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Zeitzirkel

ehemals "Fluch der Begierde"
von

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Erste Zeiteinheit: Auf den Schwingen der Zeit

Widmung: devilmouse21
 

Prolog
 

Der Himmel war von einem samtenen Schwarz, das nur von Tausenden und Abertausenden von Sternen durchbrochen wurde. Dennoch war die Nacht ungewöhnlich dunkel, so finster, dass sie mit der klirrenden Kälte auf die Herzen der Menschen zu drücken schien, welche sich in der Siedlung niedergelassen hatten: Es war Neumond.

Seine Hände zitterten vor Anspannung, als er an das einzelne Haus inmitten weiter Felder zutrat. Es war eine liebreizende Erregung, eine aggressive Gier, die sich in seiner Brust angestaut hatte und während seine volle Macht durch seinen Körper pulsierte und er mit verengten Augen die Lichter des Hauses fixierte, spurte er es, war es ihm klar.

Er würde sie töten, sie alle. Nicht, um zu überleben, um des Tötens Willen.

Als er nahe genug an das Häuschen herangetreten war, vernahmen seine durch den Neumond geschärften Sinne die Geräusche eines Abendessens, Schritte, Stimmen. Fünf Personen, zwei Erwachsene, drei Halbwüchsige, fast noch Kinder. Der Gedanke an ihr junges Blut trieb seine verborgenen Eckzähne hervor.

Er wollte warten, lauern, die Vorfreude so lange wie möglich erhalten, doch sein Willen war zu schwach. Er konnte das Blut schon förmlich riechen und so wurde er Eins mit der Nacht und drang durch den schmalen Spalt zwischen Tür und Rahmen, den Wind und Wetter geschaffen hatten.

In der finsteren Ecke nahe der Tür nahm der hochgewachsene Vampir seine feste Gestalt wieder an und starrte mit finsteren Augen auf die Szene, die sich ihm darbot.

Eine ältere Frau mit mattem dunkelbraunen Haar und faltiger Haut stand an der Kochstellen und rührte in einem Kessel, das Gesicht einem Mann in ihrem Alter zugewandt, wohl ihr Ehegatte. Sie lachte ihn an, doch er winkte ab und rief die beiden Jungen zurecht, die am Boden kauerten und ihre Glasmurmeln gegen einen Krug schnippten.

Und dann war da noch sie. Eine junge Frau, deutlich älter als ihre Brüder, saß am Tisch, den Kopf in die Hände gestützt, ihr langes Haar von einem satteren Braun als das ihrer Mutter. Mit leerem Blick starrte sie die Tür an, wohl ohne sie zu sehen und in sich selbst hinein blickend. Oder war ihr Blick auf ihn gerichtet?

In einer sanften Bewegung legte er den Kopf leicht schräg, seine Lippen kräuselten sich zu einem bitteren Lächeln.

Ihre Augen weiteten sich. Sie war starr, erschrocken, ihr Herz hatte ausgesetzt. Dann schrie sie: „Nein, verschwinde!“

Sie war aufgesprungen und hatte dabei ihren Stuhl umgestoßen, der nun geräuschvoll auf dem Boden aufschlug. Ihre Familie starrte sie entgeistert an, die Mienen von Verwirrung verzerrt, dann folgte sie ihrem Blick und die Gesichter wurden starr.

Es war Zeit. Zeit den Dämon zu befreien, der sich in seinem Inneren verbarg.

Seine schmale Hand krampfte sich um den Arm des Jungen, der ihm am nähesten war, riss den Knaben zu sich her. Mit einem hässlichen Knacken brach der Arm unter seinem Griff. Die Schreie um ihn her verklangen in seinen Ohren, die von einem lauten Rauschen erfüllt waren, seine Augen waren nur auf sein Ziel fixiert. Seine Eckzähne entblößten sich, durchfuhren die dünne Haut, das zarte Fleisch. Blut – eine ungeheure Hitze breitete sich von seiner Brust bis in seine Fingerspitzen aus, raubte ihm beinahe den Verstand. Sein rationales Denken war zerrüttet, tief in seinem Unterbewusstsein eingefercht. Nur der Instinkt blieb zurück, kontrollierte seine Bewegungen; der Instinkt eines Raubtiers. Blutrausch.

Nach nur einigen Schlucken aus dem Hals des Knaben registrierte er im Augenwinkel eine Bewegung. Der ältere Bruder stürzte mit einem Küchenmesser in der Hand auf ihn zu.

Langsam ließ der Vampir den ersten Jungen zu Boden gleiten und brach dem Zweiten das Genickt, mit einer Geste so leicht, dass es beängstigend war.

Er war der Fuchs im Hühnerstall, der nicht ruhen würde, ehe er jedem einzelnen Tier das Leben ausgehaucht hätte.

Blut benetzte den Boden, die Wände. Grauenhafte Schreie von Schmerz und Angst, die er beinahe riechen konnte, prallten an ihm ab, vermochten sein Herz nicht zu erreichen.

Nur noch sie.

Mit einer ebenso Furcht erregenden wie graziösen Bewegung riss er seinen Oberkörper zu dem brünetten Mädchen herum. Sie stand mit dem Rücken an der Hauswand da, starrte ihn aus braunen Augen an, in deinen kein Funke der Angst zu finden war. Nur Leid. Leid und die Hoffnung, der Familie zu folgen.

Er erstarrte. Die Umgebung um ihn her gewann jäh an Schärfe und Wahrhaftigkeit, gewann an Realität. Er spürte Blut von seinen schmalen Fingern tropfen, Blut, das er vergeudet, dem Boden überlassen hatte. Und da war noch etwas...Sein sonst so träges Herz tat einen Hüpfer, begann dumpf und schwer zu Pochen, ein sanftes Kribbeln in seiner Brust zu verbreiten.

Nein, er konnte ihren Wunsch nicht erfüllen, ihrer Hoffnung nicht nachgeben. Sie sollte sein werden, ihm gehören, bis in alle Ewigkeit.

Mit langsamen Schritten kam er auf sie zu, blickte ihr endlose Sekunden in die lebendig schimmernden Augen, die dunklen Augen, die leidenden Augen - dann gruben sich seine Eckzähne in ihren Hals.

Sie schrie vor Schmerz, ein Schrei, der ihm auf ewig im Hinterkopf erhalten bleiben sollte, mühte sich in menschlichem Überlebenswillen ihn von sich zu stoßen, doch nicht lang. Bald gaben ihre Knie nach, sackte sie auf dem blutbenetzten Holzboden zusammen, seine Augen das letzte, was sie sah, ehe sie das Bewusstsein verlor; diese dunklen Augen, fast ebenso schwarz wie sein Haar.

Als er sie gehen sah, stahl er ihr einen Kuss, berührten seine kühlen Lippen ihre noch so heißen. Einen Kuss, der sein einziger bleiben sollte. Dann riss er sich mit seinen verhärteten Fingernägeln die Adern der rechten Hand auf; kurz darauf benetzte sein Blut ihre zarten Lippen.
 

Kapitel 1
 

Eine hölzerne, von Ruß geschwärzte Decke war das erste, was sie erblickte, als sie die Augen aufschlug. Sie lag in einem weiß bezogenen Bett, sorgsam bis zu den Schultern zugedeckt und einen Augenblick lang war die Verwunderung hierüber in ihr so groß, dass sie sich nicht einmal fragte, wo sie sich befand und wie sie an diesen Ort gelangt sein konnte. Eine drückende Leere und Orientierungslosigkeit lastete auf ihr und während sie sich im Bett aufsetzte, wurde ihr bewusst, wie geschwächt sie war. Jäh wurde sie von einem Schwindel übermannt, ihr Blick verschleierte sich und sie glaubte zu fallen, nur um kurz darauf festzustellen, dass sie noch immer aufrecht im Bett saß.

Es war seltsam. Sie hatte das Gefühl etwas schreckliches wäre ihr widerfahren, das Gefühl, es sei nicht richtig, dass sie noch am Leben war, doch sie konnte sich an nichts erinnern.

Mit gerunzelter Stirn nahm sie das kleine Zimmer um sie her näher in Augenschein, ließ ihren Blick über den Ofen in der einen Ecke und zwei Stühle in der Anderen wandern, als sich jäh die Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers öffnete.

Ein hochgewachsener Mann betrat den Raum; seine Schritte leicht und leise, fast als schwebte er über den Holzdielen, ohne sie zu berühren. Sein Gesicht mit den hohen Wangenknochen war scharf geschnitten und von kurzem schwarzen Haar umrahmt, seine Augen ein dunkles, ausdrucksloses Schimmern. Diese Augen...

Bei ihrem Anblick schien sich die Erinnerung, die irgendwo tief in ihrem Unterbewusstsein gefangen gewesen war, zu befreien, mit unbarmherziger Macht auf sie einzuströmen.

Blut – überall Blut und Schreie, Schreie und Blut. Und er das Raubtier, daheim in dem selbst erschaffenen Grauen um es her.

Ihr schien, als hätte jemand ihre Kehle zugeschnürt. Ein unbeschreiblicher Schmerz, ein beißender Schrecken, breitete sich in ihrer Brust aus, unfähig an die Oberfläche zu dringen.

Er hatte ihr Leben beendet, ihr aller Leben. Und sie... Wieso nicht sie? Was verfluchte sie dazu hier vor ihm zu sitzen, lebendig, von Schmerz gepeinigt, nicht mit ihrer Familie vereint. Wieso nicht auch sie? Wieso?

„Werden Sie mich töten?“, erhob sie ihre heisere und brüchige Stimme, ohne sich bewusst dazu entschlossen und die Worte formuliert zu haben. Sie wusste nicht einmal, aus welchem Grund sie eben diese Frage gewählt hatte. Nur dem tiefen Gefühl der Untergebenheit war sie sich sicher, das sich in ihrem Herzen zusammenballte.

Mit einer matten Hoffnung in den Augen blickte sie in das ausdruckslose Gesicht ihres Gegenübers, doch auch diese Hoffnung sollte zerschlagen werden: „Hätte ich je beabsichtigt, dich zu töten, hätte ich es längst getan.“

Seine Stimme war kalt und abweisend und schien sie mit einer gähnenden Leere in ihrer Brust zurückzulassen. Keine Zuneigung, kein Trost war darin, doch ebenso wenig eine Spur von Hass oder Geringschätzigkeit. Diese Stimme brachte etwas in ihrem Innern zum zerbrechen, etwas, das bisher jedem noch so heftigen Schlag widerstanden hatte.

„Wieso? Wieso ich?“, entfuhr es ihr; ihre Stimme nicht mehr als ein leiser Hauch, der im Raum verklang. Als sie keine Antwort erhielt, fuhr sie um einiges lauter auf: „Töten Sie auch mich!“

Doch der Fremde wandte ihr lediglich den Rücken zu, hüllte sich in Schweigen. Sobald sie sein Gesicht nicht mehr sehen konnte, legte sich seine Stirn in sorgenvolle Falten.

Nein, er hatte nicht geglaubt, dass er sie quälen würde. Sein Leben dauerte bereits zu lange an, um sich an die Tiefe menschlicher Bindungen zu erinnern oder sie auch nur zu begreifen.

„Du bist schwach, ich werde Nahrung besorgen“, sagte er nach einer ganzen Weile in die entstandene Stille hinein, seine Stimme kühl und distanziert.

Er tat einige Schritte auf die Zimmertür zu, welche er zuvor hinter sich geschlossen hatte, als er noch einmal inne hielt: „Mein Name ist Dragotin, du solltest dich an ihn gewöhnen.“

„Nein!“, fuhr sie mit zittriger Stimme auf, ihr Herz fühlte sich an, als hätte sich eine kalte Faust aus Eisen darum geschlossen und versuchte nun, es zu erdrücken. Sie wollte nicht, dass er sie verließ, wollte nicht, dass er sie zurückließ, am Leben ließ. Doch Dragotin ließ sich nicht beirren.

Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, löste sich ein Knoten in ihrer Brust, der die ganze Zeit über ihre Gefühle in Zaum gehalten hatte. Sie brach zusammen, weinte, schluchzte, schrie; schrie so lange, bis aller Schmerz und alle Trauer aus ihrem Herzen hinausgeschwämmt waren, bis erneut nur noch Leere in ihr war. Diese unglaublich tiefe und dunkle Leere und weit und breit kein Schimmer von Hoffnung.
 

Er würde sich Zeit lassen; diesen Entschluss hatte er bereits gefasst, als er die Tür hinter sich geschlossen hatte.

Mit gemächlichen Schritten, die kaum ein Geräusch verursachten, trat er auf das bewaldete Gebiet zu, welches den Feldern hatte weichen müssen und sie nun umsäumte.

Seine Gedanken waren träger als gewohnt, worauf er sich keinen Reim zu machen vermochte, und schienen kein anderes Thema als die brünette Frau in seinem Haus zu kennen.

Was hatte er denn nur erwartet? Hatte er geglaubt, sie würde ihm auf Knien danken? Ihn lobpreisen dafür, dass er ihr Leben verschont hatte?

Ja, vielleicht. Und vielleicht war es nicht klug gewesen, sie zu einem Wesen der Nacht zu machen, eine törichte Entscheidung, ohne rationale Überlegung gefällt.

Und doch... Ganz gleich wie sehr sein Verstand ihm Reue zusprechen wollte, sein kühles Herz verströmte weiterhin ein geheimnisvolles Kribbeln in seine Blutbahn, die es bis in seine Fingerspitzen weitertrug. Was war das nur für ein Gefühl? Er wollte diese Frau nicht loslassen, sie nie von seiner Seite weichen lassen; konnte es nicht-

Er hatte Geduld, eine Geduld so endlos während wie die Zeit, ihr Alter seinem Leben gleich. Eines Tages würde sie verzeihen; verzeihen oder vergessen. Er konnte warten.

Ein Rascheln im Gebüsch ließ Dragotin aufhorchen.

Sobald seine scharfen Augen das Opossum erfasst hatten, war das Schicksal des Tieres besiegelt, auch wenn der Vampir üblicherweise nur selten Jagd auf Getier machte. Mit unglaublicher Geschwindigkeit und Jagdgeschick hatte er das Opossum gepackt und ihr mit einem Genickbruch das Leben ausgehaucht. Nicht eine Minute hatte es gedauert.

Noch einige Sekunden blickte Dragotin auf das tote Tier in seinen Händen hinab, dann kehrte er dem Waldstück den Rücken und machte sich auf den Rückweg; ebenso lautlos, wie er erschienen war.
 

Ein Schauder aus Abscheu und Ekel durchfuhr ihren gesamten Körper, als ihre Augen über das leblose Opossum vor ihr auf der Bettdecke glitten. Es war wie verhext: Sie wollte den Blick von diesem grausigen Anblick abwenden und doch weiter hinsehen, sich jedes noch so kleine Detail einprägen.

„Was soll das?“, fragte sie leise und mit schwankender Stimme. Sie mühte sich nicht den Vampir an ihrer Seite anzublicken, sie würde doch keine Regung auf seinem so ebenen Gesicht ausmachen können.

„Iss“, gab dieser in einem Tonfall zurück, den sie von ihm nicht kannte und der ihr einen eisigen Schauder über den Rücken laufen ließ.

Aber was bildete sie sich nur ein? Sie kannte ihn doch überhaupt nicht; woher wollte sie wissen, was für ihn typisch war und was nicht? Und doch... Und doch fühlte sie sich ihm nicht gänzlich fremd – ein Gefühl, das sie noch stärker ängstigte, als alles andere.

„Du musst hungrig sein“, fuhr Dragotin in gleich bleibender Stimmlage fort, sein Blick lastete schwer auf ihr.

Bei diesen Worten lauschte sie in sich hinein. Hunger?

Langsam schärfte sich ihr Blick und sie nahm das tote Tier vor ihr erneut wahr. Nein, der Gedanke stieß sie ab, widerte sie an. Ihr Kopf und ihr Herz protestierten heftig gegen diese Vorstellung – doch da war noch etwas anderes, etwas Drittes, das sich zu Geist und Seele gesellt hatte, etwas, das die Menschen bereits vor vielen Hundertern von Jahren abgelegt hatten.

Und es lechzte nach Blut.

Als ihr die Anwesenheit dieses dritten Teils bewusst wurde, als sie spürte, dass sich etwas Neues in ihren Körper gebohrt hatte, der Instinkt, das Instrument eines blutrünstigen Monsters, zerbrach etwas in ihr. Eine einsame Träne floss über ihre bleiche Wange und hinterließ einen blutigen Striemen.

„Was hast du aus mir gemacht?“, entfuhr es ihr gedämpft, jegliche Höflichkeit und Furcht war von ihr abgefallen und nur Verzweiflung war geblieben.

Ein grausames Ziehen hatte sich an der Wurzel ihrer Eckzähne ausgebreitet und als sie nun den Mund schloss, schnitt ihr etwas schmerzhaft in die Lippe. Doch so schnell sich der Schmerz ausgebreitet hatte, war er verschwunden. Irritiert und mit zitternder Hand strich sie sich über die Stelle, an der sie eine Wunde vermutete – doch da war nichts als glatte Haut.

Eine weitere Träne löste sich aus ihrem Auge und nun endlich riss sie den Kopf nach oben, sich vom Anblick des toten Tieres los und starrte dem Vampir an ihrer Seite ins Gesicht. Sie bebte.

„Was hast du aus mir gemacht?“, schrie sie, ihre schmalen Finger krallten sich Halt suchend in das weiße Laken unter ihr, doch es vermochte ihr keine Sicherheit zu geben; sie war allein, verloren, gefangen in der tiefsten Nacht.

Dragotin antwortete ihr nicht, doch das war auch nicht nötig; sie brauchte seine Worte nicht, um sie zu kennen, um es zu wissen.

Sie starrte auf ihre Hände hinab. Es waren immer noch dieselben, die Hände, die sie schon immer gekannt hatte. Und doch war alles anders, alles fremd und unwirklich.

Und ihre Familie – ihre Mutter, ihr Vater, die Geschwister. Alle fort, von einer Welle aus Blut davongespühlt, ihr Leben zerstört, vernichtet – von ihm.

Ihre Augen verengten sich, während ihr Blick sich erneut dem Opossum zuwandte.

Er hatte sie getötet, sie alle. War es ihnen gegenüber fair, ihr eigenes Leben fortzuwerfen, ganz gleich, was für ein Leben das sein sollte?

Nein, das war es nicht. Sie würde ihre Lieben rächen, ganz gleich, was es kosten sollte, würde ihr Schicksal annehmen, mächtiger werden als er und ihn in die Knie zwingen.

Ihre Hände streckten sich beinahe ohne ihr zutun nach dem toten Tier aus, führten es zum Mund. Der Schmerz an ihren Zahnwurzeln schwoll an, um kurz darauf abzuklingen – und ganz langsam, dem fremden Instinkt in ihrem Körper folgend, bohrte sie ihre nun langen, scharfen Eckzähne in den Hals des Opossums.

Ein leises Lächeln kräuselte Dragotins Mundwinkel, während sein Blick nicht von seiner Erschaffenen wich.

Sie hatte ihr Schicksal angenommen, sich ihm ergeben. Auch wenn sie sich dessen in diesem Augenblick noch nicht bewusst war.
 

Kapitel 2
 

Sie hatte ihm ihren Namen verraten, als er am darauffolgenden Abend zu ihr auf das Zimmer kam, in einen roten Umhang mit seltsamen dreieckigen Knöpfen gehüllt, auf den über der Brust mit silbernem Garn ein Greifvogel gestickt war.

„Ich möchte dich heute Nacht der Gesellschaft vorstellen“, hatte er ohne ein weiteres Wort der Erläuterung zu ihr gesagt. „Vor diesem Anlass würde ich gerne deinen Namen erfahren.“

Seine Stimme hatte kühl wie je geklungen und auch der Befehl, der sich in den gesprochenen Worten verbarg, war ihr nicht entgangen.

„Marlene Charlett“, hatte sie ihm geantwortet und war bei dem Klang ihres Nachnamens zusammengezuckt, der sie so schmerzhaft an ihre Familie erinnert hatte. Wie ein Blitz bei einem Gewitter war das Bild erneut in ihrem Kopf aufgeflackert; ihr Haus, das Blut- Doch sie hatte bereits so viele Gedanken daran verschenkt, dass sie durch sekundenlanges Schließen ihrer Augen die Erinnerungen zu verscheuchen vermochte.

Dragotin hatte nur genickt, emotionslos, stumm. Dann hatte er sich eine Weile schweigend zu ihr an die Bettkante gesetzt, bis er sie aufgefordert hatte, ihm in die Nacht hinaus zu folgen.

Nun blickte Marlene an der Front eines Herrenhauses empor, welches aus hellem Stein erbaut worden war; die große Anzahl der Giebel und die oben abgerundeten Fenster waren ihr so fremd – so fremd wie nun alles um sie herum erschien; als gehörte es nicht hier her. Wieso hatte sie nie zuvor bemerkt, dass dies alles existierte? Die Welt der Nachtgeschöpfe, diese prächtigen Herrenhäuser; wieso war ihr Blick so beschränkt gewesen?

Doch sie hatte keine Gelegenheit, weiter darüber nachzudenken, denn Dragotin zog nun an einem Seil nahe dem Eingang und betätigte so die mechanische Türglocke.

Kaum einige Sekunden vergingen, bis die schwere Tür nach innen aufgezogen wurde und den Blick auf eine weitläufige Halle freigab, die von einem Meer aus Rot geflutet schien. Die roten Wellen leckten selbst an der Treppe, die zu einem Flur im ersten Stock hinaufführte, der sich an drei Seiten um die Halle zog und von dem aus man einen Blick hinab auf die Neuankömmlinge hatte, denn er war nur von einem niedrigen Geländer umzogen.

Erst, als Marlene an Dragotins Seite durch die Eingangstür trat, wurde ihr bewusst, dass ihre Wahrnehmung ihr einen Streich gespielt hatte. Es war kein blutrotes Meer, das die Halle füllte, es waren menschliche Körper, die in rote Umhänge gehüllt waren, dutzende von ihnen – Menschen... oder waren es Vampire?

Bei diesem Gedanken durchfuhr ein kalter Schauder Marlenes ganzen Körper. Sie hatte mit ihren eigenen Augen gesehen, was eines dieser Wesen anrichten konnte und ihr Kopf strebte sich vehement dagegen, sich auszumalen, was Dutzende von ihnen ausrichten konnten.

Und dennoch... Hatte sie einen Grund sich zu fürchten? War sie nicht ein Teil dieser roten Masse, einer von ihnen, auch, wenn sie keinen Umhang trug?

Doch ganz gleich wie sehr sie es drehte und wendete, sie kam immer zu dem selben Ergebnis: Nein. Sie fühlte sich nicht zugehörig, sondern völlig isoliert; allein als Schaf unter Wölfen.

Fast ohne es wahrzunehmen trat sie so nahe an Dragotin heran, dass ihre Schulter ihn streifte – und das war der erste Augenblick, in dem er ihr Verbündeter war, ihr Fels in der Brandung, die einzige Person in dieser fremden Welt, an die sie sich halten konnte, auch wenn sie ihr nicht vertraute.

Die anwesenden Vampire wichen respektvoll zurück, als Dragotin und Marlene an seiner Seite die Halle durchschritten – nur einer nicht. Er blieb schlicht an Ort und Stelle stehen, als die Neuankömmlinge sich ihm näherten, senkte nicht einmal den Kopf, wie es die anderen seiner Artgenossen taten, sonder blickte Dragotin direkt in die dunklen Augen. Er trug sein schulterlanges Blondhaar zu einem Zopf zusammengebunden und seine Augen waren von einem unwirklichen Graublau, das Marlene an einen regnerischen Tag erinnerte. Doch sie konnte ihm nicht lange in die Augen blicken, denn schon bald verspürte sie einen seltsamen Stich in ihrer Brust und das dringende Gefühl, den Blick abwenden zu müssen. Ihr war, als würde sie den blonden Vampir herausfordern, wenn sie den Kopf nicht senkte – woher kam nur dieses Gefühl?

Sie ließ ihre Augen noch einmal über den Fremden flackern. Ganz am Rande bemerkte sie das silberne Symbol, welches auf seinem Umhang prangte: Es war nicht etwa ein Vogel, wie sie ihn bei Dragotin bemerkt hatte; nein, es handelte sich um den Kopf einer Raubkatze, von der Seite abgebildet, die ihr Maul weit aufriss und so ihre spitzen Zähne zur Schau stellte.

„Guten Abend Dragotin“, lächelte der Fremde auf eine Weise, die viel eher als herablassend oder schelmisch, denn freundlich zu beschreiben war.

„Laurent“, nickte Dragotin ihm zu. Es war nichts denn eine schlichte Bestätigung seiner Anwesenheit.

„Alle Vampire des Verwaltungsbezirks sind gekommen, um deine Erschaffene zu sehen. Welch Wunder, die meisten vermuteten schon, keiner von uns würde je unsere Blutlinie fortführen, nach all den Jahren. Das konnte auch ich mir nicht entgehen lassen“, fuhr Laurent ungerührt fort und Marlene wurde sofort klar, dass er um einiges redseliger als Dragotin war. Es irritierte sie ein wenig, denn da Dragotin der einzige Vampir war, den sie bisher gesehen hatte, hatte sie sein Verhalten für den Inbegriff des Vampirdaseins gehalten. Doch sie war sich nicht sicher, ob sie sich über die Korrektur dieser Einschätzung freuen sollte oder nicht.

Doch ehe sie diesen Gedanken weiter fortführen konnte, hatte Laurent bereits erneut angefangen zu sprechen, da Dragotin nichts erwidert hatte: „Hm, ich hatte geglaubt, wenn du je eine Frau erwählen würdest, wäre sie die Schönste des ganzen Bezirks. Nun, ich muss zugeben, dass ich mich über deine Wahl nicht beklagen kann. Die Kleine ist wirklich niedlich – aber nicht gerade der Inbegriff von Schönheit oder Vollkommenheit.“

Wieder hatte der blonde Vampir ein undurchsichtiges Lächeln aufgesetzt und so wusste Marlene nicht recht, ob sie seine Worte als Kompliment oder Beleidigung auffassen sollte. Doch eines war ihr inzwischen klar geworden: Es gab sehr wohl eine Gemeinsamkeit zwischen Laurent und Dragotin: Sie beide schienen ihr nicht ehrlich, als würden sie ihr wahres Gesicht hinter einer Maskerade verbergen, auch wenn diese bei beiden unterschiedlich geartet war.

„Ich rate dir an, dich nicht in meine Angelegenheiten einzumischen“, erhob nun endlich Dragotin die Stimme. Sie erklang fest und neutral, doch die unmittelbare Drohung konnte sich nicht vollends hinter diesem Schein verbergen.

„Oh“, begannt Laurent erneut, einen feinen Hauch von Hohn in der Stimme, „du hast sie also mit deinem Herzen ausgewählt?“

„Ist das Neid in deiner Stimme?“, schnitt Dragotin ihm in ähnlichem Tonfall das Wort ab.

Doch gleich wie laut und fest seine Stimme erklungen war, Laurent überging den Einwurf als hätte es ihn nie gegeben: „Dabei solltest gerade du wissen, dass so ein Handeln keine Früchte trägt.“

Wieder unterbrach Dragotin sein redseliges Gegenüber: „Kein Wort mehr.“

Seine Stimme hatte sich nicht verändert, nur seine Augen sich kaum merklich verengt und seine gesamte Haltung sich versteift: Er hatte die Schultern gespannt und den Rücken durchgedrückt, als stünde auch sein Geist unter äußerster Anspannung.

„Oder du tust was?“, gab Laurent herausfordernd zurück. In seinen hellen Augen lag ein seltsamer Glanz, den Marlene nicht deuten konnte.

Kaum, da sie dies gedacht hatte, wandte der Blick des blonden Vampirs sich ihr zu und sie senkte rasch erneut den Kopf; halb beschämt, halb ängstlich.

Dieses Mal war es an Dragotin, den Einwurf zu übergehen, nun allerdings erneut völlig gelassen und gefasst: „Livia existiert nicht mehr. Es gibt nicht länger einen Grund, mit mir zu wetteifern. Sie mag dir das Herz herausgerissen haben, meines blieb unberührt. Ein Vampir ist nicht verletzlich und keine Macht der Welt kann seine Seele berühren – bist du nicht unantastbar, hast du nicht das Recht, dich zu unserer Rasse zu zählen.“

Es geschah im Bruchteil einer Sekunde, dauerte nur einen Lidschlag lang an. Die Konturen Laurents verzerrten sich, schienen in eine Nacht hinüberzufließen, die in der erleuchteten Halle nicht herrschte, nur um dann mit grellen Farben zurückzuströmen und erneut Gestalt anzunehmen.

Der Leopard brüllte den Schrei aller Raubtiere der Decke entgegen; er war an Laurents Stelle getreten.

Für einige Sekunden regte sich etwas in Marlenes Hinterkopf, das Abbild des silbernen Raubkatzenkopfes flackerte vor ihrem inneren Auge auf – hatte sie es nicht noch eben auf Laurents Umhang erblickt? Waren diese Stickereien mehr als nur ein Symbol?

Blitzschnell ließ sie ihre Augen zu Dragotin hinüberhuschen, hielt den Blick noch einmal auf den Vogel gerichtet, der seine Brust zierte. Ob er...?

Unter Fauchen und Brüllen war der Leopard auf Dragotin zugesprungen. Nun pressten sich seine Pranken gegen die Brust des Vampirs und drückten ihn zu Boden. In einer schnellen Bewegung drückte Dragotin seine Handflächen gegen die Brust des Raubtiers und es gelang ihm, unter offenbar großer Anstrengung, das Tier zurückzudrängen.

Marlene war vor Schreck ein ganzes Stück zurückgesprungen, als der Leopard sich auf ihren Erschaffer gestürzt hatte und war dabei beinahe mit einem der umstehenden Vampire zusammen gestoßen. Wieso griff keiner von ihnen ein? Aus welchem Grund sahen sie seelenruhig zu oder senkten beschämt die Köpfe?

Gerade setzte der Leopard erneut zum Sprung an, als Marlene noch einmal diese seltsame Wandlung beobachten konnte, die dieses Mal jedoch Dragotin eins mit der Nacht werden zu lassen schien, seine Umrisse verzerrte und entfärbte. Nicht eine Sekunde später erhob sich ein mächtiger Vogel in die Lüfte: Ein Falke, sein Ruf das Signal zum Kampf.

So schnell, dass es Marlene kaum mit den Augen verfolgen konnte, stürzte der Falke vom Himmel herab. Er hieb auf die Raubkatze ein, als wolle er ihr die Augen aushacken.

Frische Erinnerungen fluteten Marlenes Kopf, der so mühsam zurückgedrängte Schmerz kehrte zurück – Der Kampf wandelte sich und wurde in ihrem Geiste ein anderer, ein ungleicher Kampf zwischen Vampir und Mensch, zwischen Raubtier und Beute. Das Blut... Und diese Augen, so schwarz wie die Nacht-

Nein, sie konnte dieses Schauspiel nicht länger verfolgen, wollte es nicht, wandte ihm den Rücken zu. In ihrem Inneren schrie etwas, schrie vor Schmerz, schrie nach Vergeltung, schrie und schrie...

Dann nahm etwas Anderes seinen Platz ein.

„Auseinander!“

Es war weniger eine herrische Frauenstimme, die wie magisch verstärkt durch den Raum hallte, denn ein tosender Sturm aus Eindrücken, der zwischen die Kämpfenden fuhr und den jeder Anwesende zu interpretieren wusste. Tatsächlich war ein schneidender und scheinbar ursprungsloser Wind aufgekommen, der Leopard und Falke schied, um dann auf Marlenes Rücken zu treffen und an ihren Kleidern zu zerren, ehe er so schnell er erschienen war, auch wieder verschwand.

Erschrocken wandte sich Marlene der Richtung zu, in der die seltsame Erscheinung ihren Ursprung zu gehabt zu haben schien, wobei ihr Blick die Überreste des Kampfes streifte: Den Falken hatte es aus der Luft gerissen und zu Boden geschleudert; in eben dieser Sekunde verzerrten sich seine Konturen und bildeten erneut den Vampir, dessen Anblick Marlene bereits so vertraut war. Der Leopard hatte sich flach an den Boden gedrückt und hob nun langsam den Kopf, um sich umzublicken. Er schien etwas zu bemerken und im nächsten Augenblick stand erneut Laurent an seiner Stelle.

Doch das alles schien Marlene nicht von Bedeutung. Ihr Blick wanderte hinauf zu dem schmalen Flur, der die Halle in einigen Metern Höhe umzog. Dort stand eine Frau mit dunklem Teint, die Hände auf die Brüstung gelegt, die den Flur von der schwindelerregenden Tiefe trennte. Sie trug ihr schwarzes Haar in einen Zopf geflochten und ihre Kleidung unterschied sich nicht von der anderer Vampire. Und dennoch schien sie etwas Besonderes an sich zu haben; etwas, das Marlene erschaudern ließ.

Erst jetzt bemerkte sie an der Seite des Vampirs ein Tier, das sie an einen Kojoten erinnerte, doch seine Schnauze war zu lang, sein Fell zu kurz und hell. Zweifellos stammte es aus einem ihr fremden Land. Ob auch es ein Vampir in Tiergestalt war?

„Wer ist diese Frau?“, fragte Marlene leise, da sie bemerkte, dass Dragotin an ihre Seite getreten war, ohne den Blick vom oberen Stockwerk abzuwenden.

Tief in ihrem Geiste erwartete sie keine Antwort von ihm und so war sie umso verwunderter, als Laurent an Dragotins Statt sprach: „Das ist Aliyah, unsere Gastgeberin und Oberhaupt des Verwaltungsbezirks. Dieses Haus ist also ihr Eigentum.“

Er hielt einen Moment inne und Marlene hatte sich beinahe schon mit dieser Antwort zufrieden gegeben, als er fortfuhr: „Sie hat unsere Schöpferin vernichtet.“

„Unsere...?“, wunderte sich Marlene zu ihrer eigenen Überraschung laut. Sie wusste nicht aus welchem Grund, doch es fiel ihr um einiges leichter diesem fremden Vampir all diese Fragen zu stellen – gegenüber Dragotin hätte sie es nicht gewagt. Er hatte etwas an sich, das ihn für sie zugänglich machte; er wirkte nicht so völlig fremd auf sie, wie es Dragotin tat, sie konnte seine Handlungen nachvollziehen und hatte nicht das Gefühl, er könnte sich im nächsten Augenblick auf sie stürzen und ihr seine Macht demonstrieren. Sie konnte sich nicht erklären, woher diese Woge der Vertrautheit und Sicherheit rührte – schließlich hatte er gerade eben ihren Schöpfer angefallen – oder war das vielleicht sogar der Grund dafür?

„Die Schöpferin von mir und Dragotin, Livia. Sie arbeitete in Saudi-Arabien, dem Land, aus dem Aliyah stammt, als Vollstreckerin des 'Gerichts der Nachtwesen'. Sie war dort, um Aliyahs kleines Haustier zu vernichten, doch wie du sehen kannst, existiert es auch heute noch. Sie hat sich dem Gericht entzogen, indem sie die Vollstreckerin selbst vernichtete – seither steht sie über dem Gesetz“, antwortete Laurent der angedeuteten Frage ausführlicher, als Marlene es je erwartet hätte.

Sie nickte höflich und ließ ihren Blick noch einmal über das seltsame Hundewesen schweifen, das im oberen Stockwerk knurrte und ein Schauder erschütterte sie. Irgendwas war seltsam an diesem Tier...

„Du solltest dich vor diesem Arabischen Wolf in Acht nehmen, er ist kein gewöhnliches Tier“, fuhr Laurent fort, als wollte er auf Marlenes Gedanken antworten. „Sie hat ihn zu einem Wesen der Nacht gemacht – das Gesetz verbietet es, nicht menschliche Wesen zu Vampiren zu machen, denn sie können die Gier nach Blut nicht beherrschen und folgen bedingungslos ihrem Instinkt. Aliyah ist der einzige Vampir, der mir bekannt ist, der so ein Wesen kontrollieren kann.“

Laurents helle Augen verengten sich kaum merklich; auf die gleiche Weise, wie Marlene es bereits bei Dragotin gesehen hatte. Diese kleine Geste war es, die sie verwirrte, strutzig machte, doch sie ließ sich nicht beirren und nutzte die Gelegenheit, mehr über die Vergangenheit ihres Schöpfers zu erfahren. Vielleicht konnte es ihr bei ihrer Rache nützlich sein...?

„Und Livia lebte also auch in Arabien?“, knüpfte sie so beiläufig wie möglich an das Gespräch an.

„Nein“, wehrte Laurent ab und es schien, als wäre er des Redens noch immer nicht müde, „sie wurde im römischen Reich, in Italien, erschaffen und sehnte sich danach, die Welt zu erkunden. In Frankreich traf sie auf mich.“

Erneut hielt er kurz inne, ließ dieses Mal seine Augen zu Dragotin hinüberflackern, der den Kopf jedoch abgewandt hatte und der Unterhaltung nicht zu folgen schien, sodass Laurent fortfuhr: „und Dragotin sind wir nur einige Jahre später in der Slowakei begegnet.“

Sein Blick verschleierte sich und Marlene bekam den Eindruck, dass er mit seinen Gedanken fern war; fort von ihr und dem Saal. Während er weitersprach, schienen seine Augen ins Nichts zu starren: „Er hat sie vom ersten Augenblick an fasziniert. Er konnte schreiben – das war damals eine Seltenheit – und er nutzte seine Fähigkeit: Er schrieb Geschichten und Verse, oberflächlich sachlich und neutral, doch innerlich schwer von Sentimentalität. Geschichten über die Schönheit der Dunkelheit und der Nacht. Sie schenkte ihm noch am selben Tag das neue Leben.“

Noch einmal machte der blonde Vampir eine Pause und es war dieser Augenblick, in dem Marlene nicht sicher war, ob sie mehr erfahren wollte oder nicht. Doch es schien, als habe sie eine Lawine losgetreten, die sich nicht mehr aufhalten ließ: „Sie hat ihn geliebt – und er hat sie verspottet. Er war kalt wie die Worte, die er schrieb.“

Ein leises Frösteln schüttelte Marlene und gerade, als sie sich fragte, was sie noch alles erfahren würde, war der Zauber vorbei, der Laurent gebannt zu haben schien. Er wandte den Kopf zu ihr um und seine Lippen kräuselte dasselbe feine und leicht spöttische Lächeln, mit dem er vor kurzer Zeit auch Dragotin bedacht hatte: „Bei mir wärst du in besseren Händen.“

Marlene meinte im Augenwinkel Dragotins Pupillen zu ihnen herüberzucken zu sehen, doch ihr blieb keine Zeit es näher zu ergründen, denn Aliyahs unnatürlich laute Stimme erhob sich erneut über den Raum und ließ alle Gespräche in der Halle verstummen.

„Ich denke wir sind nun vollzählig.“

Ihre Stimme wirkte trotz ihrer Lautstärke völlig ruhig und nicht im geringsten angespannt – dass sie noch vor einigen Minuten in einen Kampf eingeschritten war, konnte man ihrer Tonlage nicht entnehmen.

„Wir haben uns heute hier versammelt, um die Erschaffene Dragotins, des Falkens, in unsere Mitte aufzunehmen. Komm zu mir, Marlene, mein Kind“, tönte die Stimme auf eine feierliche und zugleich sinnliche Art und Weise weiter.

Für eine Sekunde schien Marlenes Herz auszusetzen. Verunsichert wandte sie den Kopf Dragotin zu, um von ihm zu erfahren, ob sie der Aufforderung Aliyahs folgen sollte, doch keine Miene regte sich im Gesicht des Vampirs. Stattdessen spürte Marlene kurz darauf eine seiner Hände im Rücken, die sie in Richtung der steinernen Treppe schob, welche in das obere Stockwerk hinaufführte.

Von da an geschah alles fast gänzlich ohne Marlenes Zutun. Sie fühlte sich, als würde sie in einem Traum dahingleiten: Ihre Beine bewegten sich in die vorgegebene Richtung weiter fort und sie spürte ihr Herz laut und kräftig in ihrer Brust schlagen. Es war keine Angst, die Marlene verspürte; eher eine Art der Erregung, eine Anspannung und die lastende Frage, was wohl als nächstes geschehen mochte. Kein Wort hatte Dragotin ihr über diese Zeremonie verraten und für einen kurzen Moment bezwang ihr Zorn darüber ihre Ungewissheit.

Dann stand sie auch schon an Aliyahs Seite, blickte auf den sandfarbenen Wolf neben ihr hinab, der die Lefzen anhob und sie anknurrte. Was war das nur für ein seltsames, mulmiges Gefühl, welches sie in Gegenwart des arabischen Vampirs und ihres Gefährten verspürte? Rührte es nur von Laurents respektheischenden Ausführungen?

„Die Gemeinschaft der Vampire akzeptiert dich, Marlene, Erschaffene des Falken, hermit als ihr neues Mitglied. Du wirst vorläufig in den fünften Rang aufgenommen“, sprach Aliyah endlich weiter und wandte sich kurz von Marlene ab, um ein rotes Stück Stoff aus den ausgestreckten Armen eines untersetzten Vampirs an ihrer Seite entgegenzunehmen.

Diese Worte schienen Marlene eine tiefe und schwere Bedeutung zu haben, auch wenn sie diese nicht ergründen konnte – und doch waren sie auf eine Art und Weise ausgesprochen worden, die ihr den Eindruck vermittelten, sie seinen einstudiert; eine feste Poesie, die vielleicht schon viele Tausend mal aufgesagt worden war.

Der fünfte Rang – Marlene wusste nichts von einem Rangsystem unter Vampiren, schloss aus Aliyahs Worten allerdings, dass es sich um den niedrigsten handeln musste. Vielleicht würden auch diese Ränge ein Mittel werden, Dragotins Macht zu übertrumpfen...

Doch schon wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Aliyah hielt ihr das entgegen, was sie eben noch für ein Stück Stoff gehalten hatte: Es handelte sich um einen blutroten Umhang, wie ihn alle anwesenden Vampire trugen.

„Nimm dies als Zeichen unseres Wohlwollens. Er kennzeichnet dich als Mitglied der Vampirgemeinschaft und soll dich auf den verworrenen Pfaden der Nacht schützen“, beendete Aliyah die alte Poesie und hielt den Umhang so, dass Marlene nur noch hineinschlüpfen musste.

Ein anerkennendes Raunen drang aus dem Saal zu den drei Vampiren im oberen Stockwerk hinauf, als Aliyah den Umhang losließ und ihn somit Marlene übergab.

Der Stoff war fließend und angenehm kühl, er kribbelte auf ihrer Haut – einen ähnlichen Stoffe

hatte Marlene in ihrem Leben nicht berührt, geschweige denn getragen. Bewundernd und sich an der ihr ungewohnten Schönheit des Umhangs ergötzend, blickte sie an sich hinab, ließ ihren Blick über die ungewöhnlichen Dreiecksknöpfe wandern und ihn schließlich über ihrer Brust verweilen. Wie jeder Umhang trug auch ihrer an dieser Stelle die silberne Stickerei eines Tieres – doch dieses Symbol war ihr nicht fremd, sie hatte es schon einmal gesehen. Der Falke, den Dragotin sein Eigen nannte, prangte im künstlichen Licht schimmernd auf dem roten Stoff.

Sie fühlte sich abhängig, ausgeliefert. Irgendwo tief in ihrem Innern hatte sie gehofft, in dieser Nacht in ihrer Unabhängigkeit bestärkt zu werden, doch ihre Erwartungen waren nicht erfüllt worden. Dieses kleine, scheinbar unbedeutsame Symbol gab ihr das Gefühl, enger mit ihrem Schöpfer verbunden zu sein, als sie es bisher hatte wahrnehmen wollen, ihm ergeben zu sein. Es war seltsam: Sie hatte viele Stunden benötigt sich selbst in ihrem Denken und ihren Plänen zu bestärken und nun war all das in nur einer Sekunde wie fortgewischt. Sie fühlte sich leer – als wäre sie in ein schwarzes Nichts abgetrieben, in dem es keine Ziele und keine Hoffnungen gab.

So schritt sie wie in Trance die Treppe hinab, zurück zu den versammelten Vampiren, und trat an Dragotins Seite. Sie blieb stumm, während er scheinbar alte Freunde begrüßte, blieb stumm, während er Glückwünsche und Zusprachen empfing.

Erst Laurents Stimme riss ihren abgetriebenen Geist zurück in die Realität: „Du siehst unglücklich aus.“

Marlene konnte nur mit den Achseln zucken. Sie war sich nicht im Klaren, worauf diese Frage abzielte; zudem kreisten ihre Gedanken noch immer um Dragotin, dem sie nun den Rücken zugewandt hatte.

„Begleite mich doch vor die Tür“, schlug der blonde Vampir daraufhin vor, ein leichtes Lächeln auf den Lippen, welches Marlene nicht zu deuten vermochte: War es eher wohlwollend oder überheblich?

Doch in diesem Augenblick war es ihr gleich. Die Aufforderung bot ihr eine Gelegenheit, aus diesen Räumen zu entkommen, aus der Masse der roten Umhänge zu entfliehen, deren Teil sie war – und es doch nicht war. Unterlegen, schwach, ungeachtet.

Auch von seiner Seite wollte sie nichts denn weichen, von der Seite ihres Schöpfers, der auf sie hinabblickte, dessen gesellschaftliche Position ganz offensichtlich weit über ihrer eigenen lag, der beherrschte, während sie diejenige war, die beherrscht wurde.

Diese Wünsche drängten sich Marlene so harnäckig auf, dass sie selbst vergaß nach dem „Warum“ zu fragen, als sie Laurents Einladung annahm und ihm auf die andere Seite der Halle, hin zur Eingangstür, folgte. Sie war sich beinahe sicher, dass Dragotins Augen ihnen gefolgt waren, doch da er keine Anstalten machte, sie aufzuhalten, trat Marlene kurz darauf in die kühle Nachtluft hinaus.
 

Auf Laurents Aufforderung hin hatte sich Marlene neben ihm auf der Stufe vor dem Eingang niedergelassen, leicht versetzt zur steinernen Tür, um eventuellen Passanten den Weg freizuhalten.

Nun blickte ihr Gegenüber Marlene aus seinen rauchigen Augen an, ließ sein übliches Lächeln aufblitzen: „Die Nachtluft ist herrlich. In dem Gedränge hält man es kaum aus.“

Wie Recht er hatte!

So nickte Marlene in tiefer Zustimmung, als sie jedoch bemerkte, dass Laurent sie weiterhin auffordernd musterte, verlieh sie ihren Gedanken mit einem knappen Satz Ausdruck: „Es ist schrecklich.“

Sie ließ die Augen über den Hof wandern, der in fast völliger Dunkelheit dalag. Nur zwei Straßenlaternen zu beiden Seiten der Einfahrt, welche die hohe Mauer, die das Gelände umringte, durchschnitt, leuchteten wie verirrte Sonnen durch die Finsternis. Doch ihr schwaches Licht vermochte kaum den Boden zu berühren, geschweige denn der Dunkelheit um sie her die Tiefe zu nehmen.

Es war angenehm in der kühlen Nachtluft an Laurents Seite zu sitzen, besonders wenn er, wie in diesem Augenblick, schwieg. So schien es Marlene beinahe, als wäre sie allein und doch war sie vor der Einsamkeit geschützt, die sie in verlassenen Stunden zu übermannen drohte. Und war es das nicht, was sie in seiner Gegenwart spürte, so war es doch zumindest das angenehme Gefühl mit ihrem Gegenüber auf einer Ebene zu stehen, ihm nicht unterlegen zu sein, nicht jede Sekunde zu erwarten, er würde einen Befehl aussprechen, dem sie Folge zu leisten hatte.

„Es kümmert ihn nicht, dass du fort bist“, meinte Laurent jäh, als wäre er die ganze Zeit über einen Gedankenstrang gefolgt, dessen Ende er nun kund tat.

„Hm?“, machte Marlene daraufhin fragend, riss ihre Augen von den fernen Straßenlaternen los und wandte ihrem Gesprächspartner den Kopf zu. Irgendetwas in ihr ahnte, wovon er sprach, doch das wollte sie sich selbst nicht eingestehen.

„Dragotin“, bestätigte der Vampir ihre Vermutung. „Er ist dir nicht gefolgt, vielleicht hat er nicht einmal bemerkt, dass du nicht mehr bei ihm bist.“

Im Stillen gab sie ihm Recht und war mit dieser Situation auch ganz zufrieden. Sollte er sich nur um andere Angelegenheiten kümmern. Vielleicht vergaß er sie sogar und sie konnte völlig frei ihrer Wege gehen.

Bei diesem Gedanken hielt Marlene inne: War sie denn nicht frei? Konnte sie denn nicht gehen, wohin sie wollte? Hatte sie es sich selbst nicht soeben bewiesen?

Und doch... Und doch fühlte sie sich zu ihrem Schöpfer zugehörig, konnte sich beinahe nicht ausmalen, wie es wäre, einfach zu gehen. Und wohin hätte sie auch gehen sollen? Schließlich war ihre Familie...

Ein stechender Schmerz breitete sich in Marlenes Brust aus und sie musste eine heimliche Träne fortblinzeln.

Sie hasste Dragotin, musste ihn hassen. Er war nichts als ein Mörder, ein Wesen, das wahllos Menschen das Leben nahm – vielleicht sogar zur eigenen Belustigung und sie hatte große Lust sein Leben eines Tages auf diesselbe grausame Weise zu beenden, die er für seine Opfer bevorzugte.

Und doch... und doch-

„Wie ich bereits sagte: Du wärst bei mir in besseren Händen“, unterbrach Laurent Marlenes Gedankenfluss überraschend, sodass sie unwillkürlich zusammenzuckte.

Ihr Blick fiel auf ihre schmalen Finger und ihr Herz fühlte sich bei dem Gedanken, sie sei Dragotin gleichgültig, schrecklich leer an. War es das Blut in ihren Adern, das Blut, welches nichts Menschliches mehr an sich hatte? Oder war es die Verzweiflung, diese absolute Abhängigkeit?

Marlene erschrak vor ihren eigenen Gedanken und Gefühlen. Sie durfte ihnen nicht länger nachgehen, musste sich zusammenreißen. Sie würde ihre Familie rächen, das hatte sie sich geschworen – doch vielleicht war es besser, von Dragotins Seite zu weichen, bis sie ihn in Stärke und Macht übertroffen hatte?

Nun huschte ihr Blick zurück zu Laurents Gesicht.

Vielleicht konnte er ihr dabei nützlich sein...?

„Möchtest du mich morgen Nacht auf die Jagd zu begleiten? Ich könnte dich abholen, ich kann mir denken, wo Dragotin untergeschlüpft ist“, fuhr Laurent fort, als hätte er Marlenes Gedanken von ihrem Gesicht abgelesen.

Ihr blieb nichts, denn stumm zu nicken; sicher war das die beste Gelegenheit, die sich ihr bieten konnte.

Laurents kühle Finger berührten nur Sekunden darauf ihre Wange, um dann mit der ganzen Hand darüber zu streichen, den Blick weiterhin unverwandt in Marlenes Augen gerichtet.

Ein Schauder durchfuhr ihren Körper, als sich sein scharf geschnittenes Gesicht dem Ihren näherte; ganz langsam, als wollte er sie nicht verschrecken, immer näher...
 

Dragotin hatte so eben das Gespräch mit einem alten Bekannten beendet und sah sich nun endlich frei, die Halle ohne negatives Aufsehen zu verlassen. Natürlich: Die Versammlung war nur seinetwegen einberufen worden, doch gleichwohl ihretwegen und ihre Abwesenheit lag ihm seit Minuten schwer im Magen.

Es handelte sich um ein dumpfes Gefühl, das Nervosität hervorrief, eine schlechte Vorahnung oder vielleicht sogar das Wissen um die Erfüllung eben dieser.

Soeben grüßte man Dragotin, wohl in der Absicht ihn in ein neues Gespräch zu verwickeln, doch er tat die Begrüßung mit einem schlichten Kopfnicken ab. Er war nie ausgesprochen redselig gewesen und gerade in diesem Augenblick kam ihm die ungebührliche Aufmerksamkeit nicht entgegen. Es war sinnlos: Es gab keine Möglichkeit die Halle zu verlassen, ohne dass Dragotin nicht ein halbes Dutzend Augenpaare gefolgt wären; und so wurde es ihm gleich, das sich aufdrängende Verlangen nach seiner Erschaffenen zu sehen, besiegte sein Ehrgefühl.

So durchschritt er den Saal mit hoch erhobenem Kopf und breiten Schultern, den auf ihn lastenden Blicken keinerlei Beachtung schenkend, und durchschritt die steinerne Eingangstür.

Seine Schritte waren leise wie das Flüstern des Windes, doch in der Stille, die vor dem Herrenhaus herrschte, erklangen sie wie ein Gewehrschuss. Noch bevor er die Tür hinter sich geschlossen hatte, konnte er Marlene und Laurent, die sich schräg vor ihm auf der Steinstufe niedergelassen hatten, zusammenzucken sehen. Auch, dass Laurent seine Hand von Marlenes Wange zurückzog, konnte seinem scharfen Blick, der jeden Winkel der herrschenden Dunkelheit durchdrang, nicht entgehen.

Ganz langsam schritt er um die beiden Vampire herum, bis er schließlich vor ihnen stand; keine Regung zeichnete sich in seinem Gesicht ab, nur seine Augen waren kaum merklich verengt: In seiner Brust brodelte ein Zorn, den er nur schwer beherrschen konnte, der seine Hände zum Erzittern brachte, weshalb er sie vor der Brust verschränkte. Und doch tat er nichts. Nichts, denn seine Gegenüber anzublicken, stumm, auf eine Reaktion ihrerseits zu warten, während die Wut weiterhin brennend durch seine Adern pulsierte.

„Dragotin“, sagte Laurent schließlich in wenig überraschtem Tonfall, „wie treffend. Wir haben gerade von dir gesprochen.“

Er hatte ein Lächeln aufgesetzt, welches Dragotin nur zu gut kannte und das er hassen gelernt hatte. Es war zu gleichen Teilen Neid und Hohn: Neid über das, was Dragotin besaß und Hohn, da er bereits einen Plan geschmiedet hatte, um es seinem Blutsbruder zu entreißen.

„Ich wiederhole mich ungern“, gab Dragotin schlicht zurück, mit den Gedanken bei seinem Rat, Laurent solle sich nicht in seine Angelegenheiten einmischen, welchen dieser doch niemals befolgt hatte und es wohl auch nie tun würde.

Mit wachsendem Unmut konnte er den fragenden Gesichtsausdruck auf Laurents entstehen sehen, von dem er wusste, dass er aufgesetzt war. Sie kannten sich zu lang; sie hatten dieses Spiel bereits häufig genug gespielt, um beide seine Regeln sowie seinen Ablauf genauestens zu kennen; dieses Spiel, von dem Dragotin geglaubt hatte, von dem er gehofft hatte, es wäre zusammen mit seiner Schöpferin Livia zu Staub zerfallen.

Es war ihm bewusst, dass es keinen Sinn ergab, sich auf eine weitere Diskussion einzulassen, schließlich hatte Laurent ihm eben dies nicht einmal eine Stunde zuvor eindrücklich demonstriert. So schluckte er all die Worte hinunter, die er seinem Bruder entgegenschleudern wollte, die aus seinem Zorn geschmiedet waren, die wirkungslos waren, und ließ seinen Blick über Marlenes Gesicht wandern. Es wirkte reuevoll, was der lodernde Flamme in seiner Brust entmächtigte, sie bändigte und in ihre Glasvitrine zurück sperrte, aus der sie kurz zuvor entkommen war.

„Ich denke wir sollten uns auf den Heimweg machen“, verlieh Dragotin einer ungewohnten Eingebung Ausdruck, die aus Marlenes Gesicht entsprungen zu sein schien.

Sie nickte stumm und erhob sich, um an Dragotins Seite die Einfahrt hinauf zu gehen, auf die beiden hellen Punkte zu; die Straßenlaternen, welche die Aussparung in der Mauer, welche das Grundstück umschloss, kennzeichneten.

„Halte dich von ihm fern“, erklang Dragotins kühle Stimme, als das Herrenhaus bereits einige Meter hinter ihnen lag.

Marlene antwortete nicht und hielt den Kopf gesenkt, dennoch war Dragotin bewusst, dass sie ihn verstanden hatte; es war ein Gefühl, welches sich seiner lang erprobten Menschenkenntnis bediente.

Doch diese sagte ihm ebenfalls, sie würde nicht auf ihn hören, sodass er sich überwand einen kleinen Teil der Gesamtheit preiszugeben, um die er wusste, die er verachtete. Nur ein winziges Stück des Spiels, in das er erneut hineingezogen worden war: „Es geht ihm nicht um dich, glaube mir.“

Bei diesen Worten blickte Marlene nun doch zu ihm auf, ihre Augen streiften die Seinen, nur um kurz darauf wieder gen Boden zu starren. Und das war es, was einen leichten spitzen Schmerz in Dragotins Herzen entstehen ließ: Sie hatte also wahrhaftig ein Auge auf Laurent geworfen und war betroffen von seinem Desinteresse zu hören.

Wie konnte sie nur so etwas denken? Sie gehörte ihm, er hatte sie erschaffen!

Doch die neu entflammte Wut klang in der Stille der Nacht rasch ab und verflog mit dem Wind. Zurück blieb nur ein leises Gefühl, das sich Dragotin zusehens aufdrängen wollte: Die Hoffnung, er möge ihre Geste missinterpretiert haben und sich irren.

Er wollte sie halten, um jeden Preis, sie zwingen, an seiner Seite zu blieben. Und doch – Da war diese lästige kleine Stimme in seinem Hinterkopf, die Akzeptanz forderte, die eine Bestätigung, ein Entgegenkommen durch Marlene erhoffte – und der gab er schließlich nach, wenn auch nicht mit ruhigem Gewissen.
 

Kapitel 3
 

Dragotin hatte sich auf einem der Stühle nahe des Fensters niedergelassen, als die Dämmerung eingesetzt hatte. Nun war die Sonne bereits hinter dem Horizont verschwunden und sie hatten kaum ein Wort gewechselt, kein Bedeutungsschweres darunter.

Es machte ihm nichts aus, er musste nicht einmal Gedanken nachhängen, um sich zu beschäftigen; es genügte ihm völlig zu Marlene hinüberzublicken, sie zu beobachten, auch wenn sie sich nur selten regte, denn diese Minuten waren nichts als eine armselige Sekunde in der Zeit seines Seins. Nur hin und wieder fragte er sich, woran sie wohl denken mochte, versuchte es von ihrem Gesicht abzulesen, kam jedoch nie zu einem Ergebnis: Ihr Gesicht blieb unbewegt, von Schwermut gezeichnet. Nur hier und da hob sie den Arm, um sich eine ins Gesicht gefallene Strähne ihres braunen Haars hinter das Ohr zu streichen oder wandte den Kopf, um einen neuen, unbelebten Gegenstand des Zimmers anzustarren. Ob ihr seine Anwesenheit unangenehm war?

Seine Augen wanderten nur für einige Sekunden zu dem Fenster mit der milchig schmutzigen Scheibe hinüber, wollten sehen, um doch nichts zu sehen. Draußen herrschte bereits die Schwärze der Nacht.

Im war bewusst, dass er am Zuge war, er musste das Spiel vorantreiben, welches Laurent ohne seine Zustimmung begonnen hatte. Er konnte sie nicht ständig an seiner Seite halten, um sie zu schützen, um sie dem Spiel zu entreißen, wollte es nicht, denn da war dieses Flüstern, diese leise Stimme, welche weder aus seinem Kopf noch aus seinem Herzen zu dringen schien: Hoffnung. Die Hoffnung, Marlene würde sich selbst dem Spiel verweigern, der Glaube daran – und dann doch der süße Schmerz der Erkenntnis: Sie würde spielen, ihn verraten, sich ihm entziehen. Doch Stolz und Herz verboten es ihm, sich dies einzugestehen.

So erhob er sich schließlich, wobei der den Stuhl, auf dem er gesessen hatte, ein kleines Stück zurück schob.

Das Kratzen der Stuhlbeine auf dem Holzboden ließen Marlene aufschrecken und zu Dragotin aufblicken, halb fragend, halb desinteressiert.

„Ich werde mich nun auf den Weg machen“, erhob Dragotin nach so langer Zeit seine kühle und feste Stimme. „Die Nacht ist finster, die Gelegenheit günstig für die Jagd.“

Ohne eine Reaktion Marlenes abzuwarten, wandte er sich ab und verließ das Zimmer mit kaum hörbaren Schritten, um die Tür mit derselben Stille hinter sich zu schließen, wie ein Windhauch, der die Welt um sich her kaum berührte.

Und kaum herrschte völliges Schweigen, schien es, als hätte es diesen Wind nie gegeben.

Noch einige wenige Minuten blieb Marlene auf dem Bett sitzen, starrte weiterhin die Wand an, sah durch sie hindurch. Dann erhob sie sich ebenfalls und verließ das Haus – allein, das erste Mal ganz allein, seit ihr Leben sein Ende gefunden hatte.
 

Marlene stand vor dem kleinen Haus und blickte in den Nachthimmel hinauf. Er war Wolkenverhangen, kein Stern war zu sehen.

Ein seltsames Gefühl hatte sich in ihrer Brust ausgebreitet: Eine Mischung aus Unsicherheit und Erregung, Vorfreude und Angst. Sie kannte das Leben der Nachtwesen noch lange nicht gut genug, um abschätzen zu können, wie Laurent und Dragotin planten und handelten, sodass ihr nichts blieb als sich an ihr noch so sehr menschliches Empfinden zu halten.

Gewiss, Dragotin hatte ihr gesagt, Laurent ginge es nicht um sie – doch was für Pläne sollte er verfolgen? Sie selbst konnte ihm schließlich kaum von Nutzen sein. So war sie sich sicher, Laurents Aufmerksamkeit würde ihr gebühren, wenn er sein Versprechen hielt und kam, um sie abzuholen -

Und wenn er es nicht tat? Dann hatte sie nichts verloren – auch wenn ihr verunsichertes Herz ihr einen anderen Eindruck zu vermitteln suchte. Sie durfte ihm nicht nachgeben, musste an ihr Ziel denken, an ihr Schicksal – und das ihrer Familie.

Marlene frröstelte, als ein kühler Windstoß aufkam und ihr Haar zerzauste. Wie lange sie wohl warten musste?

„Guten Abend.“

Die bekannte Stimme ließ Marlene unwillkürlich zusammenzucken und herumfahren. Laurent stand nahe des Waldrandes, aus dem er wohl im Schutz der Lautstärke des Windes getreten war, wie stets ein Lächeln auf den Lippen.

„Er ist ausgegangen?“, fragte er weiter und kam auf Marlene zu, ohne eine Begrüßung ihrerseits abzuwarten.

„Ja“, nickte diese leicht, ihr Herz hatte seinen Schlag beschleunigt und machte ihr ihre eigene Aufregung bewusst.

Er würde sie mit sich nehmen, fort von Dragotin, diesem herzlosen Wesen, ihrem Schöpfer. Und er würde sie mit auf die Jagd nehmen, ihr das essentiellste Wissen schenken, das sich ein Vampir zu eigen machen konnte.

„Na dann komm, wenn du willst“, nickte Laurent zurück, das Lächeln nur noch ein leises Anheben seiner Mundwinkel. Damit wandte er sich von ihr ab und ging in Richtung des Waldes davon.

Nach kurzem Zögern folgte Marlene ihm rasch, schloss zu ihm auf und hielt sich an seiner Seite, in der Dunkelheit der Nacht halb blind.

Er führte sie sicher durch den Wald, auf seine andere Seite, von wo aus sie die schwachen Lichter der Siedlung sehen konnten.

Marlenes Herz krampfte sich bei diesem Anblick schmerzhaft zusammen: Diese kleine Ansammlung von Lichtern, von Feldern umrahmt, schien ihr grausam bekannt.
 

Die Baumstämme des Waldes zogen träge an Dragotin vorüber, während er durch das Unterholz schlich. Er hätte konzentriert sein sollen, rational berechnend oder aber in innigem Wahn, einem süßen raubtierhaften Instinkt folgend – doch beides hatte ihn verlassen. Er fühlte sich fremd in der Welt, die ihn umgab, nicht mehr eins mit ihr. Er empfand sich weniger als Teil der Nacht, denn als verlorene Seele, welche in ihr umher irrte.

Egal wie sehr er sich mühte, er konnte sich nicht auf sein Handeln konzentrieren. Immer wieder schweiften seine Gedanken ab, die er so mühevoll in Zaum zu halten versuchte, glitten zu ihr.

Er war nicht der Charakter, der an seinen eigenen Entscheidungen zweifelte und doch erfüllte ihn ein gewisses Gefühl des Unwohlseins, vielleicht auch der Ungewissheit. Er war sich fast sicher, dass Laurent seine Abwesenheit als Gelegenheit nutzen würde, um seinen Zug im Spiel der Geschwister zu vollführen und dieses Wissen behagte ihm nicht, denn Laurant hatte ihm in diesem Augenblick die Karte der kühlen Rationalität voraus.

Ein Rascheln im Gebüsch ließ Dragotin aus seinen Gedanken auffahren und einen neuen Versuch starten, sich auf die Jagd zu konzentrieren. Im Bruchteil einer Sekunde hatte er das Opossum im Schatten des Gestrauchs ausgemacht. Rasch bewegte er sich auf das Tier zu, um es zu überwältigen, vergaß dabei jedoch eins mit der Stille der Nacht zu werden. Schon hatte die Beutelratte seinen Angreifer gehört, auf den Absatz Kehrt gemacht und rannte davon.

Er hielt inne, ließ sie ziehen: In dieser Nacht hatte es einfach keinen Zweck.

Schon wollte er umkehren und zu seinem alten Haus am Waldrand zurückkehren, als ihn ein seltsames Gefühl überkam, welches nicht aus ihm selbst entsprungen zu sein schien. Es fuhr kribbelnd durch seine Adern, bohrte sich kalt und drückend in sein Herz und ließ ihn einen Augenblick lang inne halten. Nie zuvor hatte er ein solches Gefühl verspürt und doch wusste er, was es ihm vermitteln sollte: Laurent hatte sie geholt.

Wie von selbst glitten seine Augen über den Waldboden, angestrengt nach den winzigen magischen Partikeln Ausschau haltend, die jedes magische Wesen Wesen unter der Sonne hinterließ und die er zu enttarnen und verfolgen gelernt hatte. Wie durch einen schicksalhaften Zufall entdeckte er tatsächlich Marlenes Fährte. Es war nicht mehr als ein feines, halb silbernes, halb rotes Glitzern in der Dunkelheit, als hätte man eine feine und weit gezerrte Spur aus schimmerndem Staub gelegt. Diese Fährte, die der seinen so ähnlich sah und die er zu verwischen wusste. Und wie er aus seinen Vermutungen und Schlussfolgerungen schloss, hatte auch Laurent diese Kunst erlernt.

Die Fährte zeigte Dragotin durch ein kaum erkenntliches feines Muster an, in welche Richtung Marlene unterwegs gewesen war – beinahe erschütterte es ihn, dass die Vampire den Wald ohne sein Bemerken durchquert hatten.

So folgte er der schimmernden Spur, immer weiter, bis aus dem Wald hinaus. Das fremde Gefühl in Dragotins Körper schwoll an, ließ einen seltsamen Schmerz durch sein Herz zucken – und ab diesem Augenblick beschleunigten sich seine Schritte. Er musste kaum auf den Boden blicken, um Marlenes Spur zu verfolgen, er wusste, wo sie sich befand, wusste, sie verspürte tiefe zerfressende Angst, denn sie war ein Teil seiner Selbst – und sie schrie nach ihm.

Die Lichter der Stadt rückten näher, doch seine Schritte schienen ihm zu langsam und zugleich zu Aufmerksamkeit heischend. Nur wenige Sekunden hielt er inne, nachdem er diesen Gedanken gefasst hatte, konzentrierte sich. Für einen kurzen Augenblick fühlte er sich völlig frei, spürte den Wind an sich vorüber peitschen, an seinen gefiederten Flügeln – dann durchfuhr ein leises Ziehen, verbunden mit einem fast schon gewohntem Schmerz seinen Körper. Er wusste, seine Konturen verschwammen, wurden eins mit der Nacht, um kurz darauf erneut aus ihr aufzutauchen – jedoch in neuer Gestalt. Und schon erhob sich der Falke mit einem Schrei in die Lüfte.
 

Schon von Weitem erkannte er sein Ziel. Es handelte sich um eine enge und spärlich erleuchtete Gasse der kleinen Stadt, in der er zwei ihm bekannte Gestalten ausmachen konnte. Marlenes langes Haar schimmerte im Licht einer entfernten Straßenlaterne – sie stand mit dem Rücken an eine Hauswand gepresst da, wie erstarrt, als hätte ihr träges Herz das Schlagen aufgegeben. Ihr gegenüber Laurent, über und über mit Blut befleckt, zu seinen Füßen eine Frau mittleren Alters: er hatte ihr die Kehle zerfetzt.

Mit leisen Flügelschlägen setzte der Falke zur Landung an, doch auch dieses feine Geräusch entging Laurents geschärften Sinnen nicht: Seine Augen waren bereits auf Dragotin fixiert, noch ehe dieser seine menschliche Gestalt angenommen hatten.

Nun standen sie sich gegenüber: Blutsbrüder, Rivalen, Feinde; und starrten sich gegenseitig in die Augen, bis Laurent die Stimme erhob: „Dragotin.“

Es war eine kühle, eine überflüssige Feststellung, doch sie genügte, um die erstarrte Marlene zu erwecken, sie die Augen vom Anblick der leblosen Frau losreißen und zu ihrem Schöpfer hinüber wandern zu lassen. Kaum einen Lidschlag später stürzte sie auf ihn zu, ihre schmalen Hände klammerten sich in seine Kleider und ihr Kopf presste sich gegen seine Brust. Heftige Schluchzer schüttelten sie und Dragotin wusste, ihre Tränen färbten Wangen und Kleider rot.

Er konnte ihr Leid fast körperlich spüren und doch vermochte es ihn nicht zu verletzen – es erregte ihn, machte ihn rasend vor Zorn.

„Du bist zu weit gegangen“, erhob er seine neutrale Stimme, den Blick immer noch in Laurents rauchige Augen gerichtet. Keine seiner Regungen vermochte diese brennende Wut, die sich in seiner Brust zusammenballte, auszudrücken und doch erkannte er in Laurents Gesicht, dass er sie aus seinen Augen herausgelesen haben musste. „Livia ist nicht mehr, es gibt keinen Grund für dich, zu zerbrechen, was ich begehre, mich übertreffen zu wollen. Keinen, den ich tolerieren werde.“

Zum Ende des Satzes hin war Dragotins Stimme zusehends leiser geworden, bis sie kaum mehr ein Hauch in der Stille gewesen war; ein leises Drohen, welches in seiner Schwere kaum zu übertreffen war.

„Ich habe sie geliebt!“, fuhr Laurent auf, seinem Gegenüber allen Schmerz entgegenschreiend, der sich seit Jahrzehnten in ihm geballt hatte. „Und Sie hatte schon immer nur Augen für dich! Und du? Was hast du getan? Du hast sie ausgelacht!“

Doch keine dieser Worte konnten Dragotins bohrenden Blick erweichen, denn sie fanden keinen Platz in seinem Herzen. Da war nichts denn diese brennende Wut, die ihn von innen zu zerfressen suchte, der geopfert werden sollte, doch er nahm jeden Funken Selbstbeherrschung, der noch in seinem Leibe war, zusammen: Rache konnte seinen Zorn, aber nicht ihren Schmerz tilgen.

„Verschwinde“, sagte er also schlicht, nichts weiter als das. Erst als Laurent nicht reagierte, wiederholte er: „Verschwinde, ich will dich nicht mehr sehen. Kommst du mir noch ein Mal unter die Augen, werde ich persönlich dafür sorgen, dass du diesen Fehler nicht wiederholen kannst.“

„Mutter, Mutter...“

Dragotins Augenbrauen zogen sich kaum merklich zusammen, als er den Kopf senkte, um zu Marlene hinabzuspähen. Noch immer verbarg sie ihr Gesicht in seinen Kleidern, weinte, schluchzte so erbärmlich, dass er mit Erstaunen über sich selbst etwas in seiner Brust aufblitzen spürte, das er nur bei dem Namen „Mitleid“ nennen konnte.

Ja, sie hasste ihn, hasste ihn von ganzem Herzen, doch sie hasste weniger seine Person, denn sein Handeln.

Es war gut so, er verlangte nicht von ihr, dass sie ihn liebte, mögen konnte. Er war geduldig, denn die Welt hielt einen unerschöpflichen Vorrat der Zeit für ihn bereit - und eines Tages würde sie verzeihen oder vergessen und vielleicht würde sie sich dann den Kuss zurückholen, den er ihr gestohlen hatte.

So legte er einen Arm um Marlenes bebende Schultern und führte sie aus der Gasse, aus der Stadt, nahm sie mit sich, zurück in seine Welt, abgeschieden von dieser verfluchten Menschlichkeit – der Menschlichkeit, die nur Erinnerung, Leid, Tod und Verzweiflung mit sich brachte und in der die Zeit in eine messbare Form gezwängt worden war.
 

Kapitel 4
 

Marlene hatte die Beine angewinkelt und dicht an ihren Körper gezogen, wobei sie ihre Knie mit den Armen umschlang und den Blick starr auf ihre Füße gerichtet hielt. In ihr schien völlige Leere zu herrschen, kein lahmer Gedanke und kein armes Gefühl regte sich in ihr; Schmerz und Enttäuschung waren zu Erkenntnis erstarrt und füllten ihr Herz wie kaltes Eis.

Alles um sie her schien ihr fremd – diese ganze Welt der Nacht, zu der sie nicht dazu zu gehören schien und deren Gesetze sie nicht verstand, und zu der sie Dragotin als einziges Glied verband; ein Glied, auf das sie angewiesen war und von dem sie sich nicht losreißen konnte. Noch nicht.

Am Rande ihrer Gedanken nahm Marlene wahr, wie sich die Zimmertür mit einem leisen, schleifenden Geräusch öffnete und kaum hörbare Schritte näher traten. Sie hielten kurz inne, um daraufhin erneut einzusetzen und wieder zu verstummen.

„Das solltest du lesen“, wehte Dragotins leise Stimme zu ihr hinüber, neutral und sachlich wie je.

Dennoch ließen diese unerwarteten Worte Marlene aufschrecken und den Kopf heben.

Dragotin stand nahe des Ofens in der Zimmerecke und hielt zwei Bücher in Händen, beide mit Ruß überzogen. Er musste sie hinter dem Ofen hervorgezogen haben und fast schien es, als hätte er sie dort verstaut, um sie nicht mehr sehen zu müssen.

„Ich kann nicht lesen“, gab sie schließlich zurück, ihre Stimme so leer wie ihr Herz.

Einige Sekunden lang musterte Dragotin sie, schien nachzudenken, dann nickte er und schob beide Bücher in eine lederne Tasche zu seinen Füßen: „Es sind die Gesetze des Gerichts der Nachtwesen; du solltest sie kennen.“

Der Umstand, dass Dragotin das zweite Buch nicht mit einer Silbe erwähnt hatte, erweckte jäh Marlenes Neugierde, welche ihr ein neues Gefühl der Lebendigkeit verschaffte und sie ablenkte: „Was ist das Andere für ein Buch?“

Erneut hielt der Angesprochene kurz inne, die Stirn kaum merklich in schwache Falten gelegt, bevor er antwortete: „Memoiren.“

„Ihre Memoiren?“

Diese Worte hatte Marlene ausgesprochen, ohne zuvor über sie nachdenken, sodass sie selbst nicht sicher war, aus welchem Grund sie erneut zu der höflichen Form der Anrede übergegangen war. Vielleicht war es ein Ausdruck der Distanz, die sie zwischen sich und dem Vampir spürte – oder die sie sich wahren wollte.

Dragotin nickte knapp und blickte sich in dem kleinen Raum um, als suchte er nach etwas oder wollte sich davon überzeugen, nichts vergessen zu haben.

„In Maryville werde ich es dich lehren“, ergänzte er, ein neues Thema einbringend, während er die lederne Tasche schloss.

Marlenes Herz tat einen Hüpfer und dies nicht vor allem aus dem Grund, dass Dragotin ihr das Lesen beibringen wollte.

„Maryville?“, fragte sie also, halb aufgeregt, halb verwundert.

Er wollte also fort von hier – und Marlene war es von ganzem Herzen Recht, auch wenn sie es sich selbst nie eingestanden hätte. Sie wollte sich von ihrer Heimatstadt entfernen, ihre Bewohner, Mensch wie Vampir, hinter sich lassen und ihren Schmerz an diesem Ort begraben.

Doch welchen Grund sollte es für Dragotin geben, die Stadt zu verlassen? Er schien großes Ansehen in der Gesellschaft der Vampire zu genießen-

„Es ist eine kleine Stadt, in ihrem Verwaltungsbezirk leben nicht viele unserer Art; es wird dir gefallen“, meinte dieser erklärend und suchte Marlenes Blick. „Wir werden noch in dieser Nacht aufbrechen.“

Hätte Marlene dieses Angebot ausschlagen, diesen Befehl verweigern können? Wenn dem so war, hatte es keinerlei Bedeutung, denn es war ihr nichts daran gelegen. Ohne weitere Fragen zu stellen, folgte sie ihrem Schöpfer aus dem kleinen Haus, welches niemals ihr Zuhause gewesen war, trat der Zukunft entgegen und ließ des Vergangene hinter sich zurück.
 

Epilog
 

Es war ein eigentümliches Gefühl für Marlene, an der Seite des dunkelhaarigen Vampirs durch die zusehends schwärzere Nacht zu wandern. Der Weg war ihr unbekannt, genau wie er selbst – dieser Vampir, alt wie die Welt. Sie wusste nicht, woher er gekommen war, noch wohin sie eines Tages an seiner Seite gehen würde; nach Osten, an die Küste oder gar in fremde Länder auf entfernten Kontinenten.

Nichts war ihr geblieben, nichts an dem sie sich halten und orientieren konnte, nichts, denn dem festen Entschluss, der sich in ihren Kopf eingebrannt hatte: Sie würde die Welt der Nacht kennen lernen und Macht erlangen, Dragotin an ihrer Seite übertrumpfen und ihre Familie rächen.

Jäh flammte eine leise Stimme in ihrem Kopf auf, flüsterte ihr zu: 'Ohne ihn bist du nicht mehr als ein einsames Staubkorn in der weiten Wüste, deine Existenz ist nicht mehr, denn ein flüchtiger Lidschlag der Zeit, ein Nichts.'

Diese Worte erzürnten, schienen mit scharfen Klingen tief in Marlenes Herz zu stechen, denn sie waren Erkenntnis. Doch von dieser wollte sie nichts hören, keiner weiteren Silbe lauschen, die ihr Herz und ihren Entschluss ins Wanken bringen konnten!

So packte sie den Gedanken fest beim Schopf, erstickte seine Stimme und schmiedete eiserne Ketten für ihn, die ihn hielten, ihn bannten – bis zu dem Tag, an dem die Zeit die Rache fortgetragen haben würde: Diese verdammte Zeit, welche in der Unendlichkeit des untoten Lebens so bedeutungsleer war und die doch die Macht besaß, zu vernebeln und davonzutragen, die Gedanken schmal schleifen und Wahrheiten verdrehen konnte, die hier und dort ganze Seelen mit sich riss. Bis zu dem Tag, an dem die Zeit den Willen besiegt haben würde, an dem sie sich ihm widerstandslos fügte.

Diese verdammte Zeit.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Chocokatze
2008-02-18T16:51:46+00:00 18.02.2008 17:51
^__________^
MEEEEEEHR!!!!
Von:  sunshishi
2008-02-17T17:20:50+00:00 17.02.2008 18:20
Cooles Special^^

Mir gefällt der Rückblick auf Marlenes Erschaffung. und ich finde es schön, endlich mal einen tieferen Einblick in Dragotins Gedanken zu bekommen. Wieder eine hervorragende Wortwahl - sehr mitreißend^^
Freu mich auf mehr^^

Dat SuShi


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