuriy wusste nicht, warum er auf einmal so viel redete – das sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Doch aus irgendeinem Grund konnte er es ihr gegenüber nicht bleiben lassen. Möglicherweise lag es auch daran, dass sie scheinbar nicht zu den Frauen gehörte, die nur auf diese Partys gingen, um reiche Männer kennen zu lernen.

„Aus China“, antwortete sie.

„Und das Theater hat sie hierher gezogen?“, kam es von ihm.

Sie blickte auf die glänzende, makellose Tischplatte: Was sollte sie sagen? Würde sie von Rei erzählen, würde diese Unterhaltung wahrscheinlich ganz schnell zu Ende sein, was sie nicht wollte, da sie zum Einen die Zeit verkürzte, in der sie auf Naokos Rückkehr wartete, und zum Anderen war Yuriy ihr durchaus sympathisch, auch wenn er zu der Gruppe Mann gehörte, die ihr äußerst suspekt war.

„Ja“, war ihre knappe Antwort, ehe sie hinzufügte, „aber ehrlich gesagt, möchte ich manchmal gerne zurück in meine Heimat.“

„Warum das?“, wollte er wissen.

„Hier in Tokio wirkt vieles so künstlich - die Menschen, das Leben. Kaum etwas, dass darüber hinaus geht, auf eine andere Ebene. Besonders hier habe ich das Gefühl, nur von geldgierigen und oberflächlichen Leuten umgeben zu sein...“, sie hielt sich kurz die Hand vor den Mund und lächelte dann verlegen, „Entschuldigen Sie vielmals. Ich wollte Sie damit nicht persönlich angreifen.“

Er schüttelte den Kopf: „Schon in Ordnung. Sie haben völlig Recht mit dem was Sie da sagen. Leider gehört auch mein Freund Boris Kuznetsov dazu – der Herr, der heute Nachmittag auch bei uns war. Sie erinnern sich?“

Sie nickte.

„Ihn interessiert nicht mehr als ein Leben ins Saus und Braus“, erklärte er.

„Gehört Kai Hiwatari nicht auch dazu?“, wollte sie wissen.

„Jein“, war seine ungenaue Antwort. „Er mag so wirken und denkt in einigen Dingen auch ganz ähnlich wie mein Freund Boris, aber er hat auch andere Seiten, die er allerdings nur selten zeigt – zu meinem Bedauern.“

Sie blickte erneut auf ihr Glas: Hatte sie Kai vielleicht falsch eingeschätzt? Nein – Yuriy sagte ja, dass er meistens doch so war, wie sie bisher dachte. Doch was sie beruhigte, war der Eindruck, den sie nun von ihrem Gegenüber hatte. Scheinbar war der Rothaarige anders als seine Freunde.
 

So schnell er nur konnte rannte Rei durch die Seitenstraßen des Wohnviertels. Ihm ließen seine Entdeckung und Makkusus Worte nun keine Ruhe mehr: Er musste Mao finden. Er hatte versucht sie auf dem Handy zu erreichen, doch sie war nicht dran gegangen. Eigentlich musste er längst auf dem Weg zur Arbeit sein, doch nun lenkte es ihn in eine andere Richtung. Keuchend und durchgefroren kam er an einem kleinen Einfamilienhaus an. Dies gehörte ursprünglich Hiromis Eltern, die es jedoch ihrer Tochter und Takao bereits vermacht hatten und aufs Land gezogen waren. Auf der Fußmatte stehend klingelte der Schwarzhaarige Sturm. Es dauerte, bis ihm endlich jemand die Tür öffnete.

„Oh, hallo Rei.“ Verwundert blickte Hiromi ihn an.

Sie wollte ihn gerade hereinbitten, als er sie ganz außer Atem und aufgebracht bat: „Gib mir die Adresse, wo ich Naoko finde.“

Wirsch sah Hiromi ihn an: „Die habe ich nicht.“

„Du musst doch wissen wo sie ist!“, Reis Unruhe machte sich immer stärker bemerkbar.

„Ich kann dir nur die Adresse von Kais Firma geben. Vielleicht können sie dir da helfen“, bot sie ihm an.

Rei nickte hastig, sodass sie ihn reinbat. Er trat ein und schloss die Tür hinter sich, während sie das dicke Telefonbuch aus dem Wohnzimmer holte und es ihm reichte.

„Hiwatari Corporation schimpft sich der Verein“, sagte sie.

Eilig blätterte Rei nach den Namen. Danach hätte er zu Hause selbst nachsehen können, doch hatte er sich erhofft, dass Hiromi wusste, wo genau diese Party stattfand. Endlich fand er Seite und Adresse.

Er zog gerade sein Handy aus der Tasche, um die Nummer darin zu speichern, als Takao aus dem Esszimmer kam: „Hey, Rei, was machst du denn hier?“

Sein Freund beachtete ihn nicht. Er steckte sein Telefon wieder weg, las sich noch einmal schnell die Anschrift des Konzerns durch, drückte Hiromi das Buch dann mit einem „Danke“ wieder in die Hand und war im Nu auch schon wieder zur Tür hinaus.

„Was war das denn?“, fragte Takao an seine Freundin gewand.

Diese blickte zur Tür und zuckte mit den Achseln: „Ich weiß es nicht.“

Doch, sie wusste es. Zumindest konnte sie sich denken, was los war: Mao musste mit Naoko zu Kais Cocktailparty gegangen sein und Rei suchte sie nun krampfhaft. Aber sie wollte ihrem Freund und sich selbst nicht den Abend vermiesen, der so schön begonnen hatte. Denn hätte sie Takao gesagt, was wohl los war, wäre der gleich seinem Freund hinterher gespurtet.

Somit tätschelte sie leichte seine Brust und ging ins Esszimmer zurück: „Komm, Schatz, ich habe Hunger.“

Der junge Mann blickte noch mal kurz auf die Haustür, ehe er ihr folgte.
 

Mao und Yuriy unterhielten sich schon einige Zeit über ihre Berufe und merkten kaum, wie die Zeit verstrich. Die Chinesin trank inzwischen ihren dritten Cocktail. Ihr Gesprächspartner erzählte ihr, wie sehr sich sein Freund beklagte, weil sie ‚nur’ in der Businessklasse reisten, während Kai sein eigenes Flugzeug besaß, und wie sehr ihn dieses Thema inzwischen nervte. Und obwohl er keinerlei Witze oder lustige Storys erzählte, musste Mao einige Mal lachen, einfach weil es sie belustigte, wie ihr Gegenüber über seinen Freund berichtete. Doch gleichzeitig hing sie mit den Augen auch fasziniert an seinen Lippen. Jedes einzelne Wort, das über diese kam, war, als hätte es eine tiefere Bedeutung – als wäre es mehr als nur ein Wort.

Yuriy sprach gerade davon, dass er darauf wartete, dass der Zimmerservice in ihrem Hotel sich weigert, noch einen Finger für Boris krumm zu machen, weil dieser dazu neigte ihn jede Halbestunde zu rufen, als Kai mit Naoko zurückkam. Wie auf Kommando, schlug Maos Stimmung wieder um.

Kai stand nun rechts neben dem Tisch, Naoko an seiner rechten Seite neben ihm, sodass Beide ihr den Rücken zukehrten, als er sich mit seinem für ihn typischen, selbstsicheren Blick an seinen Freund wandte: „Wir sind dann mal weg. Wünsche dir und Boris einen guten Rückflug. Ich melde mich bei euch!“

„Alles klar! Wir sprechen uns“, verabschiedete Yuriy sich.

Mao beobachtete, dass Kais Hand auf ihrem Rücken lag, der nackt war, da ihr Kleid nur im Nacken gehalten wurde und hinten lediglich ab dem Steißbein abwärts bis zu den Knien ihren Körper verdeckte. Und er hatte seine Hand nicht etwa in der Mitte der freien Fläche platziert, sondern genau über dem unteren Ende des Ausschnitts, wobei seine Fingerspitzen schon leicht unter den Stoff ragten.

„Warum schiebst du deine Hand nicht gleich ganz rein?“, schoss es Mao wütend durch den Kopf.

Sie sah in das Gesicht ihrer Freundin: Naoko beachtete sie gar nicht. Stattdessen blickte sie die ganze Zeit Kai an. Dass sie längst mehr als nur einen Champagner intus hatte, war leicht daran zu erkennen, dass sie sich mit einer Hand an seinem Jackett festhielt. Immerhin konnte sie noch geradeaus laufen, wie Mao feststellte, als Kai sie nun weiter in Richtung Ausgang lenkte. Die Chinesin war im Begriff ihr nachzulaufen, um sie aufzuhalten, hielt nach dem ersten Schritt jedoch inne, zog ihre Hand zurück und ballte diese in Brusthöhe vor ihrem Körper zusammen.

„Wollen Sie sie nicht aufhalten?“, hörte sie Yuriy fragen.

Mao blickte noch einmal kurz ihrer Freundin nach, ehe diese mit Kai in der Empfangshalle verschwand und sie selbst sich wieder zum Tisch wandte.

„Nein“, sie blickte abermals auf ihr Glas, „sie ist erwachsen. Sie muss selbst wissen, was sie tut.“

Trotz dieser Worte zweifelte sie daran, ob es in Ordnung gewesen war, Naoko einfach gehen zu lassen, oder, ob sie als ihre Freundin sie doch hätte aufhalten müssen.

Doch Yuriy schaffte es unbewusst diese Zweifel zu verdrängen: „Sehe ich genauso. Und Sie sind ja wohl nicht ihr Kindermädchen.“

Sie sah ihn an und lächelte: „Nein, ganz sicher nicht.“

„Ohne aufdringlich wirken zu wollen, aber hätten sie nicht auch Lust, dass wir uns vielleicht woanders weiter unterhalten? Mir sind hier ehrlich gesagt zu viele Leute“, sagte er leise.

Sie nickte: „Gerne.“

„Dann schlagen Sie einen Ort vor, wo wir ungestört reden können. Ich könnte jetzt vorschlagen, dass wir die Möglichkeit hätten auf mein Hotelzimmer zu gehen, aber dann hätten Sie mit Sicherheit ein ähnliches Bild von mir wie von Kai“, sagt er.

„Nein, nein. Habe ich nicht“, entgegnete Mao eilig. „Es ist vielleicht gar keine schlechte Idee. Draußen ist es mir persönlich etwas zu kalt und wenn man fast tagtäglich in einem Cafe arbeitet, hat man nur noch wenig Freude sich in ein solches als Gast zu setzen.“

„Gut, also wenn es Ihnen nichts ausmacht... wir können und natürlich auch ins Restaurant setzen und etwas essen“, schlug er zusätzlich vor.

„Da sind doch auch andere Menschen. Zwar nicht so viele wie hier, aber...“, kam es von der Rosarothaarigen.

„Auch wieder wahr.“ Yuriy stellte sein Glas ab- „Dann lassen Sie uns gehen.“

Und so stand er wenig später mit ihr an der Garderobe, wo beide ihre Mäntel zurück erhielten, bevor sie das Haus im diskreten Abstand nebeneinander verließen und auf eine der schwarzen Limousinen zusteuerten, die in einer Reihe vor dem Eingang auf Gäste warteten, welche die Feier verlassen wollten. Ein Angestellter öffnete die hintere Beifahrertür des vorderen Wagens, als Yuriy und Mao dort ankamen. Der Rothaarige ließ seine Begleitung zuerst einsteigen, ehe er ihr folgte, die Tür wieder geschlossen wurde und das Auto sich in Bewegung setzte.
 

Nachdem er Hiromis und Takaos Haus wieder verlassen hatte, hatte Rei sofort die Nummer gewählt, die er eben in seinem Handy gespeichert hatte. Und ausnahmsweise schien das Glück auf seiner Seite gewesen zu sein: Er hatte noch jemanden in der Firma erreich können, von dem er auch die Örtlichkeit der Cocktailparty erfahren hatte, nachdem er sich als geladener Gast, der die Information mit der Adresse verlegt hatte und Kai persönlich nicht erreichen konnte, ausgegeben hatte. Keine fünf Minuten später hatte er im Bus, der nach Norden aus der Stadt fuhr, gesessen und stieg nun auf der gegenüberliegenden Seitenstraße vor einem überwältigenden Gebäude aus. Doch viel Aufmerksamkeit hatte Rei der hell erleuchteten Villa nicht geschenkt. Stattdessen war ihm zunächst ein junger Mann mit roten Haaren aufgefallen, der gerade in die erste Limousine vor dem Eingang stieg. Er kannte ihn: Es war der unhöfliche Gast, der am Vorabend im Hotelrestaurant bei ihm bestellt hatte. Der Chinese blickte dem Wagen mit den schwarz getönten Scheiben nach, ehe dieser um eine Ecke bog, und richtete dann seinen Blick wieder auf den Eingang des Hauses, bevor er zielstrebig auf diesen zuging.

Doch schon an der Tür verwehrte ihm ein Bediensteter den Zutritt, indem er sich ihm in den Weg stellt und ihn kurz abwertend musterte: „Tut mir leid, mein Herr, aber hier ist geschlossene Gesellschaft. Wenn Sie ein geladener Gast sind, muss ich Sie bitten, Ihre Robe der Festlichkeit anzupassen.“

„Aber ich...“, Rei versuchte an ihm vorbeizukommen, scheiterte jedoch kläglich.

Der Angestellte wurde ernster in seinem Tonfall: „Auch wenn Sie auf der Gästeliste stehen, kann ich Sie so leider nicht hereinlassen. Herr Hiwatari hat das Haus bereits verlassen und kann Ihnen damit keine Ausnahmegenehmigung erteilen, was ihre Kleidung angeht.“

Immer noch blickte er skeptisch auf Reis abgetragene Schuhe und seine schlichte Jeans.

Doch der Schwarzhaarige wollte nicht so einfach aufgeben: „Bitte, ich muss da rein!“

Wieder stieß er auf ausdrückliche Ablehnung: „Es tut mir leid, aber das ist nicht möglich. Ich bitte Sie hiermit, das Grundstück augenblicklich zu verlassen oder ich sehe mich gezwungen, den Sicherheitsdienst zu informieren.“

Rei ließ den Kopf hängen, ballte dabei jedoch die Fäuste. Allerdings nur, um sie wieder zu öffnen, umzukehren und zur Straße zurückzugehen. Dort angekommen sah er über seine Schulter hinweg noch einmal zum Gebäude hinter ihm: Er hätte sich denken können, dass das passieren würde. Warum war er also überhaupt hierher gekommen? Er wusste doch noch nicht einmal, ob Mao wirklich hier war. Er sah auf die Uhr: Er müsste längst bei der Arbeit sein. Doch war ihm dies im Moment gleichgültig. Alles was für ihn gerade zählt, war das Wiederfinden seiner Freundin. Niedergeschlagen blickte er zu Boden: Was sollte er nur machen?

Im selben Moment hörte er jemanden leise rufen: „Hey, Rei!“

Er sah sich um und entdeckte plötzlich Sayura, die auf der anderen Straßenseite im Gebüsch hockte und ihn herüberwinkte. Etwas verwundert kam er der Aufforderung nach.

„Was tust du denn hier?“, fragte er sie irritiert.

„Mach nicht auf mich aufmerksam!“, sie packte ihn und zog ihn zu sich hinter den Busch in die Hocke. „Ich warte darauf, dass Kai rauskommt.“

„Bist du schon lange hier?“, wollte Rei wissen.

Sayura seufzte: „Nein. Gerade erst gekommen. Ich konnte erst so spät herausfinden, wo die Party steigt.“

Der Andere legte den Kopf schief: „Und wie bist du hier hergekommen? Du wohnst doch am anderen Ende der Stadt.“

„Mit dem Chauffeur?!“, antwortete Sayura in einer Stimmlage, als wolle sie fragen, wie man eine Frage mit einer doch solch logischen Antwort nur stellen konnte.

Rei verdrehte sie Augen: Warum hatte er überhaupt gefragt, als wäre von dieser verzogenen Göre etwas anderes zu erwarten?

„Und was tust du hier? Hast du versucht auf die Feier zu kommen?“, kam es von ihr. „Hätte ich dir gleich sagen können, dass du mit deiner kaputten Jacke da nicht reinkommst, zumal du ohnehin nicht auf der Gästeliste stehst.“

Er antwortete ihr nicht, sondern erhob sich wieder und ging wieder auf den Gehweg.

„Wo willst du hin?“, fragte sie weiter.

„Keine Ahnung“, gab er zur Antwort und ging davon, hielt nach einigen Schritten jedoch an und rief ohne sich umzudrehen. „Dein Schwarm ist übrigens schon längst weg.“

Ihren überraschten Blick in seinem Nacken spürend setzte er seinen Weg fort.
 

Schon unterwegs hatte Mao sich gefragt, ob sie das Richtige tat oder ob sie Yuriy Ivanov nun genauso in die Fänge gegangen war, wie Naoko es bei Kai Hiwatari tat. Jedenfalls saß sie nun mit ihm in seinem noblen Hotelzimmer auf einem der Sofas und er auf dem Zweiten ihr schräg gegenüber. Während er ihr ihren Mantel abgenommen und den besten Rotwein beim Zimmerservice geordert hatte, hatte sie sich überwältigt umgesehen: Das edle Mobiliar und der atemberaubende nächtliche Blick über die Tokioter Innenstadt waren für sie etwas vollkommen Neues. Doch beides war längst nicht so aufregend wie der Mann, mit dem sie sich nun wieder unterhielt. Er hatte eine Art an sich, die sie fasziniert: So kalt, mysteriös und undurchschaubar – und dennoch verstand sie sich hervorragend mit ihm. Sie sprachen darüber, wie oberflächlich viele Menschen waren und dass Geld für sie alles bedeutete.

„Entgegen vieler Meinungen macht Geld alleine nicht glücklich – mich zumindest nicht. Mein Freund und Kollege Boris ist zum Beispiel so einer – ihm genügt es den puren Luxus leben zu können.“

Mao war plötzlich wie gefesselt von seinen Worten. Seine Stimme zog sie nahezu in seinen Bann, während er erzählte. Sie teilten so viele Ansicht – besonders die, dass Geld im Grund vollkommen unwichtig war.

Yuriy verstand nicht, warum er einer wildfremden Person all das erzählte. Doch aus irgendeinem Grund sagte sein Instinkt ihm, dass er genau dies tun sollte. Mao schien ihn zu verstehe – schien das gleiche zu denken und zu fühlen. Der Einzige, mit dem er, wenn überhaupt, über tiefgründigere Dinge als Sex und Geld sprechen konnte, war Kai. Nur wenn er diesen sah, war meistens auch Boris dabei. Und dieser hatte das Talent Ersteren grundsätzlich von ernsten Dingen abzulenken und mit ihm über all diese oberflächlichen Sachen zu sprechen, die ihm selbst so unwichtig erschienen.

Deshalb fuhr er fort: „Manchmal wünschte ich, ich wäre doch meinem Kindheitstraum gefolgt und wäre Polizist geworden. Oder irgendetwas anderes – Hauptsache nichts, wo ich außergewöhnlich viel verdient hätte.“

„Macht es Sie denn so unglücklich, dass Sie das nun tun?“, fragte Mao.

Er sah sie an: „Tun Sie mir einen Gefallen: Nennen Sie mich Yuriy! Dieses Siezen finde ich in solch einem Gespräch genauso oberflächlich, wie das ausschließliche Reden über Geld.“

„In Ordnung. Dann bestehe ich aber auch darauf, dass Sie... dass du mich Mao nennst.“, ein Lächeln zierte ihr Gesicht.

Yuriy fand dieses bezaubernd und erwiderte es kurz: „Gut. Na ja um auf deine Frage zu antworten: Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass der Luxus nicht auch seine guten Seiten hat und es nicht auch schön ist sich vieles leisten zu können. Aber was bringen einem diese materiellen Werte, wenn emotionales dadurch verdrängt wird? Man muss sich so sehr seiner Gesellschaft anpassen, was Auftreten und Etikette angeht. Und besonders von Frauen wird man dadurch automatisch als geldsüchtiger Schnösel angesehen, der nur mit ihnen spielen will. Oder sie sind nur auf das Geld aus. Selten, dass man als Mensch gesehen wird. Und die wenigen die das tun, verlieben sich in den falschen, der tatsächlich nur mit ihnen spielen will.“

Mao seufzte: „So wie Naoko.“

„Es beschäftigt dich wohl doch sehr, dass du nicht eingegriffen hast?!“, kam es daraufhin von ihm.

Sie blickte auf ihr Rotweinglas: „Sie ist nun mal meine Freundin. Da ist es ganz normal, dass man sich Sorgen macht.“

„Kann ich nachvollziehen.“ Der Russe blickte sie ernst an. „Aber weiß Kai, dass sie es nicht auf sein Geld abgesehen hat?“

„Ich glaube nicht. Sie hat sich sicher bisher nicht getraut ihm zu sagen, dass sie ihn wirklich liebt. Wahrscheinlich ist sie einfach nur froh, dass er sie überhaupt beachtet“, antwortete sie leise. „Sie hat ja auch mir gegenüber nicht den Mut, dazu zu stehen.“

„Hmm...“, kam es überlegend von ihm.

Sie sah wieder auf und lächelte erneut: „Aber lassen wir das Thema. Ich habe keine Lust über die Beiden zu reden.“

Er nickte: „Geht mir genauso.“

Es trat Schweigen ein – ein angenehmes Schweigen, währenddem Mao wieder auf ihr Glas blickte und Yuriy sie beobachtete.

Diese Frau war außergewöhnlich, fand er. War sie das, wonach er gesucht hatte? Nach einer Frau, die ihn nicht auf sein Konto beschränkte, genau wie er sie nicht auf ihren Körper reduzierte?! Eine Person mit der man ernsthafte Gespräche führen konnte und die ihn verstand?

„Darf ich dich mal etwas sehr persönliches fragen?“, unterbrach er die Stille nun.

Mao sah ihn wieder an - sie ahnte bereits, was er wissen wollte, nickte aber dennoch.

„Hast du...“, er schaute kurz auf sein Glas, bevor er sich wieder ihr zuwandte, „...eigentlich einen Freund?“

Sie blickte zur Seite: Was sollte sie antworten? Sie wollte sich doch immer noch nicht den schönen Abend verderben. Aber Rei verleugnen?

Yuriy bemerkte ihr Zögern: „Entschuldige, wenn das zu persönlich war.“

„Nein, nein, schon okay.“ Sie sah ihn wieder freundlich an. „Ich habe keinen.“

Sie hatte es tatsächlich getan – sie hatte ihren Freund verleugnet. Aber warum auch nicht? Sie war sich längst nicht mehr sicher, ob sie ihn überhaupt noch liebte, geschweige denn, wie viel er noch für sie empfand. Vielleicht war es längst aus zwischen ihnen. Warum sollte sie also die Gelegenheit nicht beim Schopf packen? Yuriy gefiel ihr: er sah gut aus, hatte Charakter und vor allem verstand er sie. Doch das Wichtigste: Er schien sich für sie zu interessieren. Und das nicht, weil er mit ihr schlafen wollte, sondern weil wohl auch er sonst nur wenige kannte, die ihn verstanden. Mao musste sich selbst eingestehen, dass sie inzwischen doch ein klein wenig verliebt war.

„Darf ich mal eben deine Toilette benutzen?“, fragte sie wenig später.

Er nickte und deutete auf die Badtür: „Natürlich.“

Die Chinesin nahm ihr kleines Täschchen auf und ging damit in den Nebenraum, wo sie die Tür hinter sich abschloss.

Yuriy blieb wartend zurück. Er schwenkte leicht sein Weinglas und beobachtete die Lichtreflexe, die das gedämpfte Licht des Deckenfluters auf dem Wein erzeugten. Ganz bewusst hatte der Rothaarige die letzte Frage gestellt: Mao war eine unglaubliche Frau und er wusste, dass er sie wollte – sie und keine Andere. Doch wollte er sie nicht, wenn sie vergeben war, weil er sie nicht unglücklich machen wollte. Dass sie glücklich war, stand für ihn an erster Stelle. Seine Gefühle kamen erst danach.

Es dauerte nicht lange und sie kehrte aus dem Badezimmer zurück. Yuriy beobachtete sie. Ihn bereits wieder anlächelnd, schloss sie die Tür hinter sich, blieb dabei jedoch mit dem dünnen Band, dass sowohl zum Schließen, als auch zum Tragen ihrer Handtasche diente, an der Klinke hängen, sodass es riss. Der Beutel ging zu Boden, der Inhalt fiel größten Teils hinaus und lag nun auf dem teuren Teppichboden verstreut.

„Oh!“, sie hockte sich hin, um die Sachen wieder aufzusammeln, als der junge Mann auf der Couch bereits sein Glas abstellte und aufsprang, um ihr zu helfen.

Er ging ihr gegenüber in die Hocke und sammelte ihren Lidschatten und ihren Kajal ein, ebenso wie ihr Handy, ehe er ihr die Dinge reichte und sie diese wieder in die Tasche steckte.

„Danke“, kam es von ihr, als beide aufsahen.

Sie waren sich in diesem Moment körperlich so nahe, wie nie zuvor. Mao erschien diese Szene so klischeehaft: Wie oft hatte sie eine solche schon in Filmen gesehen? Und fast immer endeten diese Passagen damit, dass beide Charaktere im Bett landeten oder verlegen und wortlos auseinander gingen. Yuriy half ihr wieder hoch, ohne seinen Blick von ihren Augen zu lösen. Auch Mao konnte die ihrigen nicht abwenden: Er und sie schrieben in diesem Film gerade das Drehbuch. Also hatten auch sie die Wahl, wie diese Szene endete. Doch Mao wollte nicht abwarten, zu welchem Ende er tendierte, weshalb sie ihm auf ganz unkomplizierte Weise zeigte, für welches sie war: Ihre Tasche wieder fallen lassend und sich nicht darum kümmernd, dass dabei erneut einige Gegenstände herausfielen, legte sie in Sekundenschnelle ihre Hände auf seine Brust, presste ihn gegen die Wand neben der Badezimmertür, streckte sich zu seinem Gesicht hoch, schloss die Augen und küsste ihn. Yuriy brauchte etwas, bis er ganz realisiert hatte, was sie da gerade tat. Doch dann machte auch er die Augen zu, zog sie an sich heran, indem er seine Hände auf ihren Rücken legte und fuhr mit seiner Zunge leicht über ihre weichen Lippen. Diese öffnete sie daraufhin und ließ den zärtlichen Zungenkuss, den er von ihr verlangte, zu. Es dauerte nicht lange und sie spürte, wie seine rechte Hand von ihrem Rücken auf die Außenseite ihres rechten Beines wanderte und sich dort unter den Schlitz im Kleid, der vom Saum bis zu ihrem Becken reichte, verirrte. Nach einem kurzen Ausflug zu ihrer Taille, glitt seine Hand wieder unter dem Stoff hervor und fand sich wenig später am obersten Knopf ihres Kleides wieder, den er langsam öffnete. Die junge Frau bewegte währenddessen ihre Finger unter sein Jackett und schob es zur Seite weg, ehe er kurz seine Hände von ihr ließ und es eilig auszog, damit es zu Boden fiel. Doch bevor sich die Luft um sie herum weiter erhitzen konnte, fasste Yuriy sie an den Armen, löste den inzwischen äußerst intensiven Kuss und drückte sie ein Stück von sich weg.

Ernst sah er sie an: „Ich will das nicht tun, wenn du danach von mir denkst, dass ich doch nur wie Kai oder Boris bin.“

„Das werde ich nicht“, erwiderte sie, ehe er seinen Mund schon wieder auf ihren presste.

Nein, das würde sie ganz sicher nicht – sie wollte diesen Mann, sie begehrte ihn. Mao konnte sich nicht daran erinnern jemals solch ein Verlangen nach einer anderen Person gespürt zu haben. Und ihr Körper zeigte dies mehr als deutlich, als sich ihre Hände nun an den Knöpfen seines Hemdes zu schaffen machten, während er bereits ihr Kleid vollständig geöffnet hatte. Doch nun bekam sie zu spüren, dass er die Führung für sich wollte: Er zog ihre Hände weg, die gerade mal die Hälfte geöffnet hatten und drückte diese nach unten, an die Seiten ihres Körpers, bevor er mit seiner rechten den geöffneten Kragen ihres Kleides etwas beiseite schob und mit seinen Lippen von ihrem Mund genüsslich zu ihrem Hals wanderte, wobei sie ihren Kopf in den Nacken legte. Sie spürte seine Zunge über ihre Halsschlagader gleiten und an ihrem Ohrläppchen enden, während seine Hand nun ihren Rücken hinaufwandert, mit den Fingerspitzen leicht über ihren Nacken strich und irgendwann an ihrer Haarspange ankam, die nur Sekunden später schon auf dem Boden landete. Die Chinesin durchlief ein Schauer, der sich jedoch ausgesprochen aufregend anfühlte und ihr Verlangen nur noch verstärkte. Mao hob ihren Kopf wieder, sodass ihre langen offnen Haare über ihre Schultern fielen. Nicht lange und auch ihr Kleid glitt ihren Körper hinab. Bevor Yuriy sie leicht nach hinten schob, ließ sie noch ihre Schuhe an Ort und Stelle stehen, um sich dann weiter von ihm lenken zu lassen. Es war aufregend. Wenn sie mit Rei schlief, war meistens sie diejenige, die das Geschehnis kontrolliert. Doch hier war es ganz anders: der Rothaarige ließ nicht zu, dass sie auch nur für eine Sekunde die Dominanz übernahm. Mao störte das jedoch überhaupt nicht – im Gegenteil: Sie genoss es.

Als sie am Bett ankamen zog Yuriy sich noch schnell mit den Füßen die Schuhe aus, ohne sich zu bücken und sie aufzubinden. Und das nur, um nicht von ihr ablassen zu müssen. Denn er war schon wieder mit ihr in einem innigen Kuss versunken. Er drückte sie nach hinten auf die weiche Matratze, zog sie jedoch noch ein Stück mit sich hoch, damit auch ihre Beine ganz auf dem weichen Untergrund ihren Platz fanden, bevor er sich zwischen ihren Beinen kniend daran machte, von ihren weichen Lippen zur zarten Haut an ihren Schultern zu wandern und dort Küsse zu verteilen, während er sich mit einem Unterarm neben ihr aufstützte und mit der freien Hand über ihren Bauch bis hin zu ihrer Brust fuhr. Mao hatte offenbar verstanden, dass er nicht zuließ, dass sie sich allzu aktiv an der ganzen Sache beteiligte, da sie nur dalag und ihn machen ließ. Und das war ihm auch mehr als recht: Yuriy wollte, dass sie einfach nur genoss und sich ihm völlig hingab - und das tat sie.

Ihr Atem wurde deutlich hörbar, als er seine Hand unter ihren BH schob. In ihr stand alles kopf: Seine schnellen, aber präzisen – seine zärtlichen, aber dennoch bestimmenden Berührungen machten sie wahnsinnig. Doch als er kurz darauf wieder von ihr abließ und sich aufrichtete, öffnete sie die Augen und beobachtete, wie er sein Hemd nun ganz öffnete, es auszog und zur Seite von sich warf, während er sie mit seinen eisblauen Augen dabei fixierte, bevor er sich wieder zu ihr hinunter neigte. Nun ließ er immerhin zu, dass sie mit ihren Händen über seine Brust und seine Bauchmuskulatur fuhr. Und auch dem angenehmen Schmerz, den sie in ihm auslöste, als sie mit ihren Fingern leicht über seinen Rücken kratzte, war er nicht abgeneigt. Doch ansonst blieb er Herr des Geschehens und verdrehte Mao weiter die Sinne mit seinen Liebkosungen, die ihren Puls immer mehr beschleunigten.

Und auch sein Herz schlug wurde immer schneller. In ihm brodelte es bei jeder einzelnen Berührung zwischen ihnen. Er fühlte sich wie ein Vulkan – ein Vulkan der im Laufe der Nacht ausbrechen würde.
 

Grell schien die morgendliche Wintersonne am Himmel in das Hotelzimmer, als Mao ihre Augen öffnete. Verschlafen blinzelte sie dem Licht entgegen, bevor sie plötzlich hellwach war und sich schlagartig aufrichtete, wobei sie die Bettdecke an ihren Körper gedrückt hielt. Die vergangene Nacht war wie ein vorgespulter Film vor ihr vorbeigerast: Angefangen vom Auftakt, als sie Yuriy das erste Mal geküsst hatte, bis hin zum großen Finale, wo er keuchend und schwitzend auf ihr gelegen und sie in die vollkommene Extase getrieben hatte. Er hatte ihr einen Höhepunkt beschert, den sie so noch nie erlebt hatte. Und sie gehörte sicher nicht zu den Frauen, die leicht kamen. Doch wo war er nun? Er lag nicht mehr neben ihr, obwohl er doch dort erschöpft eingeschlafen war, wie sie noch sicher in Erinnerung hatte. Auch sein Hemd und seine Hose, die auf dem Boden gelandet waren, waren fort – nur noch ihre Unterwäsche lag neben dem Bett. Aber es war doch real gewesen, oder nicht? Natürlich war es das, denn sonst würden wohl kaum immer noch zwei Weingläser und die halbgeleerte Rotweinflasche auf dem Couchtisch stehen. Aber wo war der Mann hin, der ihr als Einziger nach einer endlos langen Zeit wieder das gegeben hatte, wonach sie sich gesehnt hatte: Verständnis, Aufmerksamkeit und Zuneigung. Vielleicht war er im Bad. Doch diese wage Hoffnung wurde bald zu Nichte gemacht, als die junge Chinesin einen kleinen weißen Zettel neben sich auf dem Bett entdeckte. Das Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben: War er etwa doch nicht anders als seine Freunde? Hatte er doch nur aus Vergnügen mit ihr geschlafen? Und sie war darauf hereingefallen?

Es dauerte, bis sie sich traute das Papier aufzunehmen und begann zu lesen. Nicht viel stand dort. Nur, dass es ihm leid täte, dass er einfach so gegangen sei, aber er nicht wüsste, wie er damit umgehen solle. Und dass sie sich hoffentlich doch irgendwann wiedersehen würden, weil sie die einzige Frau wäre, die ihn verstand. Sie solle bitte an der Rezeption Bescheid sagen, dass das Zimmer nun geräumt war, sobald sie gehen würde. Darunter stand seine Email-Adresse. Mao konnte es nicht glauben: Womit konnte er nicht umgehen? Damit, dass er etwas für sie empfand, oder damit, dass er sie entgegen seiner Worte nur benutzt hatte? Und die Email-Adresse? Sollte das ein schlechter Witz sein? Die junge Frau spürte, wie sie den Tränen nahe war: Nun war es ihr doch genauso wie ihrer Freundin ergangen.

Sie zerknüllte den Zettel in ihrer Hand, sprang auf, zog sich hastig an, ohne darauf zu achten, dass ihre Haare völlig zerzaust waren, sammelte ihre Sachen ein und verließ das Zimmer. Sie fuhr mit dem Aufzug hinab ins Foyer und lief zum Ausgang, ohne sich für die merkwürdigen Blicke, die sie von anderen Hotelgästen erntet, oder die Rezeption zu interessieren – sie wollte nur schnell weg von hier.
 

Ihr Weg führte sie quer durch die Stadt. Um sie herum war der alltägliche Lärm des Berufsverkehrs zu hören, doch auch ihm schenkte sie keine Beachtung. Sie hatte auch keine Ahnung, wohin sie ihre Füße eigentlich trugen. Doch war ihr dies auch egal, solange sie diese nur weit vom Hotel wegbrachten.

Ihre Tränen konnte Mao längst nicht mehr zurückhalten, als sie irgendwann in einem großen Park ankam. Dort blieb sie abrupt nach einigen Metern stehen, als sie sich einer Bank näherte. Es war die Bank, wo Rei ihr erstmals seine Liebe gestanden hatte. Und dort saß er - der, den sie doch bisher über alles geliebt hatte: Rei. Niedergeschlagen hockte er dort und starrte den Boden zu seinen Füßen an.

Er bemerkte sie und sah auf: Seine Augen waren glasig, seine Lippen blau von der Kälte und seine Nase lief.

„Mao...“, ungläubig sah er sie an, stand dann jedoch auf und ging auf sie zu.

Er blieb direkt vor ihr stehen. Einen Moment sahen sie sich stumm an, ehe er sie umarmte und fest an sich drückte.

„Ich hab’ mir solche Sorgen um dich gemacht“, kam es leise aus seiner Kehle.

Mao spürte, wie durchgefroren und kalt er war: Er musste die ganze Nacht hier gesessen haben. Noch mehr Tränen krochen aus ihren Augenwinkeln: Während sie sich in einem noblen, warmen Hotelzimmer vergnügt hatte, hatte der, der sie liebte, hier in der Eiseskälte ausgeharrt und auf sie gewartet.

„Es tut mir leid, was ich getan habe.“, sagte er zittrig, während er sie weiter an sich gedrückt hielt.

Wieso entschuldigte er sich? Er hatte doch gar keinen Grund mehr dazu, schließlich hatte sie ihn betrogen. Mao wollte etwas sagen, doch sie wusste nicht was. Es gab keine Entschuldigung, die das wieder gut machen konnte. Und Rei war nicht dumm – er wusste sicher, was sie getan hatte. Und trotzdem war er ihretwegen fast erfroren und hielt sie nun einfach im Arm, froh darüber, dass ihr nichts passiert war.

Er löste sich langsam wieder von ihr und sah in ihre verweinten Augen. Er hob seine zitternde Hand und strich ihr sanft eine Träne weg. Sie wusste nicht, dass er ihr am Vorabend sogar bis zur Villa gefolgt war und dafür die Arbeit ignoriert und damit möglicherweise seinen Job verloren hatte. Genauso wenig wusste sie, dass er den ganzen weiten Weg wieder zu Fuß zurück gegangen war und seitdem hier gesessen hatte, ohne auch nur ein Auge zuzumachen – in der Hoffnung, dass seine geliebte Mao hier, an einem ihrer Lieblingsplätze in der Stadt, auftauchen würde. Und das musste sie auch nicht wissen. Für ihn zählte nur, dass sie wieder da war.

Er griff nach ihrer Hand und umschloss diese fest: „Lass uns nach Hause gehen.“

Zögerlich nickte sie: Vielleicht gab es noch einen Funken Hoffnung, dass er ihr wirklich verzeihen und eines Tages alles wieder wie früher sein würde. Doch dieser Weg würde mit Sicherheit sehr lang werden. Dennoch war sie bereit ihn mit ihm zu gehen.

Beide wandten sich zum Gehen. Dabei warf Mao beiläufig den kleinen Zettel, den sie die ganze Zeit fest in ihrer rechten Hand umklammert hatte, in den Papierkorb neben der Bank, bevor sie mit Rei an der anderen Hand dem Parkausgang entgegenging. Eine Schneeflocke landete auf ihrer Lippe – der erste Schnee in diesem Winter. Sie blickte kurz hoch in den Himmel, wo ein Flugzeug über ihnen gen Westen flog und damit in die entgegengesetzte Richtung, in die sie sich bewegten und in die Mao nun wieder blickte, während sie Reis Hand fester umschloss.

_________________________________________________________________________
 

Willkommen am Ende dieses OneShots. Ich hoffe es hat gefallen (bzw. du hast ihn überhaupt schon gelesen und wolltest nicht nur wissen, wie es ausgeht. ô__o). <3

Würde mich über Kommentare freuen. =]
 

Ly x3



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Kommentare zu diesem Kapitel (16)
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Von:  Jamelin
2009-09-27T14:57:37+00:00 27.09.2009 16:57
Das war richtig schön *_*
Du kannst klasse schreiben!!
Grüße Jamelin

Von:  _Yuriy_
2009-05-24T15:28:24+00:00 24.05.2009 17:28
so.. ich hab es endlich mal geschafft diesen ds zu lesen... und ich muss sagen, es hat sich echt gelohnt! zugegeben... von den leute, wie zum beispiel mao nd hiromi, halte ich nicht viel, aber dir ist es trotzdem gelungen mich mit der story zu fesseln, weil ich undbedingt wissen wollte, was yuriy machen würde (um auf deine anspielung ganz zum schluss zu kommen --> ja, ich habe ihn komplet gelesen und nicht nur das ende ^^ )
und jetzt tut mir yuriy voll leid, weil eigetnlich er der ist, der benutzt wurde, auch wenn das nicht maos absicht war...

was mir sehr gut gefallen hat... na ja... die wortwahl war echt toll, weil du kaum wiederholungen drin hattes und so laß sich die ganze sache sehr schön und flüßig (abgesehen von dem wort nikotinstange.. das mochte ich nich xD). die beschreibungen der situationen und die daraus resultierenden gefühle und gedanken der handelnen personen kamen schön zur geltung.

also alles in allem ein gelungener os ^^


glg soubi-chan
Von: abgemeldet
2008-08-20T18:06:38+00:00 20.08.2008 20:06
die geschichte war supi hab richtig mitgefühlt wie es mao ging und wie einsam sie gewesen sein muss supi einfach klasse

Keiko
Von: abgemeldet
2008-02-07T15:58:39+00:00 07.02.2008 16:58
Wenn ich ehrlich bin ist bei mir der perfekte Kapiteldurchnitt 500 Wörter >bin lesefaul< Hab mir diese FF auch ziemlich lange aufgeschoben aber jetzt doch komplett durchgelesen. Du kannst einfach schreiben und die Geschichte ging richtig an mich. Konnte gut mit den Charakteren mitfühlen.^^

Von: abgemeldet
2008-01-29T12:50:17+00:00 29.01.2008 13:50
WoooooooooooooW OO
das war echt supper klasse, vor allem die Länge und die letzte Szene hat mir gefallen ^^
*applaus*
Ich muss schon sagen ich bin entäuscht von dir,VV
wie so erfahre ich davon nichts XXD

Das hättest du mir sagen soll,
naja ear echht TOLLL ^___________^
Ps. falls du nicht weiß wer ich bin Ex: Desert-Rose
Von:  -Llynya-
2008-01-25T09:01:53+00:00 25.01.2008 10:01
einfach Klasse... *_*
Dass Rei Mao vernachlässigt, passt in dieser Situation gut zu ihm, glaubt er doch, dass sie bei Problemen mit ihm redet. Genauso glaubhaft ist es, als sie ihn verleugnet. Der einzige Punkt, den ich nicht mag, ist Yuriys Flucht nach der Nacht mit Mao, aber... Wäre er geblieben, hätte sie ihm spätestens dann wohl von Rei erzählen müssen, was ihn sicher mehr als nur enttäuscht hätte, in dieser Hinsicht ist sein Verhalten also doch das beste gewesen. *grübel*
Die Szene, als Mao Rei auf der Parkbank findet, ist einfach nur süß!
Es ist schön zu lesen, dass sie erkennt, wie sehr er sie eigentlich liebt, auch wenn er nicht viel Zeit für sie hat.
Ich denke mal, das Pairing ReiMao dieser FF lässt sich auch oft in der Realität finden... Paare, die für die Arbeit und nur noch nebeneinander herleben, bis etwas passiert, das sie wieder zusammenfinden lässt. Nur geschieht so etwas in den seltensten Fällen, sonst wäre die Scheidungsrat wohl kaum so hoch. *seufz*
however... dein OS bringt einen zum nachdenken, genau wie der Yu-OS, den ich gestern gelesen habe. ^-^
Von:  howling_wolf
2008-01-13T10:14:33+00:00 13.01.2008 11:14
meine fresse 15 seiten o.O
aber der OS war wirklich wahnsinnig gut und es wurde auch nicht einmal langweilig zu lesen
ich verliere nämlich bei so langen ff schnell die lust dran, aber als ich einmal angefangen hab konnt ich auch nich mehr aufhörn
ich fands am ende nur schade das Mao keinen kontakt mehr zu Yuriy hatte
aber sonst hat mir der OS echt gefallen
lg howling_wolf
Von: abgemeldet
2008-01-12T23:49:36+00:00 13.01.2008 00:49
Ich meld mich jetzt auch mal (ich weiß, bin spät dran xD)
Ich fand den OS wirklich super!!! Allerdings bin ich fast vom Hocker gefallen als du mir den zum Betan inner Word Datei geschickt hast. 42 Seiten. Und das an einem Abend in zwei Stunden. Ich bin nur froh das du jemand bist der wirklich gut schreibt, so das man ohne Probleme dranbleiben kann ^^ Aber mein Tagesbedarf an Lesestoff war gedeckt, muss ich mal so sagen. Und zwar mit was sehr gutem ^^
Ich fand das so toll wie du das wieder alles beschrieben hast, von den Personen bis zu den Umständen. War echt interessant. Und bei der Handlung blieb mir eigentlich garnichts anderes übrig als dranzubleiben weil das alles so schön nahtlos überging das ich Angst haben musste was zu verpassen wenn ich mal kurz aufhör.
Ich find du hast es auch wieder sehr gut hinbekommen das man sich in die einzelnen Personen hineinversetzten kann. Mir sind teilweise fast die Tränen gekommen wenn Mao über ihre Beziehung mit Ray nachgedacht hat. Das war wirklich sehr mitreißend geschrieben.
Und mal ganz ehrlich, am Ende hätte ich Yuriy am liebsten innen Arsch getreten, und zwar so heftig das er sich den Flug zurück nach Moskau hätte sparen können. Ich fand des Anfangs alles so süß, er hat sie höflich behandelt und ist auf sie eingegangen und dann so was! Ich hab echt gedacht ich seh net richtig. Ein Zettel, ein einfacher Zettel. Und dann noch mit soner kleinlauten Entschuldigung und der E-Mailadresse. Da hätt ich wirklich aus der Haut fahren können.
Ich bin aber richtig froh drüber das Mao wieder zu Ray zurück gegangen ist und sich dem Kampf um das Vertrauen stellen will. Ich find sie passt viel besser zu ihm als zu Yuriy. Und Ray mag sie zwar in der letzten Zeit etwas vernachlässigt haben, aber er ist doch im Großen und Ganzen der einzige Richtige für sie, was sie ja auch selbst festgestellt hat.
Kurz und knapp: langer, gut flüssiger Text mit vielen Emotionen. Ich fands super ^^

Liebe Grüße
Hexe
Von:  Arashi_Kishu
2008-01-09T21:33:19+00:00 09.01.2008 22:33
Nya, endlich geschafft hier reinzuschreiben ^^ Wo ich zuerst sah, dass das 15 Seiten sind, dacht erst OO wat? oo xD Aber ich hab es geschafft muha xD Und find sie subbi ^^ Und auch dassu auf alle Charaktere eingegangen bist un so ^^ Hätte nichts dagegen gehabt, wenn Mao weiter mit Yuriy Kontakt gehalten hätte ^^ Aber find es doof, dass der so einfach abgezischt is oo Hätte sie doch wecken können >.<
Rei hätt ich manchma vierteilen können, wo der Mao kaum beachtet hat oO So geht man doch nit mit seiner Freundin um oo
Nya, weider so ^.^
Von: abgemeldet
2008-01-06T19:41:13+00:00 06.01.2008 20:41
huhu =)
mir gefiel es sehr gut, hassu fein gemacht :)
das ende hat mir am besten gefallen, jap ! aber insgesamt was es super
aber ich hab erst mal so ----> @__@ geguckt als ich die 15 seiten gesehen hab xD aber ich hab es durch geschafft an einem tag ^^
<3 bai



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