Der gefallene Engel
„Wird er kommen?" In ihrem Ton lag unbändige Erwartung und ausgesprochen törichte Neugier. Der Mann, der die Treppen aus dem höher gelegenen Zimmer herunter schritt, war mit ihre Frage allerdings ein wenig überfordert. Ihm entglitt ein schwaches Seufzen, das begleitet war von einem besorgten Blick über die Schulter zurück zu der Türe, der er soeben den Rücken gekehrt hatte. „Ich weiß es nicht. Offengestanden hat er nicht einmal reagiert. Er sperrt sich nun schon fast die ganze Woche in dieses Zimmer, ohne jemandem zu verraten, was er eigentlich treibt – ich weiß selbst nicht mehr als alle anderen. Er muss sehr beschäftigt sein. Und im Vertrauen", fügte der Hausherr mit lahmer Stimme hinzu, während er seine Gegenüber eindringlich maß, „stör ihn nicht. Der Dunkle Lord hat Bänne um seine Räumlichkeiten gelegt, die dir künftig mehr als nur ein Paar Brandblasen bescheren könnten."
Und er zeigte ihr seine Hände, spreizte die Finger ein wenig, so dass man die abschwellenden Wunden darauf gut sehen konnte. Sie schienen nicht unbedingt so harmlos zu sein, wie man es Blasen zuschrieb, aber die junge Hexe hielt es für angebrachter, darüber zu schweigen. „Unseren Hauselfen hat es schlimmer erwischt; ich dachte schon, es wäre um ihn geschehen. Dabei wollte er dem Dunklen Lord nur etwas zu Essen bringen und die Betten wechseln. Ich habe noch nie eine Kreatur derart..." - er suchte nach den richtigen Worten - „...zerstört... gesehen. Er scheint sie noch weniger zu mögen, als wir." „Hat er denn kein eigenes zu Hause?" fragte sie ein wenig irritiert um den Umstand, den wohl mächtigsten Schwarzmagier ihrer Zeit in einem ungewöhnlichen kleinen Zimmer Unterkunft zu schenken.
„Mein zu Hause bewohnt momentan jemand anderes." Riddle war am Treppenabsatz erschienen, seine Gestalt hager und in einen schwarzen Umhang gehüllt, den er sich lediglich um die Schultern geworfen hatte. Sein Gesicht verdeckte eine eiserne Maske, deren glänzend schwarzer Farbton vom dämmrigen Licht, das im Hause herrschte, reflektiert wurde. Sie erinnerte unweigerlich an einen Totenkopf und passte deshalb ironischer Weise zu seinem augenblicklichen kleinen Schönheitsfehler, den sie verdecken sollte. Für gewöhnlich war es eine dieser Masken, die von seinem Inneren Zirkel getragen wurden, wenn sie unerkannt bleiben wollten.
„Du kannst uns jetzt allein lassen, Abraxas. Ich denke – nein, ich bin mir sicher – wir werden allein zurecht kommen." Der stämmig blonde Mann verneigte sich in einer Manier, die nicht zwangsläufig an einen Untergebenen oder Diener erinnerte. Wohlweislich war Abraxas Malfoy mehr als das: nämlich unter den Schergen Voldemorts eine Art angesehener Berater und uneingenommen loyal, ja sogar stolz auf seinen Standpunkt neben dem Schwarzmagier. Nichtsdestotrotz schien Tom ihm nicht mehr Beachtung zu schenken, als er es mit jedem anderen getan hätte – wie er letztlich auch niemanden achtet, außer sich selbst. Vielleicht war gerade das der Grund für die Hilflosigkeit und den Anflug von Unbehagen in Malfoys Blick gewesen, den Bellatrix auf Anhieb wahrgenommen hatte, kaum da sie ihm mitteilte, was sie zu ihm führte. Nun legte sich ihr Augenmerk mit ungeteilter Aufmerksamkeit auf den vermummten und unnahbaren Schatten, der gemächlich die restlichen Stufen zu ihr hinunter tat. Selbst in den unendlich wirkenden Höhlen der Maske konnte die junge Hexe das berüchtigte rote Schimmern seiner Augen sehen, von dem ihr Vater in ihrer Zeit, da sie noch an Märchen glaubte, immer erzählt hatte.
Bella schauderte kurz. Sie hatte von Voldemort bisweilen nur – wie sie es nannte – Sagen und Legenden gehört. Geschichten, die sich Eltern und Freunde untereinander erzählten. Ihr Vater war hin – und hergerissen, als sie schließlich den Wunsch geäußert hatte, diesen Schwarzmagier, der soviel Wohlergehen über ihre Zauberwelt bringen sollte, eigens kennenlernen zu wollen. Zugegeben faszinierte sie, was über ihn im Umlauf war und sie kam nicht umhin ihn für sein Genie – das er doch offenbar sein musste – zu bewundern. Und an Selbstvertrauen bezüglich ihrer Reinblütigkeit fehlte es ihr nun ganz und gar nicht. Es war nur ihre Unsicherheit, die sie bislang hatte zweifeln lassen, ihm folgen zu können. Andere Zauberer hatten damit wohl keine Schwierigkeiten. Sie dachte kurz an den viel jüngeren Severus Snape der schon jetzt zu den Reihen Voldemorts aufgeschlossen hatte.
Jetzt stand Riddle so dicht vor ihr, dass sie seinen Atem unter der Maske hören konnte. Es klang wie ein erstickendes Röcheln und irgendetwas sagte ihr, dass das nicht der Normalität entsprach. Dass er sich ihr gegenüber überhaupt zu verstecken versuchte, kränkte sie ein wenig. Bellatrix neigte ihren Oberkörper dennoch in einer respektvollen Bewegung. Würde man Voldemort nicht den Respekt zollen, der ihm zu stand – so hörte sie ihren Vater tadeln und schimpfen – wäre das der beinah' sichere Tod. Und mit zweiundzwanzig war man wahrlich zu jung, um zu sterben.
„Bellatrix Black" In seinem Mund klang ihr Name sonderbar, wie eine kalte Melodie des Herbstwindes, kurz vor einem unnachgiebigen Wintereinbruch. Aber so schnell er das Wort erhob, wurde es auch wieder still und diese permanente Musterung seinerseits begann die schwarzhaarige Hexe allmählich ein wenig zu stören. In der Regel hätte sie diesen annähernden Frevel gar nicht zu gelassen - schließlich war sie kein Schaubobjekt, das man nach Lust und Laune begutachten konnte.
Die Älteste der drei Black-Schwestern hatte eher eine gefestigte Schönheit, denn mehr grazil und zerbrechlich wie es Narcissa sein mochte. Ihre Wangenknochen traten deutlich hervor und ihre etwas breiteren Schultern gaben Bella ungewollt das Aussehen einer Kriegerin. Was nicht bedeutete, dass sie ihrem Spitznamen nicht alle Ehre machte: Sie war schön, auf eine andere Art – und Voldemort hatte das just in dem Sekundenbruchteil bemerkt, da er sie am untersten Fuße der Treppe gesehen hatte. Und sie gefiel ihm. Sie war einzigartig wie er und aus irgendeinem unerfindlichen Grund wollte er sie sofort besitzen. Besitzen, wie einen seiner Gegenstände, den er sammelte und aufbewahrte.
„Gehen wir ein Stück."
Sich ihm anschließend, versuchte die Schwarzhaarige stets mit dem Meister der schwarzen Künste Schritt zu halten. Fragen taten sich in ihren Gedanken auf, die sie zwanghaft unterdrücken wollte, um nicht gleich von Anfang an in seiner Missgunst zu stehen. Alles in Allem war der erste Eindruck des Dunklen Lords ein wenig ernüchternd. Sie hätte zu gern sein Gesicht gesehen; laut ihrem Vater musste es hübsch sein – aber warum sollte er es dann vor ihr verheimlichen? Ihre Schritte hallten dumpf von den Fluren, die sie durchquerten, wider. „Ich kenne deinen Vater gut, Bellatrix. Über ihn konnte ich einiges über dich erfahren. Man sagt, du hättest auf Hogwarts für deine Leistungen im Umgang mit dem Zauberstab Anerkennungen erhalten." „Das ist wahr -", wollte sie rechtmäßig stolz darauf erwidern, wurde jedoch im gleichen Atemzug unterbrochen: „Diese Anerkennungen werden dir bei mir nichts nützen. Ich bezweifel genau genommen, dass du auch nur annähernd dazu im Stande bist, ein richtiges Duell zu führen."
Bella stockte jäh und blieb abrupt stehen, da seine Äußerung ihrer Begabung gegenüber wie ein Schlag mitten ins Gesicht war. Sie starrte ihn mit einer Mischung aus aufkommender Wut und selbstschützender Überheblichkeit an. Auch Riddle hatte in seinem Gang inne gehalten, aber nur deshalb, um die Türe zu einem nahgelegenen Raum zu öffnen, aus dem die Wärme eines Kamins trat. Mit einer knappen Geste beorderte er sie hinein, und als sie sich nicht rührte, spürte die Hexe diesen durchbohrenden Blick, der sich über ihren gesamten Leib auszubreiten begann und der sie regelrecht dazu zwang, seinem Willen nachzukommen, ob es nun in ihrem Sinne war oder nicht.
Tom schloss die Zimmertüre nach ihrem Eintreten ab und sich dem einladenden Feuer nähernd, legte er gleichsam seine Maskerade beiseite und bettete das Stück Metall auf dem Kaminsims. Bellatrix aber zierte sich weiter in den Raum einzutreten, dessen Ambiente von Unheil und einem unweigerlich unwohlen Gefühl begleitet war. Mit starrem Augenmerk auf Riddles Rücken, versteifte sich ihre Körperhaltung unweigerlich nervös. Vielleicht war es letztendlich doch keine so gute Idee gewesen, dem Drängen ihres Vaters nachzugeben. „Das bedeutet nicht, dass ich dir nicht zeigen könnte, wie du es besser machen kannst. Es geht nur darum, ob du es besser machen willst. Oder ob dein Geist dafür einfach zu schwach ist. Die Mentalität einer Frau wird zumeist ein wenig überschätzt..."