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Fesseln der Liebe (?)

von

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Prolog

So. weil ich nerve, lad ich jetzt noch mal alles neu hoch, aber das ist auch das letzte mal, keine angst. denn die story ist schon i-wie fertig. also. jetzt wird kapi für kapi neu hochgeladen und ihr dürft dann endlich mal das ende miterleben ^^

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Was wäre, wenn es das Schicksal wirklich gebe und es sich ein Scherz mit dir erlaube? Was wäre, wenn du plötzlich das Eigentum von jemandem bist, den du überhaupt nicht ausstehen kannst? Was wäre, wenn du die Person, die dir am wertvollsten ist, zu jemand anderen gehört und dir dadurch weggenommen wird? Wie verhältst du dich dann?

Das Schicksal … Es nahm seinen Lauf schon vor langer, langer Zeit, als die Menschheit ebenso ihren Lauf nahm.

Doch das Schicksal, über das ich erzählen möchte, trat vor etwa 600 Jahren ans Tageslicht. Es war ein Fluch, der das Leben einiger Menschen völlig veränderte.

Die Mutter der Dunkelheit, Warui sprach einen Fluch aus. Sie war die damalige Frau des Herrschers der Finsternis und erwartete ihren ersten Sohn. Dessen Leben schien verurteilt bevor es überhaupt begann. Um dieses zu sichern, musste sie sein Schicksal und das eines weiteren Menschen bestimmen.

Die Wesen der Dunkelheit konnten nicht ohne die Zuneigung der Menschen überleben. Sie brauchten diese Lebewesen dringend. Doch die Menschheit fürchtete sich vor ihnen und trauten sich nicht in ihre Nähe, obwohl sie lebenswichtig waren. Das Aussterben aller dunklen Wesen war vorprogrammiert.

Nur Warui versuchte etwas zu finden, dass ihr ungeborenes Kind rettete. Somit sprach sie einen Fluch aus, der noch bis in unsere heutige Zeit reicht. „Bis zum 19. Lebensjahr behütet wird ihm sein Lebensweg beschrieben. Jeder neue Nachkömmling unserer Familie erlebt das gleiche Schicksal. Ohne ihr Gegenstück werden sie zum Sterben verdammt sein! All eure Mühen werden umsonst! Die Menschheit ist dazu bestimmt uns zu dienen!“

Sie benutzte ihn mit dem Zweck, die Menschheit an die Familie Zoma zu binden …
 

Die eigentliche Geschichte, die ich euch erzählen möchte, beginnt im 21. Jahrhundert mit einem ganz normalen Mädchen, Aya. Nicht anders, als all die anderen aus ihrer Stadt und doch unterschied sie sich ganz gewaltig. Interessiert euch ihr Schicksal? Interessiert es euch, was sie tat, oder was sie tun musste?

Die Geschichte nimmt ihren Lauf an einem ganz normalen Tag und das Ende … das steht noch gar nicht geschrieben …

Kapitel 1

Ein normalschrecklicher Mittwoch in Ayas Leben erwartete das Mädchen. Die Sonnenstrahlen krochen durch ihr Zimmer und erhellten den Raum. Fest in der Bettdecke eingehüllt lag Aya schlummernd auf dem Holzgestell, das sich direkt gegenüber der Tür befand.

Aya hing in einem festen Schlaf und träumte von wundervollen Zeiten. Der Wecker, der zu ihrer Rechten auf dem Nachtkästchen stand, piepte bereits laut vor sich hin, verfehlte jedoch seine Wirkung, denn Aya schien keine Anstalten zu machen, aufzustehen. Sie kuschelte sich in ihre Decke und schwebte in einer Welt, weit weg von der Gegenwart.

Doch irgendwann war jeder Traum einmal zu Ende und ihrer hörte auf, als eine zweite Melodie an ihr Ohr drang. Ihr Handy, das laut schellte und vibrierte, nahm den Platz direkt neben ihrem Wecker ein und zeigte mehr Wirkung, als es der alte Schwerenöter je tun würde.

Ohne aufzublicken begann ihre Hand durch das Zimmer zu tasten, ihrem Nachtkästchen entgegen. Sie meinte den Wecker zu erwischen, als sie ihn plötzlich falsch erfasste und ihn hinab warf. Mit ihm landete auch sie auf dem Boden, da sie sich zu weit herausgelehnt hatte. Sie betrachtete den nun schon 7. Wecker in diesem Monat, der in seine Einzelteile zersprungen war. Schon wieder hatte einer ihrer Weckdienste sein Leben auf diese Art verwirkt.

“Immer dasselbe mit diesen Dingern!”, fluchte sie laut. Währenddessen klaubte sie die Kleinteile auf. Sie fragte sich, ob es an ihr lag, ob sie vielleicht zu ungeschickt war, oder hatte das Schicksal seine Finger im Spiel? Ihr war es egal, denn sie hatte jetzt ein schwerwiegenderes Problem. Sie hatte verschlafen!

Ihr Handydisplay zeigte ihr eine Nachricht an und die Uhrzeit, acht Uhr fünfzig. Diese Wecker erfüllten nie ihren Zweck. Sie hatte deren Rufe überhört und weiterhin tief und fest geschlafen. Schnell las sie noch die SMS, doch wusste sie bereits, wer ihr geschrieben hatte.

“Guten Morgen, Aya. Wo bleibst du? Der Unterricht hat bereits angefangen. Gruß, Jack.”

Aya lächelte kurz. Typisch, dachte sie und richtete sich dann schnell her. Es machte keinen Sinn ihm jetzt zu schreiben, denn sie würden sich früh genug wieder sehen, auch wenn sie zu spät zur Schule kam.

Nachdem sie sich beruhigt hatte, sprang sie endlich auf und zog sich um. Sie nahm, wie immer, überhaupt nichts zu sich. Die Zeit war viel zu knapp dafür. Eilig rannte sie in Richtung Haustür, schnappte sich beim Vorbeigehen noch ihren Schlüssel von der Ablage im Flur und zog sich bereits die Schuhe und die Jacke an. Aus einer weit entfernten Ecke zog sie ihre Schultasche hervor und verschwand dann im Treppenhaus.

Sie sprang eine Treppe nach der anderen hinab und fetzte durch den Ausgang. Die Stadt und ein reges Leben erwarteten sie, da viele der Bewohner sich ebenfalls um diese Zeit auf den Weg durch die Stadt machten. Aya ignorierte jeden einzelnen, denn sie hatte es eilig. Ohne einen Blick auf sie zu werfen, rannte sie durch die Menschenmengen.

Der Weg war noch weit und sie wollte nicht ganz so spät kommen, denn je später, desto länger musste sie in der Schule bleiben.

Sie konnte sich bereits vorstellen, wie ihr Lehrer sie wieder schimpfte und ihr eine sehr bekannte Strafe auferlegte. Nachsitzen! Dies tat er des Öfteren. Er schien einen Narren an ihr gefressen zu haben, wobei es ja wirklich ihre eigene Schuld war. Kein anderer Schüler kam fast jeden Tag zu spät, nur sie. Herr Heulsu vergab ungern Strafen, doch war es in Ayas Fall von größter Notwendigkeit. Somit kannte sie auch den Grund, weswegen sie nachsitzen musste. Nur leider schaffte sie es trotz allem nicht, pünktlich zu kommen.

Das Spiel wiederholte sich fast jeden Tag und nahm bereits den Anfang am ersten Tage in diesem Schuljahr. Sie kam zu spät und er ließ sie diese Zeit im Klassenzimmer nachholen.

Ein Blick in den Himmel verkündete Aya einen Regentag. Die Wolken sammelten sich bereits und verdunkelten die Straßen der Stadt. Das kleine Mädchen mit den braunen Haaren und den Rehbraunen Augen betrachtete diese Ansammlung der großen Wolken misstrauisch. Mit größter Wahrscheinlichkeit würde es sogar anfangen zu Donnern und sie trug für dieses Wetter nicht einmal einen Regenschirm bei sich.

Uninteressiert rannte sie weiter. Ein so anfangender Tag konnte ja nur schlechter werden. Vor sich erblickte sie schon bald die Schule. Als es gerade anfing zu donnern, erreichte sie das Gebäude und bevor noch die ersten Regentropfen den Boden berührten betrat sie die Eingangshalle im schnellen Tempo. Der Steinboden, der eben noch gewischt worden war, gab ihr keinen festen Halt und sie schlitterte durch die große Halle. Schon bald verlor sie die Balance und fiel vornüber dem Grund entgegen.

Fluchend rappelte sie sich wieder auf. “Ein wundervoller Tag”, schimpfte sie ironisch. Begonnen mit einer Verspätung durch misslungene Weckrufe und das Nachsitzen wäre wohl dann das wohlverdiente Ende.

Auf einmal drang ein Stimmengewirr an ihr Ohr und ein Blick auf die Uhr an der großen, grauen Wand verriet ihr, dass die Pause eben begann. Sie fragte sich, für was sie sich nun beeilt hatte. Natürlich blieb die Antwort aus.

Heute erwartete sie, wie bereits erwähnt, ein normaler Tag, wie jeder andere. Sie verließ das Schulgebäude und suchte einen Jungen mit blond gebleichten Haaren auf, der sie mit einem freundlichen Lächeln begrüßte. Glücklich umarmte Aya ihn. Der Junge musterte das brünette Mädchen durch sein Paar dunkelblauer Augen.

Jackin, wie dieser hieß, war ihr bester, aber auch einziger, Freund. Sie verstanden sich sehr gut und hingen aneinander. Nur seine Anwesenheit hielt sie noch an diesen Ort, ansonsten wäre sie bereits weit fort gegangen.

Nachdem Jackin ihr erzählt hatte, dass sie bald zwei neue Mitschüler bekommen würden, endete die Pause auch schon, denn Aya benötigte einige Zeit um sich zu beruhigen, da sie wusste, dass diese beiden direkt hinter ihnen sitzen würden.

Wie erwartet hielt Herr Heulsu, von allen Schülern auch Herr Heulsuse genannt, da Kleinigkeiten bereits seine Nerven arg belasteten, eine Standpauke. Aya hörte ihn schuldbewusst dreinblickend zu und genoss nach einigen weiteren Schulstunden langweiligen Unterrichts ihr Nachsitzen mit minderem Vergnügen. Jackin stand von dem Platz neben ihr auf und verabschiedete sich. Er wünschte ihr noch einen schönen Nachmittag, sollte sie einen haben. Sie wusste, er hätte gewartet, müsste er jetzt nicht auf die Arbeit.

Jack lebte, wie auch sie, alleine und musste sein Unterhalt selber verdienen. Er besaß keine Eltern mehr. Aya wusste nicht, ob sie ihn beneiden sollte oder mit ihm leiden, schließlich hatte sie noch ihre Eltern, lebte trotz allem ebenfalls alleine.

Ihr wurde jeden Monat genug Geld für die Wohnung und für alles weitere gezahlt, obwohl ihr das nicht reichte. Sie wollte keine Eltern, die ihr mit Geld den Weg des Lebens erleichterten, sondern sie benötigte solche, die für sie da waren, ihr zuhörten und ihr die Einsamkeit nahmen. Diese hatte sie aber nicht.

Sie blieb noch ungefähr bis viertel nach drei. Dann entließ Herr Heulsu sie endlich. Seufzend räumte sie ihre Sachen ein und verabschiedete sich. Im Schulgebäude hatte sich die Menge der Schüler gewaltig reduziert und als eine der wenigen schritt sie durch die langen, hellen Gänge.

Heute hatte sie nicht mehr viel vor. Sie durchquerte die Stadt und auf den Weg nach Hause machte sie noch einen Abstecher in den Supermarkt. Ihr Kühlschrank zeigte ihr bereits eine gähnende Leere, gegen die Aya vorgehen wollte. Sie kaufte sich einige Sachen und schleppte zusätzlich zu ihrer Schultasche auch noch zwei Tüten durch die Stadt. Langsam trottete sie dahin.

Zuhause erwartete sie eine Einsamkeit und der Nachmittag und der darauf folgende Abend spielten sich im gewohnten Rhythmus ab. Das Mädchen verbrachte ihre Zeit in ihrem vertrauten, langweiligen Heim.

Sie betrat den kleinen Flur, schloss die Tür hinter sich ab. Gleich zu ihrer linken stand ein offener Schrank. Sie hing ihre Jacke an einen der Hacken und stellte die Schuhe auf das schmale Holzbrett, das weit unten befestigt war.

Nur ein kurzen Blick auf das alte Schnurtelefon, das auf einer Hüfthohen Kommode neben dem Schrank stand, werfend, überquerte sie den dunklen Teppich und musste sich für eine der vier Türen entscheiden. Gleich ihr gegenüber befand sich das Wohnzimmer zu ihrer rechten hatte sie das Bad und daneben die Küche und auf der anderen Seite erschien ihr das Schlafzimmer.

Zu allererst betrat sie ihr spärlich eingeräumtes Wohnzimmer. Eine weiße, lange Couch und ein Sessel in derselben Farbe umringten den dunklen Wohnzimmertisch. Ein kleiner, veralteter Fernseher stand dicht neben dem Fenster und ansonsten erwarteten sie ein Bücherregal und ein Schreibtisch.

Sie pfefferte die Schultasche in eine der Ecken und verließ den Raum wieder. Noch nicht einmal einen Computer war hier zu finden. Nur, für was benötigte sie diesen auch?

Als nächstes suchte sie die Küche auf. Sie musste aufpassen, denn ihre Socken ließen sie auf dem Fliesenboden fast ausrutschen. In der rechten Hälfte standen ein kleiner Tisch und drei Stühle, die sie fast nie gebrauchte. Auf der anderen Seite stand die Küche selber. Ein alter Herd, zwei Schränke mitsamt den Hängeschränken und eine nicht wirklich dazugehörende Waschmaschine.

Der Kühlschrank, der in eine der Ecken stand, war ihr nächstes Ziel. Sie räumte das Eingekaufte ein und nutzte jedes Fleckchen, das sich ihr bot, denn der Innenraum bot kaum genug Platz für alles.

Als nächstes stellte sie sich unter die Dusche und ließ das kühle Nass über ihren Köper wandern. Das Bad zeigte auch nur die Sachen, die man wirklich benötigte. Eine Toilette, ein Waschbecken, darüber ein kleines Spiegelschränkchen und diese Dusche.

Während Aya in der Kabine stand, dachte sie über ihr Leben nach. Wie sollte dies alles weiter gehen? Was erwartete sie noch? Gerade einmal 18 Jahre und immer noch kein Ziel vor Augen.

Jeder Tag langweilte sie schrecklich zu Tode und sie wusste nichts dagegen zu tun. Jackin musste arbeiten, er hatte keine Zeit für sie. Manchmal dachte sie sich, wie schön es wäre, wieder mit den Eltern auf Reisen zu sein.

Schnell schob sie diesen Gedanken bei Seite. Mit solchen Eltern wollte sie bestimmt nicht verreisen! Sie wusch sich ab und verließ die Kabine.

Den Rest des Tages verbrachte sie, wie jeden anderen zuvor. Sie aß zu Mittag, sah sich eine Dokumentation an und nahm zu guter Letzt noch ein gutes Buch zur Hand, das sie erst gestern angefangen hatte zu lesen. In ihrem trostlosen Leben blieb ihr nichts anderes übrig, als etwas zu lesen. Wenigstens brachte es sie auf andere Gedanken.

Erst zur späten Stunde erinnerte sie sich an ihre Hausaufgaben, die in einer weit entfernten Ecke lagen, mitsamt der Tasche. Sie setzte sich an den Schreibtisch und begann mit Mathematik. Sie konnte sich aber, wie immer, kaum auf ihre Arbeit konzentrieren und schon bald gab sie es auf.

Unverrichteter Dingen verließ sie dieses Zimmer. Sie zog sich um, legte sich in ihr weiches Bett und versuchte einen geruhsamen Schlaf zu finden. Dieser holte sie aber erst viel später ein, denn sie vermochte es nicht, ihre trübsinnigen Gedanken und die Angst vor der Einsamkeit abzustellen.
 

Der darauf folgende Tag verlief ebenso, wie der gestrige. Sie schreckte viel zu spät aus ihren Träumen auf und erreichte zu Pausenbeginn das Schulgebäude.

Jackin war wie immer pünktlicher und wartete bereits geduldig auf seine Mitschülerin. Als sie am Schulgebäude ankam, erblickte sie ihn sofort. Sie rief ihm zu und beschleunigte ihre Schritte. Zwischen ihnen lag eine Hecke und sie hatte keine Lust einen Umweg in Kauf zu nehmen. Sie sprintete los und sprang über das Grüngewächs.

Zum Glück erreichte sie die genaue Höhe, um nicht hängen zu bleiben. Hätte sie aber die Person dahinter früher bemerkt, wäre das darauf folgende nie geschehen, denn sie riss den jungen Mann, der mit dem Rücken zu ihr auf einer Bank saß, herunter und mit sich auf den Boden. Schwarze Augen, mehr nahm sie in diesem Moment nicht wahr, aber dieses Schwarz hinterließ eine Erinnerung.

Jackin, der alles miterlebte, eilte sofort herbei. Sorgevoll trat er näher. Doch Ayas Gedanken kreisten nicht, wie sonst immer, um ihren besten Freund, den sie verdammt lieb gewonnen hatte, sondern um den schwarzhaarigen Jungen unter ihr.

Er sah sie genervt an. “Könntest du vielleicht von mir herunter gehen?”, erklang es säuerlich und keineswegs freundlich aus seinem Mund. Aya musterte ihn kurz, versuchte die Röte der Peinlichkeit zu bekämpfen und stand auf. Innerlich entfachte aber eine Flamme des Zornes. Dachte er, sie könnte etwas dafür, dass sie ihn zu Boden gerissen hatte? Wieso saß er auch so verdammt ungünstig auf dieser Bank?!

Der Fremde erhob sich nun ebenfalls. Er klopfte sich den Dreck von der Hose. Aya betrachtete ihn nun genauer. Sie musste zugeben, er sah verdammt gut aus. Pechschwarze, schulterlange Haare, die ihm etwas Ungewöhnliches verliehen, denn niemandem standen sie besser, als ihm.

Die schwarzen Augen aber faszinierten sie um einiges mehr. Schwarz, wie die Nacht. Unheimlich und eigenartig. Nie hatte sie solch eine Augenfarbe gesehen.

“Du musst Aya sein”, bemerkte der junge Mann und klang dabei nun mehr interessiert, als genervt. Sein unfreundliches Verhalten wich einem Liebenswürdigen, Zuvorkommenden. Das Mädchen schien aber desinteressiert.

“Na und?!”, entgegnete sie ihm und streckte die Zunge heraus. Egal, wie gut er aussehen möge, sie hatte keine Lust mit ihm zu sprechen. Sein hinterlistig lächelndes Gesicht steigerte ihre Wut um einiges. Das ließ den Jungen aber nur noch mehr grinsen: “Ich heiße Shinri. Merke dir meinen Namen gut.”

Aya entgegnete ihm sarkastisch: “Nein, danke! Dein Name interessiert mich genauso wenig, wie du es tust!” “Du gehörst aber mir”, konterte er dem. Irritiert musterte Aya ihn. So etwas hatte noch nie jemand ihr gegenüber gesagt. Schnell schüttelte das Mädchen den Kopf und schrie ihn an: “Ich gehöre niemanden, verstanden?!” Zornig funkelte sie ihn an. Am liebsten wäre sie ihm an den Hals gesprungen. Sein widerliches Grinsen würde ihm dann schneller vergehen, als es ihm lieb war.

Jackin bemerkte die Situation. “Aya, komm lass uns reingehen”, bat er und versuchte das Mädchen etwas zu beruhigen. Zu seinem Glück stimmte sie dem zu. Sie wollte nicht länger in der Nähe dieses seltsamen Jungen bleiben. Shinri folgte ihnen nicht.

Als sie einen erheblichen Abstand zwischen ihn gewonnen hatten, schimpfe Aya laut los: “Wer war das eigentlich?! Was für ein Idiot!” Sie war außer sich vor Wut. Am liebsten hätte sie noch viel lauter geschrien, damit ihr Zorn verflog. Jackin, der neben ihr stand, blieb ruhig. “Also, das ist unser neuer Klassenkamerad, von dem ich dir gestern erzählt habe. Er und Ria.” Leider wusste auch er nicht, was der Junge mit diesen seltsamen Worten gemeint hatte.

Diese Information beruhige Aya nicht wirklich. Mit Shinri in einer Klasse? Das war eine sehr schlechte Neuigkeit, die das brünette Mädchen am liebsten verdrängt hätte. Vor allem dieser Satz! “Als ob ich irgendjemandem gehören würde! Ich werde bestimmt nicht sein Sklave werden! Ich gehöre nur mir, mir ganz alleine!” Aya nickte entschieden. Ihr bester Freund stimmte dem mit einem stummen Nicken bei.

Schon bald endete die Pause. Gemeinsam betraten sie das Klassenzimmer. Herr Heulsu wartete bereits ungeduldig auf Aya. “Schon wieder zu spät!”, schimpfte er aufgebracht. Es raubte ihn den letzten Nerv. Er glaubte, als Lehrer versagt zu haben. Aya blickte schuldbewusst auf den Boden und entgegnete ihm entschuldigend: “Es tut mir wirklich sehr leid! Ich habe verschlafen. Es wird ganz bestimmt nie wieder vorkommen.” “Das sagst du jedes Mal. Und noch immer hat sich nichts geändert”, jammerte der Lehrer.

Seine Klasse übte sich im Schweigen und betrachtete das Geschehen gelangweilt. Nur wenige schienen Vergnügen daran zu finden.

Wie gewohnt verhängte der Lehrer seine Strafe, die aus zwei Schulstunden Nachsitzen bestand. Er seufzte betrübt. Langsam schwand die Hoffnung, die noch Anfangs des Schuljahres gekeimt hatte. Aya war ein trostloser Fall. Es schien ihm ernsthaft wichtig zu sein. Die Zukunft einer seiner Schülerinnen stand auf dem Spiel.

Nach kurzer Zeit beruhigte er sich wieder, denn es stand ein noch viel wichtigeres Thema an. “Ich hätte eine Bitte an dich, Aya. Könntest du dich vielleicht um Ria, deine neue Mitschülerin, kümmern? Sie sind erst vor kurzem in diese Stadt gekommen.”

Erst als der Lehrer sie darauf ansprach, fiel ihr das Mädchen auf. Sie saß auf dem Platz direkt hinter ihr. Ein hübsches Mädchen mit seidigblonden Haaren. Aus dieser Klasse stach sie besonders hervor.

Schockiert betrachtete Aya die Person neben Ria. Ein schwarzhaariger Junge mit geheimnisvollen, dunklen Augen. Shinri! Für sie war es schon Strafe genug ihn in der Klasse zu haben! Wieso musste er denn ausgerechnet auch noch an der Bank direkt hinter ihr sitzen?! Ein Grinsen huschte über die schmalen Lippen des schwarzhaarigen Jungen, der sich anscheinend darüber freute, dass er von Aya wahrgenommen wurde.

Aya wand sich von ihm ab und lächelte Ria an. “Natürlich kümmere ich mich um unsere neue Mitschülerin! Kein Problem.”

“Okay. Jackin, könntest du Shinri alles zeigen?”, sprach nun Herr Heulsu an den blonden Mann gewand. Plötzlich ertönte Rias entsetzte Stimme: “Ich möchte aber nicht von dieser Aya herumgeführt werden!”, motzte sie. “Könnte Jackin sich vielleicht um mich kümmern? Ihm vertraue ich viel mehr!” Ein verführerisches Lächeln sollte ihn überzeugen.

Das andere Mädchen erstarrte. Das konnte sie nicht auf sich sitzen lassen! Böse funkelte sie die Blondine an. Was wollte sie von ihrem Jackin?! “Nein! Ich würde mich doch so gerne um dich kümmern”, gab sie freundlich zu verstehen. Vielleicht könnte sie den Lehrer damit umstimmen. Schließlich war Jackin ihr bester Freund und sie müsste sich dann um Shinri kümmern. Dazu hatte sie echt keine Lust.

Doch Ria schien keineswegs das Problem auf Ayas Art lösen zu wollen. “Herr Heulsu! Sie sind doch so ein hervorragender Lehrer und treffen immer perfekte Entscheidungen. Daher würden sie doch viel lieber wollen, dass mich Jackin herumführt, nicht?”, versuchte sie ihn umzustimmen. Mit großen Hundeaugen bat die Blondine ihren neuen Lehrer sich für ihren Vorschlag zu entscheiden. Wut stieg in Aya auf. Mit solch einer billigen Masche wollte sie also die Macht an sich reißen? Die kann was erleben! “Aber … ich wollte Ria doch so gerne alles zeigen”, jammerte das dunkelhaarige Mädchen. Es war natürlich nur gespielt, aber gegen diese Ria wollte sie einfach nicht verlieren. Nein, nicht gegen sie. Doch Ria wollte das ebenso wenig. Beide starrten sich böse an.

“Wie regeln wir das jetzt?”, fragte Ria etwas hochnäsig. Aya antwortete ihr: “Wir werden Jack die Wahl lassen. Schließlich geht es um ihn.” Genau zu ihm wollte sie dann auch hingehen, ohne aber Ria aus den Augen zu lassen.

Plötzlich fühlte sie etwas, dass sich gegen ihren Fuß stellte. Sie wusste, es war ihr nichts im Weg. Keine Tasche, kein Ordner, nichts! Dennoch verlor sie den Halt und mit einem erstickenden Aufschrei fiel sie vornüber. Erschrocken betrachtete sie den näherkommenden Boden. Sie hielt ihre Arme schützend vor sich, wollte sich noch abfangen, als jemand anderes ihr zuvor kam.

Starke Arme hielten Aya fest und halfen ihr wieder auf. Sie blickte hinauf, wollte erkennen, wer ihr geholfen hatte. Entsetzt betrachtete sie ihren neuen Mitschüler Shinri. Mit ernsten Augen entgegnete er ihren Blick. “Du solltest besser aufpassen, wo du hintrittst”, sagte er mir ruhiger Stimme.

Schnell riss sich Aya von der Hand los, die sich sanft um ihren Arm schloss. “Danke …”, nuschelte sie. “Aber ich brauche keinen Aufpasser.” Wie war er nur so schnell aufgestanden? Wie hatte er das fertig gebracht? Es war unmöglich, in dieser kurzen Zeit so schnell zu reagieren.

Shinri wand sich nun an den Lehrer und unterbrach somit den Streit zwischen den beiden Mädchen. “Herr Heulsu, ich bin dafür, von Aya begleitet zu werden. Sie müssen sich also nicht mehr den Kopf zerbrechen.” Er lächelte und etwas hinterlistiges funkelte in seinen Augen. Dann wechselte er einen Blick mit Ria, die ihm dankend zunickte. Es schien, als hielten sie zusammen, um alles zu bekommen, was sie sich wünschten.

Aya wollte das aber nicht. Sie sah den Lehrer flehend an, der dies aber falsch verstand. “Okay, wenn euch so viel daran liegt, dann verteilen wir das neu. Jackin, kümmere dich bitte um Ria, und Aya, zeige bitte Shinri alles.” Er beschloss es und erwartete keine Widerrede oder Bestätigung.

Dankend nickten Shinri und Ria ihm zu und setzten sich wieder auf ihre Plätze. Als Shinri an Aya vorbei ging, funkelte sie ihn zornig an. Das hämische Grinsen, dass um seine Lippen spielte, machte sie nur noch wütender. Wie sie ihn hasste! Sein Grinsen würde ihm schon noch im Halse stecken bleiben!

Genervt setzte sie sich wieder hin und der Unterricht begann endlich. Die Schüler murrten, denn sie hätten viel lieber dem Streit gelauscht, als nun wieder langweiligen Stoff an sich vorüber ziehen zu lassen.

Kapitel 2

Der Rest des Unterrichts ging heute recht leise vorüber. Kaum ein Schüler machte irgendwelche Scherze, wie sonst immer. Aya war, obwohl Ria und Shinri nichts sagten, wütend auf beide. Schon die bloße Anwesenheit beider störte sie. Jackin sagte nichts dazu. Er saß neben Aya und verfolgte das Geschehen des Unterrichts. Nach dem Unterricht blieb das Mädchen noch sitzen. Sie blickte Jackin traurig hinterher, nachdem sich verabschiedet hatte.

Aya ließ den Kopf sinken. “Wie ich das Nachsitzen doch hasse!”, murmelte sie fluchend. Schon sah sie, wie Ria Jackin hinterher lief. “Dumme Kuh!”, zischte sie und sie streckten sich gegenseitig die Zungen heraus.

“Du bist wirklich schlecht erzogen worden, Aya”, erkannte Shinri, der noch immer hinter ihr saß. Ein Schock durchfuhr sie. Damit hatte sie eigentlich nicht gerechnet. Sonst, wenn sie hier nachsitzen musste, war sie immer ganz alleine in diesem Zimmer. Herr Heulsu ging dann immer in das Lehrerzimmer und aß zu Mittag.

Aya fühlte sich in Shinris Gegenwart hilflos und schutzlos. Trotzdem wand sie sich mutig um, damit sie ihm in die Augen blicken konnte und meinte: “Ich bin überhaupt nicht erzogen worden! Aber, was machst du überhaupt noch hier?”

Sie hoffte, er habe nur irgendetwas vergessen und würde sie bald verlassen. Aber seine Antwort versetzte ihr einen weiteren Schock. “Ich warte, bis du endlich mit der Schule fertig bist, dann komme ich mit zu dir nach Hause und dann…”, er sprach nicht weiter, grinste aber hinterlistig.

Ein mulmiges Gefühl überkam Aya. Zornig entgegnete sie ihm: “Wie kommst du auf solch eine Schnapsidee? Als ob ich dich hineinlassen würde? Das ist immer noch meine Wohnung und ich wäre gerne ungestört und alleine!”

Der Schwarzhaarige stand auf und setzte sich neben sie, auf Jackins Stuhl. “Weißt du… ich habe eine Schwäche für solche Mädchen, wie dich.” Aya starrte ihn total verwirrt an. “Was labberst du?”, kam es etwas genervt aus ihrem Mund. “Als ob ich mich mit Leuten, wie dir, abgeben würde. Übrigens, ich gehöre nicht dir!” Sie schaukelte nervös mit ihrem Stuhl. Ihre Arme stützte sie am Tisch hinter ihr ab. “Ich kann es dir aber beweisen, dass du mir gehörst. Es müsste sich genau dort befinden.” Er zeigte auf ihre Brüste. Wie unverschämt! Aya wurde knallrot, verschränkte ihre Arme vor ihren Brüsten und verlor dadurch das Gleichgewicht. Sie krachte auf den Boden. Verdammt! Shinri grinste sie breit an und lachte.

“Was ist?!”, schimpfte sie. “Du nervst! Verschwinde endlich! Ich kann dich nämlich nicht leiden!” Wie sehr sie dieser Shinri aufregte. Zu gerne hätte sie jetzt ihre Ruhe, ihre lang ersehnte Ruhe, die sie sonst nie genossen hatte.

Shinris Mine wurde ernster. Er fragte gelassen: “Hast du dich noch nie gefragt, was dieses Zeichen bedeuten soll und woher es kommt?” Aya wirkte etwas verwirrt. Woher wusste er davon? Shinri kam ihr etwas näher. Bedrohlich nahe. “Ich kann es dir ja zeigen”, erklärte er ihr. Aya fühlte sich auf dem Boden schutzlos. Nein! Nicht mit ihr!

Schnell stand sie auf und griff nach ihrem Mäppchen. Wütend schleuderte sie es nach ihrem Gegenüber, der aber geschickt auswich. Das gefiel ihr überhaupt nicht! Ihr Mäppchen zischte an Shinri vorbei und krachte an die weiße Wand neben der Tür. Zur selben Zeit betrat Herr Heulsu das Zimmer.

Erschrocken kreischte er auf. Dieser Gegenstand kam ihm wohl zu schnell und plötzlich. Er hatte nicht damit gerechnet. Sein Herz raste vor Panik. Der Lehrer rutschte zu Boden und starrte seine Schülerin schockiert an.

“Jetzt hast du den Lehrer erschrocken”, kam es tadelnd aus Shinris Mund. Böse funkelte sie ihn an. “Das sehe ich selber!”, motzte sie zornig. “Herr Lehrer. Es tut mir wirklich leid. Aya wird das bestimmt nie wieder machen”, entschuldigte sich Shinri an Ayas Stelle bei Herr Heulsu. Dieser nickte nur stumm, dann raffte er sich auch schon wieder. “Ich lasse dich für heute gehen, Aya. Morgen wirst du die versäumten Stunden nachholen!”

Die Brünette nickte schuldbewusst. Sie entschuldigte sich von sich aus noch einmal und verschwand dann, nachdem sie ihre Sachen zusammengepackt hatte. Es verwirrte sie, dass der Lehrer sie so mir nichts dir nichts hat gehen lassen. Doch wurde diese Verwirrung von einem Ärger übertroffen. Denn Shinri folgte ihr wirklich.

Auf dem Weg nach Hause lief Aya immer zügiger. Sie verfluchte Shinri. Über die Schulter hinweg fauchte sie ihn an: “Ich habe keine Lust, dich bei mir zu Hause zu sehen. Also verschwinde!” Sie war ehrlich. Leider Gottes mochte er das anscheinend! Somit half es ihr kein Stückchen weiter. Nur, was wollte er von ihr? Wieso ging er mit? Weshalb verfolgte er sie? Was hatte sie nur falsch gemacht, um nun so bestraft zu werden?

Shinri zeigte ein Lächeln. “Aber ich wollte dir doch etwas wichtiges zeigen”, gab er von sich, klang dabei hinterlistig und grinste. Aya bekam es langsam mit der Angst zu tun. Sie hatte überhaupt keine Ahnung, was er sich dabei dachte, oder was er vorhatte, doch sie wollte es auch nicht herausfinden.

Sie schritt zügig voran und ignorierte ihn so gut es ging. Noch immer war er ihr dicht auf den Fersen.

Durch ihr schnelles Tempo kam sie viel früher, als gewohnt, zu Hause an. Wie von Shinri bereits erwähnt, wartete dort keine Menschenseele auf ihre Rückkehr. Sie lebte ganz alleine in dieser kleinen Wohnung, die ihre Eltern finanzierte.

Sie hatte ihre Mutter und auch ihren Vater vor etwa drei Jahren das letzte Mal gesehen. Sie reisten viel umher und ließen ihre Tochter immer wieder alleine zurück. Ihr war es egal, somit hatte sie wenigsten ihre Ruhe, redete sie sich immer wieder ein. Dennoch fragte sie sich in diesem Augenblick, weshalb Shinri wusste, dass sie alleine Zuhause lebte? Hatte der Lehrer ihm irgendetwas erzählt?

In den letzten Metern versuchte sie ihn noch abzuschütteln, öffnete blitzschnell die Tür und versuchte sie hinter sich zuzuknallen. Da hatte sie aber nicht mit Shinris Fuß gerechnet, der sich unhöflicher Weise zwischen Tür und Angel stellte. Mit Leichtigkeit öffnete er die Tür, obwohl das Mädchen sich mit aller Kraft dagegen stemmte. Gelassen trat er ein, während Aya ihn für einen kurzen Moment entsetzt und verblüfft musterte.

“Verlasse sofort meine Wohnung, oder ich rufe die Polizei!”, ermahnte sie ihn dann endlich. Sie wollte ihn nicht hier haben. Sie wünschte sich ihre Ruhe, denn er schien an irgendwelchen Komplexen zu leiden, sie bis hier hin zu verfolgen.

Shinri lehnte grinsend an der Tür. “Du willst die Polizei rufen? Versuch es doch. Bevor du nur eine Nummer gedrückt hättest, hätte ich dich außer Gefecht gesetzt. Übrigens hat keiner der Bullen nur eine geringste Chance gegen mich.” Shinri grinste vergnügt.

Die Drohungen halfen ihr nicht aus dieser Situation. Und sie bemerkte, dass er nicht nur daher schwafelte. In seinen Augen funkelte etwas, dass ihr auf einer seltsamen Art klar werden ließ, dass er es mehr als nur ernst meinte.

Aya wand sich ab und ließ ihre Tasche in ein entferntes Eck des Wohnzimmers schlittern, dann machte sie sich auf den Weg in ihr Schlafzimmer. “Du bist doch irre”, schimpfte sie. “Setz dich ins Wohnzimmer und wehe du folgst mir!” Shinri entgegnete dem wütenden Blick unschuldig, als wüsste er nicht, wieso sie so etwas sagte. Schon eilte sie in ihr Zimmer und schloss hinter sich ab.

Er sollte bloß nicht hier hereinkommen. Sie brauchte jetzt wenigstens etwas Ruhe. Sie zog sich um, wie fast jeden Tag nach der Schule. Eigentlich duschte sie meistens noch, aber heute war es ihr zu gefährlich mit ihrem neuen Mitschüler bei sich Zuhause.

Gerade ließ sie ihr T-Shirt auf den Boden gleiten, als sie ein Pfeifen hinter sich vernahm. Erschrocken blickte sie auf, Richtung Tür. Reflexartig verschränkte sie ihre Arme vor ihrer Brust. Mit hochrotem Kopf blickte sie in die Augen des Jungen, der sich in diesem Zimmer befand. Es war Shinri, der gelassen am Türrahmen lehnte und sie bewundernd musterte. Er grinste frech.

Aya konnte es kaum fassen. Fast wie in einem Traum, einem Alptraum! Wie war er nur in dieses Zimmer gekommen? Sie hatte doch zugesperrt, hatte sie?! Es war unglaublich. Sie verstand es nicht.

Shinri grinste weiterhin und begutachtete das Mädchen interessiert. Aya kochte vor Zorn. Wütend fuhr sie ihn an: “Glotz nicht so bescheuert!! Verschwinde aus meinem Zimmer, du Perverser!” Sie funkelte ihn böse an, was ihr auch nicht weiter half. Er blieb stehen und beobachtete sie weiterhin. Am liebsten hätte sie ihm irgendetwas an den Kopf geschmissen, doch zuerst musste sie sich ihr T-Shirt wieder anziehen, dachte sie sich.

Shinri lachte. Er fand ihre Wortwahl wohl sehr amüsant. Mit ruhigen und langsamen Schritten kam er auf sie zu, ohne aber ein Wort zu sagen. Aya ging jeden Schritt, den er machte, zurück. Sie fühlte sich wie eine Beute, eingekreist von einem wilden Raubtier.

Schon bald spürte sie ihr Bett hinter sich. Es gab kein Entkommen mehr. Shinri sprach: “Ich werde es dir jetzt zeigen. Es ist schließlich ein guter Zeitpunkt.” Er stand dicht vor ihr. Das Lächeln hatte sich gelegt. Sein Gesicht zeigte ernste Züge, die ihm unheimlich gut standen. Ayas Herz begann schneller zu schlagen. Was wird das jetzt? Was hat er vor? Gedanken flogen quer durch ihren Kopf.

Auf einmal packte Shinri Ayas Handgelenk. Sein Griff war fest, dennoch sanft und anschmiegsam. Er behandelte sie mit größter Vorsicht, so kam es ihr vor. Schon bald, obwohl Aya versuchte sich zu wehren, brachte er ihre Arme hinter ihren Rücken. Dort hielt er sie mit einer Hand fest. Er war verdammt stark!

Sie versuchte sich zu wehren, sich aus dieser Lage zu befreien, doch hielt er fest dagegen. Das ließ die Wut in ihr wieder anfangen zu brodeln. Sie war ihm schutzlos ausgeliefert. Wirklich schutzlos. Jeden Widerstand brachte er liebevoll zum schweigen.

Sanft berührte er eine Stelle über Ayas linker Brust. Ganz genau an dieser Stelle befand sich ein schwarzes Zeichen. Es wirkte, wie eine Tätowierung. Sie hatte es schon seit ihrer Geburt. Sie dachte, es wäre ein Muttermahl, doch die Ärzte konnten diese Vermutung nicht bestätigen. Somit hatte sie sich damit zufrieden gegeben. Nun lag die Antwort fast zum greifen nahe.

Dieses Zeichen. Zwei ineinander geschlungene Buchstaben. A und S. Um sie herum befand sich ein Kreis aus weiteren schlangenähnlichen Strichen. Ganz in Schwarz. Was es bedeutete, wusste Shinri. Aya aber nicht und sie hatte auch keine Lust mehr es zu erfahren. Nicht von ihm. Denn sie wusste, es würde ihr nicht gefallen.

Shinri ließ sie wieder los. Endlich. Er trat einen kleinen Schritt zurück, war ihr aber noch immer nah genug, dass sich ihr Herz weiterhin wie bei einem Wettrennen benahm. Auf einmal zog er sein eigenes T-Shirt aus. Sie sah ihm zu verwirrt zu. Was sollte das werden?

Doch, um sich Gedanken zu machen, gab es kaum Zeit. Sie blickte auf seine blanke Brust. Gut gebaut und durchtrainiert. Die Muskeln zeichneten sich ab, ließen ihm aber seine schlanke Figur beibehalten. Was hatte sie anderes erwartet? Als sie dann aber dasselbe Zeichen, das auch sie trug, auf seiner linken Brust erblickte, stockte ihr der Atem. Das konnte doch nicht wirklich wahr sein!

“Das ist sicher nur irgendein dummer Zufall! Deswegen heißt das noch lange nicht, dass ich dir gehören werde!”, meinte sie entschieden. Shinri grinste wieder und entgegnete ihr: “Schicksal, nicht Zufall.”

Ein Schweigen machte sich im Zimmer breit. Aya musste ihm irgendwie Recht geben. Denn für ein Zufall, war dies zu außergewöhnlich. Schließlich hatte er sie gefunden, sie angesprochen und wusste von diesem verdammten Zeichen, das komplett identisch wie das seine war und sich auch an derselben Stelle befand. Unmöglich! Könnte das wirklich nur Zufall sein?

Der Junge beendete die Stille im Raum. “Wir sollten jetzt aber endlich mit den Hausaufgaben anfangen. Der Lehrer könnte sonst wieder böse auf dich werden und dich noch länger nachsitzen lassen, nicht?” Er lachte, dann marschierte er, ohne einen Blick zurück, aus dem Zimmer und ließ sie alleine.

Aya raffte sich schnell, zog sich ihr T-Shirt wieder an und rätselte: “Wie hat er es nur geschafft die verschlossene Tür aufzubekommen?” In ihrem Kopf hatte sich auch ein Zweifel breit gemacht. Wollte er wirklich nur Lernen? Sie konnte sich das kaum vorstellen. Sie sollte ihn wohl lieber nicht aus den Augen lassen. Das bereitete ihr Unbehagen. Wer konnte wissen, was er noch anstellen würde? Das wollte sie sich lieber nicht ausmalen. Er war wirklich seltsam, dass hatte sie bereits zu spüren bekommen. Doch, was verbarg sich wirklich hinter seiner Fassade?
 

Als sie in ihr kleines Wohnzimmer kam, saß Shinri halbnackten auf der Couch. Er beugte sich über den kleinen Wohnzimmertisch und schrieb mit dem Füller in sein Mathematikheft. Sein Blick zeigte ihr, dass er sich dabei ernsthaft konzentrierte. Er war wirklich bei der Sache.

Aya trat ein kleines Stück näher und lugte ihm über die Schulter. Sie stellte fest, dass dieser, anders als erwartet, doch wirklich seine Hausaufgaben machte. Verblüfft blieb sie stehen und sah ihm zu.

Plötzlich packte Shinri sie am Arm und zog sie herunter, auf seinen Schoß. Sie schrie schockiert auf und zappelte, wie ein Fisch im Netz. Doch kam sie nicht weg von ihm.

“Du hast mich warten lassen. Das ist etwas, das ich überhaupt nicht leiden kann”, kam es von ihm. Er grinste. Aya bemerkte, wie ihr Gesicht anfing rot anzulaufen. Ihr Herz klopfte einen Takt schneller.

“Mir doch egal!”, zischte sie und versuchte sich vergeblich auf zusetzten. Shinri spielte nicht mit. Er verschlimmerte sogar noch ihre Lage, als er ihre beiden Handgelenke packte und sie sanft, aber beständig, auf die Couch drückte. Sie spürte das Polster unter sich. Shinri beute sich über sie. Der Takt Ayas Herzens beschleunigte sich um ein dreifaches. Sie fühlte die Hitze, die in ihre Wangen hinauf kroch.

“Ist dir das vielleicht unangenehm, mir so nah zu sein?”, fragte Shinri hämisch grinsend, obwohl er die Antwort bereits kannte: ‘Ja!’ Aya dachte es, doch sagte sie: “Nein! Wieso sollte es? Ich werde ja auch tagtäglich von wildfremden Männern bedrängt!” Ihre Worte waren der blanke Sarkasmus, aber sie halfen. Shinri ließ sie los und setzte sich auf. Sein ganzer Körper spannte sich an.

Aya, die endlich wieder ihre Bewegungsfreiheit zurück hatte, folgte seinem Beispiel. Missmutig musterte sie ihn aus den Augenwinkeln heraus. Wie sollte sie reagieren? Was sollte sie jetzt sagen?

Shinri nahm ihr die Entscheidung ab. “Wir sollten mit den Hausaufgaben beginnen”, meinte er, um das Thema zu wechseln. Da sie nichts widersprüchliches sagte, entspannte er sich wieder. Aya nahm auf dem Stuhl ihm gegenüber Platz, um genügend Abstand zu ihm zu haben, falls er wieder eine Dummheit vor hatte.

Die dunklen Augen musterten sie nur für einen Moment, dann wand sich der Junge ganz an seine Hausaufgaben, so wie auch Aya.

In seiner Gegenwart macht das Mädchen kein einziges Auge zu. Der Gedanke, ihm schutzlos ausgeliefert zu sein, machte ihr Panik. Sie saß an ihren Mathematikhausaufgaben, ebenso wie er. Als er aber bemerkte, dass sie bei einigen Aufgaben sehr viel Zeit benötigte, oder gar übersprang, wand er sich an sie. “Soll ich dir vielleicht helfen? Du scheinst Hilfe dringend zu benötigen. Komm, setz dich.”

Er klopfte mit seiner Handfläche auf den Platz rechts neben sich. Aya zweifelte einige Zeit. Konnte sie sich einfach dort hinsetzten? Direkt neben ihm? Irgendwann riss sie sich zusammen und setzte sich zu ihm auf die Couch.

Als er anfing ihr die ganzen Aufgaben zu erklären, drang kein einziger doofer Spruch aus seinem Mund. Er wirkte erwachsen und souverän. Vielleicht war er ja doch nicht so ein Idiot, wie sie dachte. Für diese kurze Zeit war ihre Panik verflogen, doch ihr Herz, es hörte nicht auf zu rasen…

Es herrschte eine wundervolle Ruhe zwischen ihnen. Er, mit seiner freundlichen Art, erklärte ihr alles und sie fühlte sich zunehmend wohler in seiner Gegenwart. Sie hoffte, er würde weiterhin so bleiben, sich nicht wieder so frech benehmen und vielleicht könnten sie dann auch viel besser miteinander klar kommen.

Dennoch glaubte sie nicht, dass er so einfach damit aufhören würde, sie so um den Verstand zu bringen. Das schlimmste daran war aber, dass irgendetwas in ihr ihn willkommen hieß.
 

Als schon die Nacht über die Stadt hereingebrochen war, beendeten sie endlich die Hausaufgaben und Aya fühlte endlich wieder das Wissen in sich, das sie die ganze Zeit wohl verdrängt hatte. Sie hatte die Aufgaben verstanden und sie wusste, sie müsste demnächst in der Schule nicht mehr so angemault werden. Der Lehrer wäre mit ihr zufrieden, wie sie es auch selber mit sich war. Wenn sie nun auch nicht mehr verschlafen würde, dann wäre ihre Freizeit endlich wieder größer.

Genüsslich streckte sie sich. Sie gähnte. Die Müdigkeit hatte sie bereits befallen, doch konnte sie Shinri nicht damit anstecken. Er kam ihr vor, wie ein starker Fels, der nie nachgab. Er zeigte keine Schwächen und schien ein unüberwindbares Selbstvertrauen zu haben. Sie fragte sich nur, wie sie so jemanden hat kennen lernen können.

Wären sie sich nicht so begegnet – hätte er sie nicht so seltsam angemacht – vielleicht läge nun etwas anderes zwischen ihnen, als ihre Wut. Eine Freundschaft. Denn sie musste sich immer wieder eingestehen, dass Shinri verdammt gut aussah. Diese markanten Gesichtszüge, die ihm für sein Alter etwa männliches und ernstes verliehen. Er wirkte finster und unberechenbar und doch konnte er seine frechen Kommentare nicht sein lassen. Als sie anfing, an ihn und seine Art zu denken, kam ihr plötzlich die Frage in den Sinn, wie er wohl noch sein konnte.

Tief in ihren Gedanken verloren merkte sie nicht, dass Shinri bereits alle sene Schulsachen eingepackt hatte. Er stand neben der Couch, legte seine Arme auf die Lehne und betrachtete sie, während Aya bäuchlings auf dem Polster lag und der Gegenwart entschwand.

“Wo werde ich übernachten?” Eine einzige Frage genügte und Aya schreckte wieder aus ihren Tagträumen. Die hoffnungsvoll, jedoch neckische Stimme war bis in ihre Gedanken vorgedrungen und hatte alles beiseite geschoben, was sich dort ausbreiten wollte.

Mit leicht geöffnetem Mund betrachtete sie Shinri und wiederholte seine Worte in ihren Gedanken. Auf einmal schoss eine Hitze in ihr empor und färbte die Haut ihrer Wangen rötlich. “Spinnst du?!”, fauchte sie ihn an und sprang von der Couch.

Shinri Zoma grinste. “Vielleicht”, scherzte er. “Aber hast du etwa gedacht, ich bleibe nur die Hausaufgaben über? Da hast du dich schwer getäuscht, meine kleine Katze, aber ab heute werde ich hier wohnen.” Er sagte es mit so deutlicher Genugtuung in der Stimme, dass Aya vor Zorn zu brodeln begann.

Sie schnaubte verächtlich. “Das ist meine Wohnung! Du hast kein Recht, hier zu sein, ohne meine Erlaubnis! Verschwinde, oder ich rufe die Polizei!”, drohte sie ihm und war bereits auf dem Weg in den Flur, in dem das selten benutzte Telefon stand.

“Nicht so eilig, Kätzchen.” Shinris Hand legte sich fest wie ein Schraubstock um Ayas Arm. Er hielt sie vom Gehen ab, zog sie zu sich auf die Couch und brachte sie wieder unter sich. “Es bringt nichts, die Polizei zu holen. Sie können dir nicht helfen, Aya. Viel mehr würdest du sie nur in Gefahr bringen.”

Shinris Augen glühten gefährlich. Die Drohung kam bei Aya an und sie schluckte schwer. Wer war dieser Junge nur? Noch nie hatte sie jemand vergleichbaren kennen gelernt. Sie würde nicht sagen, dass er ihr Angst machte. Viel mehr verwirrte er sie und brachte ihre eigenen Gedanken durcheinander.

“Lass mich los”, schimpfte sie ihn, denn sie wollte trotz allem nicht klein bei geben. “Von mir aus kannst du hier schlafen, solange du mich endlich los lässt!” Der Griff lockerte sich und Aya entkam Shinris Nähe nur knapp. Sie seufzte schwer. 'Selbst schuld', lachte eine stimme in ihr, die auf Shinris Seite zu stehen schien.

Schweren Herzens stand sie auf und verließ das Wohnzimmer, um Bettwäsche für Shinri zu holen. Auch wenn sie ihn nicht freiwillig hier haben wollte, so war sie nicht fähig, ihn auf dem nackten Fußboden schlafen zu lassen.

“Wenn du hier bleiben möchtest, dann wirst du dich auch an meine Regeln halten müssen. Und die Erste wäre wohl, dass du auf der Couch schläfst. Mein Schlafzimmer ist für dich tabu!”

Unsanft schleuderte sie die Bettwäsche auf die Couch und hätte Shinri beinahe darunter begraben. Der Junge fing das Knäuel geschickt und grinste Aya über den weichen Stoff hinweg an. “Wenn es sein muss. Ich wünsche dir eine Gute Nacht.”

“Ich dir nicht”, entgegnete Aya ihm und stampfte davon in ihr Schlafzimmer. Sie wollte die Hoffnung, er würde sie morgen verlassen, oder wäre nur ein schlechter Traum, nicht aufgeben. Doch etwas in ihr betete leise, er möge für Ewigkeit bleiben.

Zügig schloss sie die Tür hinter sich, um ihm keine Chance zu geben, doch zu ihr zu gelangen. Da sie aber wusste, dass er sogar geschlossene Türen überwinden konnte, schob sie zur Sicherheit mit Müh und Not ihre Kommode vor die Tür.

Fertig umgezogen ließ sie sich in ihr kuscheliges Bett fallen. So fertig wie heute, war sie schon lange nicht mehr gewesen.

Sie war müde und kaputt, aber seltsamer Weise wollte der Schlaf nicht kommen. Sie wälzte sich von einer Seite zur anderen. Schloss ihre Augen, öffnete sie wieder. Egal, was sie versuchte, es gelang ihr nicht, die Gedanken los zu werden.

Was würde der morgige Tag ihr bringen? Sie wiederholte jedes Wort, dass Shinri heute gesagt hatte. Das alles ließ sie einfach nicht los. Vor allem … hatte er wirklich recht?

Unbewusst wanderte ihre Hand an die Stelle, an der sich das Zeichen befand, dass sie angeblich mit Shinri verband. Sie musste zugeben, für einen Zufall war diese Geschichte wirklich zu abgedroschen. Aber Schicksal? Gab es so etwas überhaupt? “Sein Eigentum”, murmelte sie leise. “Sollte ich das wirklich sein?” 'Was dann?', setzte sie die Frage gedanklich fort.

Schnell schüttelte sie den Kopf. Seine Worte durften sie nicht durcheinander bringen. Am besten wäre es, überhaupt nicht darauf zu hören. Sein Eigentum? Pah! Da würde sie nicht mitspielen!

Erst als es auf Mitternacht zuging, konnte sie ihre Augen schließen und einschlafen. Der heutige Tag hatte sie so sehr beschäftigt, ebenso der ungewöhnliche Junge Namens Shinri. Doch jetzt überholte sie der Schlaf und zog sie mit sich.
 

Friedlich schlummerte sie in ihrem Bett. Der Mond schien in das Zimmer und warf einen Schatten auf das Bettgestell. Kühle Luft strömte in das Zimmer.

Leise glitt das Fenster auf. Der Kirchturm in der Stadt schlug zur Geisterstunde und Aya schlief friedlich weiter, ohne etwas zu bemerken. Glücklich kuschelte sie sich in ihre weiche Decke. Das unbekannte, dunkle Geschöpf setzte sich auf das Fensterbrett und die goldenen Augen richteten sich auf das Mädchen im Bett, ohne die Augen einmal abzuwenden.

Kapitel 3

Weckerrufe schrillten durch das Zimmer. Aya schreckte aus dem Schlaf und schaltete den Metallkasten aus, ohne ihn hinab zu werfen. Sie fühlte sich genauso müde, wie gestern Abend. Sie hasste es früh aufzustehen und gestern Nacht war sie erst zur späten Stunde eingeschlafen.

Am liebsten würde sie jetzt noch etwas länger im Bett liegen bleiben, aber es war Schule und sie konnte nicht wieder zu spät kommen, nachdem sie schon früh genug aufgewacht war.

Sie schälte sich aus ihrer Decke und stand auf. Auf einmal spürte sie einen kalten Luftzug auf ihrer Haut und hob ihren Blick. Sofort erstarrte sie, als sie das offenstehende Fenster bemerkte. Verwirrt fragte sie sich, weswegen es offen stand. Als sie gestern zu Bett gegangen war, war es noch geschlossen gewesen.

Angst kroch in ihr hoch. Sie versuchte sich zu beruhigen und redete sich ein, das sie es nur angelehnt habe. Der Wind hätte es dadurch ohne Probleme aufstoßen können. So und nicht anders konnte und musste es gewesen sein. Eine andere Möglichkeit kam nicht in Frage. Schließlich befand sie sich im dritten Stock und niemand konnte hier einfach so herauf kommen. Nachdem sie das Fenster endlich geschlossen hatte, zog sie sich um.

Kurz danach fand sie bereits das erste, schwerwiegende Problem des Tages vor. Direkt vor ihrer Tür stand noch immer die Kommode und versperrte ihr den Weg in den Flur. Aya musste diese erst wieder zur Seite schieben, was viel Zeit in Anspruch nahm und körperlich anstrengend war. Sie war noch sehr müde an diesem frühen Morgen, doch schaffte sie es nach einiger Zeit trotzdem.

Siegesfreude durchströmte sie und sie betrat ihren kleinen Flur. Licht erglomm über ihr, als sie den Schalter betätigte. Sie gähnte und streckte sich der Decke entgegen. Wie gerne wäre sie jetzt wieder zurück in ihr Bett gekrochen, doch wollte sie nicht wieder zu spät zur Schule kommen.

Aya schritt über die Dielen und kam im Wohnzimmer an. Dort blieb sie stehen und starrte entsetzt in den nächsten Raum. Ihr Blick fiel auf die Couch, auf der ein gut aussehender Junge saß und in einem Buch aus Ayas Regal vertieft war.

Das brünette Mädchen musterte einige Zeit lang dieses Bild. Einerseits war es etwas Schönes, endlich jemanden in dieser einsamen Wohnung zu haben. Sie hatte sich schon immer gewünscht nicht mehr alleine sein zu müssen, doch wollte sie auch niemandem eine Last sein. Jetzt, als sie genau dies hatte, was sie sich sehnlich gewünscht hatte, wollte sie wieder ihre Ruhe, ihre Stille, das Schweigen. Egal, wie sehr es ihr Wunsch war, so hatte sie das Bedürfnis verspürt ihn hier zu haben. Nein! Solch eine Person war nicht das, was sie hier haben wollte, unterbrach sie ihre eigenen Gedanken.

“Falls du Hunger haben solltest, musst du mit in die Küche kommen. Ich werde dich bestimmt nicht bedienen”, motzte sie, da sie eigentlich gehofft hatte, ihn hier nicht mehr aufzufinden. Schon lief sie in Richtung Flur, als Shinri ihr noch entgegnete: “Wie wäre es denn mit einem guten Morgen?” Sein Blick glitt über den Rand des Buches und blieb an Aya hängen, die eben durch den Türbogen schritt.

Sie hatte seine Worte vernommen und wieder staute sich eine unbändige Wut in ihr auf. Sie wusste, sie hasste niemanden mehr, als diesen Shinri! Wie konnte er nur solch einen Spruch von sich geben, wenn er sich doch ohne Fragen hier eingeschlichen hatte? Sie hatte ihn gewiss nicht gebeten hier zu bleiben! Diesem Einbrecher auch noch einen guten Morgen zu wünschen? Spinnt der?!

Sie betrat die kleine Küche und versuchte ihre Wut irgendwie zu bändigen. Eigentlich hatte sie keine Lust zu Frühstücken, doch rebellierte ihr Magen bereits laut und drängte sie dazu sich gemeinsam mit Shinri, der gerade hereinkam, an den Tisch zu setzten.

Das Essen verlief schweigend und ohne jeglichen dummen Kommentar, aber dafür fühlte sich Aya seit geraumer Zeit von ihm beobachtet. Seine Augen hingen an ihr und sie zwang sich dazu, ihren eigenen Blick gesenkt zu halten, um nicht in das tiefe Schwarz sehen zu müssen.

Nach dem gemeinsamen Frühstück richtete die Brünette sich im Bad her und nachdem auch Shinri das Bad benutz hatte, verließen sie zusammen die Wohnung. Aya schloss hinter sich ab und schleppte ihre Tasche mit sich, in der das erste Mal seit Monaten fertige Hausaufgaben mitschwangen. Der wohl einzige Punkt, für den sie Shinri vielleicht hätte danken können.

Sie hatte aber etwas anders, worüber sie nachdachte. Sie fragte sich nämlich, was mit Ria geschehen war. Das blonde Mädchen war zusammen mit Shinri hier angekommen, aber hatte sie – im Gegensatz zu Shinri – eine kleine Wohnung gemietet?
 

Der Morgen diesen Tages war genauso, wie die der letzten Tage. Nur eines war anders. Jackin hatte eine neue Mitbewohnerin. Ria, die auch seine neue Klassenkammeradin war, hatte ihn gestern gebeten, sie bei sich aufzunehmen.

Zuerst war er nicht sicher gewesen, was er dazu hätte sagen sollen. Ein fremdes Mädchen mit zu sich nach Hause zu nehmen? Doch Ria schien von ihrem Plan nicht abgebracht werden zu wollen. Sie hatte wahrlich einen Narren an ihm gefressen.

Zu letzt hatte er sich dabei erwischt, als er im Gedanken seine Wohnung überprüft hatte. Wie sah sie das letzte mal aus? Sauber genug, um Besuch hinein zu lassen?

Nach der Schule war sie dann wirklich mit zu ihm gekommen und eigenartiger Weise hatte sie seine Wohnung wunderschön gefunden, obwohl sie sehr klein und etwas unordentlich war.

Am Nachmittag hatte Jackin Ria dann alleine zurück lassen müssen. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund vertraute er ihr sofort und spürte eine Art Verbundenheit zu ihr, auch wenn dies überhaupt nicht möglich sein konnte. Während er seiner Arbeit in der Pizzeria nachging, hing er in Gedanken immer wieder bei Ria und fragte sich, wer sie wohl wirklich war. Das Mädchen hatte etwas eigenartiges, ungewöhnliches an sich.

Natürlich kam Ria etwas hochnäsig rüber – als würde ihr alles gehören. Aber so war sie nicht. Das wusste er, ohne sie wirklich kennen zu müssen und genau dieser Gedanke ließ ihn keine Ruhe mehr.

Als er zurück nach Hause gekommen war, fand er eine Wohnung vor, die kaum seiner eigenen glich. Sie war sauber und ordentlich. Seltsam war es nur, dass er dies erst auf den zweiten Blick registrierte, da seine dunkelblauen Augen von Anfang an an Ria hingen. Sie gehörte eigentlich nicht in seine Wohnung, doch kam es ihm vor, als wäre genau hier ihr Platz.

“Vielen Dank noch einmal für die Nachhilfe”, erklang Rias melodische Stimme und riss Jackin aus seinen Tagträumen. Für einen Moment war er etwas verwirrt.

“Ach so ist das. Kein Problem”, antwortete er und lächelte sanft. Gestern hatten sie gemeinsam für die Schule gelernt und im Moment waren sie auf den Weg dorthin. Der Ort, an dem sie sich das erste Mal getroffen hatten.

Ria, die neben ihm lief, entgegnete seinem Lächeln ebenfalls und wirkte dabei wie ein Engel. “Und vielen Dank, dass ich bei dir wohnen darf. Ich hätte nicht gewusst, was ich sonst hätte tun sollen.” Ihre hellblauen Augen strahlten Zufriedenheit aus. Dafür, dass sie sich meistens sehr selbstsicher gab, konnte sie auch richtig niedlich sein.

“Von wo kommt ihr jetzt eigentlich? Du und dieser Shinri?”, wollte Jackin dann wissen, um das Gespräch nicht zu verlieren. Er freute sich jedes Mal, wenn er ihre Stimme zu hören bekam. Es beruhigte ihn und gab ihn das Gefühl, dass alles vollkommen in Ordnung war. Etwas eigenartig, wenn man bedachte, dass sie sich erst seit Gestern kannten.

Ria bleib kurz stehen und sah etwas nervös aus, dann lächelte sie aber wieder und schritt zügig voran. “Wir kommen auch aus Deutschland, nur wohnen wir weiter im Norden.” Sie strich ihre blonden Haare hinter das Ohr.

“Und wieso seit ihr jetzt hier? Wo sind eure Eltern und wieso habt ihr keine Wohnung gemietet, wenn ihr wusstet, dass ihr länger hier bleiben wollt?” Jackin kam es gewiss etwas spanisch vor, dass zwei junge Menschen umzogen, ohne einen festen Sitz zu haben. Andererseits konnte er es ihnen nicht verübeln. Immerhin hatte auch er ein unkontrolliertes Leben geführt, bevor er Aya traf.

Das Mädchen, welches den selben Nachnamen, wie Shinri trug, lächelte entschuldigend, konnte damit aber nicht über ihre Nervosität hinwegtäuschen. “Tut mir leid. Das hatte persönliche Gründe und die würde ich lieber für mich behalten. Ein andermal vielleicht”, versprach sie und fuhr sich erneut mit den Fingern durch die Haare.

„Du musst nicht, wenn du nicht möchtest“, erklärte Jackin ihr beschwichtigend. Er selbst war es, der eine Vergangenheit hinter sich hatte von der das hübsche Mädchen lieber nicht erfahren sollte. Vor allem nicht dann, wenn sie doch eine der wenigen war, mit der er sich so gut unterhalten konnte. Was nicht hieß, dass ihm Aya nicht minder wichtig war. Aya war seit Jahren die wichtigste Person in seinem Leben gewesen. Sogar wichtiger, als er selbst.

Schon kamen sie an der Schule an. Einige Schüler waren bereits da, nur Aya und Shinri noch nicht. Da Jackin Aya immer am Eingang traf, blieb er auch heute dort stehen und wartete auf das Mädchen.
 

Shinri schwieg den ganzen Weg über, was Aya etwas nervös machte. Den gestrigen Tag hatte er sie geärgert und heute kam kaum ein Wort des Hohns aus seinem Mund. Irgendwie wirkte er auch etwas müde. Gewiss hatte er eine anstrengende Nacht hinter sich, dachte Aya. Doch damit war die Geschichte noch nicht gegessen. Noch immer zerbrach sie sich den Kopf darüber. Das hörte erst auf, als die Schule in Sicht kam.

Am Eingang wartete bereits Jackin. Zu Ayas Übel stand auch Ria bei ihm, die sie fast schon vergessen, wenn nicht verdrängt, hatte. Sie fragte sich, was diese hier zu suchen hatte.

Aya beeilte sich und beschleunigte ihre Geschwindigkeit. Sie begrüßte Jackin mit einer Umarmung. Natürlich sagte er nichts dagegen und entgegnete ihr ebenso. Sie waren die besten Freunde und niemand würde sie trennen. Nicht einmal die beiden Zomas.

Ria zog eine verärgerte Miene, die Aya nicht entging. Ihr schien es nicht zu gefallen, dass sie sich so nahe standen. Das brünette Mädchen streckte ihr frech die Zunge entgegen und Ria entgegnete dem ebenso.

Als Ria ein Wort des Protestes aussprechen wollte, denn Aya ließ Jackin nicht los, seine Gegenwart gefiel ihr zunehmender, gesellte sich Shinri neben Aya. Er hatte auch keine Lust mehr länger zusehen zu müssen. Seine Hände umschlangen Ayas Taille und er hievte sie elegant zur Seite. Die Umarmung löste sich und er setzte Aya neben sich auf den Boden ab. “Du gehörst mir, vergiss das ja nie.”

Aya trat sofort einige Schritte zurück, um Abstand zu ihm zu gewinnen. Nun zeigte auch sie ihm ihre freche Zunge. “Lass mich einfach in Ruhe!”, schimpfte sie. Eigentlich hatte sie sich auf einen dummen Kommentar gefasst gemacht, doch dieser blieb aus.

Nervös betrachtete sie den kühlen Shinri, der sie ernst betrachtete. Schnell schüttelte sie die Gedanken, die ihr kommen wollten, zur Seite und wand sich an Ria: “Und du, lass Jackin in Ruhe! Niemand gehört irgendwem!” Sie ergriff Jackins Hand und zog ihn sanft mit sich.

Der blonde Junge betrachtete noch einmal kurz die beiden Klassenkammeraden, folgte Aya aber schweigend. Die Zomas blieben zurück.

Aya fragte sich, weswegen sie ihnen nicht hinterher rannten, wie sonst immer. Sie benahmen sich eigenartig. Obwohl sie die beiden erst einen Tag lang kannte, hatte sie geglaubt zu wissen, was diese tun würden. Doch langsam schwand dieses angebliche Wissen. Wer waren die Zomas nur?
 

Mit wachsender Sorge betrachtete Ria ihren Verwandten. „Shinri“, begann sie und ihre Hand wollte sich auf seine Wange legen, aber er wich dem aus.

„Lass das. Ich bin kein kleiner Junge“, meinte er und seine schwarzen Augen sahen sie nun direkt an. Aya und Jackin waren gegangen und die beiden Zomas wurden alleine zurück gelassen.

Rias Sorge schwand nicht, sondern wuchs noch mehr. „Shinri, du hast sie gefunden. Lass dich gehen und genieße das Leben“, bat sie. Wieder wanderte ihre Hand nach vorne und dieses Mal wich Shinri nicht aus. Sanft berührte Ria die Wangen und strich mit den Daumen über die Haut, wie es die Person immer getan hatte, bei denen sie groß geworden waren.

„Es ist zu gefährlich für sie. Und … ich sollte gehen“, meinte Shinri. Die Entschlossenheit war bereits gewichen. Aber Ria wollte nicht so schnell aufgeben und schon gar nicht wollte sie, dass Shinri aufgab. Sein Leben hing am seidenen Faden.

„Shinri! Du bist 19. Du darfst das nicht mehr auf die leichte Schulter nehmen. Sie ist deine Auserwählte. Sie wird es verstehen“, flehte Ria und sah Shinri eindringlich in die Augen, aber der Ältere lachte nur amüsiert auf. „Verstehen? Du solltest sie sehen. Sie wollte bereits zweimal die Polizei rufen.“ Obwohl es eigentlich nicht hätte witzig sein sollen, amüsierte es ihn. Aya hatte ihre eigene Art, die Probleme zu lösen.

Diese Erzählung ließ Ria nur schwer seufzen. Mit verschränkten Armen und hochgezogenen Augenbrauen musterte sie ihren Verwandten. „Wahrscheinlich hat sie nur so darauf reagiert, weil du mit deiner speziellen Art gekommen bist.“ Sie kannte Shinri gut genug, um zu wissen, wie er wohl vorgegangen sein musste. Wahrscheinlich hatte er nicht einmal gefragt, mit ihr mitgehen zu dürfen. Nein, ganz gewiss sogar.

Ria konnte sich das Grinsen nicht mehr länger verkneifen. Ja, sie kannt Shinri wirklich gut. „Mach, wie du meinst. Ihr seit für einander bestimmt, also werdet ihr gewiss irgendwie zusammen kommen.“ Sie zuckte mit den Schultern.

Der Junge lächelte zufrieden. „Ja, glaube ich auch“, lachte er, doch obwohl sie somit dieses Gespräch beendet hatten, lag noch immer Sorge in Rias Blick. Irgendwann war keine Option für Shinri. Er brauchte Aya jetzt.

„Lass uns rein gehen“, schlug Shinri vor, um der nächsten Frage zu entgehen. Zum Glück folgte Ria ihm ohne Widerworte.
 

Die Beiden, die voraus gegangen waren, standen bereits im Klassenzimmer. Außer ihnen war niemand sonst in dem Raum. Die Gunst der Stunde nutzend, wand sich Aya an Jackin, welcher sich bereits auf seinen Platz gesetzt hatte. Sie selbst stand noch immer an der Tür und betrachtete ihren besten Freund eindringlich.

„Jack. Was wird das hier eigentlich alles? Wer sind die beiden? Sie sind seltsam und ich mache mir Sorgen um dich. Du bist mit Ria hierher gekommen, also. Was wollte sie?“ In Ayas Augen funkelte ehrliche Sorge, aber auch der Hass auf das blonde Mädchen.

Jackin, der seine Schulsachen auf den Tisch ausbreitete, hob den Blick und sah Aya mit seinen dunkelblauen Augen an. „Ich weiß genauso viel, wie du. Aber ich müsste mir eigentlich mehr Sorgen um dich machen, wie du um mich. Shinri scheint mir nicht ganz koscher zu sein.“

Dem konnte Aya nur voll und ganz zustimmen. Dieser Junge war wirklich nicht ganz richtig im Kopf. Aber sie wollte Jackin lieber nicht verraten, dass genau der Typ nun bei ihr wohnte. Wenn er dies erfuhr, könnt es einen Krieg zwischen diesen beiden geben.

„Versprich mir einfach, aufzupassen“, bat Aya. Auch wenn Ria nicht ganz so gefährlich aussah. Sie vertraute ihr nicht und würde es wohl auch nie tun. Vor allem nicht, da sie sich anscheinend zwischen Jackin und Aya stellte.

Jackin lachte leise auf. „Zerbrich dir deinen Kopf nicht wegen mir. Du weißt ja, ich kann sehr gut auf mich alleine aufpassen. Aber sei du vorsichtig.“

„Ja, werde ich“, meinte Aya und nickte mit ernster Miene. Was Shinri betraf, würde sie sehr gut aufpassen. Denn wenn er es schon wagte, ungefragt in ihre Wohnung zu kommen, hatte er wirklich keinen Skrupel.

„Aber jetzt sollten wir-“, begann Aya. Sie wollte sich gerade zu ihren Platz begeben, als die Tür aufschwang und ihr an den Hinterkopf knallte. Es geschah mit einer unglaublichen Wucht, sodass Aya kurz taumelte und dann zu Boden stürzte. Sie hielt sich die schmerzende Stelle und drehte sich auf den Rücken, um den Feind ins Gesicht sehen zu können.

Es war Ria, die das Zimmer betrat. Als sie Aya erblickte, funkelten ihre Augen amüsiert. „Oh, dass wollte ich nicht“, entschuldigte sie sich, doch meinte sie es nicht so, wie sie es sagte.

Aya sprang mit zornigem Gesichtsausdruck auf die Beine und deutete auf Ria. „Na klar! Als ob du das nicht wolltest! Lüg doch-“, begann sie vor Wut kochend, doch verstummte sie, als eine weitere Person in das Zimmer kam. Shinri! Es dauerte einen kurzen Augenblick, bevor sie wieder dazu ansetzte, etwas zu sagen. Seine Gegenwart würde sie nicht aus den Konzept bringen. Wenn sie schon so in Fahrt war, könnte sie ihm auch gleich sagen, was sie von ihm hielt.

Aber bei ihrem Plan hatte sie nicht mit Shinri selbst gerechnet. Der Junge machte ihr einen Strich durch die Rechnung, als er mit wenigen Schritten bei ihr stand, sie an sich zog und sanft ihre Lippen mit seinen eigenen umschloss.

Mit vor Entsetzen geweiteten Augen stand sie wie gelähmt an Ort und Stelle, während Shinri sie küsste. Nur langsam registrierte sie, dass es Wirklichkeit war. Das kribblige Gefühl, dass durch ihren Körper fuhr und auch die Hitze, die sich in ihr ausbreitete wollten ihr zeigen, wie schön es sein konnte, aber ihr Verstand war dagegen. Shinri küsste sie!, zischte er. Auch wenn es ein sanfter, liebevoller Kuss war, so kam er doch von dem Jungen, der sie als sein Eigentum betrachtete.

Erst, als Shinri wieder von ihr abließ, war sie fähig, zu handeln. Wütend funkelte sie ihn an. Da ihre Wangen gerötet waren, wirkte es kaum bedrohlich. „Das war mein erster Kuss, du verdammter Idiot! Oh Gott! Ich hasse dich!“ Wütend schlug sie mit der Faust gegen dessen Brust. „Lass mich endlich in Ruhe! Verflucht!“ Noch einen letzten zornerfüllten Blick, dann wand sie sich um und verließ das Klassenzimmer. Sie ertrug den Jungen keine Sekunde länger.

Aya rannte den Korridor entlang und wäre beinahe in Herr Heulsu hinein gerannt. Der Lehrer starrte ihr verwirrt hinterher, während sie ihn kaum registrierte. Das schellen der Schulglocke hallte durch die leeren Flure. Der Unterricht begann, aber Aya wollte nicht zurück. Sie brauchte Ruhe und Zeit, sich zu beruhigen.

Erst, als sie die kühle Luft der Freiheit auf ihrer Haut spürte und wusste, sie war hier ganz alleine, hielt sie an. Shinri war ihr nicht gefolgt und auch sonst niemand war zu sehen. Sie registrierte ihre Umgebung und erkannte den Pausenhof vor sich. Vereinzelte Bäume standen inmitten des steinernen Bodens. Einige Bänke standen darunter und am Rand des Hofes. Auf der rechten Seite erstreckte sich ein Spielfeld für Fußball- oder Basketballspiele.

Aya steuerte eine der Bänke an, die unter einem Baum standen. Sie ließ sich im kühlen Schatten auf das Holz nieder. Was war nur los mit ihr? Wieso hatte sie so reagiert? Ihre Gedanken plagten sie und sie wusste nicht, damit um zu gehen. Sie suchte eine Antwort doch gab es keine. Denn, wenn sie sich selber nicht einmal verstand, wer sollte ihr dann noch helfen können?

Die Tatsache, dass die Schule bereits angefangen hatte, störte sie keineswegs. Da sie nicht hinein wollte, nur um Shinri zu begegnen, blieb sie hier draußen sitzen.

In der Ruhe, die sie hier draußen umgab, begann sie sich einiges zu fragen. Zum Beispiel hätte sie zu gerne gewusst, wieso Shinri sie überhaupt geküsst hatte. Er glaubte wohl, er könne alles machen. Doch bedachte er nicht dabei die Gefühle des brünetten Mädchens. Schließlich war es ihr ersten Kuss gewesen.

Hätte ihr Herz doch nur genauso reagiert, wie ihr Kopf. Aber nein! Ihr Herz hatte nicht ausgesetzt vor Schock, sondern war in die Luft gesprungen, hatte Saltos geschlagen und setzte sich dann in Bewegung um den schnellsten Takt in ihrem Leben anzugeben. Sie seufzte. Bestimmt hatte Shinri dieses Anzeichen bemerkt und machte sich nun noch mehr Hoffnungen, was sie am aller wenigsten wollte. Was sollte dann aus ihrem Versuch, ihn los zu werden, passieren?

Während ihre Gedanken noch kreisten, vibrierte ihr Handy. Sie zog es aus ihrer Hosentasche und betrachtete das Display. Sie hatte eine SMS bekommen. Natürlich war Jackin der Absender. Niemand anderes kannte ihre Nummer, außer ihre Eltern vielleicht, die ihr aber noch nie geschrieben hatten.

Jackin schien sich Sorgen zu machen. “Ich hoffe, es geht dir gut. Schule hat begonnen und hab dem Lehrer gesagt, dir ginge es schlecht. Geh nach Hause, ruh dich aus. Werde dich heut besuchen. Gruß, Jack.”

Ein Lächeln legte sich auf Ayas Lippen. Sie freute sich über die SMS. Er machte sich Sorgen und wollte sie heute besuchen. Jackin war wirklich ein liebenswerter Junge.

Sie antwortete ihm mit einer kurzen SMS, sagte ihm, dass sie sich freue und schnell nach Hause ginge. Genau das tat sie dann auch. Sie verließ den Pausenhof. Zum Glück trug sie noch immer ihre Tasche bei sich. Schnell verließ sie das Schulgelände und machte sich auf den Weg nach Hause. Sie dachte auf dem Weg dorthin viel nach und trottete die Straße entlang. Wie würde sie jemals Shinri verscheuchen können?

Doch egal, wie lange sie nachdachte, sie kam zu keinem Ergebnis. Als sie in ihrer Wohnung angelangte, ließ sie ihre Schultaschen im Flur liegen und genoss eine Dusche. Die Abwesenheit ihres selbsternannten Mitbewohners musste sie unbedingt ausnutzen so gut es ging. Sie ließ sich in den Dampf des warmen Wassers einhüllen und genoss es alleine zu sein. Sie fühlte sich wohl, aber irgendetwas in ihr schien nicht mit ihr diese Meinung zu teilen.

Sie stieg aus der Kabine, trocknete sich ab, föhnte ihre Haare und bändigte diese mit ihrer Haarbürste. Als sie dann frisch angezogen in die Küche kam spülte sie das Geschirr ab, da sie in der Früh nicht dazu gekommen war. Immer wieder schweiften ihre Gedanken ab und blieben an ihrem ersten Kuss hängen. Sie musste sich ablenken!

Nachdem sie ihre häuslichen Tätigkeiten hinter sich hatte, machte sie es sich auf der Couch gemütlich und sah sich eine Dokumentation an. Sie versuchte sich hinein zu vertiefen, damit sie nicht an Shinri denken musste, aber ihr Wunsch ging nicht ganz in Erfüllung. Immer wieder kamen ihr diese zwei schwarzen Augen in den Sinn und dieses widerwärtige, hinterhältige Grinsen. Sie unterdrückte eine aufkommende Wut und beobachtete das Leben, das vor ihr im Fernseher gezeigt wurde.

Kapitel 4

Der Unterricht bei Herr Heulsu und den wenigen anderen Lehrern verging nur langsam. Jackin machte sich Sorgen und er war wütend. Je länger er Shinri kannte, desto weniger mochte er ihn. Zum Glück wurde aber bald das Ende der Schule eingeläutet und Jackin macht sich auf den Weg aus dem Schulgebäude heraus.

„Hey! Jack! Warte doch bitte“, erklang Rias melodische Stimme hinter ihm. Doch er ging weiter, als hätte er sie nicht gehört. Aya wartete auf ihn und er musste davor noch kurz nach Hause, um in der Arbeit bescheid zu geben, dass er heute nicht kam.

Ria holte ihn ein und schlang ihre zarten Arme um seinen. „Du kannst doch nicht einfach so abhauen“, meinte sie tadelnd. Ihr Erscheinen machte ihn auf jemand anderen aufmerksam, sodass er nicht umhin kam, stehen zu bleiben.

Shinri Zoma stand am Ausgang und versperrte somit Jackins Weg. Die dunklen Augen wirkten noch düsterer als sonst. Doch seine finstere Miene konnte Jackin nicht einschüchtern. Mutig stellte er sich ihm, mit einem entschlossenen Blick. Ria ließ seinen Arm los und trat einen Schritt zurück. Sie bemerkte ebenfalls die Blicke, die die beiden miteinander tauschten. Es ärgerte sie, dass es dabei nur um Aya ging. Was hatte dieses Mädchen, dass die beiden Jungs sich deswegen gegenseitig an die Kehle springen würden.

Ria verspürte Mitleid für ihren Verwandten und Hass gegenüber Aya. Wie konnte für Shinri nur eine solche Person bestimmt werden? Niemand würde sich so ein Mädchen freiwillig wünschen. Das konnte sie sich bei Leibe nicht vorstellen. Ria konnte sich glücklich schätzen, einen so liebevollen Jungen, wie Jackin, bekommen zu haben. Auch wenn sie ihn erst noch für sich gewinnen musste.

„Wieso musst du mit aller Gewalt Aya verletzten? Kannst du ihr nicht ihren Frieden lassen, wie sie es sich wünscht?“, ermahnte Jackin sein Gegenüber. Seine blauen Augen musterten ihn ernst und Ria musste eingestehen, dass dieses Ernste ihm verdammt gut stand.

Shinri, der ihm ebenso herb entgegenblickte, meinte mit leicht zorniger Stimme: “Lös du dich doch lieber von ihr! Sie gehört mir, also vergiss sie und kümmere dich um Ria. Sie hat es verdient.” Es war nicht zu übersehen, dass die beiden Jungen sich auf keiner Weise ausstehen konnten. Jackin war der Meinung, Shinri würde Aya unglücklich machen und Shinri verspürte gewiss etwas ähnliches wie Eifersucht.

Ria fühlte sich ausgeschlossen. Es ging nur um Aya, und was war mit ihr? Shinri hatte sie erwähnt, doch wusste sie, dass er damit nicht das ausdrücken wollte, was sie sich eigentlich erhoffte. Sie hielt es kaum aus. Beide schwiegen sich an und ihre Augen funkelten grimmig.

„Ich warne dich. Solltest du Aya noch einmal verletzten, werde ich dir keine ruhige Minute mehr gönnen. Hast du verstanden?“, drohte Jackin. Aber seine Drohung ließ Shinri nur grimmig Brummen. „Als ob ich ihr weh tun könnte. Vergiss sie lieber, Junge.“

Die Schule war bereits leer und Ria ertrug dieses Schauspiel keine Sekunde länger. Sie klammerte sich wieder an Jackins linken Arm, um ihn auf sich aufmerksam zu machen. Doch der Junge ließ seinen Blick nicht von Shinri los. Erst nach einer langen Zeit des Schweigens, erhob Jackin erneut das Wort.

“Du wirst mich gewiss nicht daran hindern, Aya zu besuchen”, meinte er entschieden. “Sie ist meine einzige Freundin. Ich möchte sie nicht verlieren. Nicht an einen, wie dich. Wenn sie ihr Lachen verlieren sollte, wirst du dich mit mir anlegen müssen.” Ohne auf eine Antwort von Shinri zu warten löste er die Umklammerung des blonden Mädchens und schritt an Shinri vorbei. Als er das Schulgebäude verlassen hatte, blieb seine Drohung zurück, genauso wie die beiden Zomas.

Ria blickte in Shinris schwarze Augen. Sie sah ihn fragend an. “Was hast du jetzt vor? Anscheinend wird sie dir nicht so schnell verfallen, wie du dir erhofft hast”, wollte sie wissen.

Ruhig, als wäre nie etwas gesehen, blieb er stehen. Nur seine Augen verfinsterten sich. Die Veränderung dieser Situation schien ihm zu missfallen. “Ich werde ihn ärgern”, antwortete er dann mit einem hinterlistigen Grinsen auf den Lippen. “Schließlich gehört sie mir!” Er wechselte einen kurzen Blick mit Ria, nickte ihr leicht zu und verschwand dann ebenfalls und ließ Ria zurück.

Die Blondine verschränkte beleidigt die Arme. “Jetzt lässt mich sogar mein Cousin alleine stehen”, motzte sie leise. Auch sie setzte sich in Bewegung. Ihr Ziel war Jackins Wohnung, in das sie erst vor kurzem eingezogen war.
 

Gemütlich saß Aya auf ihrer Couch und genoss das Eis, das sie sich aus ihrer Gefriere genommen hatte. Sie wartete gespannt auf Jackins Besuch. Die Schule war schon seit einiger Zeit zu Ende und er war noch nicht angekommen. Ob ihn irgendetwas aufgehalten hatte?

Andererseits war auch Shinri noch nicht da. Wieso nur? Eigentlich hatte sie gedacht, er würde sich nicht aufhalten lassen. Hatte Herr Heulsu etwa den Unterricht überzogen? Das konnte sie sich nicht vorstellen, denn Jackin ließ sich nicht gerne aufhalten, vor allem nicht von Lehrern, und bei Shinri konnte sie sich das auch nicht vorstellen.

Schnell schüttelte sie den Kopf. Wieso dachte sie eigentlich an Shinri? Sie konnte sich doch an seine Abwesenheit erfreuen? Endlich hatte sie Ruhe vor seinen dummen Kommentaren, seinen eigenartigen Worten und diesem Benehmen, das sie seit der ersten Begegnung aufregte. Ja, sie war glücklich ihn nicht sehen zu müssen!

Auf einmal schellte es an der Tür. Sie schrak auf, denn es kam unerwartet. Sie ließ den Fernseher laufen, während sie aufstand und zur Haustür ging. Sie öffnete die Tür sofort, ohne darüber nachzudenken, da sie schließlich Jackin erwartete.

Sie musste sich aber eingestehen, dass dem nicht so war. Ein schwarzhaariger Junge stand ihr gegenüber, den sie versucht hatte aus ihren Gedanken zu verdrängen. Sein düsterer Blick musterte sie. Vor Schreck über den unerwarteten Besuch ließ sie sogar ihr Eis fallen, dass ihr auf ihre bloßen Füße viel. Der Stil traf mitten auf ihre Haut und ein Schmerz durchfuhr sie. Sie trat einige Schritte zurück und fuhr über die schmerzende Stelle ihres Fußes. Als der Schmerz nachließ, erblickte sie Shinri, der ungefragt in ihre Wohnung eingedrungen war.

“Ich hoffe, du hast dir nicht arg weh getan”, meinte er besorgt und kniete sich zu ihr, um den Fuß zu begutachten, der natürlich keine Wunden aufwies. Aya starrte ihn mit offenem Mund an. Wieso machte er sich sorgen? Wieso klang er so entschuldigend? Solch eine Gefühlregung sah sie das erste Mal an ihm. Sie überlegte sich, ob er nicht doch etwas Nettes an sich hatte. Schnell verwarf sie diesen Gedanken.

Sie schimpfte: “Nächstes Mal schlage ich dir die Tür vor der Nase zu.” Doch ihre Worte machten ihn nicht wütend, sondern amüsierten ihn. Er lächelte. “Ich werde eine andere Möglichkeit finden, herein zu kommen.” Aya starrte ihn perplex an. Sofort stand sie auf und stampfte Zorn unterdrückend an ihm vorbei in das Wohnzimmer.

“Wieso bist du wütend?”, erkundigte sich Shinri. Aya wusste, er kannte den Grund. Er wollte sie nur wieder ärgern. Sie stand bereits im Wohnzimmer und wand sich um, die Hände zu Fäuste geballt und an die Hüfte gelegt. “Was sollte das eigentlich heute in der Schule?! Wieso hast du … warum hast du mich …” Sie schaffte es nicht. Sie konnte es nicht aussprechen. Es ärgerte sie immer noch und trotzdem …

Er zeigte wieder sein freches, hinterlistiges Grinsen. “Was denn?”, bohrte er nach und erfreute sich an der Röte, die langsam auf den Wangen seines Gegenübers auftauchten. Das brünette Mädchen versuchte sich zu beherrschen, aber die Wut kroch ihr immer weiter hinauf. Ebenso fühlte sie diese Verlegenheit, die der Peinlichkeit gleich am nächsten stand. Sie sprach ungern über so etwas. “Du … du hast mich geküsst, du Idiot!”, brach es aus ihr heraus, nach längerem Schweigen. Sie hielt es nicht mehr aus. Zornig funkelten ihre Augen ihn an und forderten ihn auf, zu verschwinden.

Shinri schien es endlich einzuleuchten. “Ach! Das meinst du!”, entkam es ihm lachend. “Du ärgerst dich, weil ich nicht weiter gegangen bin? Aber, hätte ich vor den ganzen Leuten …” Er sprach den Gedanken nicht weiter aus und räusperte sich. Aya schoss die Hitze in den Kopf und sie schrie ihn an: “NEIN!!! Hättest du nicht!!!” Schon wieder fühlte sie es. Ihr Herz tanzte in einem schneller werdenden Takt. Sie versuchte den Grund zu finden, doch gab es keinen. Wieso reagierte ihr Körper anders, als ihr Verstand?

“Nein? Okay. Kann ich verstehen. So etwas direkt vor den anderen. Aber, wenn du möchtest, küsse ich dich gerne noch einmal. Dieses Mal werden wir sogar weiter gehen.” Mit einem undurchschaubarem Blick trat Shinri auf Aya zu. Jeden Schritt, den er nach vorne machte, setzte sie zurück. Ihr Herz pochte schneller und lauter und sie wusste nicht, was sie noch dagegen tun sollte.

Die Worte hatten ihr einen Schock versetzt und diese Annäherung ließ sie kaum mehr klar denken. Schnell raffte sie sich, um dem Irrsinn zu entkommen. “Hör auf damit! Ich will nichts von dir, wann verstehst du das endlich? Deine Aktion in der Schule war eine der dümmsten Sorte. Denn den Kuss hatte ich eigentlich für Jackin aufgehoben”, rutschte es ihr heraus. Sie hatte kaum nachgedacht und das gesagt, was sie ihm schon immer sagen wollte. Wäre er ein normaler Junge würde er ab diesem Punkt um drehen und sie in Ruhe lassen. Abschätzend betrachtete sie sein Gesicht, um seine Reaktion heraus zu finden. Seine Miene verfinsterte sich mit einem Mal deutlich.

Shinri trat einen weiteren Schritt auf Aya zu. Das Mädchen hatte damit nicht gerechnet und der düstere Blick jagte ihr Angst ein. Sie versuchte weiter nach hinten zu laufen, als sich ihre eigenen Füße in den Weg stellten und sie hinab flog. Unsanft landete sie auf dem Boden.

Verdammt!, dachte sie sich. Bevor sie aber aufstehen konnte, war es bereits zu spät. Shinri war zu ihr herunter gekommen und beugte sich über sie. Er wirkte, als wäre er ganz von Sinnen. Seine tiefdunklen Augen schienen ihre Seele zu durchbohren und ihr Herz stach bei diesem Anblick schmerzhaft. Sie wollte irgendetwas sagen, doch in diesem Moment legten sich die schmalen Lippen auf ihre. Shinri forderte einen Kuss. Aya spürte, dass ihn die Wut gepackt hatte, denn dieser Kuss war nicht, wie der andere, den sie sich jetzt viel lieber gewünscht hätte. Er war unsanft und schmerzhaft.

Tränen stiegen ihr in die Augen. Wieso? Wieso weinte sie jetzt? Der Kuss war hart, jedoch tat er nicht so sehr weh, wie die Schmerzen in ihrer Seele. Sie fühlte sich, als würde sie von innen aufgefressen werden, sollte er nicht bald aufhören. Sie glaubte sogar, Shinris Wut bis in ihren Körper zu spüren.

Sie schloss ihre Augen. Es war ihr unmöglich, sich gegen ihn oder das Gefühl zur Wehr zu setzten. Ihre Arme, ihre Beine gehorchte ihr nicht mehr. Ihr Herz schlug schon seit der ersten Begegnung in einem ganz anderen Takt. Verzweifelt hoffte sie, dass es endlich ein Ende hatte, als sich eine einzelne Träne aus ihren Augen rann und über die zarte Haut glitt.

Shinri hielt plötzlich inne. Er ließ von ihren Lippen ab, schloss seine Augen und schien sich selbst zu verfluchen. Als er die Augen wieder öffnete, sah er sie schuldbewusst an. Die Finsternis aus dem tiefen Schwarz verschwand und sein Blick wurde sanfter. “Es … tut mir leid”, hauchte er und küsste die Träne auf Ayas Wange weg.

Aya verstand ihre eigene Reaktion nicht. Wieso hatte sie nur angefangen zu weinen? Wieso waren ihr die Tränen gekommen? Lag es an dem unendlichen Schmerz, der in ihrer Seele entfacht worden war, oder an Shinris eigener Wut, die sie bis in ihren eigenen Körper hatte fühlen können? Sie hatte sich in diesem Moment gewünscht, ihn an sich zu drücken und ihn zu besänftigen, zu beruhigen.

Shinri setzte sich auf und Aya folgte seinem Beispiel. Sie gestand sich ein, obwohl der Kuss ihr Tränen entlockt hatte, war sie nicht dazu bereit gewesen ihn von sich zu drücken. Natürlich, ihr Verstand hätte es zu gerne gewagt, aber ihr Herz sagte etwas anderes.

Schnell schüttelte sie ihren Kopf. Was dachte sie denn jetzt schon wieder?! Sie musste sich besinnen und Shinri von sich weg bringen, nicht noch näher an sich heran ziehen!

“Du hättest nicht so wütend werden müssen”, wies sie ihn zurrecht und stand auf. Shinris Blick folgte ihr schweigend. “Ich habe dir schon oft gesagt, dass ich dir nie gehören werde! Ich glaube … ich liebe Jackin!”, entschied sie sofort. Sie erschrak über ihre eigenen Worte. Es war eine Lüge, dass spürte sie sofort. Aber um Shinri los zu werden, musste sie selbst das in Kauf nehmen.

Shinris Reaktion blieb aus. Er betrachtete Aya kühl, bis er dann seinen Blick an ihr vorbei lenkte. Aya horchte ebenfalls auf. Sie hatte etwas vernommen. Schnell wand sie sich in Richtung Tür, als sie für einen kurzen Moment jemanden sah, der sich gleich abwendete und verschwand. Aya stockte das Blut in den Adern. Damit hatte sie nicht gerechnet. Schnell rannte sie hinterher. Hätte sie doch nicht die Tür offen stehen lassen, tadelte sie sich selber. Jetzt hatte Jackin alles mit angehört. Verdammt! Das war viel zu früh!

Schnell verließ sie das Wohnzimmer und durchquerte den Flur. Sie musste es schaffen. Sie musste ihn einholen. Shinri blickte ihr nur stumm hinterher. Er hatte es nicht so eilig, wie sie. An der Tür holte Aya den Jungen bereits ein. “Jackin!”, rief sie seinen Namen und griff nach seinen Arm. Sie wollte mit ihm reden, als sie plötzlich bemerkte, worauf sie getreten war. Es war das Eis, das sie bei Shinris Anblick hatte fallen lassen. Es lag noch immer auf dem Boden und schmolz vor sich hin.

Als ihr Fuß den Kontakt dazu suchte, rutschte sie aus und fiel vornüber, Jackin entgegen. Sie riss ihn mit um. “Ich … ähm …”, entkam es Aya, die nicht wusste, was sie zu dieser Situation sagen sollte. Sie hatte nicht mit seiner plötzlichen Anwesenheit gerechnet, noch weniger mit dem Eis und am allerwenigsten damit, dass sie ihn umwarf und irgendwann auf ihn liegen würde. War ihr die Tollpatschigkeit angeboren, oder konnte man das als Unglück bezeichnen? Wie sollte sie sich jetzt nur rausreden?

Hinter ihnen tauchte Shinri im Flur auf und warf einen missbilligenden Blick auf die beiden am Boden liegenden. Aya kam nicht dazu, irgendetwas zu sagen, geschweige dem zu handeln. Unsanft packte der Zoma Ayas Oberarm und zog sie hinauf zu sich. Das Mädchen betrachtete ihren besten Freund perplex, der den Blick ebenso erwiderte. Sie wussten nicht, was sie dazu noch sagen sollten.

Jackin musste seine Gedanken sortieren. Nie hätte er mit diesen Worten aus Ayas Mund gerechnet. Er wollte sie auch nicht irgendwie verletzten, somit fehlten ihm die Sätze, mit denen er diese Situation hätte retten können.

Shinri, der diesen Anblick nicht mehr ertragen konnte, packte nun auch Jackin unsanft. Er öffnete die Tür und stieß den jungen mit den blond gebleichten Haaren hinaus. Mit dem Schlüssel, der auf der Kommode lag, schloss er die Tür ab. Zur Sicherheit drehte er ihn zweimal herum. Niemand würde hier noch einmal ungefragt auftauchen, das war sicher.

Aya blickte hinauf in Shinris Gesicht und versuchte herauszufinden, welche Gedanken er gerade hegte. Seine Augen funkelten zornig und Aya fuhr erschrocken zusammen. War er wütend auf sie? Oder etwa eifersüchtig? Er sprach jedes Mal davon, sie würde ihm gehören, aber nie von Liebe. Also konnte es nicht sein. Nein! Lieber würde sie sich wirklich in Jackin verlieben, als etwas mit Shinri anzufangen.

Sie befreite sich von seinem Griff und rannte los. Die Richtung war noch unklar, aber ihre Wohnung war nicht die Größte, somit gab es kaum Auswahlmöglichkeiten. Hauptsache, sie entkam Shinri, der ihr immer unheimlicher zu werden schien.

Erfreut darüber, dass sie sich für das Schlafzimmer entschieden hatte, warf sie die Tür hinter sich zu. Da sie keinen Schlüssel bei sich hatte, konnte sie auch nicht abschließen. Das war aber auch egal, schließlich konnte Shinri abgeschlossene Türen im Nu überwinden.

Von hier aus könnte sie entkommen. Genau hier ergab sich für sie die Möglichkeit aus dieser Wohnung zu verschwinden. Sie öffnete das Fenster und klettern heraus. Der Vorhang verdeckte ihr immer wieder die Sicht, aber sie versuchte sich nicht daran zu stören. Auf dem Fensterbrett angekommen, drehte sie sich um und hangelte sich ein Stück hinab. Ihre Füße tasteten nach einem Ast des Baumes, der seit Jahren dort stand. Würde sie diesen nehmen, war es nicht mehr weit nach unten und endlich hätte sie es geschafft sich von Shinri zu befreien. Danach würde sie sofort Jackin aufsuchen und sich bei ihm entschuldigen.

Ihre Hände klammerten sich am Fenstersims fest und ihr Fuß tastete weiterhin nach dem stabilen Ast, den sie so oft schon genommen hatte, um ihre Wohnung zu verlassen. Ihr Fuß fand aber keinen festen Halt. Sie suchte weiter, doch ergebnislos.

Sie raffte sich und zwang sich dazu hinab zu blicken, denn sie wollte nicht fallen, während sie nach dem Ast tastete. Was sie aber erblickte, war eine Baustellte direkt unter ihr. Der Baum war verschwunden. Mit dieser schicksalhaften Wendung hatte sie nicht gerechnet. Obwohl … eigentlich hätte sie es wissen müssen. Dieser Baum war bereits seit einem Monat verschwunden. Sie hatte es in ihrer Eile vergessen. Für diese Dummheit verfluchte sie sich.

Jetzt hatte sie sich ein großes Problem eingehandelt. Dem größten bisher. Denn sie schaffte es nicht, sich aus eigener Kraft hinauf zu ziehen und hinab ging es einige Stockwerke. Ihre Hände konnten nicht lange das Fensterbrett umklammern und eine Hilfe war nicht in Sicht. Die einzige Möglichkeit bestand darin, um Hilfe zu rufen. Das tat sie auch, aber es nützte ihr dann doch nichts. Der Lärm auf der Baustelle und der vorbeifahrenden Autos war zu laut und übertönte ihre Rufe.

Schon bald musste sie sich eingestehen, dass es hoffnungslos war. Aber anstatt vor Panik zu weinen – was andere Leute in dieser Situation gewiss gemacht hätten – begann sie laut zu fluchen. Sie hasste sich selbst für ihre Dummheit. Am liebsten hätte sie sich bestraft, aber diese Situation war wohl Strafe genug.

“Brauchst du vielleicht Hilfe?”, drang auf einmal eine Stimme an Ayas Ohr, als sie schon ihr Leben aufgegeben hatte. Sie registrierte nicht, woher die Stimme kam und vermutete, dass sie sich diese nur einbildete. Gott schien mit ihr zu reden und würde sie trotzdem nie aus dieser misslichen Lage retten.

“Soll ich dir helfen?”, erklang sie wieder und Aya horchte nun wirklich auf. Vielleicht meinte es Gott heute gut mit ihr und würde ihr wirklich helfen. Sie nickte ganz schnell. Sie musste es versuchen. Diese Situation war aussichtslos, wieso sollte sie denn nicht darauf eingehen? “Was bekomme ich dafür?”, erkundigte sich die Stimme nun. Das Mädchen wusste nicht, ob sie darauf antworten sollte. Doch, wenn sie es nicht tat, würde sie hier weiterhin baumeln oder hinabstürzen.

“Alles, was du willst!”, kam es fast schon flehend aus ihrem Munde. Sie hoffte, die Person würde endlich etwas tun, anstatt dumme Fragen zu stellen. Andererseits, war wirklich jemand da? Vielleicht fantasierte sie nur.

Auf einmal spürte sie etwas. Eine kräftige Hand umgriff ihr Handgelenk und zog sie in einer flüssigen Bewegung hinauf. Sie flog durch das Fenster und landete weich in den Armen ihres Retters.

Nachdem sie langsam registrierte, dass sie wirklich gerettet worden war, erkannte sie ihr Zimmer wieder. Sie ahnte bereits, wer sie vor dem Unheil bewahrt hatte. Ihre Augen suchten die ihres Retters und sie erkannte das Gesicht vor ihr. Schwarze, schulterlange Haare, düstere Augen, dunkler als die Nacht jemals sein konnte. Ihr Herz machte einen Salto. Shinri!

Sie war ihm unendlich dankbar für diese Hilfe. Trotzdem konnte sie sich nicht so ausgelassen um seinen Hals werfen, wie sie es vielleicht bei Jackin getan hätte. Etwas in ihr blockierte diese Reaktion, zum Glück. Sie wollte ihm nicht schon wieder falsche Hoffnungen machen. Egal, wie dankbar sie ihm war, sie konnte es immer noch nicht akzeptieren, dass er einfach in ihr Leben getreten war. Ohne ihn wäre sie nie in diese fast aussichtslose Lage gekommen.

In ihrem innerlichen Chaos setzte sich plötzlich ein Satz fest. Die Frage des Zomas. Sie schluckte, da sie sich an das Versprechen erinnerte. Sie fragte bangend: “Was … was willst du dafür, dass du mich gerettet hast?” Sie machte sich auf alles gefasst. Auf jede Reaktion, jedes Wort. Shinri würde sie alles zutrauen.

Umso mehr überraschte sie die eigentliche Antwort, die er mit einem erleichterten Lächeln verkündete. “Nichts. Hauptsache dir geht es gut.” Ihr Herz sprang wieder in die Luft und vollführte eine mehrfache Drehung. Sie musste sich beruhigen, mit den Gedanken an andere Personen, aber es hörte noch immer nicht auf. Sie war ihm so nah. So verdammt nah.

“Wieso hast du dann diese Bedingung gestellt?”, schimpfte sie ihn. Wieso spielte er immer wieder mit ihr? Sie schaffte es einfach nicht, durch seine Schale hindurch zu sehen, um heraus zu finden, was er wirklich dachte.

Ihre Gedanken wurde in dem Augenblick unterbrochen, als Shinri sich nach vorne beugte, ihr entgegen. Sanft schob er mit seiner rechten Hand ihre Haare zur Seite und hauchte einen liebevollen Kuss auf ihre Stirn.

Sofort schwieg Aya, innerlich wie auch äußerlich. Verblüfft sah sie ihn an. Sie verstand ihn einfach nicht und würde es auch nie tun. Ihr Herz rebellierte und lehnte sich auf. Es wollte sie dazu bringen, ihm näher zu kommen, sich von seinen starken Armen umschlingen zu lassen, um für immer bei ihm sein zu können. Ihr Verstand arbeitete dagegen, obwohl sie sich fragte, weswegen er sie dieses Mal nicht auf den Mund, sondern auf die Stirn geküsst hatte.

Einerseits freute sie sich darüber, dann konnte sie sich Hoffnungen machen, er würde endlich mit dem ganzen aufhören, andererseits hatte sie mehr erwartet. Wie hirnrissig sie doch war und welche Zwiespältigkeit plötzlich ans Tageslicht rückte. Sie hätte zu gerne gewusst, welche der beiden Gedanken nun wirklich Recht hatte.

Während Aya noch unschlüssig vor Shinri auf dem Boden saß, entschied sich dieser bereits für die nächste Sache, die sie hinter sich bringen mussten. “Komm, lass uns Mathe lernen”, meinte er, lächelte sanft und schlang bereits seine Arme unter Aya, um sie mit sich hoch zu hieven.

Er trug sie zur Tür, als Aya wieder einmal anfing, sich laut aufzuregen und sich aufzulehnen. Wild zappelte sie mit den Füßen und Händen. Jedes Mittel war ihr recht hier wieder herunter zu kommen. Sie war kein kleines Kind mehr! Niemand hat ihm das Recht gegeben, sie ungefragt durch ihre Wohnung zu tragen. Aber, egal wie sehr sie versuchte dagegen aufzubegehren, es half ihr nichts. Shinri schritt weiter und ignorierte ihre Fluchtversuche.

Kapitel 5

Es herrschte Ruhe in Ayas Wohnung. Shinri hatte sich in das Bad verzogen und stand gerade unter der Dusche, während sie sich um das Essen kümmerte. Das Erlebnis, welches fast ihr Leben gekostet hätte, hatte sie bereits überwunden. Doch hatte sie es noch immer nicht geschafft, Shinri dafür zu danken.

Sie stellte einen Topf voll Wasser auf den Herd, während sie wieder ihren Gedanken nachhing. Wieso hatte Shinri sie nicht richtig geküsst? Und aus welchem Grund hatte er sich nichts gewünscht, wie Aya eigentlich vermutet hätte. Egal, aus welcher Sicht sie es betrachtete, nichts passte zusammen. Jetzt hatte sie einmal geglaubt, sie würde Shinri einigermaßen kennen und dann geschah so etwas.

Etwas verärgert begann sie sich um die Soße für die Spagetti zu kümmern. Sie dachte zurück an Shinris Lächeln. Es hatte sich ganz komisch angefühlt, als er ihr so nah war und sie so angesehen hatte. Sie fühlte sich fast schon … glücklich.

Aya schüttelte ihre Gedanken beiseite, wie sie es oft tat. Sie musste sich immer wieder ins Bewusstsein rufen, was Shinri eigentlich für ein gemeiner, fieser Idiot war, damit sie nicht in eine Nettigkeit verfiel, die dem Zoma Hoffnungen machen würde.

Während sie darauf wartete, dass die Nudeln und die Soße kochten, bereitete sie das Gemüse her. Sie schnitt eine Salatgurke in feine Scheibchen und ließ alle in eine Schüssel wandern. Wieder vertiefte sie sich in Überlegungen, welche nur um den schwarzhaarigen Jungen gingen.

“Autsch!” Aya schreckte je aus ihren Gedanken auf. Sie hatte sich wieder einmal zu tief in ihre Gedanken gleiten lassen und darüber hinaus vollkommen ihre Tätigkeit, die sie eben ausübte, vergessen. Sie hätte sich am liebsten als unglaublich dumm bezeichnet, wenn sie wenigstens Zeit dazu gehabt hätte.

Ungeschickt hatte sie sich in den Finger geschnitten. Das Blut verderbte das Gemüse und quoll immer weiter. Doch sie hatte keine Zeit, ihren Finger zu verbinden, da das Wasser der Nudel bereits kochte und ihre Soße ebenfalls darauf wartete, vom Herd genommen zu werden. Allen Anschein brachte es Unglück, nur über Shinri zu denken, schließlich wäre es nicht passiert, gäbe es ihn nicht.

Sie wusste nicht, mit was sie als erstes anfangen sollte. Die Nudel wollten ins Wasser, dass über den Topf hinaus spritzte und mit einem Zischen auf den Herdplatten landete. Sie konnte schlecht mit blutendem Finger die Nudeln ins Wasser schmeißen, denn sie wusste, dass Blut und Wasser eine geschmacklich ätzende Mischung war. Ein Teil des Salates war jetzt schon vernichtet durch das noch immer tropfende Rot. Und die Soße selbst prasselte auch schon über den Rand des kleinen Topfes hinaus.

Das Mädchen sah verzweifelt aus. Aber eigentlich war es nicht wirklich das Schlimmste, was passieren ihr passieren konnte. Es wäre dem Albtraum näher, wenn genau jetzt auch noch ihr Mitbewohner herein kommen würde. Nein! Sie musste es alleine bewältigen und schon wollte sie den Topf mit der Soße vom Herd nehmen.

“Braucht mein kleines Mädchen etwa Hilfe?”, meldete sich auf einmal eine bekannte Stimme nah hinter ihr. Plötzlich erschienen neben Aya zwei Hände und griffen nach den Nudeln. Geschickt ließ er sie in das kochende Wasser gleiten, bevor er kurz darauf die Hitze um die Hälfte kleiner schaltete. Das brünette Mädchen beobachtete ihn stumm und verfolgte jede seiner Bewegungen. Er handelte geschickt. Als er ihr den kleinen Topf abnahm, wanderte ihr Blick über seine Hände, die Arme hinauf und blieb dann plötzlich hängen. Ein gut gebauter Oberkörper zeigte sich ihr und nur ein weißes Handtuch, das er sich um die Hüfte geschlungen hatte, bedeckte den makellosen Körper.

Aya bemerkte, wie ihr die Hitze hinauf wanderte und ein Rot auf ihre Wangen zauberte. Bei dem Anblick, der sich ihr bot, wand sie schnell den Kopf ab. Wie bescheuert konnte sie nur sein, fluchte sie über sich selber. Das war Shinri, nicht Jackin, oder irgend ein anderer, Shinri! Der ist nicht gut für dich, Aya! Vergiss ihn! Lass ihn in Ruhe und starr ihn, verflixt noch mal, nicht so besessen an!

Nachdem das Essen fürs Erste gerettet worden war, wand sich Shinri nun an Aya. “Du blutest”, bemerkte er, als er die Hand sah. Aya versuchte den Finger zu verstecken und wollte ihm etwas, wie “das sehe ich selber” oder “auch schon bemerkt?!”, an den Kopf werfen, als sein plötzliches Handeln ihr die Stimme ersterben ließ.

Sanft griff er nach ihrer Hand und fuhr vorsichtig mit seiner Zunge über die blutende Stelle. Aya starrte ihn mit offenen Mund an. Es war ein eigenartiges Gefühl, das durch ihren Körper wanderte, und wieder einmal erschien eine schon bekannte Röte. Sie senkte den Blick. Shinri stand ihr im Weg und sie erblickte seinen entblößten Oberkörper direkt vor sich. Sie schloss ihre Augen. Nein! Sie wollte alles abschalten. Sie wollte ihn nicht sehen, ihn nicht spüren. Wieso war er ihr so nah? Wieso raste ihr Herz deswegen so?

Shinri hatte keinen blassen Schimmer, über was Aya sich gerade innerlich Gedanken machte. Er dachte auch nicht wirklich daran, sie deswegen auszufragen. Er wand sich von ihr ab und durchsuchte eine der Schubladen. Das Mädchen blieb stumm stehen und sah ihm zu. Als er sich von ihr gelöst hatte, wünschte sie sich, er würde wieder zurück kommen und ihr wieder so nahe sein. Doch diesen Wunsch schlug sie beiseite, wie schon viele andere zuvor auch. Dann kam er wieder zurück und sie merkte, wie sich wieder ihr Herz beschleunigte und in ihr das Verlangen aufkam, ihn nicht mehr von sich gehen zu lassen.

Während Shinri ein Pflaster auf die wunde Stelle klebte, bewunderte Aya die langen, gut gepflegten Finger des Zomas, die geschickt ihr Werk vollbrachten, das sie eben angefangen hatten. Schnell unterbrach sie sich aber in ihren eigenen Gedankengängen, die langsam immer mehr begannen verrückt zu spielen. Sie musste endlich aufhören, über Shinri zu grübeln. Schnell wand sie sich von ihm ab und versuchte ihr Hirn in eine andere Richtung zu lenken. In eine, in der nirgends ein Shinri von Bedeutung war.

“Danke”, nuschelte sie leise, wagte es aber nicht, ihm noch einmal in die Augen zu sehen. Um nicht wieder in eine derartige Lage gebracht zu werden, verschwand sie schnell aus der Küche und trottete langsam in ihr Wohnzimmer. Der Junge sah ihr schweigend hinterer, wand sich aber an den Herd zu und ließ sie wortlos gehen.

Dankbar für die Zeit alleine, ließ sich Aya auf die Couch fallen. Doch in diesen ruhigen Minuten hatte sie genauso wenig Frieden. Sofort begann ihr Kopf erneut zu rattern und wieder einmal ging es nur um eine bestimmte Person.

Was tat sie hier überhaupt? Sie wusste, sie hätte Shinri schon längst rausschmeißen müssen. Und jetzt? Sie hätte sich vorhin beinahe unabsichtlich selber umgebracht und musste von Glück reden, dass Shinri noch hier war. Natürlich wäre sie nie in solch eine Lage gekommen, wäre der Zoma nicht in ihr Leben getreten. Was hatte er hier überhaupt zu suchen? Wieso verschwand er nicht einfach wieder?! Seit er da war, ging ihr Leben einen ungewohnten Weg und er verwirrte sie mit jeder Minute immer mehr.

Sie wusste nicht, was sie von ihm halten sollte, was er überhaupt von ihr wollte. Sah

er in ihr eine Art Sklave? Eins stand auf jeden Fall fest, sie würde nie einer werden. Auch hatte sie keine Lust, mit ihm auf irgendeiner Weise zusammen zu kommen und doch konnte sie ihren Blick nicht abwenden und ihr Herzrasen beruhigen. Diese ansteigende Wärme, die sie jedes Mal in seiner Nähe verspürte, machte ihr Panik. Sie wollte, dass es aufhört, nur wurde ihr dieser Wunsch nicht erhört.

Sie stand kurz auf und nahm ihr Handy, das auf der Kommode im Gang ruhte. Danach setzte sie sich wieder auf das weiche Polster und tippte einige Worte auf das kleine Gerät. “Bist du sauer auf mich?”

Dies schickte sie dann ab und wartete auf eine Antwort, die einige Zeit lang auf sich warten ließ. Shinri blieb weiterhin fern vom Wohnzimmer. Er würde aber schon bald mit dem Kochen fertig sein. Denn ein verheißender Geruch juckte ihr in der Nase und bat sie, in die Küche zu kommen. Sie widerstand dem Gefühl.

Als sie dann eine Antwort erhielt, drückte sie eilig auf eine Taste, um somit die SMS aufzurufen. “Hör auf Jack zu belästigen. Hat keine Lust auf dich. Doofe Kuh. Viel Vergnügen mit Shinri. Jack ist nämlich mein!”

Eine Wut durchfuhr Aya, unbändiger als jeder Stier. Wie konnte es diese Person nur wagen ihr solch eine SMS zu schicken und dann auch noch von Jackins Handy aus! Ihr war klar, dass die Nachricht nie und nimmer von Jackin kam. Viel mehr war seine Stalkerin schuld. Ihr wurde in diesem Moment ganz anders und am liebsten wäre die Brünette ausgetickt und hätte einen Besuch bei Jackin unternommen, ohne sein Wissen.

Um den Zorn auf Ria etwas Luft zu lassen, warf Aya ihr Handy von sich. Zu gerne hätte sie ihre Wut damit in alle Winde verstreut, doch eine gewisse Person find das kleine Telefon geschickt auf. Die Wut vermehrte sich weiter. Trotzdem herrschte ein Schweigen, während sie ihn zornig anstarrte.

Shinri zeigte ihr ein freundliches Lächeln. Er schien keinen Ton zu ihrem Handy sagen zu wollen, dass er noch immer festhielt. “Essen ist fertig. Kommst du?” Als er diese Frage stellte, wusste Aya nicht zu antworten. Er lächelte unschuldig und die Hintergedanken, die sonst immer in seinem Kopf herumschwirrten, hatten sich verflüchtigt. Diese Art an ihm bekam sie das erste Mal zu Gesicht. Ihr gefiel es, Shinris Freundlichkeit zu erleben, sie gestand es sich aber nicht ein.

Schnell nickte sie ihm zu und stand schon auf. Wortlos durchquerten sie den kleinen Flur und betraten kurz darauf die Küche, aus der ein wohlriechender und verlockender Duft schwebte. Ihr Magen zog sich zusammen. Nun spürte auch sie, dass das Essen nicht fehl am Platz war.

Hungrig setzte sie sich an den kleinen, bereits gedeckten Tisch. Ihr neuer Mitbewohner nahm ihr gegenüber Platz. Im Schweigen vertieft, begannen sie das Mahl, auf das sich Aya freute - denn es roch verdammt köstlich. Dabei entging ihr aber, dass Shinri noch immer ihr Handy bei sich trug.

Genüsslich schluckte sie den ersten Bissen herunter und freute sie sich innerlich, wie noch nie. Es war einfach köstlich. So gut hatte sie seit langem nicht mehr gegessen, da sie seit Jahren für sich selber kochte. Wo hatte Shinri nur so gut kochen gelernt? Das hätte sie ihm nie zugetraut.

Glücklich und zufrieden stellte sie den Teller beiseite. Sie genoss den Nachgeschmack, der sich an ihren Gaumen heftete und hoffte, er würde nie mehr gehen. Shinri betrachtete sie still. Ein leises Lächeln lag auf seinen Lippen. Sie kannten sich nicht lange, doch Aya hatte noch nie zufriedener ausgesehen, als in diesem Augenblick. Vielleicht hatte sie sogar ganz vergessen, dass er sich ihr direkt gegenüber befand. Er schreckte sie nur zu gerne aus ihren nie endenden Gedankengängen, als er sie hoffnungsvoll fragte: “Und, hat es dir geschmeckt?”

Aya öffnete ihre Augen und schon sah sie sich wieder in den Tiefen seiner schwarzen Augen versunken. Noch immer fragte sie sich, weswegen diese solch eine außergewöhnliche Farbe besaßen, doch traute sie sich nicht, ihn direkt darauf anzusprechen. Vielleicht hatte dies einen uninteressanten Grund und er trug nur schwarze Kontaktlinsen? Dennoch vermag sie mit dieser Frage nicht die Tatsache zu verleugnen, dass ihr das Schwarz immer mehr gefiel, je länger sie sich darin vertiefte. Es schien, als fiele sie in einen tiefen Abgrund, der trotz der unheimlichen Dunkelheit, einen warmen Schutz bot.

Glücklich strahlend, wie er es nicht von ihr gewohnt war, stand sie auf. Ein “Ja” war das einzige Wort, das sie heraus brachte, und es reichte Shinri vollkommen. Denn obwohl es mit Kurzheit nicht übertroffen werden konnte, zeugte es von wahrer Zufriedenheit.

In diesem Moment wusste Shinri, Aya war glücklich. Ihr ging es in jenem Augenblick besser, als je zuvor. Er wusste, sein Handeln könnte ihre Gefühle sofort wieder ändern, trotzdem schaffte er es nicht, sich unter Kontrolle zu halten. Fast schon automatisch griff er ihrem Handgelenk. Sie war gerade dabei gewesen, ihren Teller zu nehmen, doch bevor sie sich versah, saß sie auf Shinris Schoß, seine Arme fest und doch anschmiegsam um ihren zierlichen Körper geschlungen.

Keine Sekunde später fand Ayas Herz wieder diesen schnellen, unendlich lauten Takt wieder, den sie immer wieder versuchte zu verdrängen.

“Was soll das?!”, schimpfte sie ihn. Ihre Zufriedenheit verschwand mit einem Mal und eine Peinlichkeit machte sich stattdessen in ihr breit. Sie hätte es wissen müssen!, tadelte sie sich selbst. Jetzt hatte sie sich ihm gegenüber freundlich verhalten und er machte sich sofort Hoffnungen.

Shinri wusste, dass Aya wütend war, aber es war ihm egal. Sein Kopf ruhte auf ihrer Schulter und er atmetet mit geschlossenen Augen ihren lieblichen Duft ein. Das Leben könnte so schön sein. Er genoss den Moment in ihrer nähe. Mit den Lippen berührte er ihre weichen Haare und unter seinem Arm spürte er ihren Herzschlag, der rasend schnell ging. Mit einem Mal wurde ihm alles klar und es machte ihn glücklicher, wie nie zuvor.

Ayas Gezeter ignorierend, hauchte er ihr einen zarten Kuss auf den Nacken und stand dann auf. Dass seine plötzliche Sanftheit sie erschütterte, entging ihm nicht, aber er wollte im Moment nichts dazu sagen. Am besten wäre es, wenn er schwieg, ansonsten würde er alles nur wieder kaputt machen.

“Ich gehe mich umziehen”, erklärte er nur kurz und wand Aya den Rücken zu. Das sein eigenes Herz genauso laut schlug, wie Ayas, konnte nur er alleine hören. Er brauchte dringend etwas Zeit, um über alles nachzudenken. Er brauchte Aya und er wollte sie auch, aber tat er genau das Richtige?

Aya starrte Shinri verblüfft hinterher. Sie fragte sich, was mit ihm los sei. Es war das erste Mal, dass er nichts auf ihre Worte entgegnete. Wieso war er auf einmal so sanft, wie ein Lamm, wenn er ihr doch immer vorkam, wie der böse Wolf?

Er verwirrte sie immer mehr. Sie wusste fast nichts von ihm und wahrscheinlich würde das für immer so bleiben. Aber er machte sie doch irgendwie neugierig und sie fragte sich wieder einmal, was sie beide eigentlich verband. Lag es wirklich nur an dem Zeichen? War er nur aus diesem Grund hier? Wer konnte ihr das alles erklären? Sie hätte zu gerne die Antworten auf ihre Fragen gewusst, aber es gab niemanden, der ihr das erklären wollte. Nicht einmal Shinri.

Um sich abzulenken, beschloss sie etwas anderes zu tun. Schließlich hatte sie noch ein Missverständnis aufzuklären.
 

Jackin lag rücklings auf dem Boden, seine Arme hinter seinem Kopf verschränkt, und starrte die Decke schweigend an. In seinem Kopf hingen noch immer Ayas Worte. Er suchte eine Antwort auf die Frage, ob Aya dies wirklich ernst gemeint hatte? Als er sich das fragte kam ihm auch wieder Shinri in den Sinn und sein Magen zog sich unwillkürlich zusammen. Wäre er ihnen nicht in die Quere gekommen, hätten sie sich aussprechen können. Zu gerne wüsste er jetzt, was dieser Zomas überhaupt wollte. Immer wieder verärgerte er Aya und gab eigenartige Sprüche zum Besten.

Aber egal, wie sehr er sich in solche Leute hineinversetzten wollte, es klappte nicht. Dieser Shinri war ihm zu wider, ein reines Geheimnis und ein fieser Kerl obendrein. Nur hatte Aya bis jetzt nicht einen ernsthaften Schritt unternommen, sich von ihm zu befreien. Vielleicht sollte er einfach die Polizei verständigen?

Während Jackin im Wohnzimmer lag, saß Ria in der Küche und schnitt Gemüse klein. Sie hatte sich, ebenso wie Shinri bei Aya, in Jackins Haus eingenistet. Natürlich hatte sie - im Gegensatz zu ihrem Cousin - gefragt. Dennoch kam es häufig vor, dass der Junge sie kaum beachtete und vor sich hin träumte, worüber sie sich mehr als aufregte. Wie sollte sie so jemals ein Gespräch mit ihm anfangen? Ein richtiges Gespräch?

Dennoch. Egal, wie sehr er sie ignorierte, sie würde diese Wohnung nicht verlassen. Auf Schritt und Tritt verfolgte sie den Wohnungsbesitzer und wartete auf eine Gelegenheit, die sich ihr vielleicht irgendwann bieten würde, damit sie ihm zeigen konnte, wie viel er ihr bedeutete.

Heute steckte Jackin noch tiefer in seinen Gedanken, als er es sonst immer tat. Sein Gesicht zog etwas betrübtes mit sich und am liebsten hätte sie ihn mit einem Kuss aufgeheitert. Sie traute sich aber nicht. Wäre es wirklich etwas aufheiterndes für ihn, wenn sie ihn plötzlich so überfiel. Wäre Shinri an ihrer Stelle gewesen und Aya Jackin, Shinri hätte nie gezögert. Aber sie hatte keine Lust, den Hass, den Jackin aufstaute, auf sich zu ziehen. Sie musste mit allen Mittel versuchen sein Herz zu gewinnen, ohne ihn auf irgendeiner Weise wütend zu machen, oder gar zu verletzten.

Sie grübelte aber nicht nur über sich und Jackin, sondern sorgte sich immer noch um Shinri. Erst kürzlich hatte Aya Jackin eine SMS geschrieben, dabei sollte sie den Jungen endlich in Frieden lassen. Sie hatte Shinri an ihrer Seite, also hatte sie kein Recht, anderen jungen Männern zu schreiben. Das war unfair gegenüber Shinri. Denn ihr Cousin würde es nie wagen, mit einem anderen Mädchen etwas zu unternehmen - Verwandte ausgeschlossen.

Auf einmal wurde sie aus ihren Grübeleien gerissen. Ein leises Lied drang an ihre Ohren. Ein schwarzes Handy lag auf dem Tisch und vibrierte in dem Takt zur Musik. Jemand schien Jackin anrufen zu wollen. Ohne den Besitzer zu fragen, nahm sie das Telefon in die Hand und meldete sich: “Ja, hier bei Jack?”

Schon erklang eine ihr bekannte Stimme, die Ria wütend anfauchte: “Hey! Was machst du bitte schön an Jacks Handy?! Gibt es ihm sofort zurück, du blöde Kuh!!” Ria konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. Mit ihr hatte sie bereits gerechnet und es war eine wundervolle Gelegenheit, Aya zu zeigen, mit wem sie es eigentlich zu tun hatte. Niemand konnte ihr etwas befehlen, außer es war Jackin selbst. “Was denn? Ich darf doch noch an das Handy meines Freundes gehen. Jack wird schon nicht dagegen sein”, lachte Ria schelmisch.

Sofort zeigte sich die Wirkung ihrer Worte, denn Ayas Zorn wurde noch gewaltiger. Zu gerne wäre das andere Mädchen in diesem Moment am Ende der Leitung erschienen und damit Ria gegenüber gestanden, die sie dermaßen wütend machte, dass es schon an Wahnsinn grenzte.

“Ria, gib mir das Handy”, ermahnte eine bekannte Stimme sie und ihr Grinsen verstummte sogleich. Sie zuckte schuldbewusst zusammen. Oh nein, musste er denn gerade jetzt kommen? Sie seufzte und gab ihm sein Handy zurück. Nun sprach Jackin mit der Person an der anderen Leitung: “Hi, Aya! Ich wollte mit dir reden.”

“Jack! Ja, ich- Hey!! Shinri, lass das!”, schimpfte Aya verzweifelt. Am anderen Ende der Leitung war soeben Shinri in das Wohnzimmer gekommen, nur in Shorts gekleidet. Er hatte seinen Arm um Ayas Schulter gelegt und ihr geschickt das Handy abgenommen. Nun war er es, der sich Jackin zu wendete. “Guten Tag, Jackin.” Selbst der blonde Junge hörte in diesem Augenblick, dass Shinri ein fieses Grinsen aufgelegt hatte. Er unterdrückte die Wut, die in ihm hoch kroch. Wieso mussten sie die ganze Zeit unterbrochen werden? Hatten sie, als beste Freunde, kein Recht mehr, miteinander zu sprechen?!

“Ich würde dir raten, dass du uns lieber nie wieder störst”, schallte Shinris Stimme in Jackins Ohr. Kurz darauf quietschte Aya auf und wies ihm mit einem “Lass das!” zurecht. Shinri hatte sich nicht beherrschen können und ihr einen sanften Kuss auf ihren entblößten Hals gehaucht. Er verabschiedete sich mit einem “Sie gehört mir” von Jackin und schon legte er auf und ließ den Jungen in seiner Verzweiflung alleine zurück.

Immer wieder erklang das Besetztzeichen, während Jackin geistesabwesend nachdachte. Er hatte keinen Plan mehr. Wie sollte er vorgehen? Wie konnte er Aya helfen? Sie waren die besten Freunde und hatten keine Chance miteinander zu reden. Warum nervten diese beiden Zomas nur so sehr? Wieso?!

Ria betrachtete Jackin schweigend. Zu gerne hätte sie in seine Gedanken gesehen, ihn aufgemuntert. Wieso war er so verbissen darauf, Aya auf irgendeiner Weise zu erreichen. Shinri war genau der Richtige für das Mädchen, nur schien das noch niemand bemerkt zu haben. Es war an der Zeit ihn abzulenken.

Sanft schlangen sich ihre zarten Arme fast schon liebevoll um Jackins Taille. Ihr Kopf ruhte auf seinem Rücken und sie murmelte bittend, fast flehend: “Vergiss sie doch endlich, bitte. So können wir nie glücklich werden, wenn sie immer wieder zwischen uns steht.” Jackins Blick war geradeaus gerichtet und seine Gedanken schwebten noch immer bei Aya. “Jack, du darfst nie vergessen … Du gehörst doch zu mir.”

Vorsichtig schob sie das graue Shirt des Blonden ein Stück nach oben. Ihre Hand streifte nur zu gerne über seine weiche Haut. Ihre Finger legten sich auf eine Stelle, rechts neben seinen Bauchnabel, und fuhren immer wieder über das Zeichen, das sich dort versteckte. Die Buchstaben J und R mit kantigen Linien, die von der Mitte verschlungen wurden.

Jackin sah einen kurzen Moment hinab und musterte das ungewöhnliche Mal. Vorsichtig entwand er sich dann den Armen. “Ich gehe spazieren”, meinte er, verließ die Küche und zog sich seine Jacke und Schuhe an, bevor er in die Dunkelheit trat. Ria folgte ihm nicht. Sie blickte ihm nur schweigend hinterher. Betrübt lief sie dann in das Schlafzimmer und kam erst am Fenster zum stehen, von dort aus sie einen weiteren Blick auf Jackin werfen konnte, der schon bald in den Schatten der Bäume verschwand. Wieso mussten sie sich nur kennen? Aya und Jackin. Wieso mussten Shinris und Rias Gegenstücke sich nur so verdammt gut kennen? Es schmerzte unaufhörlich. Es brannte und stach.

Rias Hand legte sich auf die Stelle, an dem sie dasselbe Zeichen trug, wie auch Jackin. Es tat höllisch weh und es war keine Rettung in Sicht.

Kapitel 6

Sonntag Nachmittag saß Aya auf dem Boden ihres Schlafzimmers, ein kleiner Koffer lag auf ihrem Bett und sie durchsuchte ihre Kleiderkommode. Sie wühlte einige Kleidungen hervor, die sie die nächsten Tage benötigen konnte und steckte diese dann sorgfältig in den geräumigen Koffer.

Nein, sie hatte nicht vor hier auszuziehen, auch wenn es eine wundervolle Idee gewesen wäre. Obwohl, Shinri diese Wohnung alleine zu überlassen, während ihre Eltern weiterhin für ihn die Miete zahlten, das war auch nicht der Sinn der Sache. Wenn, dann müsste der Zoma von hier verschwinden! Aber für solch einen Anlass packte sie gewiss keine Koffer.

Der eigentliche Grund bestand darin, dass ihre Klasse beschlossen hatte einen kleinen Ausflug zu den Heißen Quellen zu unternehmen. Drei Tage, also zwei Übernachtungen, waren geplant. Für diese Zeitspanne packte sie alles ein, was sie vielleicht benötigen konnte. Einige Kleidungen für die Tage, Handtücher für die Quelle, ihre Seifen und Shampoos und restliche Kleinigkeiten.

Sie hoffte, dass sie Zeit finden würde, endlich mit Jackin Klartext reden zu können, ohne die Zomas im Genick zu haben, doch beiden ließen es sich nicht nehmen, ihre Klasse auf diesem Ausflug zu begleiten. Aya ärgerte sich jetzt bereits darüber, zeigte ihre Wut aber nicht ganz so offen, wie sonst immer. Die Tatsache, schon bald in den Heißen Quellen zu schwimmen, erfüllte sie mit großer Freude.

“Fertig”, meinte sie, als sie in ihr Wohnzimmer trat, in dem sich Shinri befand. Er war in den Hausaufgaben vertieft, die sie eigentlich auch machen müsste. Das brünette Mädchen nahm ihm Gegenüber auf dem Stuhl platz und sah ihm einige Zeit lang zu, wie sein Finger den Füller geschmeidig umschlossen, seine Hand elegant über das Heft glitt und irgendwelche Zahlen hinterließen. Erst, als er aufblickte, erhob sie wieder ihre Stimme: “Willst du eigentlich nichts einpacken?” Eine berechtigte Frage, fand sie, dennoch bekam sie wie immer keine normale Antwort. “Wieso, du kommst doch mit zu den Heißen Quellen, also hab ich alles, was ich brauche.”

Aya versuchte ihre aufkommende Verlegenheit zu überspielen, verschränkte ihre Arme und entgegnete ihm: “Was soll das denn schon wieder? So meinte ich das eigentlich nicht!” Normalerweise war es ein wundervoller Satz und jedes Mädchen hätte sich gefreut, wenn ihr Freund so etwas von sich gab, nur war Shinri nicht Ayas Freund. Sie war sein Eigentum, mehr auch nicht. Obwohl dieser Gedanke alleine sie bereits anwiderte.

Über diesen innerlichen Hass hinaus drängte sich nun eine Frage nach Vorne. Sie hätte zu gerne gewusst, wie er das immer tat. Jeden Tag trug er etwas anderes. Er war gut gepflegt und sie konnte nichts gegen sein Aussehen sagen, geschweige denn gegen den Kleidungsstil. Deswegen verwirrte es sie ungemein, dass sie noch nie einen Koffer entdeckt hatte, oder etwas Ähnliches. Woher bekam er diese ganzen Kleidungen? Ging er jedes Mal in der Früh extra Einkaufen und schmiss den Rest weg, oder was tat er?

Sie konnte sich nichts zusammenreimen, denn sie wusste fast nichts über den schwarzhaarigen Zoma. Er war ein lebendes Geheimnis. Sie hatte das Bedürfnis, mehr über ihn zu erfahren, trotzdem schwieg sie sich dem gegenüber aus. Schließlich hatte sie noch immer keine Lust, dass er sich irgendwelche Hoffnungen machte, wie sie es jedes Mal befürchtete.

Eine weitere Zeit lang beobachtete sie ihn schweigend. Er gab ihr keine weitere Antwort mehr und konzentrierte sich auf seine Hausaufgaben. Sie hätte ihm Stunden lang zusehen können, wollte ihn damit aber nicht auf dumme Gedanken bringen, also stand sie kurzerhand auf. Sollte er doch machen, was ihm beliebte.

Sie ging in ihr Schlafzimmer. Die Dunkelheit am Himmel zeigte ihr, dass die Nacht bereits angebrochen war. Sie wagte es nicht, noch einen Blick auf ihren Wecker zu verschwenden und ließ sich erschöpft auf das Bett fallen. Dafür, dass sie die Tage keine Schule hatte, fühlte sie sich ausgelaugter, denn je.

Shinri beanspruchte jede einzelne Nervenzelle, so sehr ärgerte sie sich jeden Tag. Nun war es aber Zeit, sich etwas Erholung zu gönnen. Müde schloss sie ihre Augen und kaum tat sie das, schlief sie auch schon ein. Sie hatte sich nicht umgezogen, sich nicht zugedeckt und auch die Tür stand einen Spalt weit offen, trotzdem hielt sie nichts auf in diesen süßen Schlummer zu fallen.
 

Shinri war schon bald mit seinen Hausaufgaben fertig und hob seinen Blick. Er hatte sich Samstag so sehr mit Aya beschäftigt, dass er darüber hinaus die Schule komplett vergessen hatte. Aya war den gestrigen Tag spazieren gegangen - wahrscheinlich um ihm zu entkommen, aber er hatte es sich nicht nehmen lassen, ihr zu folgen.

Wie er vermutet hatte, war sie auf den Weg zu Jackins Wohnung gewesen, aber der Junge war nicht Zuhause, also musste Aya wieder gehen - natürlich mit Shinri im Schlepptau. Im Park hatte der Zoma dann Ria und Jackin gesehen. Seine Cousine war wieder einmal an dem Arm des Jungen gehangen. Geschickt hatte er Aya abgelenkt, um die beiden nicht aufeinander treffen zu lassen. Leider hatte der Tag dann damit geendet, dass Aya in einen Teich geflogen war und Shinri sie - er tat es verdammt gerne - nach Hause tragen durfte. Sie hatte gezappelt, wie ein Fisch auf dem Trockenen, hatte aber keine Chance gegen den jungen Mann gehabt.

Dieser Tag lag leider bereits hinter ihnen. Dafür hatte er diesen Tag keine Zeit für sie gehabt, da er die Hausaufgaben machen musste. Eigentlich müsste er sich nicht so sehr in der Schule anstrengen, aber er wollte für Aya ein gutes Leben in dieser Welt, also musste er sich gute Noten ergattern. Zum Glück war der Unterricht der Menschen recht einfach zu verstehen - weshalb er sich fragte, warum Aya so viele Probleme damit hatte. Doch es störte ihn nicht, denn dann konnte er Zeit mit ihr verbringen, während er versuchte, ihr die ganzen Sachen zu erklären.

Zufrieden mit sich, steckte er die Hausaufgaben wieder in seinen kleinen Rucksack. Die nächsten Tage konnte er sich ganz auf Aya konzentrieren. Dass sich das Mädchen auf die Heißen Quellen freute, war ihm nicht entgangen. Vielleicht half ihm diese Freude weiter, um sie irgendwie zu überzeugen. Schließlich glaubte sie ihm noch immer nicht, was das Zeichen anbelangte. Leider konnte er ihr aber nichts genaueres erzählen, da es ihr Leben kosten konnte.

Ein kurzer Blick auf die Wohnzimmeruhr sagte ihm, dass es bereits auf Mitternacht zu ging. Er sah sich um, nach Aya suchend. Wahrscheinlich lag sie bereits im Bett, dachte er sich und erhob sich leise.

Die Lichter in der Wohnung waren fast alle aus, nur das Wohnzimmer bildete eine Ausnahme. Er tippte auf einen Lichtschalter, direkt neben der Tür, und der Flur erhellte sich sogleich. Leise schlimm er durch den Gang. Er blieb vor einer Tür stehen, die ihn fast schon magisch angezogen hatte. Keinen Moment musste er zögern, um zu wissen, dass sie hier war. Vorsichtig lugte er durch den offenen Spalt, durch den Licht in das düstere Zimmer fiel und Ayas schlafende Gestalt beschien. Sie schlief bereits.

Fast schon unmenschlich leise öffnete er die Tür und betrat das Schlafzimmer. Einige Zeit lang stand er still neben dem Bett. Seine dunklen Augen waren auf die schlummernde Person gerichtet und er musste sich eingestehen, dass sie verdammt süß aussah, wenn sie schlief. Unendlich süß und bezaubernd. Nicht so kratzbürstig, wie sie in Wirklichkeit war.

Sanft strich er über ihre Haare und genoss dieses Gefühl des Glückes. Unter der Berührung rührte sich das Mädchen und wand sich ihm zu. Ihre Augen blieben dennoch geschlossen. Sie schlief weiter, tief und fest, doch spürte sie seine Gegenwart, wie auch er ihre spürte. Es war etwas Tieferes, was sie beide verband. Nur wollte das Mädchen es einfach nicht eingestehen.

Shinri betrachtete das Bild. Die zersausten Haare, das lieblich schlafende Gesicht. Er nahm vorsichtig die Decke in die Hand, die bereits halb vom Bett unten lag, und umhüllte Aya damit. Dann beugte er sich ein Stück herab und hauchte einen liebevollen Kuss auf ihre Stirn. Erst danach wand er sich ab und war im Begriff zu gehen. Nur noch ein letztes Mal sah er zurück. Heute konnte das Fenster geschlossen bleiben, denn heute würde sie gut schlafen.

Leise trat er wieder nach draußen und schloss die Tür hinter sich. Er selbst legte sich auf der Couch nieder, um sich ebenfalls Ruhe zu gönnen. Es warteten stressige Tage auf ihn, die ihm vielleicht die Chance seines Lebens eröffneten.
 

Am nächsten Morgen, es war Montag und die Schule begann wieder, stand Aya bereits früh auf den Beinen. Seit sie Shinri kannte, hatte sie keinen Moment mehr verschlafen und irgendwie war sie auch froh drum. Hätte sie an dem heutigen Tage verschlafen, könnte sie die Reise zu den Quellen vergessen.

Zu ihrer Überraschung schlief Shinri noch, als sie schon das Frühstück herrichtete. Ihr Koffer war ebenfalls gepackt und nur noch wenige Stunden trennten sich von den Heißen Quellen. “Aufstehen”, trällerte sie durch das Wohnzimmer, während sie an Shinri vorbei lief, zwischen Couch und Wohnzimmertisch, um an das Fenster zu gelangen.

Auf einmal ergriff etwas ihr Bein und zog sie hinab. Sie verlor den Halt und landete direkt neben Shinri. Er schlag seine Arme um ihren Körper und drückte sie fest an sich. “Morgen”, murmelte er verschlafen. Sanft senkte er seinen Kopf hinab, die Augen noch immer fest verschlossen, und hauchte einen zarten Kuss auf Ayas Nacken. Eine Gänsehaut wanderte über den Körper des brünetten Mädchens. Sofort fing sie mit Fluchtversuchen an und schimpfte ihn laut. Wie immer beschleunigte sich ihr Herzschlag und die Röte ließ auch nicht lange auf sich warten.

Nicht lange und Shinri löste die Umklammerung. Aya sah ihn etwas verblüfft an. Damit hatte sie nicht gerechnet. Er hatte sie los gelassen, ohne irgendwelche dummen Kommentare von sich zu geben.

Schnell ging sie vor in Richtung Küche. Sie wollte ihm nicht noch eine Gelegenheit geben. Shinri setzte sich auf und streckte sich gähnend. Er versuchte, die Müdigkeit zu verdrängen, dann folgte er Aya. Sie setzten sich auf ihre Plätze und begannen mit dem Frühstück. Ayas Blick wanderte immer wieder in Shinris Richtung. Ihr Herz sprang noch immer Saltos, obwohl die Umarmung bereits aufgehört hatte. Sie berührten sich nicht einmal, dennoch stoppte diese Achterbahn nicht. Es war, als berührte er sie innerlich, tief in ihrer Seele.

Plötzlich trafen sich ihre Blicke. Sie spürte die aufsteigende Hitze in sich. Ihr war es peinlich, dabei erwischt worden zu sein, wie sie Shinri anstarrte. Er dachte jetzt bestimmt wieder falsch von ihr. Sie musste damit aufhören und unterbrach den Blickkontakt.

“Schmeckt es dir nicht?”, erklang dann Shinris Stimme nah an ihrem Ohr und wieder sprang ihr Herz einige Male um sich selbst. Der Junge hatte sich über den Tisch gebeugt und sah ihr tief in die braunen Augen. “Oder hast du keinen Appetit?” Aya war zu sehr damit beschäftigt gewesen, Shinri anzustarren und hatte darüber hinaus ganz vergessen mit dem Frühstücken anzufangen. Die beschmierten Brötchen lagen noch immer unberührt auf ihren Teller.

Schnell schüttelte sie den Kopf und fauchte ihn an: “Geht dich nichts an und jetzt setz dich wieder richtig hin!” Es machte sie nervös, ihn so nah bei sich zu haben. Doch zum Glück lehnte Shinri sich gleich darauf wieder zurück und ließ ihr ihren Platz. Leider konnte sie seine Blicke nicht abstellen. Während sie sich eines der beiden Brötchen schnappte, ruhten seine schwarzen Augen auf ihr.

Nach wenigen Stunden - Aya hatte ihr Essen so schnell es ging herunter geschlungen, um Shinri einen schlechten Eindruck zu übermitteln - betraten sie den Pausenhof ihrer Schule, in dem schon einige der Schüler warteten. Herr Heulsu selbst fehlte noch. Es war zehn vor neun und sie fuhren erst viertel nach ab. Also hatten noch genügend Zeit.

Shinri trug Ayas Koffer mit sich. Er hatte darauf bestanden und alle Versuche, den Koffer zurück zu bekommen, waren fehlgeschlagen. Aus diesem Grund hatte sie das aufgegeben und lief beleidigt neben ihm her. Als ob sie Hilfe nötig hätte!

Kurz nach ihnen kamen auch Jackin und Ria an. Das Mädchen hatte seltsamer Weise, genauso wie Shinri, kein Gepäck bei sich. Die Verwandten - Aya wusste noch immer nicht, wie sie miteinander verwandt waren - grüßten sich freundlich. Doch Ria schien immer noch gegen Aya zu sein und ignorierte sie beflissen. Aya ließ sich damit nicht ärgern, denn sie freute sich darüber, endlich ihre Ruhe zu haben. Zumindest von Rias Seiten. Shinri würde sie wohl nie ignorieren. Auch jetzt stand er wieder direkt neben ihr und zu ihrer Ärgernis musterte er Jackin besonders düster. Was hatte er gegen den liebevollen Jungen?

Jackin grüßte Aya mit Worten, doch leider ließen die beiden Zomas ihnen keine Möglichkeit, sich zu umarmen, wie sie es sonst immer taten. Ihre missbilligen Blicke sagten Aya, dass beide etwas dagegen hatten. Ria schien zu glauben, dass sie zu Jackin gehörte. War es vielleicht genauso, wie bei ihr und Shinri? Das wäre zu absurd!

“Wie geht es dir, Aya?”, wollte Jackin wissen, die Blicke nicht beachtend. Das gefragte Mädchen lächelte süß. Immerhin sprach er wieder mit ihr, obwohl sie etwas so dämliches gesagt hatte. Natürlich wollte sie ihm gerne antworten und am besten auch gleich das Missverständnis klären, aber Shinri machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Wie einige Male zuvor auch, schlang er seine Arme sanft um ihre Taille und zog sie zu sich. Zusätzlich dazu hauchte er ihr auch noch einen Kuss auf die Wange. Alles schien liebevoll vonstatten zu gehen, wäre nicht das Besitz ergreifende Funkeln in seinen Augen.

Wütend versuchte Aya sich von den Armen zu befreien, aber Shinris Griff war zu fest für sie. “Lass mich los! Sofort!”, fauchte sie ihn an, merkte aber gleich darauf, dass die Aufmerksamkeit aller Schüler auf sich gezogen hatte. Ihr entgingen auch nicht ihre eigenen Gefühle, die wie immer verrückt spielten.

Shinri hörte nicht auf sie und achtete auch nicht auf Jackins drohenden Blick. Sanft hauchte er einen Kuss auf Ayas brünette Haare und atmete ihren Duft erneut tief ein. Niemand würde es wagen, sie ihm wegzunehmen. Keiner hatte das Recht dazu. Vor allem nicht Jackin.

“Shinri! Nicht vor der Klasse!”, zischte Aya leise. Sie war zornig und verlegen zugleich. Der Zoma musste lächeln. Wenn sie nur wüsste, wie süß sie aussah, wenn sie sich aufregte. Er ließ sie nicht los. Jeder sollte wissen, dass sie ihm gehörte.

Ria, Shinris Cousine, grinste frech. Sie musterte die beiden. Genau so war es richtig, dachte sie sich. Nun hatte Aya wieder etwas, mit dem sie sich beschäftigen konnte und Shinri hatte die Nähe, die er brauchte.

Wie gewöhnlich hing Ria sich an Jackins Arm. Damit wollte sie ihn aufhalten und seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Es brachte niemanden etwas, wenn er zwischen Shinri und Aya funkelte. Am Besten war es, wenn Jackin und Aya sich so selten wie möglich sahen.

Die Schüler beobachteten Shinri und Aya, sowie auch Jackin und Ria. Sie versuchten sich nichts anmerken zu lassen, doch interessierten sie sich brennend dafür, vor allem aber die Mädchen. Sie zupften und zogen ab und zu an den Jacken der anderen und flüsterten ihnen etwas zu. Die Jungs schwiegen. Sie ließen ihre Blicke für sich sprechen. Ria gefiel dies. Sie wusste, nun dachte jeder der Klasse, sie und Jackin wären ein Paar. Die gleiche Vermutung hatten sie auch bei Shinri und Aya. Beiden sollte es schwer fallen, das Gegenteilige zu beweisen, schließlich stimmten die Vermutungen auf eine gewisse Art und Weise.

Doch irgendwann hatte jede Zeit ein Ende und Shinris Umarmung wurde unterbrochen, als der Lehrer endlich erschien. Herr Heulsu trieb die Schüler zusammen und erklärte ihnen einiges über die Regeln. Seine Klasse hörte ihm aufmerksam zu, auch wenn sie die Gerüchte nicht ganz vergaßen.

Zum Schluss wurden die Zimmer eingeteilt. Im Unterricht hatten sie keine Zeit gefunden, da sie mit dem Stoff hinterher hingen. Es gab nur Zweierzimmer und die ersten hatten ihre Paare schon gefunden. Shinri auch.

“Ich möchte gerne mit Aya ein Zimmer teilen”, verkündete er laut genug, dass es jeder hörte. Sollte es bislang nur ein Gerücht gewesen sein, so sagte sein Satz allen Schülern das, was sie bereits vermuteten.

Aya lief puderrot an und hinter ihm erklang leises Gekicher. Natürlich war sie sofort strickt dagegen, aber das Grinsen von Shinri schnürte ihr die Kehle zu und ließ die Wut weiter wachsen. Wie konnte er es nur wagen?!

Zum Glück war der Lehrer von diesem Vorschlag recht wenig angetan. Mit einem Seufzer erklärte er, dass er keine Mädchen und Jungen in ein Zimmer sperren wollte und durfte. Also wurde sein Plan zerstört. Aya freute sich darüber, doch die nächste Einteilung war genauso wenig nach ihrem Geschmack. Shinri schlug anstatt Aya nun Jackin vor. Der blonde Junge sah genauso verwirrt, wie das brünette Mädchen aus. Und zu guter Letzt schaffte Aya es sogar, mit Ria ein Zimmer zu ergattern. Sie hätte sich lieber ein Brett an den Kopf gehauen, doch war es immer noch besser, als bei Shinri sein zu müssen.

Sie seufzte theatralisch, aber niemand hörte es. Prost Mahlzeit, dachte sie sich, das konnte nämlich noch sehr lustig werden. Ob es gut ging? Sie hassten sich eigentlich, also war es eigentlich keine gute Zusammensetzung. Hoffentlich ließ Ria sie in Ruhe.

Alle Schüler stiegen in den Bus ein, der kurz darauf im Hof erschien. Herr Heulsu ging dabei die Liste durch, um die Anzahl zu überprüfen. Da nicht nur Aya sich auf die Quelle freute, stiegen die Schüler so schnell wie möglich ein. Jeder von ihnen wollte so schnell wie nur möglich ankommen.

Direkt vor Aya liefen einige Mädchen aus ihrer Klasse, deren Namen sie nicht wusste. Sie kannte eigentlich fast niemanden beim Namen, da sie auch recht wenig mit ihnen zu tun hatte. Eine von ihnen trug recht gewagte Kleidung. Minirock und Top. Sie warf ihre langen, roten Haare zurück und lachte mit ihren Freundinnen. Bevor sie einstieg, wand sie sich kurz um und ihr Blick erreichte Aya. Mit einem hochnäsigen Gesichtsausdruck, der sogar Ria übertraf, musterte sie das andere Mädchen. “Du sollst mit Shinri zusammen sein? Dass ich nicht lache”, meinte sie etwas gehässig und folgte dann den anderen hinein.

Verärgert folgte Aya ihr in den Bus. Sie hatte keine Zeit etwas zu erwidern und obwohl es gut war, dass jemand nicht der Meinung war, sie wären ein Paar, so ärgerten ihre Worte sie. Es klang so überheblich und fies. Aya fühlte sich persönlich beleidigt und hätte ihr am liebsten etwas entgegnet, doch kam sie nicht dazu. Das Mädchen verschwand und dafür tauchte Shinri hinter ihr auf.

“Hierhin”, meinte er und deutete auf zwei freie Plätze. Nur widerwillig nahm Aya Platz. Sie hatte keine Zeit, sich umzusehen, da sich hinter ihnen die Schüler stauten. Als sie sich auf den Fensterplatz setzte, nahm Shinri neben ihr Platz, was ihr noch weniger gefiel.

“Denk dir nichts, wegen der. Die mag dich nicht”, meinte Shinri zu Aya und schnallte sich an. Als ob seine Worte etwas halfen.

“Echt? Sie mag mich nicht? Als ob ich das nicht bemerkt hätte”, meinte Aya sarkastisch und schnallte sich ebenfalls an. Zu ihrer Überraschung lachte Shinri, anstatt irgendetwas fieses zu entgegnen.

“Sie scheint eifersüchtig zu sein. Aber keine Sorge, sie kann dir nicht das Wasser reichen.” Obwohl Shinris Worte sie hätten wütend machen sollen, schwieg sie. Egal, wie sehr seine Gegenwart sie manchmal ärgerte, so etwas hatte man noch nie zu ihr gesagt und ihr Herz erfreute sich daran.

So begann die Fahrt mit dem kleinen Reisebus. Der Lehrer hielt noch eine Durchsage, danach ließ er seinen Schülern die Ruhe, die sie benötigten. Immer wieder vernahm Aya ein Tuscheln ihrer Mitschüler, bei dem ihr sofort wieder Unwohl wurde. Und ab und an hörte sie sogar das Mädchen, wie sie die Gerüchte zu widerlegen versuchte. Anscheinend war sie wirklich eifersüchtig.

Immerhin ließ Shinri sie die Fahrt über in Ruhe. Als er so neben ihr saß, schweigend und der Musik seines Ipots lauschend, fühlte Aya sich das erste Mal nicht genervt von ihm. Sie genoss die Ruhe und die Gegenwart unbewusst.

Nach etwa sechs Stunden kamen sie auch endlich an. Von der langweiligen Fahr war Aya sichtlich müde und hätte sich am liebsten sofort aufs Ohr gehauen. Doch beim Anblick der Heißen Quellen sprudelte ihr Tatendrang wieder auf. Endlich konnte der Spaß beginnen. Zuerst mussten aber alle Schüler ihre Zimmer beziehen.

Aya und Ria trotteten in ihren gemeinsamen Schlafraum. “Ich hoffe, du schnarchst nicht beim Schlafen”, kam es von Ria, die sich ohne zu fragen auf eines der Betten, das ihr am besten gefiel, ihren Koffer verfrachtete. Die Schlafstätten waren aufgebaut, wie Stockbetten. Der Unterschied bestand darin, dass anstatt des oberen Bettes nur eine Holzplatte zu sehen war, auf die Ria ihren Koffer legte. Dann setzte sich das Mädchen auf die Matratze.

Das andere Mädchen staute wieder einmal Zorn auf. Ria hatte sich wirklich nicht verändert. Sie streckte ihr frech die Zunge entgegen und antwortete gehässig auf ihre Frage: “Ich glaube, ich werde heute ausnahmsweise nur für dich damit anfangen.” Sie tauschten zornige Blicke. Aya wand ihr dann endlich den Rücken zu und schob ihren Koffer auf die Matratze. Viel lieber wäre sie alleine in ein Zimmer, oder mit irgendeinem anderen Mädchen aus ihrer Klasse, aber nicht mit Ria!

Sie seufzte auf. Die Hölle auf Erden erwartete sie. Doch sie wollte sich nicht davon den Spaß verderben lassen und ein Grinsen huschte ihr über das Gesicht. Sie freute sich schon riesig auf das wundervolle, warme Wasser.

“Ich gehe auf jeden Fall in die Quellen”, verkündete Aya strahlend. Schnell öffnete sie ihren Koffer und zog sich die wichtigsten Sachen hervor. Ria antwortete nicht. Anscheinend hatte sie Aya nicht zugehört, oder ignorierte sie nur wieder. Aber das Mädchen ließ sich davon nicht verärgern. So war es sogar besser, schließlich hatte sie dann ihre Ruhe.

Mit einen großen Tuch und Shampoos bewaffnet verließ sie das Zimmer und ließ das blonde Mädchen alleine zurück. Heute sollte sie nichts ärgern. Es wäre doch Schade, den Tag nicht zu genießen. Nein, heute war ein perfekter Tag - alle anderen Sogen waren wie weggeblasen.

Kapitel 7

Doch nur wenige Augen blicke später - sie war alleine durch die hölzernen Flure getrödelt - rief jemand nach ihr. “Aya! Bleib doch stehen!” Etwas verwirrt wand sich das Mädchen um und erblickte einige ihrer Mitschülerinnen, die auf den Weg zu ihr waren. Bislang hatte sie nichts mit ihnen zu tun gehabt, weshalb sie auch nicht ihre Namen wusste, geschweige denn, was sie dazu veranlasste, sie aufzuhalten. Sie hatte keine Lust auf irgendwelche uninteressanten Gespräche. Am liebsten wäre sie einfach weiter gegangen, doch sie wollte auch nicht unhöflich sein.

“Hey, Aya!”, meinte eine von ihnen und die kleine Gruppe umkreiste das brünette Mädchen. “Stimmt es wirklich, dass du mit Shinri zusammen bist?”

“Oh, Gott! Der ist so cool!”, kreischte das andere.

“Und Jackin ist auch noch dein bester Freund!”, erklärte die andere neidisch, als ob Aya sich das nicht bewusst gewesen wäre. Alle drei sprachen auf sie ein und erklärten ihr, wie super Shinri doch wäre und Jackin sicher ein klasse Freund war. Und je mehr sie sprachen, desto verärgerter wurde Aya. Wie konnten sie nur so über Shinri reden, wenn sie ihn doch überhaupt nicht kannten! Sie wussten nicht, was er für ein Idiot war. Si gemussten schließlich nicht mit ihm zusammen leben.

“Mein Gott, Mädchen. Hört auf!”, zischte eine Stimme und sofort verstummte die kleine Gruppe. Aya wäre froh darüber gewesen, doch war ihr klar, dass keine Hilfe folgte. Das Mädchen, dass jetzt den Flur entlang schritt, brachte nur Unheil mit sich. Auf hohen Schuhen - die auf dem Holzboden ein schrecklich lautes Geräusch erzielten - kam sie angelaufen. Die drei Mädchen vor Aya, wichen sofort aus, als sie bei ihnen ankam. Mit einem gehässigen Blick blickte das rothaarige Mädchen zu Aya hinab. Wieder einmal zeigte sie mehr denn je, wie sehr sie von sich überzeugt war.

Mit einer eleganten Bewegung warf sie ihre langen Haare hinter ihre Schulter. Natürlich entging ihr nicht der Blick aus Ayas rehbraunen Augen. Das Mädchen ärgerte sich aber kein bisschen darüber. Viel mehr fand sie es auch noch amüsant.

“Seht sie euch doch mal an! Glaubt ihr wirklich, Shinri könnte gefallen an einem Gör wie ihr finden? Weder hat sie Klasse, noch weiß sie, was ein Junge wirklich braucht.” Ihr Blick schweifte über Ayas Kleidung, welche ihr wohl zu gewöhnlich erschien - blaue Jeans und ein dunkelrotes T-Shirt.

Die kleine Gruppe, die bis vor kurzen Aya noch mit ihren Fragen durchlöchert hatte, schwiegen sich jetzt aus. Sie trauten sich weder auf Ayas noch auf der Seite des anderen Mädchens zu stehen. Mit bangem Blick musterten sie die beiden. Aya kam sich verarscht vor. Verdammt verarscht! Sie hatte nur eine ruhige Zeit in den Heißen Quellen gewollt, mehr nicht. Und jetzt kam schon wieder diese verdammte Tussi her und wollte ihr Shinri ausspannen? Nur zu! Sie brauchte diesen Idioten nicht! Sie brauchte niemanden.

Auf einmal brannte die Haut dicht über ihrer linken Brust, als antwort auf ihre Gedanken. Es war, als wolle ihr das Zeichen, dass sie dort trug, zurecht weißen. Es schmerzte, aber sie verzog keine Miene, um ihr Gegenüber keine Schwachstelle zu liefern.

Noch immer lag dieser verspottende Blick auf Aya und sie spürte, wie sie immer mehr den Drang erlag, dem anderen Mädchen die Wahrheit zu sagen. Shinri fand gefallen an ihr. Ja. Aber vielleicht nicht ganz so, wie sich die anderen es vorstellen konnten. Sie war doch nicht mehr als sein … Eigentum.

Wütend ballte sie die Hände zu Fäusten - ihre Finger krallten ich in das weiße Badetuch. Der Gedanke an Shinri und die Worte des anderen Mädchens machten sie verdammt zornig. Natürlich war sie vielleicht nicht die hübscheste und auch nicht die hellste, aber sie war nie und nimmer unter dem Niveau des rothaarigen Mädchens. Wer aus Neid andere beleidigte, war bei Aya unten durch. Ihre rehbraunen Augen funkelten zornig, als sie sich ihrer Klassenkameradin stellte. “Mir ist egal, was du denkst, aber du bekommst weder Jackin noch Shinri. Sie hätten etwas besseres, als dich verdient!”

Keine Sekunde später zeigte sich die Wut in dem Gesicht des rothaarigen Mädchens. Die Beleidigung schlug nicht fehl. Wahrscheinlich war Aya sogar die erste, die es wagte, überhaupt etwas derartiges zu sagen. Aus den Augenwinkeln heraus konnte sie sehen, wie die drei Mädchen sich das Lachen verkniffen, um den Zorn ihrer Klassenkameradin nicht auf sich zu ziehen.

“Was glaubst du, wer du bist?”, zischte das wütende Mädchen und klaute eine Shampooflasche von Aya, nur um es auf sie zu werfen. Sie war wirklich außer sich und mit dem Zorn in ihrem Gesicht sah sie überhaupt nicht mehr hübsch aus.

Doch sogleich wurde sie in ihrem Handeln gestoppt. Die Hand erhoben - um die Flasche zu schleudern - blieb sie stehen. Jemand stand direkt hinter ihr und hielt ihre Hand fest umschlossen. Vielleicht auch etwas zu fest, da sie vor Schmerz wimmerte.

“Sie ist Aya, meine Zukünftige, und ich würde davon abraten, ihr nur ein Haar zu krümmen”, knurrte Shinri und ließ sie kurz darauf los. Sofort brachte das Mädchen Abstand zwischen sich und ihm. Sie hielt ihre schmerzende Hand - die Flasche lag direkt vor Shinris Füßen.

“Was soll das? Spinnst du? Du hast mir weh getan!”, schimpfte sie, doch in ihren Augen glitzerte auch etwas, dass Bewunderung gleich kam. Entweder, sie war todessüchtig, oder es hatte sie wirklich erwischt. Egal was es war, Shinri interessierte es nicht.

Neben Shinri stand ein weiteres Mädchen, welches Aya erst jetzt zu Gesicht bekam. Sie fragte sich, wer sie war und was sie hier zu suchen hatte. Mit ihren schulterlangen, schwarzen Haaren und den mausgrauen Augen war sie genau das Gegenteil von der rothaarigen Schönheit. Unauffällig, anstatt sexy und gewagt. Dazu trug sie noch eine randlose Brille, was ein gebildeten Eindruck erweckte. Was hatte dieses Mädchen mit Shinri zu schaffen?

“Wenn du Aya noch einmal beleidigst, werde ich dir auch gerne noch einmal weh tun”, meinte Shinri kühl. Seine tiefschwarzen Augen verrieten Hass. So kalt, wie ihr gegenüber, hatte Aya ihn noch nie erlebt. Nicht einmal bei Jackin.

Seine Worte wirkten Wunder. Das rothaarige Mädchen warf sich die Haare hinter die Schulter, drehte sich um und stakste davon. Doch Aya wusste, dass sie noch nicht aufgegeben hatte. Wahrscheinlich würden sie sich schon bald wieder treffen. Und alles nur wegen Shinri.

Auch die drei anderen Mädchen verließen den Schauplatz, aber mit einem glücklichen kichern. Wortlos folgte ihnen das unauffällige Mädchen. Schon bald fand Aya sich alleine wieder, nur mit Shinri als Gesprächspartner.

“Musstest du unbedingt lügen? Hat man dir nicht beigebracht, dass man so etwas nicht macht?”, schimpfte Aya und verschränkte die Arme. Sie und Shinris Zukünftige. Einen bessern Witz hatte sie schon lange nicht mehr gehört. Vor allem, wieso sollte Shinri sie nehmen, wenn er doch fast jede haben konnte?

Doch Aya hatte keine Lust auf Shinris Antwort. Sie wand sich um, bevor er noch mehr Schwachsinn erzählte. Es wäre besser, ihm überhaupt keine Gelegenheit mehr zu geben, etwas derartiges blödes zu sagen. Schließlich konnte er das wirklich nicht im Ernst meinen.

Schnell durchquerte sie die Flure und machte sich auf den Weg zu den Heißen Quellen. Doch die Vorfreude war dahin. Ihre Gedanken hingen zu sehr an Shinri, als dass sie es hätte ausschalten können.
 

Der junge Zoma stand noch immer im Gang, als Aya bereits gegangen war. Er wusste, dass er wieder einmal einen Fehler gemacht hatte und ihm war auch klar, dass Ria ihn dabei beobachtet hatte. Seine Cousine stand seit geraumer Zeit hinter der nächsten Ecke. Erst als Shinri sie ansprach trat sie hervor. Ihre Schritte waren kaum zu hören, als sie über das Holz schritt. Weder das auftreffen ihrer Schuhe, noch das Knarren von Holz.

Mit einem leisen Seufzer blieb sie neben ihrem Verwandten stehen. Sie verschränkte die Arme vor ihrer Brust und lehnte ihren Kopf an Shinris Schulter an. Genauso wie er starrte auch sie den Gang hinunter, in die Richtung, in die Aya verschwunden war.

“Du hast es versaut”, erklärte sie, tadelte ihn aber nicht. “Sie ist ganz schön kratzbürstig. Du tust mir fast schon leid.” Doch beiden war klar, dass es bei einem ‘Fast’ bleiben würde. Schließlich war Shinri selbst daran schuld, wenn er ihr hinter her rannte. Er konnte jeden haben. Jede würde ihm gerne helfen zu überleben. Nur weil das Schicksal sie beide auserkoren hatte, hieß das noch lange nicht, dass er auch wirklich sie nehmen musste. Aber Ria wusste, dass Shinri sich nie davon abbringen lassen würde. Ein Zoma verliebte sich nur all zu schnell in seine Auserwählte.

Ria konnte ihn verstehen. Wäre Jackin genauso wie Aya, so hätte sie ihn trotzdem gewollt, egal was andere dazu sagen würden.

Ihr Cousin antwortete nicht auf ihre Aussage. Er schwieg sich aus und seine dunklen Augen waren weiterhin in eine Richtung gerichtet. Gewiss überlegte er sich seine nächste Taktik, oder er wartete nur auf Rias nächste Worte.

Das blonde Mädchen seufzte ein weiteres Mal, bevor es sich von Shinri löste. “Weißt du, wo ich Jack finde? Hast du ihn vielleicht gesehen?”

Erst jetzt wand Shinri sich seiner Verwandten zu. Seine schwarzen Augen betrachteten das hübsche Gesicht von Ria. Neben ihrem zarten Gesicht, dass einem Engel glich, trug sie noch die Aura mit sich, die jeden der Familie Zoma umgab - solange er nicht wütend wurde. Es war ihnen angeboren, um sich die Jagt einfacherer zu machen. Doch in Wirklichkeit hatte kein Zoma ein reines Herz. Sie waren wie Raubtiere, unberechenbar, kalt und grausam. Nur das Herz der Auserwählten rettete einen vor den Untergang, denn ihre Seelen waren rein und unschuldig. Nicht zu vergleichen, mit denen der anderen Menschen.

“Jackin ist in den heißen Quellen. Du musst noch etwas warten”, erklärte Shinri. Er wusste genau, dass Ria den Ausflug in die Heißen Quellen nur wagte, weil Jackin hier war. Viel lieber säße sie jetzt bei ihm Zuhause. Hauptsache nicht in der nähe der warmen Gewässer.

“Dankeschön”, schnurrte Ria und fuhr ihrem Cousin sanft durch die schwarzen Haare. Sie mochte ihn sehr. Er war wohl einer der wenigen, denen sie wirklich vertraute. Eigentlich glich er einem großen Bruder, denn eine Familie besaß sie nicht. Da sie gemeinsam zusammen gewachsen waren, kannten sie sich sehr gut. Nur aus diesem Grund waren sie gemeinsam hierher gekommen. Shinri wollte Ria nicht alleine bei ihrem Erziehungsberechtigten lassen. Nicht seit seine Auserwählte gestorben war. Es war nur reiner Zufall, dass sie hier ihren Jackin traf.

Und weil Shinri ihr so sehr am Herzen lag, konnte sie kaum zusehen, wie er sich sein Leben verbaute. Mit sanfter Stimme sagte sie: “Berry steht auf dich, egal was du machst. Sie sieht hübsch aus und sie könnte dich sehr gut ernähren. Du könntest sie haben. Du könntest ein gutes Leben haben.”

Shinri verstand die Bedeutung ihrer Worte. Mit einem leicht grimmigen Blick - er wollte nicht von Ria umsorgt werden - entgegnete er ihr: “Berry will jeden, der einigermaßen gut aussieht. Nein, ich habe mich entschieden und du wirst mich nicht von meiner Entscheidung abbringen.”

Mit einem resignierenden Seufzer wand sich Ria ganz von Shinri ab. Er traf die Entscheidungen und sie hatte kein Recht ihm dazwischen zu funken. Elegant und leise lief sie den Flur entlang und rief Shinri dabei über die Schulter hinweg zu: “Man sieht sich. Ich wünsche dir Glück.” Schon verließ sie auch den Flur. Gleich nach ihr setzte sich auch der 19-jährige Junge in Bewegung. Sein Ziel waren die heißen Quellen, denn er spürte Aya dort.
 

Unbemerkt hatte Aya sich ins Wasser geschlichen. In der Quelle befanden sich bereits einige Schülerinnen, die sich angeregt unterhielten. Im hintersten Eck hatte Aya sich hingesetzt und genoss das heiße Wasser. Der aufsteigende Rauch verbarg sie vor den Blicken der anderen. Es war wundervoll. Wie eine Heilung für ihre Seele. Und obwohl die Sonne noch am Himmel stand, fühlte sich die Luft im Gegensatz zu den Quellen kühl an.

Es war nun mehr als 10 Jahre her, als sie das letzte Mal in einer Quelle war. Doch dieses Erlebnis hatte sie nie vergessen. Auch ihre Eltern hatten den Stress vergessen und für einen Tag nur entspannt. Eine der wenigen Erlebnisse, an die sich Aya mit Freuden erinnerte. Denn ansonsten dachte sie ungern an ihre Eltern, die sich irgendwo auf dem Globus befanden.

Mit geschlossenen Augen ließ Aya das heiße Wasser auf sich wirken. Sie ließ sich in Tagträume treiben und bekam kaum mehr etwas von den Gesprächen ihrer Mitschülerinnen mit. Das meiste drehte sich sowieso nur um Kosmetik, Mode oder Männer.

So bemerkte sie auch nicht, dass sich die Quelle nach einiger Zeit leerte. Das Geschnatter wurde leiser und irgendwann verstummte alles. Aya trieb weiterhin in ihren Gedanken und ließ ihre Seele baumeln. Ihr Körper fühlte sich bereits etwas taub an, aber sie ließ sich nicht aus ihrer Ruhe bringen.

Es dauerte ewig, bis Aya endlich aus ihrer Entspannung geholt wurde. Sie wäre beinahe weggedöst, als Stimmen an ihr Ohr drangen. Sie lauschte. Nein, sie war noch immer alleine in ihrer Quelle. Aber auf der anderen Seite der doppelten Bretterwand lag noch eine weitere Heiße Quelle, die der Jungs.

Aya hörte das Tuscheln ihrer Klassenkammeraden, verstand aber nicht, um was es ging. Sie setzte sich auf. Irgendwie durchdrang eine Neugierde ihren Körper. Sie musste wissen, um was es ging. Sie wollte wissen, wie die Jungs sich so untereinander gaben und über was sie sprachen. Gewiss ging es nicht um Kosmetik, Mode und Männer. Aber am allerwichtigsten war für sie, Jackin wieder zu sehen. Vielleicht erfuhr sie, wie es ihm ging.

Leise stieg sie aus dem warmen Wasser und band sich das trockene Badetuch, dass neben ihr auf dem Stein gelegen hatte, um den Körper. Sie knotete es fest zu. Dann schlich sie vorsichtig durch das kalte Gras. Die Sonne versank bereits am Horizont und tauchte die Wälder, die um die Quelle herum errichtet waren, in dunkle Schatten.

Eine Gänsehaut überfiel Aya, als sie die Kälte um sich wahrnahm, den Boden unter ihren bloßen Füßen und der Wind auf ihrer nackten Haut. Sie ging dem Wand entgegen. Hier hatte sie genug Möglichkeiten zu spitzeln, ohne bemerkt zu werden. Sie betrachtete die großen, stabilen Bäume um sich herum. Ein Ast lag tief verborgen hinter den Blättern und ragte zusammen mit kürzeren und schwächeren Ästen über die Quellen auf der Seite der Mädchen. Er war hoch genug, um auf die andere Seite einen Blick zu werfen.

Aya hatte bereits genug Erfahrung im Herunterklettern gesammelt, sodass das hinaufklettern ein Klacks für sie war. Geschickt schwang sie sich hinauf und kam Ast für Ast ein Stück weiter. Dabei versuchte sie so wenig Geräusche wie möglich zu machen, um nicht entlarvt zu werden.

Als sie den geeigneten Platz erreicht hatte, testete sie die Stabilität des großen Asts. Er schien einiges aushalten zu können. Vorsichtig und so leise, wie möglich, schob sie sich hinter die Blätter und suchte ein kleinen Spalt, um einen Blick hinab werfen zu können. Sie erkannte eine Quelle, die ebenso, wie die der Mädchen, in Stein gebaut war. Doch bevor sie genauer die Umgebung betrachten konnte, fiel ihr Blick auf die vielen, entblößten Oberkörper ihrer Mitschüler.

Von Peinlichkeit übermannt schloss sie die Augen und verlor dabei beinahe den Halt. Mit Müh und Not hielt sie sich am Ast fest und verhinderte einen Absturz. Geduldig wartete sie auf die nächsten Worte ihrer Mitschüler. Die Nervosität nahm zu und sie hoffte, dass sie unbemerkt blieb.

Erst, als jemand ihren besten und einzigen Freund ansprach, öffnete sie wieder die Augen. Sie wagte es nicht mehr, die Körper aller zu betrachten, sondern achtete nur noch auf ihre Gesichter, um es nicht gar so peinlich für sie zu machen.

“Also echt, Jackin! Du hast echt Glück! Wie gern würde ich jetzt in deiner Haut stecken. Ach … diese bezaubernde Ria!”, schwärmte einer der Jungs. Sofort erweckten sie den Anschein, dass sie alle von Ria angetan waren. Doch obwohl Aya das Mädchen nicht mochte, musste sie zugeben, dass sie sehr hübsch war, solange man den Charakter dahinter nicht kannte.

Wenigstens war Jackin nicht einer von denen, die für Ria schwärmten. Er schwieg, gab keinen Ton von sich und schien fast schon seine Kameraden zu ignorieren. Er dachte nach, das merkte Aya sofort. Sie kannte ihn schon lange und auch das Dämmern in seinen Augen, wenn er tief in Gedanken war.

“Ach! Da ist ja unser Neuer!”, lachte einer der Jungs und alle blickte in Shinris Richtung, dessen Körper gerade sanft ins Wasser glitt. Er nahm die Umgebung mit einem kurzen Blick in sich auf und wurde zugleich noch der Lage bewusst, in der er sich nun befand. Aya starrte wie gebannt auf den schwarzhaarigen Zoma. Ihr Blick fuhr jede einzelne Faser seiner Haut nach. Plötzlich fühlte sie sich an Gestern erinnert. Als er ihr in der Küche half und sie ihn ebenso angestarrt hatte. Als werde ihr Blick magisch von ihm angezogen.

“Der Bezwinger der Wildkatze”, lachte einer der anderen Mitschüler auf und riss somit Aya aus ihren Gedanken. Sie hielt sich eben noch fest, bevor sie vor Verblüffung herab gestürzt wäre. Wildkatze?! Sie fühlte ein unbändiges, loderndes Feuer der Wut in sich. Wie konnte man sie nur als Wildkatze bezeichnen? Und überhaupt! Wieso war er ein Bezwinger?!

Aya vernahm die Stimme des Schülers, der sich schon zu Anfang gemeldet hatte. “Also ich finde, Aya ist ja auch recht schnuckelig, auf ihre Art und Weise. Wenn sie nur nicht immer so abweisend wäre.” Daraufhin fragte Aya sich, wann sie bitte abweisend war. Noch nie hatte einer der Jungen sie angesprochen.

Die anderen gingen auf dieses Thema ein, wie Aasgeier. Fast jeder gab seinen Senf dazu. Sie diskutierten darüber, wer hübscher, klüger und beliebter sei. Nur Jackin und Shinri hüllten sich ins Schweigen ein. Sie wechselten einen hasserfüllten Blick, der vor ihren Mitschülern unbemerkt blieb. Nur Aya bemerkte diesen Hass, der in den Augen beider funkelte.

“Aber eigentlich habe ich immer gedacht, Jack würde Aya bekommen. Die haben sich doch immer so prächtig verstanden”, meinte einer der Jungs und ein anderer motzte: “Dabei wollte ich sie immer haben!” Sie lachten, doch kurz darauf verstummten sie. Es war eine bedrückende Stille, die sich über sie ausbreitete und Aya öffnete neugierig die Augen.

Aya senkte den Blick erneut hinab und betrachtete sie. Auf den Gesichtern ihrer Mitschüler stand Angst geschrieben, doch gab es keinen Angriff. Der Grund für ihre Panik war in den Augen Shinris abzulesen. Er glühte förmlich vor Wut und schenkte diesem Blick allen Jung, die sich bei diesem Gespräch beteiligt hatten. Doch auch Jackin ließ er nicht aus, welcher noch keinen Ton zu den Gerüchten beigetragen hatte.

Mit beängstigend kalter Stimme sprach Shinri an jeden Jungen in der Quelle gewandt: “Keiner von euch ist es auch nur Wert in Ayas Nähe zu sein und solltet ihr mit den Gedanken spielen, ihr näher zu kommen, werde ich keine Sekunde zögern …” Das es eine Morddrohung war, entging keinem. Aya schluckte genauso schwer, wie die Jungs in den Gewässern. Woher nahm Shinri nur das Recht, so große Reden zu schwingen? Ihm war es sogar Egal, dass er sich damit mehr als einen Feind machte.

Alle Jungs unten begannen kleinlaut zu erklären, dass sie so etwas nie vor gehabt hätten. Sie nahmen alles zurück, aber Shinri hörte ihnen kaum zu. Sein Blick war nur auf eine einzige Person gerichtet, und als die anderen dies merkten, verstummten sie sogleich. Eine stumme Drohung ging von Shinri aus und richtete sich alleine auf Jackin, der einige Meter weiter weg in den Heißen Quellen stand.

Jackin, er war genauso alt wie Aya und hatte seine Haare in der Vergangenheit blond gefärbt, war der allerbeste Freund von Aya und das hieß wiederum, dass sie sich sehr gut kannten. Aya war sofort klar, dass Jackin sich nicht einfach unterbuttern ließ. Im Gegensatz zu seinen Mitschülern, die sich klein machten und Shinri zu beruhigen versuchten, stand er mit gestraffter Schulter vor ihm und entgegnete den Blick der schwarzen Augen mit felsenfester Miene. “Aya ist meine beste Freundin und ich werde gewiss nicht zusehen, wie du ihr Leid zufügst!”

Eine unausgesprochene Herausforderung lag in der Luft. Jeder von ihnen schien es zu bemerken. Aya wollte aber nicht, dass sie sich wegen ihr bekriegten. Auch wenn Jackin dank seiner harten Vergangenheit mutig und stark war, so wusste sie, dass Shinri ihn vernichten würde - und damit meinte sie nicht ein einfaches Prügeln. Das hier ging über Schlägereien hinaus.

Shinri und Jackin sahen sich weiterhin wachsam an, während die Jungs schnell das Thema wechselten und so schnell wie möglich von hier verschwanden. Sie wollten nicht tiefer in den Streit verwickelt werden und ließen die beiden anderen alleine zurück. Das gefiel Aya ganz und gar nicht, schließlich wollte sie nicht, dass die beiden sich an den Kragen gingen.

“Sie ist nicht deine Sklavin, das weißt du! Behandle sie, wie es ihr gebührt, oder lass sie endlich in Frieden, Shinri!”, schimpfte Jackin. Ihm war bewusst, dass er jetzt alleine Shinri gegenüber stand und es kein entrinnen gab, sollte Shinri einen Kampf starten, aber damit würde Jackin klar kommen.

Mit gestrafften Schultern und kühnem Blick standen sie sich weiterhin gegenüber. Der mutige Krieger und das wilde Tier. Der Adler und der Panther. Angst schnürte Aya die Kehle zu. Wer würde aus diesem Kampf als Sieger hervorgehen? Shinri war unberechenbar. Um das zu bekommen, was er möchte, würde er sogar über Leichen gehen. Eine Tatsache, die Aya mehr erschreckte, als alles andere.

Da dieser Streit ganz alleine wegen ihr stattfand, musste sie auch irgendwie eingreifen. Aber was sollte sie denn tun? Um Hilfe schreien? Sie auseinander zerren? Nein, dass konnte sie nicht wagen. Und vor allem würde sie damit Jackins Stolz verletzten. Er hatte Jahrelang für sich gekämpft und würde nicht wollen, dass man sich einmischte. Vor allem nicht dann, wenn er das für Aya machte.

Ein düsterer Schatten legte sich über Shinris Gesicht. “Ich weiß, was ich tue, du aber nicht”, erklang seine düster Stimme und jagte Aya einen Schauer über den Rücken, obwohl sie nicht dort unten stand, wie es Jackin tat. “Leider bin nicht ich es, der hier falschen Ziele verfolgt. Du solltest dich lieber um Ria kümmern, denn sie braucht dich. Lerne deine Grenzen kennen, denn Aya ist einen Schlag zu groß für dich.”

Im tiefen Schwarz seiner Augen blitzte etwas Bedrohliches auf und plötzlich hob er seinen Blick. Er trennte den Blickkontakt zu Jackin und sah hinauf, den Bäumen entgegen. Die Blätter wiegten sich im kühlen Wind und raschelten. Nur ein Ast schien nicht dem Spiel ergeben zu sein. Der Ast, auf dem Aya sich eingenistet hatte.

Sie erschrak, als sich der Blick des Zomas hob. Für eine kurze Zeit lang glaubte sie, er sähe sie direkt an. Seine schwarzen Augen trafen auf ihre rehbraunen. Kurz danach senkte der Zoma sein Augenmerk wieder Jackin entgegen. Hatte er sie nun wirklich gesehen, oder hatte sie sich getäuscht? Egal, was war, ihr Herz spielte verrück. Denn, obwohl er so weit weg von ihr war, hatte sie diese seltsamen Empfindungen gespürt, wie jedes Mal, wenn er ihr zu nahe kam. Sie redete sich ein, dass es nichts zu bedeuten hatte, aber sie glaubte ihren eigenen Worten nicht.

“Aya scheint sehr an mir zu hängen. Sie fängt jetzt sogar schon an, mich zu verfolgen”, lachte Shinri leise, damit nur Jackin es vernahm. Aya hörte kein Wort, doch als ihr Freund plötzlich in ihre Richtung sah, in die Shinri zuvor genickt hatte, erschrak sie ein weiteres Mal. Sie hielt es nicht mehr aus. Damit hatte sie jetzt wirklich nicht gerechnet. Wieso hatte man sie gesehen? Sie hatte doch so ein wunderbares Versteck gefunden. Sie war leise gewesen und hatte sich nichts anmerken lassen. Wie konnte es dann sein?

Vor Schreck ließ sie den Ast los, an den sie sich eigentlich geklammert hatte. Sie rutschte leicht zur Seite und kurzerhand fiel sie hinab, wie ein fauler Apfel. Einige Äste sah sie noch an ihr vorbeizischen, zum Glück verfehlte sie jeden, bis sie dann in der Heißen Quelle landete. Sie tauchte ganz unter, die Wärme hüllte sie komplett ein. Schnell schwamm sie ein Stück der Oberfläche entgegen und tauchte so leise, wie möglich auf, nachdem sie schon einen lauten Knall durch das hineinfallen verursacht hatte.

Kapitel 8

Zum Glück stellte Aya fest, dass sie auf der richtigen Seite gelandet war, auf der Seite der Mädchen. Ihr war es schon peinlich genug, dass sie gesehen wurde, doch wäre sie dann auch noch auf die Männerseite geflogen, wäre es wohl das aus für sie und vielleicht auch für Jackin? Wer wusste, was er jetzt von ihr dachte? Vielleicht wollte er nun nichts mehr mit ihr zu tun haben, nach alle dem? Nein, er würde es ihr sicher nie erzählen. Denn er wollte ihr nicht weh tun.

Schnell verließ sie die Quelle, nicht dass Shinri ihr noch auflauerte, um ihr eines reinzuwürgen. Doch als sie hinaus trat, fiel ihr ein, dass sie noch immer ihr Badetuch trug, welches wie ein nasser Lappen an ihr fest hing. Sie hatte nichts anders, mit dem sie sich hätte abtrocknen können. Als sie ihre Jeans und ihr T-Shirt angezogen hatte, klebten sie an ihr. Ihr war sofort klar, wie sie wohl auf andere wirken musste.

Aus diesem Grund schlich Aya so leise wie möglich durch die Gänge. Das Holz knarrte unter ihren Füßen und verriet sie dennoch. Ihre einzige Möglichkeit bestand noch darin, dass niemand auf den Gängen war, aber das Schicksal meinte es wie immer nicht gut mit ihr und so stieß sie, als sie um die nächste Ecke bot, wieder einmal auf das rothaarige Mädchen. Dieses Mal wurde sie aber von zwei Mitschülern begleitet - welche nicht bei den Heißen Quellen gewesen waren.

Aya hatte keine Chance zu entkommen, schon hatte man sie gesehen. “Oh, Aya. Wie siehst du denn aus? Ist das dein neues Outfit, um an Shinri ran zu kommen?”, kicherte sie und ihre beiden Begleiter lachten ebenfalls. Doch Aya war nicht für Scherze aufgelegt und schon gar nicht, wenn sie von einer Zicke wie dieser stammten. Wütend fauchte sie das andere Mädchen an: “Glaubst du etwa, ich hätte es nötig, an Shinri ranzukommen? Er ist es doch, der mir hinterher rennt! Also lass deine dämlichen Witze und verzieh dich!”

Das Lächeln des Mädchen verging ihr aber nicht sofort. Sie musterte Aya durchgehend und grinste gehässig. “Also, wenn ihm dass gefällt, dann weiß ich auch nicht. Denn, egal was du anziehst, es-”

Sie wurde inmitten ihrer Beleidigung unterbrochen. Hinter Aya erklang eine ihr bekannte Stimme. “Bist du etwa neidisch, Berry? Lass es lieber, egal was du anziehen würdest, es würde dir nicht stehen - im Gegensatz zu Aya.”

Shinri bog um die Ecke und blieb direkt neben Aya stehen. Seine dunkeln Augen sahen das Mädchen - er hatte es Berry genannt - desinteressiert an. Aya spürte, wie ihr Herz zu rasen begann und eine Röte sich auf ihre Wangen legte. Shinri hatte ihr soeben ein Kompliment gemacht. Auch wenn sie nicht wollte, dass er sich Hoffnungen machte, so war es doch etwas Schönes, derartig mit Berry verglichen zu werden.

Berry glühte vor Zorn, aber ihre Augen zeigten einen Ausdruck, der Aya die Haare zu Berge stehen ließ. Obwohl Shinri sie beleidigt hatte, blieb ihre Interesse bestehen. Wenn Aya es Korrekt ausdrucken musste, würde sie wohl sagen, es war Besitzgier, welcher Berry dazu antrieb, Shinri entgegen zu kommen. Mit eleganten, verheißungsvollen Schritten kam Berry auf Shinri zu und blieb direkt vor ihn stehen. Ihr Blick und ihr aufreizender Körper wären für jeden gewiss einladend und Aya hätte es verstanden, wenn Shinri aufgegeben hätte, obwohl sie gewiss sehr wütend gewesen wäre. Wie versteinert sah das Mädchen zu, wie Berry ihre Arme um Shinris Nacken legte - welcher keinen Muskel bewegte.

“Du könntest mich haben, Shinri. Ich habe einiges zu bieten und gewiss mehr als das kleine Mädchen. Sie versteht dich nicht. Sie weiß nicht, was du möchtest. Aber ich weiß es”, hauchte Berry verführerisch in Shinris Ohr und schmiegte sich an ihn. Sogleich kam Wut in Aya auf, aber sie tat nichts, sie sah einfach nur zu, gespannt darauf, wie Shinri reagierte.

Der Zoma zeigte keine Reaktion. Mit kaltem Blick betrachtete er Berry. Es war kaum zu sagen, was er dachte, aber seinen Augen zu urteilen, waren Berrys Reize uninteressant für ihn. Eine Zeit lang starrte er sie nur an, doch dann erhob er seine Stimme und sie war genauso kalt, wie sein Blick. “Alles, was du mir anbietest, kann ich auch bei jeder anderen haben. Du bist billig und merkst es nicht einmal. Aber Aya … Aya ist anders. Sie hat etwas, dass du nie besitzen wirst.”

Wütend ließ Berry von Shinri ab und fauchte ihn an: “Und was soll das bitte sein? Sie hat keine Eltern, kein Geld, keine Zukunft. Sie hat nichts!”

“Sie hat ein Herz”, antwortete Shinri ruhig doch mit einer Wärme in seiner Stimme, die Aya noch nie bei ihm zu hören bekommen hatte. Seine Worte gingen ihr durch Mark und Knochen.

Berry schien genug für heute zu haben. Mit einen letzten verächtlichen Blick auf Aya wand sie sich um und rannte den Flur entlang. Die beiden Jungs folgten ihr so schnell es ging.

Nach ihnen kehrte eine kurze Stille ein. Aya wagte es kaum, Shinri in die Augen zu sehen, doch als er dann auf einmal vor ihr stand, musste sie doch hinauf blicken. In den schwarzen Tiefen schimmerte etwas, dass Aya nicht erklären konnte. Ein Gefühl, dass ganz tief in ihm verborgen lag. Doch es blieb nur einen kurzen Moment bestehen. Shinri zog Aya an sich und hauchte einen sanften Kuss auf ihre Lippen, bevor er sie ganz umschloss.

Aya versuchte sich aus Prinzip dagegen zu wehren, doch umfingen Shinris Arme sie und ließen keinen Widerstand zu. Ihr Herz klopfte wie wild und ein warmes Kribbeln breitete sich in ihr aus. Die Gefühle, die auf sie einströmten, waren wie eine große Welle und Shinri war das einzige, was ihr darin Halt gab.

Erst ein fröhliches Pfeifen riss beide aus ihren Gedanken. Der Kuss löste sich und Aya brachte so schnell wie möglich einen Sicherheitsabstand zwischen sie. Leider war es schon zu spät. Der zufällige Besuch stand schon im selben Gang und hatte sie beobachtet. Es war Ria, die des Kusses wegen Pfeifen musste. Jetzt, da sich die beiden aber gelöst hatten, bemerkte sie Ayas nasse Kleidung.

“Oh, Aya. Wie siehst du denn aus? Was ist denn mit dir passiert? Hat Shinri dich in die Heißen Quellen geworfen, oder bist du nur ausgerutscht? Du solltest dich lieber umziehen, es könnte dich nämlich noch jemand anderes so sehen. Im übrigen gibt es gleich essen”, neckte Ria das andere Mädchen und lächelte verschmitzt, bevor sie an beiden vorbei ging. “Ich werde nur schnell Jackin holen”, trällerte sie, um Aya zu ärgern und verschwand um die nächste Ecke.

Doch Aya fühlte keine Wut, wie sonst immer. Sie hatte genug Stress hinter sich, um sich wegen kleine Neckereien zu ärgern. Viel mehr war sie dankbar, für die Unterbrechung. Sie musste dringend ihre Gefühle unter Kontrolle bringen und etwas Abstand zu Shinri zu gewinnen. Bevor er sie aufhalten konnte, rannte sie zu. “Ich zieh mich um”, meinte sie und hoffte, er würde das nicht als Einladung verstehen. Erst in ihrem Zimmer konnte sie tief durchatmen. Ein Chaos herrschte in ihrem Kopf. Alles nur wegen Shinri.
 

Der Montag Abend war einer der schönsten für die meisten Schüler. Besser, als im Unterricht zu sitzen und zu lerne. Nur Jackin empfand die Reise als lästig. Er hatte vielleicht Hunger, aber er hatte keine Lust auf seine Klasse und vor allem nicht auf Shinri. In den Heißen Quellen wäre er ihm beinahe an den Hals gesprungen. Die Tatsache, dass Aya sie belauscht hatte, machte ihn kaum etwas aus. Er wusste, dass sie neugierig war und schließlich hatte er nichts vor ihr zu verbergen.

Es machte ihn verdammt wütend, wie Shinri sich aufführte. Anfangs hatte er geglaubt, der Junge würde sich nur einen Scherz mit Aya erlauben, aber diese Vermutung lag nun weit zurück. Im Gegensatz zu Aya merkte er ganz genau, wie sehr Shinri sich für sie interessierte. Nicht nur seine Blicke sprachen für ihn. Nein, alles.

Aber Jackin konnte das nicht zulassen. Shinri hatte kein gutes Herz. Er war skrupellos und gemein. Egal was er wollte, er würde nicht zögern, es sich zu nehmen. Jemanden wie Aya hatte er nicht verdient. Aya war tief in ihrem inneren gutherzig, auch wenn sie es nicht zugeben wollte. Sie war auch die einzige, die auf seiner Seite war, als ihn alle anderen verachtet hatten. Er konnte sich noch gut an damals erinnern. An sein Leben in der Hölle und die Rettung durch Aya.
 

Jackin wuchs einsam in einem Waisenhaus auf. Beide Elternteile starben bei einem Autounfall, als er gerade einmal zehn Jahre alt war. Damals hatte er noch schwarze Haare und ein schweres Leben vor sich. Er durchlebte die größten Qualen, die das Leben für ihn bereit halten konnte, die Einsamkeit.

Es war schwer das Vertrauen der Leute zu gewinnen, wenn Gerüchte kursierten. Vor allem, wenn man ihn von Anfang an in eine Schublade steckte, in die er nicht gehören wollte. Jeder sagte, er sei brutal und rücksichtslos. Er käme ganz nach seinen Eltern, die damals Alkoholiker waren und zur untersten Schicht der Gesellschaft angehörten. Diese Gerüchte erschwerten Jackins Leben. Er konnte nichts gegen das Mobbing unternehmen, war den anderen schutzlos ausgeliefert. Wenn man einmal in einer Schublade steckte, kam man nur schwer wieder heraus.

Für ihn war es wie ein Zeichen Gottes, als er dann einem Jungen begegnete. Garry Richnar. Er war der Einzige, der sich ihm gegenüber freundlich verhielt. Alle anderen beschimpften ihn, ignorierten ihn oder zerstörten mit anderen Tätigkeiten sein Leben, aber er war anders. Jackin glaubte damals, ihm vertrauen zu können, und befreundete sich mit ihm, in der Hoffnung, nie wieder alleine sein zu müssen.

Es war eine gute Freundschaft, Vertrauen und Hilfsbereitschaft von beiden Seiten. Jackin versuchte so gut, wie möglich, Garry zu helfen, wo er nur konnte, dafür beschützte Garry ihn vor den Angriffen der anderen. Es war der Himmel auf Erden. Doch bald kam die Zeit, in der Jackin die Augen geöffnet wurden. Er hatte einen großen Fehler begannen. Er hätte sich nie mit ihm einlassen dürfen. Für einen Rückzug war es zu spät. Garry lockte ihn immer tiefer in seine Gang. Jackin folgte ihm artig. Wäre er doch lieber einsam im Waisenhaus geblieben. Es hätte ihm vieles erspart.

Mit seinen zwölf Jahren wusste Jackin, dass er sich strafbar machte. Es war aber das einzige, mit dem er sich Respekt einbringen konnte, so dachte er damals. Die Einsamkeit hatte ihn erdrückt und er wollte irgendwo hingehören und mit Respekt behandelt werden. Der einzige Ort, der ihm das bot, war die Gang seines Kumpels. Für diesen Traum schlug er sich mit anderen, bestahl Läden und bedrohte Leute. Er hing viel mit dieser Gang ab und gehörte zu ihnen. Er wurde Garrys Rechte Hand.

Schnell machte er sich einen Namen. Er gab es auf gegen die Gerüchte zu kämpfen, denn diese wurden zur Realität. Der gefürchtete Schläger der Stadt. Keinen Kampf hatte er je verloren mit seinen gerade einmal zwölf Jahren. So jung und schon so gefährlich.

Er war viel zu tief in das dunkle Verbrechen getreten, um jemals wieder alleine heraus zu finden. In der Schule sprach man nicht mit ihm, ebenso im Waisenhaus und auch in der Stadt. Sie wagten es auch nicht über ihn zu lästern. Bei der Polizei war er bekannt und seine Strafakte war schon viel zu lang. Dem Direktor der Schule war er auch nicht mehr unbekannt. Entweder er gab im Unterricht dumme Sprüche von sich, schlief während andere paukten oder lieferte sich eine Schlägerei im Pausenhof wegen Kleinigkeiten, die ihn aufregten. Am allerliebsten machte er aber die ganze Zeit blau, wie sein Vorbild Garry. Dann konnte er mit der Gang abhängen und musste sich nicht das Geschwafel des Lehrer anhören.

Es schien aus mit ihm zu sein. Viel zu tief war er mit drinnen. Jeder hasste ihn oder hatte Angst vor ihm. Sein einziges Leben war die Hölle, obwohl er glaubte, dass es gut war, in der Gang zu sein. Es war eine Illusion, aber er lebte sie gerne.

Eines Tages wurde seine Illusion aber zerstört. Seine Gang traf sich nicht und ihm war langweilig. Widerwillig ging er in den Unterricht. Der Direktor hatte ihm erst vorgestern einen Verweis angedroht. Es war ein warmer Sommertag. Er hätte sich auch etwas schöneres Vorstellen können, als in die Schule zu gehen, aber er tat es.

Heute musste er sagen, dass es Glück und ein Wunder war. Denn erst einen Tag zuvor hatten sie eine neue Schülerin bekommen. Als er das Klassenzimmer betrat, stand sie an einem Fenster und unterhielt sich mit einigen ihrer Mitschülerinnen. Er war sich definitiv sicher, dass sie ihn auch hasste. Die anderen hatten ihr von ihm erzählt, denn sie hatte den freien Platz neben ihm bekommen und die anderen wollten sie unbedingt warnen.

Lässig und cool setzte er sich an seinen Tisch. Distanziert und furchteinflößend. Die Mädchen schienen wieder anzufangen über ihn zu reden. Ihm war es egal. Er zündete sich eine Zigarette an und holte seine tägliche Flasche Bier aus seiner Tasche. Dies sollte als Demonstration für die anderen gelten, damit man ihren Worten glauben schenkte. Ihm war es egal, was andere über ihn dachten; Auch wenn sie ihn hassten.

Bis dahin hatte er der Neuen kaum eines Blickes gewürdigt. Er hatte sogar vergessen, welche Haarfarbe sie hatte. Von seinen ganzen Klassenkameraden wusste er weder den Namen noch das Aussehen. Er ignorierte sie, so gut es ihm möglich war. Aber dann tat die Neue etwas, dass ihn aus seiner Trostlosigkeit riss und er nie vergessen würde. Sie wand sich von ihren Mitschülerinnen ab. Jedes Wort von ihnen ignorierte sie, bis sie vor ihm stand. In ihre braunen Augen zeigte sich Trauer und Einsamkeit. Er war nicht der Einzige, dem es schlecht ging.

“Hey, was wird das?”, hatte sie ihn abschätzend gefragt. Ihr Blick blieb weder auf der Zigarette noch an der Bierflasche hängen. Sie musterte nur sein Gesicht und sah ihm tief in die Augen. “Wieso warst du Gestern nicht da?! Und jetzt läufst du einfach an mir vorbei?! Weißt du wie das ist, in eine neue Klasse zu kommen und schon zu Anfang alleine sitzen zu müssen? Ich war ganz schön Einsam.” Ihre Stimme klang vorwurfsvoll und dabei sprach sie nicht einmal über seine Angewohnheiten und seine Wunden. Sie sprach nur von sich und davon, dass sie alleine war.

Jackin fühlte sich provoziert, schlug den Boden der Bierflasche wütend auf den Tisch und spuckte die Zigarette aus. Die andere Mädchen zuckten zusammen, aber die Neue blieb ungerührt vor ihm stehen. “Was weißt du schon von der Einsamkeit?!” Alles, was er das ganze Jahr über angestaut hatte, kam auf einmal wieder zum Vorschein. Die Traurigkeit. Die Einsamkeit. Die Wut. Der Hass. Es entlud sich mit einem Mal und er schrie sie wütend an: “Sag mir! Was weißt du von der Einsamkeit?! Weder du noch sonst wer weiß, wie es mir geht! Ihr habt doch keine Ahnung! Du hast deine Eltern! Bist beliebt! Hast vermutlich auch noch Geld! Was gibt es, worüber du dir noch Sorgen machen musst? Und dann kommst du und willst mir weiß machen, dass du dich einsam gefühlt hast?”

Obwohl er sie laut anschrie, die Aufmerksamkeit der ganzen Klasse und aller vorbeilaufenden Schülern auf sich lenkte und sie mit einem wütenden Blick bedachte, blieb sie ruhig. Sie hörte ihm bis zu Letzt zu. Erst, als er aufhörte zu Schreien und schwer atmend Luft holte, regte sie sich wieder. Ein liebevolles Lächeln legte sich auf seine Lippen. “Na siehst du! Jetzt geht es dir doch besser. Mein Name ist Aya. Aya Tsuyoshi.”

Dieser eine Moment war entscheidend. Jackin wusste, er hatte es nicht mit einem normalen Mädchen zu tun. Sie war die pure Natürlichkeit und er liebte sie für ihren Charakter. Obwohl sie wusste, dass sie den Ärger der ganzen Klasse und der ganzen Stadt auf sich zog, blieb sie bei ihm stehen und war freundlich zu ihm.

Das erste Mal in seinem Leben holte er seinen Stundenplan hervor und ließ Aya einen Blick darauf werfen. Ein Glück, dass er es aufbewahrt hatte, denn damit begannen die ersten Gespräche und mit den ersten Gesprächen begann eine wachsende Freundschaft und das vermisste Vertrauen.

Aya war ihm sehr wichtig geworden. Sie war ein frischer Wind, der sich in sein Leben gemischt hatte. Immer mehr wurde sie ein Teil seines Seins. Dank ihr wurde ihm langsam klar, wie unvollkommen idiotisch sein Leben war, dass er sich aufgebaut hatte. Er wusste, er musste es ändern. Nur seine Gang stand ihm im Wege. Er wollte mit dem Rauchen aufhören und auch mit dem Trinken. Für Aya wollte er ein ganz neuer Mensch werden und von vorne anfangen.

Nur leider konnte er dies nicht vor den andere verheimlichen. Er wurde viel zu oft mit ihr im Pausenhof gesehene, ging regelmäßig in die Schule und trank immer weniger. Immer seltener wurden seine Besuche bei der Gang und irgendwann weigerte er sich auch irgendjemanden zu schlagen, nur weil es Garry sagte. Dank Ayas Unterstützung war er so weit, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Jetzt musste er nur noch die Gang davon überzeugen, dass es falsch war, was sie taten.

An einem verregneten Tag schien es so weit zu sein. Er lief einsam durch die Gassen der Stadt. Es herrschte eine bedrückende Leere auf den Straßen. Der Regen schien das Leben wegzuspülen. Die Gang hatte sich bereits verabschiedet. Sie waren gut gelaunt gewesen, was in der letzten Zeit eher weniger in Jackins Gegenwart geschah. Sie heckten irgendetwas aus. Einen Überfall. Eine Schlägerei. Irgendetwas.

Er war noch nicht dazu gekommen, seine Gang zu überreden, aber in den nächsten Minuten fiel ihm auf, dass es unnütz wäre, sie zu bekehren. Sie waren viel tiefer als er drin und hatten keine Lust wieder heraus zu kommen. Schon viel zu lange lebten sie so, als dass es Sinn machte.

Dies alles erkannte er, als er eine Person auf einer Parkbank sitzen sah. Sein Blick glitt durch den schweren Regen, sodass er kaum etwas sah. Er trat näher. Als er nahe genug heran gekommen war, erkannte er Aya, die ihre Gesicht auf die Knie gebetet hatte. Sie trauerte, alleine, und sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen.

Es war eine neue Situation für ihn. Er wusste nicht, was er tun sollte. Doch er musste etwas tun. Deswegen trat er vorsichtig an sie heran, um sie nicht aufzuschrecken. Er ließ viel Platz zwischen ihr und sich, um ihr nicht auf die Pelle zu rücken. Dennoch spürte sie seine Gegenwart und blickte sofort verwirrt auf. Ihr Gesicht war vom Regen durchnässt. Unter den Wassertropfen hatten sich auch Tränen gemischt und ihr Blick verriet, wie verletzt ihre Seele war.

Sie sah ihn längere Zeit schweigend an, bis sie dann versuchte ihre Tränen abzutrocknen, war ihr durch die nassen Sachen weniger gelang. Danach schenkte sie ihm ein Lächeln, das ihm hätte denken lassen, es wäre nie etwas geschehen, obwohl er es besser wusste.

Einige Zeit lang wartete er, bis er dann doch die Frage stellte, die ihn plagte. “Was ist passiert?” Fürs Erste schwieg Aya, aber sie kam nicht drum herum, ihm zu antworten. Also versicherte sie ihm: “Es ist nichts wichtiges. Meine Eltern sind nur wieder weg gefahren und haben mich hier gelassen.” Sie lachte. Jackin wusste, dass es nicht das war, was sie bedrückte. Er griff nach ihrem Arm, um sie zu sich herum zu drehen, als sie das Gesicht vor Schmerz verzerrte.

Jackin sah sie erschüttert an und begann damit, den Ärmel hoch zu krempeln. Entsetzt betrachtete er ihre sonst wunderschöne, weiche Haut, die nun mit Unmengen an blauen Flecken übersät war. Als er den anderen Arm inspizierte, sah es nicht anders aus. Zum Glück war ihr Gesicht verschont geblieben. Den Rest begutachtete er lieber nicht. Er hatte genug gesehen.

“Wer war das?!” Jackins Stimmte bebte vor Zorn. Aya zog schnell wieder die Ärmel herunter. “Niemand wichtiges. Es ist nicht weiter schlimm.” Sie versucht es als Kleinigkeit ab zu tun, aber Jackin war sich gewiss, dass ihre Seele noch mehr Schäden aufweißen würde, wenn er sie untersuchen könnte. Er bebte vor Wut. Es war eigenartig, aber das erste mal in seinem Leben, war ihm ein Mitmensch nicht egal. Nie hatte er sich um das Leid anderer Sorgen gemacht. Auf einmal war es vollkommen anders.

Aya sah ihn an. Wieder stiegen ihr die Tränen hoch. Sie überwand ihre Scheinheiligkeit und weinte bittere Tränen der Trauer. Sanft schloss Jackin sie in seine Arme. Sie erzählte ihm, wer es war. Er hatte es sich bereits gedacht. Jetzt hatte er die Bestätigung. Es waren die Jungs seiner Gang gewesen unter Garrys anleitung. Sie hatten ihr das angetan. Einfach so. Die Wunden ihrer Seele waren groß, denn ihre Einsamkeit hatte ihren Geist geschwächt.

Aya war sein großes Vorbild gewesen und er wollte sie beschützen. Er beschloss, Garry morgen darauf anzusprechen. Das versprach er Aya und brachte sie nach Hause.

Am nächsten Tag machte er seine Worte wahr. Er stellte sich seiner Gang, meisterte den großen Streit, der in eine Schlägerei ausbrach, und trat aus. Die ganze Zeit über wusste er Aya an seiner Seite, auch wenn sie nicht da war. Das wollte er ihr nicht antun.

Nach diesem letzten wichtigen Kampf, hatte er sich ganz verändert. Bevor er Aya besuchte, hatte er sich die schwarzen Haare gebleicht und damit Zeichen für den ganz neuen Anfang gesetzt. Für Aya ließ er das Rauchen und rührte auch keine Flasche Alkohol mehr an. Seine Tage als Schläger waren gezählt, auch wenn die Gerüchte weiterhin kursierten. Die Hauptsache war, dass er Aya an seiner Seite wusste. Nur sie konnte ihn retten, aus dieser Zwickmühle der Einsamkeit und des Verbrechens.
 

Sie hatte ihn wahrlich gerettet und jetzt war es für ihn an der Zeit, ihr beizustehen. Sollte sie sich für Shinri entscheiden, würde er ihnen nicht im Weg stehen, aber solange der Zoma sich nicht bewährte, würde Jackin ihn im Auge behalten.

Seufzend fuhr Jackin sich über das Gesicht. Eigentlich hatte er immer gedacht, er würde irgendwann mit Aya zusammen kommen. Er hasste sich selber dafür, dass er nicht dazu im Stande war, sie zu lieben. Das würde alles viel einfacher machen. Aber in all den Jahren, die sie sich kannten, war die Liebe, die er ihr entgegenbrachte, nur auf einem gewissen stand geblieben. Er liebte sie, ja. Sie war für ihn kostbar. Aber das alles war mehr wie eine Geschwisterliebe. Nein, es gab ein anderes Mädchen, das ihm den Kopf verdrehte.

“Jack, was liegst du hier so alleine herum? Hast du keinen Hunger?” Rias Kopf erschien direkt über seinem und sah ihn fragend an. Ihr weiches, blondes Haar strich sanft über sein Gesicht. Er erschrak nicht über ihr plötzliches auftauchen. Er hatte ihre Gegenwart gespürt, bevor sie sich bemerkbar gemacht hatte. Ein warmes Gefühl machte sich in ihm breit, als er in ihre hellblauen Augen sah.

“Hm … ich hab nur nachgedacht. Ich komme gleich”, antwortete Jackin so ruhig es ihm möglich war. Seit Aya ihn zurück geholt hatte, war er ruhiger und konzentrierter. Vielleicht auch beliebter, aber das war ihm unwichtig. Nur in Rias Gegenwart wurde er immer wieder nervös.

“Oh, nein! Das kommt gar nicht in Frage. Ich weiß doch, dass du hier liegen bleibst, wenn ich raus gehe. Also komm!” Sie ergriff seinen Arm und zerrte mit sanften Druck daran, sodass Jackin sich doch noch seufzend erhob. Ihre Gegenwart war stressig und beruhigend zugleich. Er würde sich etwas vor machen, wenn er glaubte, wirklich eine Chance bei ihr zu haben. Ihre Persönlichkeit war groß und stark und sie brauchte jemanden, der ihr etwas bieten konnte, aber was hatte Jackin schon?

Ria stand neben seinem Bett und wartete auf ihn. Sie lächelte leicht und Jackin konnte nicht anders, als sie bezaubernd zu finden.

“Okay. Dreh dich nur kurz um”, meinte er und wollte sich sein T-Shirt ausziehen, aber Ria lehnte sich mit einem verschmitzten Lächeln an die Wand und sah ihn nur noch gebannter an. “Wieso sollte ich?”, fragte sie ihn. “Dann verpass ich doch so viel.”

Einerseits konnte Ria aussehen, wie ein Engel, andererseits war sie verdammt selbstbewusst und wusste genau, was sie wollte. Darin ähnelte sie Shinri sehr und Jackin wusste nicht wirklich damit umzugehen. Etwas peinlich berührt wich er ihrem Blick aus, drehte ihr den Rücken zu und zog sich um. Äußerlich schien er ruhig zu sein, aber innerlich schlug sein Herz nervös umher.

“Dann … lass uns gehen”, schlug Jackin vor und trat bereits an die Tür. Er war fertig und schaltete das Licht aus. Mit eleganten Schritten holte Ria ihn ein und schmiegte sich wieder einmal an seinen linken Arm - etwas dass sie fast immer tat. Dabei wirkte sie genauso verschmust wie eine kleine Katze. Sie war so vielseitig. Das Mädchen verblüffte und verwirrte Jackin immer mehr. Sein ganzes ruhiges Leben, dass er sich aufgebaut hatte, schien sich langsam in ein kleines Paradies des Chaos zu verwandeln.

Kapitel 9

In wenigen Minuten hatte Aya sich hergerichtet und sogar ihre Haare wieder geordnet. Da sie allgemein vielleicht nicht die hübscheste war, musste sie sich nicht um Kosmetik oder anders Zeug kümmern - immerhin eine die das Bad nicht verstopft. Sie hatte sich nur so schnell beeilt, um noch einen Platz im Speisesaal zu ergattern, schließlich fraß der Hunger ihr schon Löcher in den Bauch. Doch als sie in dem großen Raum ankam, war er vollbesetzt.

Stimmengewirr und der Duft des Essen hießen sie willkommen, genauso wie dutzende an Schülern, nicht nur aus ihrer eigenen Klasse. Alle hatten sich an die kleinen Tische auf dem Boden gedrängt und die beigefarbenen Sitzmatten eng aneinander gereiht. Es sah alles nach Japanischem Stil aus und Aya fühlte sich an ihre damalige Reise zurück erinnert.

Schnell scheuchte sie diesen Gedanken beiseite und kämpfte sich durch die Gruppen. Hier und da vernahm die Gekicher oder Getuschel, als sie vorbeiging. Ihr war sofort klar, dass es nur an Shinri und Berry lag. Gewiss hatte man allen schon erzählt, wie man sie vorgefunden hatte. Nass wie ein begossener Pudel. Doch Aya ließ sich dadurch nicht ärgern und marschierte weiter, bis sie doch noch einen freien Platz fand. Den letzten.

So schnell wie möglich machte sie sich auf den Weg dorthin. Sie hatte riesigen Hunger und wollte nicht noch länger warten. Als sie an dem kleinen Tisch ankam, fragte sie höflich: “Ist dieser Platz noch frei? Dürfte ich mich zu euch setzten?”

Eine ihr bereits bekannte stimme antwortete ihr: “Natürlich. Er wurde für dich reserviert.” Sofort fielen ihre Gedanken in ein schwarzes Loch. Wie immer blieb ihr nicht verschont in seiner Nähe zu sein. Shinris schwarze Augen musterten Aya und er deutete frech grinsen mit einer Hand auf den Tisch selbst. Es war bereits für sie gedeckt worden.

“Wir haben nur auf dich gewartet, lahme Schnecke”, meckerte Ria und sah Aya etwas giftig an. Sie saßen einander gegenüber und neben Ria hatte Jackin seinen Platz. Der blonde Junge lächelte ihr nur zu und schenkte kurz darauf Shinri einen vielsagenden Blick - eine kleine Drohung.

Aya ließ sich nicht weiter daran stören. Ihr Hunger plagte sie so sehr, dass sie es sogar in Kauf nahm, jeweils neben und gegenüber eines Zomas zu sitzen. Sie bedankte sich sogar höflich und nahm Platz. Gemeinsam begannen sie still für sich zu essen.

Doch die Stille hielt nicht lange. Aya war fast fertig mit ihrem Essen und die anderen waren allesamt satt. Sie wollte sich das letzte Fischstück nehmen, als Ria ihr zuvor kam. Das Mädchen schnappte es ihr vor der Nase weg und aß es auf, bevor Aya etwas sagen konnte. Wütend fuhr Aya auf. “Das war meins!” Die Letzten, die noch hier waren, blickten allesamt auf.

Ria grinste frech. “Ach, echt? Und da regst du dich auch noch auf? Dabei nehme ich dir doch immer das weg, was du möchtest”, neckte sie das andere Mädchen und der Sarkasmus schwang deutlich in ihrer Stimme mit.

Sofort funkelten Ayas rehbraunen Augen zornerfüllt. Da es sich hier aber nur um ein kleines Fischstück gehandelt hatte und sie sich nicht wieder in ein Streit mit hineinziehen lassen wollte, vergaß sie es und wollte sich einen kleinen Schluck Sake gönnen. Der Lehrer war bereits auf seinem Zimmer, also konnten die Schüler ungesehen Sake umherreichen lassen.

Wieder kam Ria ihr zuvor und schwenkte die Sakeflasche vor ihrer Nase hin und her.

“Was soll das?!”, zischte Aya aufgebracht. Sofort wollte sie sich die Flasche wieder an sich reisen. Immer wieder verfehlte sie die Flasche kurz und Ria kicherte fies über Ayas misslungene Versuche.

“Komm, lass es gut sein, Aya”, meinte Jackin dann im versöhnenden Ton. Er konnte den beiden nicht länger zusehen und hoffte, dass sie die Spielereien lassen würden, aber die Mädchen hörten nicht auf. Aya ärgerte sich immer mehr, während Ria ihren Spaß dabei hatte. Jackin wollte erneut etwas sagen, als Shinri - der es ebenfalls lästig war zuzusehen - eingriff.

Geschickt entnahm der schwarzhaarige Zoma die Sakeflasche aus Rias zarten Händen und reichte es an den Nachbartisch weiter. Die Jungs daran nahmen ihn dankbar an.

Da die Sakeflasche endlich außer Gefahr war, wand Shinri sich an Ria. Sein Blick bekundete sein Missfallen. “Ria, du solltest Aya endlich ihre Ruhe lassen, oder möchtest du dich gegen mich auflehnen?” Seine Stimme war bedrohlich ruhig und auf einmal schwieg Ria mit gesenktem Blick. Immer wieder hörte sie die unausgesprochene Frage ihres Cousins. ‘Stellst du dich gegen mich?’

Ria schluckte. Sie kannte Shinri sehr lange, aber er war in der ganzen Zeit nicht einmal wütend ihr gegenüber geworden. Es war das erste Mal und sie durfte und wollte ihm nicht widersprechen. “Ich entschuldige mich für meine Ungehorsam”, sprach sie mit betrübter, schwacher Stimme und hielt weiterhin den Blick gesenkt.

Shinri nickte. “Gut”, war das einzige, was er ihr darauf entgegnete. Aya blickte von einer Person zur anderen und merkte kurze Zeit später auch, dass es Jackin genauso erging. Sie warfen sich einen fragenden Blick zu. Was war hier los? Aya erkannte Ria nicht mehr. Es schien, als unterwarf sie sich ihrem Verwandten. Aya ahnte bereits, dass etwas anderes, als Freundschaft, sie verband.

“Und nun zu dir.” Shinri wand sich nun an Aya, die gehofft hatte, er ließe sie aus. Leider bestätigten sich ihre Hoffnungen nie. Somit sah sie auf, in die unergründlichen Tiefen Shinris dunkler Augen. Sie schluckte. Etwas blitze darin auf. Sie konnte es nicht deuten. War es Wut? Hass? Furcht? Oder etwas ganz anders? Egal, wie oft sie diesen Zoma nun ansah, sie würde ihn nie ganz verstehen, seine Gefühle und seine Denkweisen. Er war eigenartig. Sie vermochte es nicht, ihn für immer zu ignorieren, oder gar zu hassen. Egal, wie oft sie dachte, sie könnte ihn überhaupt nicht ausstehen. Sie belog sich selber.

“Habe ich dir erlaubt, Sake zu trinken? Die beiden Gläser zuvor waren mehr als genug”, tadelte Shinri sie. Er hatte bereits Ria seine Denkweise deutlich gemacht, nun wollte er auch Aya zeigen, was er von alledem hielt. Dachte er etwa, sie würde auf ihn hören? War er ihr Vater oder gar ihr Freund? Nein! Nie und nimmer!

Trotzig verschränkte sie die Arme. “Sollte das jetzt ein Befehl sein?” Es klang weniger wie eine Frage, mehr nach einem Vorwurf. Eine Augenbraue des Zomas zog sich nach oben. Abschätzend musterte er Aya, die noch immer wie gebannt in seine Augen starrte, in denen sich nun auch Belustigung mischte.

“Was würdest du tun, wenn es einer wäre?”, fragte Shinri nach und wartete geduldig auf eine Antwort. Wollte er sie testen? Aya wusste wirklich nicht, wie sie über ihn denken sollte, doch sie ließ sich nicht herumkommandieren! “Ich werde dem bestimmt nicht nachgehen! Wenn du jemanden etwas vorschreiben möchtest, dann tu es, aber nicht mit mir!”

“Das wollen wir ja sehen”, entgegnete der Zoma dem und ein amüsiertes Lächeln spielte um seine Lippen. Aya war außer sich vor Zorn, ihm schien es nichts aus zu machen. Er erfreute sich sogar daran.

Jackin wollte nicht mehr zusehen, wie Shinri Aya verbal angriff. Er meldete sich leise drohend zu Wort: “Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du sie richtig behandeln oder ganz in Ruhe lassen sollst?”

Der Rest der Klasse - der sich noch hier befand - begann zu lachen. An ihrem Tisch wurde es langsam brenzlig. Ein falsches Wort und irgendwer von ihnen würde in die Luft gehen. Aya konnte Shinri nicht ausstehen, wenn er ihr sagte, was sie zu tun und lassen hatte. Das selbe dachte auch Jackin, der Aya glücklich sehen wollte.

Shinris Augen dagegen, blitzten nun seinerseits zornig auf. Niemand wagte es, sich gegen ihn zu stellen und sich in seine Angelegenheiten einzumischen. Wenn Aya sich gegen ihn auflehnte, dann durfte sie es. Er mochte diese Art an ihr. Sie war seine kleine Wildkatze, die er zähmen würde. Jackin aber, hatte nie dar Recht bekommen, sich gegen ihn zu stellen. Wollte er sich als großer Retter aufspielen? Oder ihm Aya wegnehmen? Der Hass, die in seinen Augen funkelte, konnte unermesslich groß werden. Jackin sollte lieber auf der Hut sein.

Ria wusste, was gut für Jackin war. Er durfte sich nicht mit Shinri anlegen. Niemand durfte es. Nur alleine Aya war es gestattet. Sie legte ihre Hand auf die Schulter des blonden Jungen und sah ihn eindringlich an, auch wenn dieser den Blick nicht erwiderte. “Jack, das ist nicht dein Brot. Lass sie in Ruhe. Du weißt, du gehörst zu mir, also mach mich glücklich und ignoriere sie wenigstens für heute Abend.” Sie sprach leise und flehend, doch erreichten ihre Worte nicht Jackins Ohr. Er sah weiterhin, wie gebannt, in die schwarzen Tiefen seines Gegenübers.

“Genau, Jackin. Höre lieber auf Ria. Sie weiß, was gut für dich ist, im Gegensatz zu dir. Aya gehört mir und niemand wird sich dazwischen stellen”, erklärte Shinri ihm.

“Hey! Ich hab ja wohl auch noch ein Wörtchen mitzureden!”, fauchte nun Aya ihrerseits und boxte Shinri kräftig in den Arm, dem es nichts auszumachen schien. Auf einmal bemerkte Aya die Stille, die im Raum herrschte. Alle Mitschüler blickten gebannt auf ihren Tisch. Manche von ihnen tuschelten bereits. Vielleicht schlossen sie Wetten ab, wer als Sieger hervorgehen würde.

Aya sprang auf. Sie war mehr als wütend auf Shinri. Wie oft hatte sie ihm schon widersprochen. Immer wieder hatte sie versucht, klarzustellen, dass sie nicht ihm gehörte. Nie nahm er es wahr. Sie war wirklich rasend vor Zorn. Am liebsten hätte sie ihm eine gescheuert, doch hielt sie sich zurück.

“Ich habe nie gesagt, dass ich zu dir gehöre. Wer ist denn ungefragt in mein Leben hereingeschneit und hat-.” Aya verstummte, als nun auch Shinri aufstand. Er überragte sie um einiges und wirkte groß und mächtig. Sein dunkler Schatten fiel auf sie, der sie wie eine Hülle umgab und sie lähmte. Schockiert hielt sie den Atem an. Ihr Blick war auf das Gesicht ihres Gegenübers gerichtet. Sie konnte seine Gedanken nicht ausmachen. Seine Züge wirkten eisern und ruhig. Nur das starke funkeln in seinen Augen verriet ihr, dass er äußerst wütend war. Doch Aya hielt seinem Blick stand.

Das Publikum hielt den Atem an. Jackin und Ria, die auf ihren Plätzen saßen, waren vergessen. Sie bemerkten nicht, wie Ria mit aller Macht versuchte, Jackin zu besänftigen, um ihn aufzuhalten. Das Augenmerk des ganzen Raumes lag auf Shinri und Aya, die sich nur schweigend in die Augen starrten, als trugen sie einen Kampf gegeneinander in Gedanken aus. Es flogen keine Worte mehr umher, wie zuvor. Keine lauten Schreie oder drohende Befehle und auch die Mitschüler hatten ihr Getuschel und Wetten abgestellt. Eine unangenehme Stille herrschte.

“Hey, was ist denn los?”, rief auf einmal eine Jungenstimme. Der Schüler schien wohl die Spannung nicht zu bemerkten, die im Raum hing. Er durchbrach die Stille und auf einmal löste sich etwas. Die Leute im Raum, die zuvor vollkommen in ein angespanntes Schweigen gefangen waren, begannen wieder ihre leisen Gespräche, was den Streit anbelangte. Ein Raunen und Tuscheln ging durch das Zimmer.

Auf einmal rief ein weiterer Junge laut: “Wieso tragt ihr nicht einfach einen Wettkampf aus?” Sofort stimmten weitere mit ein. Immer mehr fanden diesem Vorschlag mehr als passen und ein Ruf nach Wettkampf erhob sich. “Wettkampf! Wettkampf!”, riefen sie und das Rufen schwoll immer mehr an.

Ein hämisches Grinsen huschte auf einmal auf über Shinris Gesicht und auch die Anspannung zwischen ihnen löste sich. “Na, wie findest du den Vorschlag?”, fragte er in einem leisen Ton. Nur Aya vernahm seine Worte.

“Mir ist es recht. Um was spielen wir? Was ist dein Wetteinsatz? Und welche Disziplin?”, entgegnete Aya dem mit ernster Mine.

Shinris Hand glitt nach vorne. Seine Finger glitten sanft über Ayas und wanderten hinauf zu ihren Haaren. Ein seltsames Kribbeln befiel das Mädchen. Es war ein schönes, jedoch eigenartiges, Gefühl, wovon sie noch mehr kosten würde, wenn sie dürfte. Sie musste sich am Riemen reißen!

Shinris Hand spielte mit den brünetten Strähnen und er lächelte leicht vergnügt. “Ich trete gegen dich an in allem, was dir lieb ist. Ein Match. Nur du und ich. Sollte ich gewinnen, werde ich ganz bei dir einziehen, deine Wohnung wird auch meine sein. Und, hast du den Mumm dazu?” Er grinste schelmisch.

Aya wurde nervös. Sie verdammte sich dafür, dass er ihr begegnet war. Natürlich, sie konnte nicht wirklich was dafür, obwohl … hätte sie sich ihm gegenüber anders verhalten, wäre er vielleicht nicht so anhänglich oder hätte gar das Interesse verloren. Sie musste auf jeden Fall annehmen, denn sie wollte nicht als Feigling dastehen. Auch, wenn es für sie um viel ging, musste sie zustimmen. “Gut, abgemacht! Wenn ich gewinne, wirst du dich aber für immer von mir fernhalten!”

Ria atmete scharf ein, als missfiele ihr dies, aber sie sagte kein Wort. Shinri verstand sie auch ohne großes Reden, schließlich ging es für ihn um viel. Da er aber nicht vorhatte zu verlieren, ging er darauf nicht ein.

Seine Hand streifte ein letztes Mal Ayas weiche Haare. Als Aya ihm aber ihre Hand anbot, um die Wette zu besiegeln, verließ seine eigene ihren Platz und schlug ein. “Abgemacht! Worin werden wir uns nun messen?”, fragte er grinsend und neben ihm vernahm er das Seufzend seiner Cousine, als hätte er gerade sein Todesurteil unterschrieben.

“Wir spielen Tischtennis!”, meinte Aya entschieden und ihr Gesicht strahlte bereits siegessicher. Zuversichtlich verließ sie den Raum, gefolgt von allen anderen, die sich noch im Speisesaal befanden - allesamt Mitschüler von ihnen. In einem kleinen Raum, in dem zwei Tischtennisplatten aufgebaut worden waren, versammelten sie sich dann. Das Mädchen mit den schwarzen Haaren - das unauffällige, dass Aya neben Shinri gesehen hatte, holte Schläger aus der Rezeption und einen Ball dazu. Alle waren dafür, sie als Schiedsrichter aufzustellen, also stellte sie sich gewissenhaft an der Seite der Platte auf, die Schläger und den Ball noch immer in der Hand. Um den Tisch herum hatten sich die ganzen Schüler versammelt, etwa Zwei Meter abstand von der Platte haltend. Einige von ihnen hatten sich auch auf die zweite im Raum nieder gelassen.

Als die Schiedsrichterin das Zeichen gab, begann das Match und sofort zeigte sich, dass beide verdammt gut mit dem Schläger umgehen konnten. Der ball zischte von einer Seite zur anderen und immer wieder wurde er gehalten. Beide gaben dem anderen keine Chance zu gewinnen.

Der größte Teil der Klasse war auf Shinris Seite und sie feuerten ihre Favoriten lauthals an, aber ihre Meinung beeinflusste keineswegs das Spiel. Aya und Shinri waren so sehr auf den Ball und ihren Gegner fixiert, dass sie die meiste Zeit vergessen, dass sich noch andere mit im Raum befanden. Nur, wenn wieder ein Punkt an einen von beiden ging, vernahmen sie das Jubelnd und konnten kurz einen Blick auf ihre Mitschüler erhaschen.

Aya rann der Schweiß über die Stirn. Sie atmete schwer vor Anstrengung. Ihr Gegner bewegte sich anmutig und präzise. Sie musste aufpassen, dass sie den Ball nicht vergaß, um ihr Gegenüber anzustarren. Shinri spielte echt gut. Vielleicht hätte sie sich nicht selbst überschätzen sollen? Nein, sie wollte nicht verlieren! Sie musste diesen Kampf für sich entscheiden. Es war mehr als notwendig!

Jackin, der mit Ria hinter der Schiedsrichterin stand, betrachtete das Schauspiel gelöst und ruhig. Eigentlich wollte er, dass Aya gewann. Jedoch war Shinri ein ehrenvoller und sehr starker Gegner, so dass er ebenso den Sieg erringen könnte. Er genoss das Spiel. Noch nie hatte er zwei Menschen gesehen, die sich so sehr auspowerten. Es ging um viel für beide und keiner von ihnen wollte nachgeben.

Ria, die neben ihm stand, beobachtete das Schauspiel, den hin und her fliegenden Ball und die beiden Spieler, mit großer Anspannung. Am liebsten hätte sie eingegriffen und hätte an Shinris Vernunft appelliert. Doch kam es ihr nun mehr so vor, als wäre seine Vernunft verloren gegangen. Wie konnte er auch so töricht sein und sich auf diese Wetten einlassen, wie ein kleiner Junge?

Sie verstand, dass es für ihn verlockend war, für immer in Ayas Nähe sein zu können. Es stand aber viel mehr auf dem Spiel, als sich jeder im Raum vorzustellen vermochte. Dennoch, obwohl es um so viel ging, hatte Shinri ohne zu zögern eingewilligt. Er war stark, schnell, klug und mutig. Er hatte einen starken Willen. Sie hoffte stark auf seinen Gewinn und freute sich am meisten von allen, wenn er einen neuen Punkt für sich holte.

Es ging bereits auf 22 Uhr zu, als sich die Mitschüler zum größten Teil verabschiedet hatten. Einige Mädchen blieben, darunter natürlich die Schiedsrichterin. Ria und Jackin betrachteten das Spiel, dass noch immer kein Ende genommen hatte. Es war noch kein Sieger feststellen. Zwischen ihnen lag es Unentschieden, wie schon die ganze Zeit über.

Aya war außer Atem. Sie rang nach Luft und der Schweiß der Anstrengung lief ihr über das Gesicht. Auf Shinris Stirn zeigten sich auch einige Schweißperlen, doch atmete er ruhig und stabil, wie zu Anfang des Spieles.

Der letzte Aufschlag stand bevor. Wer den nächsten Punkt machen sollte, würde gewinnen. Wieder flog der Ball von einer Seite zur anderen. Das leise Aufprallen des Balles auf die Platte war zu vernehmen und das schwere Atmen des brünetten Mädchens, ansonsten herrschte Stille. Ria war müde, doch ließ sie sich nichts anmerken. Sie musste zusehen, musste Shinri beistehen. Sie wusste jetzt schon, dass sie nie so etwas mit Jackin machen würde, egal um was es ginge.

Aya fühlte sich nicht gut. Sie war müde und die Kräfte drohten ihr zu versagen. Der Ball kam auf sie zu und sie schlug ihn, wie zig Male zuvor auch. Das Holz ihres Schlägers traf auf Plastik und schleuderte die hohle Kugel zurück. Sie wusste nicht, was Shinri dachte, wie er sich eben fühlte, ob er nicht auch das Ende seiner Kräfte fühlte.

Wieder kam der Ball zurück und sie erwischte ihn ein weiteres Mal. Sie musste es schaffen, sie musste gegen ihn gewinnen. Ja, sie würde all ihre Kraft in den nächsten Schlag legen. Das Spiel wäre zu Ende und sie hätte gewonnen. Shinri konnte diesen Ball dann unmöglich aufhalten.

Schon kam ihre Chance auf sie zu geflogen. Sie sammelte ihre Kraft so gut es ging. Stark und präzise traf sie den Ball und hoffte, Shinri würde ihn nicht erwischen. Schon flog die Kugel los. Shinri grinste. Wieso?

Plötzlich flog der Ball tiefer und tiefer und knallte gegen das Metallnetz. Bevor Aya reagieren konnte, prallte der kleine Ball wieder zurück. Er hatte noch genug Energie durch ihren starken Schlag übrig und schlug ihr gegen die Stirn. Erschöpft und perplex ließ sie sich auf den Boden fallen. Sie atmete schwer. Ihr Körper fühlte sich bleiern und müde an. Sie hatte sich vollkommen ausgepowert. Doch war ihr das egal. Viel schlimmer war, dass sie verloren hatte. Gegen Shinri!

Noch immer benommen und außer Puste, blieb Aya auf dem kühlen Steinboden sitzen und beobachtete, wie Ria mit erleichtertem Gesichtsausdruck Shinri um den Hals fiel. Ebenso gingen nun die wenigen Schulkameradinnen, die geblieben waren, auf Shinri zu und beglückwünschten ihn.

“Geht es dir gut?” Jackin kniete sich neben ihr und sah sie besorgt an. Direkt hinter ihm stand ihre Schiedsrichterin, dessen Namen Aya immer noch nicht kannte. Außer ihnen kam sonst kaum jemand. Dankbar lächelte Aya ihrem besten Freund zu. “Es … geht”, seufzte sie enttäuscht. Sie konnte noch immer nicht glauben, dass sie wirklich verloren hatte.

“Nimm dir die Niederlage nicht so zu Herzen. Immerhin hast du gewiss noch einmal eine Chance für eine Revanche”, erklärte das schwarzhaarige Mädchen und lächelte sanftmütig. Sie reichte Aya ihre Hand, um ihr aufzuhelfen. Schläger und der Ball lagen auf der Tischtennisplatte.

Dankbar nahm Aya die Hand an und stand keuchend auf. Jackin sah sie erneut besorgt an, aber bevor er fragen konnte, lächelte Aya ihm entgegen und erklärte erneut: “Mir geht wirklich gut. Nur etwas müde.”

“Mach dir keine Sorgen, Jack. Ich bringe sie auf ihr Zimmer”, schaltete sich dann auch Ria ein und schmiegte sich an Jackins Arm. “Morgen wird bestimmt ein weiterer stressiger Tag.”

Jackin ließ es sich aber nicht nehmen, noch einmal zu fragen, ob Aya sich wirklich sicher war. Als sie wieder das selbe Antwortete, wandte er sich an Ria und bedankte sich lächelnd. Ria konnte nicht anders, als ihn zu umarmen, woraufhin Jackin leicht errötete. “Ja, dann. Gute … Nacht”, sagte er zu allen dreien etwas verlegen, wand sich dann um und verließ den Raum.

Shinri sah Aya eine Zeit lang an, bevor auch er sich widerwillig umwandte und Jackin schweigend folgte.
 

Es war Mitternacht. Der Mond schien hell am düsteren Himmel. Ein kalter Luftzug zerrte an den Blättern der Bäume. Die Nacht war zum Fürchten geschaffen. Die Schüler schliefen und bekamen von den knarrenden Holzdielen und dem wehenden Wind kaum etwas mit. Doch zwei der Betten waren leer.

Aya hatte die Nacht zu ihrem Tage gemacht. Endlich konnte sie sich in aller Ruhe ihr Bad gönnen und mit dem eiskalten Wind war das heiße Wasser nur noch angenehmer. Das Einzige, was sie störte, war die Dunkelheit. Obwohl sie bereits mit 12 Jahren alleine in ihrer Wohnung gewohnt hatte und sich in der ganzen Zeit daran gewöhnt haben sollte.

Sie hatte die Augen geschlossen und trieb durch das heiße Wasser. Der Dampf hüllte sie ein und am liebsten wäre sie hier eingeschlafen. Das Bad heilte ihren schmerzenden Körper und lockerte ihre verspannten Muskeln. So trieb sie einige Zeit, bis sie doch zu müde war, um noch lange auf zu bleiben. Sie stieg aus den Heißen Quellen heraus und schlang das große Tuch um ihren Körper. Als sie gerade die Schiebetür in das Haus erreichte, erklang ein Rascheln in den Bäumen, das gewiss nicht vom Wind erzeugt wurde.

Neugierig wand Aya sich um und starrte hinüber zu den Bäumen. Sie sah einen großen Vogel hinwegschweben. So groß, wie sie ihn nie zuvor gesehen hatte. Sie rieb sich die Augen und schob es auf ihre Müdigkeit, dann ging sie hinein, trocknete und zog sich um, bevor sie sich auf den Weg durch die dunklen, knarrenden Gänge machte. Es war so finster, dass sie kaum mehr die eigene Hand vor Augen sah und sie fühlte, wie die Angst in ihr hoch kroch. Doch sorgte sie sich auch darum, dass der Lehre sie vielleicht erwischte.

Eilig durchquerte sie die Flure und lauschte dem Knarren des Bodens, darauf bedacht, auch andere zu entlarven, sollte jemand hier herumschleichen. Doch zu ihrem Glück traf sie niemanden und schon bald betrat sie erleichtert ihr Zimmer. Der Raum lag fast ganz im Dunklen. Nur das Mondlicht, das durch das kleine Fenster hereinfiel, spendete Helligkeit.

Aya blieb in Mitten des Zimmers stehen und spähte nach Links. Auf dem Bett lag Ria. Sie schlief leise vor sich hin, eingehüllt in einer wärmenden Decke. Nachdem Aya sich darüber vergewissert hatte, dass sie nicht aufgeflogen war, legte sie sich in ihr eigenes Bett. Nach kürzester Zeit fielen ihr die Augen zu und sie glitt in einen traumlosen Schlaf.

Gleich nachdem Aya einschief, öffnete Ria ihre Augen, die in der Dunkelheit hell leuchteten. Geräuschlos setzte sie sich auf und blickte zu Aya, die dank der Müdigkeit, der Anstrengung und des Alkohols gewiss nicht so schnell aufwachen würde. Elegant warf Ria ihre Decke zurück und stand auf.

Da Ria sich sicher sein konnte, was Aya betraf, wendete sie sich dem Fenster zu. Der Mondschein warf einen Schatten in das Zimmer und zeigte ihr, dass der Besuch bereits hier war. Leise öffnete sie das Fenster. Kalter Wind strömte herein, gefolgt von einer Person, dessen Gesicht im Schatten lag.

“Er schläft. Geh zu ihm”, meinte der Besucher und Ria nickte dankbar. Sie schlich zur Tür und verabschiedete sich wortlos. Hier bei Aya fühlte sie sich einsam. Sie brauchte jemand anderen an ihrer Seite. Also ließ sie das Mädchen und ihn hier alleine zurück.

Es war dunkel, aber es machte ihr kaum etwas aus. Sicher und geräuschlos schlich sie die Flure entlang. Hinter einigen Türen konnte sie es schnarchen hören und auch das Knarren des Holzes, dass durch den Wind erzeugt wurde, blieb ihr nicht aus. Aber es war niemand mit ihr im Haus unterwegs. Unerkannt kam sie an ihrem Ziel an. Die Tür vor ihr war nur leicht angelehnt und dankbar öffnete sie diese. Auf Samtpfoten schlich sie herein. Das Zimmer war dem ihrem genau identisch und das eine Bett war leer, während auf dem anderen ihr geliebter Jackin schlief, die Decke bis zum Bauch hochgezogen und das Gesicht der Wand zugewandt.

Ria lächelte zärtlich, als sie ihn so schlafen sah. Seit sie am Donnerstag bei ihm eingezogen war, sah sie jede Nacht so ein liebliches Gesicht. Sie konnte nicht anders, als es zu lieben, so wie sie ihn liebte. Sanft fuhr sie durch seine blond gebleichten Haare und seufzte innerlich. Hatte Aya ihn jemals so gesehen? Sie hoffte nicht, denn sie wollte, dass dieser Anblick nur ihr alleine gehörte. Genauso wie Jackin nur ihr alleine gehören sollte.

Sie schob die Decke ein Stück zur Seite und ließ sich auf das Bett gleiten. Liebevoll kuschelte sie sich an Jackins Rücken. Endlich war sie alleine mit ihm. Keine Aya, nein, nicht einmal Shinri. Ria empfand in diesem Moment pures Glück. Sie hätte in diesen Augenblick nirgends anderswo lieber sein wollen, als hier. Sie fühlte seine Wärme, hörte seinen ruhigen Atem. Wenige Minuten später schlief dann auch sie ein, mit einem sanften Lächeln auf dem Gesicht.

Kapitel 10

Der Dienstagmorgen brachte warme Sonnenstrahlen und einen kühlen Luftzug mit sich. Sowohl die Tiere im Wald als auch die Schüler rappelten sich bereits auf. Einige waren draußen und kundschafteten die Umgebung aus. Andere hatten sich in die Heißen Quellen begeben.

Jackin war einer derer, die bereits sehr früh wach wurden. Ein kühler Luftzug fegte durch das Zimmer und riss ihn aus seinen Träumen. Das Fenster war offen und am Horizont tauchte die aufgehende Sonne den Himmel in ein Rot.

Sofort merkte er, dass er nicht alleine war. Ihm war weder kalt, noch hatte er eine menge Bewegungsfreiheit. Er musste nicht einmal nachsehen, um zu wissen, wer sich an seinen Rücken kuschelte und noch tief und fest schlief. Er konnte Rias Anwesenheit spüren. Ihre Gegenwart beruhigte ihn.

Er unterdrückte ein Gähnen, als er sich etwas aufrappelte, um sich Ria zuzuwenden. Sofort rückte sie wieder ein Stück näher an ihn ran und kuschelte ihren Kopf an seine Brust. Ihre Nähe ließ sein Herz etwas schneller schlagen. Es war eigenartig, ihr so nah zu sein, während sie so tief und fest schlief. Sie wirkte nicht mehr, wie das starke Mädchen, dass sich jedem widersetzte. Viel mehr hatte sie etwas zerbrechliches und zartes an sich und in Jackin erwachte der Drang, Ria zu beschützen, egal was kommen sollte.

Jackin strich sich über das Gesicht und seufzte leise. Was machte Ria nur mit ihm? Wer war das Mädchen, dass ihn so verwirrte. Egal, wie sehr er es versuchte, er schaffte es nicht, hinter ihre Fassade zu schauen. Manchmal war sie stark und widerspenstig und anderentags liebevoll und anschmiegsam. Er hätte zu gerne mehr von ihr gewusst, um sie besser zu verstehen.

“Ria, wir müssen aufstehen”, gähnte er und lächelte leicht, als er zusehen konnte, wie Ria langsam die Augen öffnete. Seit sie bei ihm eingezogen war, hatte er nie die Möglichkeit gehabt, sie schlafend zu sehnen. Immer schlaf sie nach ihm ein und wachte vor ihm auf. Aber heute sah er sie und er musste sich eingestehen, verschlafen sah sie verdammt süß aus.

Ria schüttelte den Kopf schnell und sog Jackins Duft ein. Es war wunderschön, neben ihm aufzuwachen. Ein Gefühl der Geborgenheit. Sie wollte noch nicht aufstehen. Aber das Knurren seines Magens rief sie zu Ordnung, bevor Jackin es tun konnte. Müde setzte sie sich auf und gähnte. “Okay. Lass uns essen gehen”, verkündete sie.

Jackin zog sich um und nachdem er fertig war, musterte Ria ihn mit einem sanften Lächeln. Er hatte seine kurzen Haare wieder nach oben gestylt und sie wusste, dass es nur wenigen zugesagt wurde, ihn mit seinen unfrisierten Haaren zu sehen - obwohl er damit verdammt süß ausgesehen hatte. Glücklich schmiegte Ria sich an Jackins Arm.
 

“Waaaah!” Aya schrie laut auf, kurz bevor sie aufwachte und sprang gegen das Holz über ihrem Bett. Zu ihrem Glück hörte niemand ihren Schrei, da die angelegenen Zimmer alle bereits leer waren. Aya hielt sich die schmerzende Stelle an ihrem Kopf und fluchte leise. Das pochen hörte nicht auf und das, was sie so erschrocken hatte, war noch immer in ihrem Zimmer.

Ihr Blick fiel erneut auf Shinri, der schlafend auf ihrem Fensterbrett saß, den Kopf an der Wand neben sich gelehnt und den kühlen Wind im Nacken, der mit seinen dunklen Haaren spielte. Das Fenster war nicht ganz zu, aber Aya hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Der Anblick hatte sie nämlich so dermaßen erschrocken, dass sie aufsprang, sich den Kopf anschlug und mit ihrem Schrei den Zoma weckte. Sie kam sich vor, wie ein Teil einer Kettenreaktion.

Shinri sprang weder auf, noch machte er sonst eine hektische Bewegung, doch als er die Augen öffnete, war er hellwach. Seine schwarzen Augen funkelten bedrohlich und beobachteten alles. Sprungbereit spannte er seine Muskeln an, als erwartete er jeden Moment einen Angriff. Aya schluckte bei diesem Anblick. Manchmal verhielt sich Shinri verdammt seltsam.

Nachdem der Junge - er saß noch immer auf ihrem Fensterbrett - die Situation verstanden hatte und keine Gefahr drohte, gähnte er herzhaft und fuhr mit seiner Hand durch seine schwarzen, dichten Haare.

Aya beobachtete Shinri eine Weile, bis sie das Rasen ihres Herzens bemerkte. Sie atmete tief durch, um dieses zu beruhigen, was ihr aber wie immer misslang. Um ihre Gefühle dann zu überspielen, stand sie auf, stemmte die Hände an ihre Hüften und funkelte Shinri an. Ihr war bereits aufgefallen, dass ihre Zimmergenossen nicht mehr in ihrem Bett lag. Wütend fuhr sie die einzige Person an, die sich mit ihr im Raum befand: “Was hast du hier zu suchen? Und wo ist Ria?!”

Shinri blieb weiterhin ruhig sitzen und ein angenehmes Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen. Er liebte es, wenn sie ihn mit diesem Blick musterte. Natürlich wusste sie dies nicht, was auch besser so war, schließlich würde sie ihn sonst überhaupt nicht mehr ansehen. Doch er brauchte sie, ihre Aufmerksamkeit, wenn auch nur durch Wut und Hass, ihre Stimme, ihre Nähe, ihre Wärme und ihre Zuneigung. Das letztere musste er sich wohl noch schwer erarbeiten, denn es sah so aus, als würde sie ihn nicht wirklich vertrauen und seine Nähe genießen.

Aber er wusste, dass sie ihm nur etwas vormachte. In Wirklichkeit fühlte sie sich zu ihm hingezogen und Gefühle konnte man schließlich nicht leugnen. Doch Aya tat ihr Bestes, um ihm das weis zu machen. Dabei belog sie aber nur sich selbst. Shinri wartete bereits auf den Moment, in dem sie von selber zu ihm kam. Aber dieser Tag schien noch in weiter Ferne zu liegen.

Shinri glitt vom Fensterbrett und ging auf Aya zu, die mitten im Zimmer stand. Geschmeidig schlich er auf sie zu und Aya wich keinen Millimeter zurück, da sie sich ihm stellen wollte, bis er dann direkt vor ihr zum stehen kam und sie ihren eigenen Fehler einsah.

Wieder wurde Aya von ihren Gefühlen überfallen. Ihr Herz raste noch schneller und eine unglaubliche Wärme breitete sich in ihr aus. Sie wünschte sich, ihm noch näher zu sein, doch wollte sie ihn auch gleichzeitig von sich stoßen, damit er ihre Schwäche nicht erkannte.

“Du solltest nicht so laut sein, Aya. Nicht das du jemanden aufweckst”, flüsterte Shinri leise und verführerisch, während sich sein Zeigefinger sanft auf Ayas Lippen legten. Schnell trat Aya einen Schritt zurück, um ihm auf Abstand zu bringen. Er blieb sogar stehen und folgte ihr nicht, doch sagte sein Blick ihr, dass er nur auf den geeigneten Moment wartete.

“Ich darf so laut sein, wie ich möchte!”, zischte Aya ihm zu.

“Wenn du das meinst. Ich werde erst einmal essen gehen”, meinte Shinri mit einem leisen Grinsen und zu Ayas Überraschung verließ er das Zimmer, aber nicht ohne noch einmal Ayas brünette Strähnen zu berühren.

Verwirrt starrte das Mädchen die Tür an, die sich hinter ihm schloss. Sie konnte noch immer nicht glauben, dass sie jetzt wirklich wieder alleine war. Eigentlich forderte Shinri sie immer heraus, bis sie vor Wut platzte, aber heute schien er nicht in der Laune zu sein. Schließlich war er einfach gegangen. Hatte er die Interesse an ihr verloren, oder war es wirklich nur der Hunger, der ihn dazu trieb, sie hier alleine stehen zu lassen. Egal was es war, Aya sollte es lieber nicht ergründen. Eigentlich müsste sie sich glücklich schätzen, endlich wieder alleine zu sein.

Den Gedanken an Shinri verdrängend zog sie sich um und richtete sich her. Sie hatte ebenfalls Hunger und wusste, auch wenn sie Shinri nicht begegnen wollte, würde sie es doch zwangsläufig tun. Schnell schloss sie noch das Fenster und verließ das Zimmer. Dabei versuchte sie an alles mögliche zu denken, nur nicht an Shinri. Sie begann sich vorzustellen, was es wohl zu Essen gab und was Jackin gerade tat.

Nachdem sie aber vor der Tür stand, gingen all ihre wieder nur in ein und die selbe Richtung. Ihr Herz setzte vor Schock kurz aus, bevor es wieder begann zu rasen. Sie drückte sich an die Tür - die sie leider wieder geschlossen hatte. Es dauerte zwei Sekunden, bevor sie sich von dem Schock erholt hatte und stattdessen wieder die Wärme in sich fühlte. Direkt vor ihr im Flur stand Shinri.

Sie warf ihm einen anschuldigenden Blick zu und ging eilig an ihm vorbei. Sie musste ihn und die Gefühle endlich loswerden, nur wie? Schließlich konnte sie ihrem Herzen schlecht einen Befehl geben. Es würde weiterhin für Shinri schlagen.

Kurze Zeit später lief Shinri neben ihr her. Wütend, ohne ihn jedoch anzusehen, schimpfte sie ihn: “Du spinnst doch! Mach das ja nie wieder!” Aber Shinri sah keineswegs Schuldbewusst aus. Er lächelte unschuldig und alles deutete darauf hin, dass nichts war. Aber seine Augen sprachen eine andere Sprache. Sie funkelten amüsiert. Gewiss machte es ihm Spaß, Aya zu ärgern, und genau diese Tatsache machte sie so furchtbar zornig.

Als sie im Speisesaal ankamen, waren die meisten Tische besetzt. Beide nahmen an dem Tisch Platz, an dem auch Jackin und Ria schon saßen. Ihre Mitschüler - die an den anderen Tischen saßen - wanden immer wieder die Köpfe zu ihnen und sprachen sie an. Alle wollten wissen, wer das Match gewonnen hatte, schließlich ging dieses bis in die Nacht und keiner von ihnen war bis zum Schluss dabei gewesen, außer ihre Schiedsrichterin.

Aya spürte, wie ihr Mut sank, als Ria ihnen von Ayas Niederlage berichtete. Es ärgerte sie und machte sie auch teils traurig, dass sie wirklich versagt hatte. Schließlich hatte sie ihr bestes gegeben, aber das Beste war nicht genug gewesen.

Sie gab die Hoffnung noch nicht ganz auf. Vielleicht ergab sich wirklich eine Revanche. Nur fiel ihr nicht ein, in was sie sich noch mit Shinri messen sollte. Schließlich konnte er sogar besser kochen als sie und das, obwohl sie seit Jahren alleine lebte.

Der Dienstag verlief in einem ruhigen Ablauf. Aya wollte natürlich von den Zomas wissen, was sie in dem jeweilig anderen Zimmer zu suchen gehabt hatten, aber sie wollte es nicht gegenüber Shinri erwähnen, sonst kam dieser wieder auf dumme Gedanken. Schließlich entschied sie sich dafür, zu schweigen. Wortlos verabschiedete sie sich vom Tisch und ging auf ihr Zimmer. Nachdem sie die wichtigsten Sachen zusammen gerafft hatte, erschien sie kurz darauf in den Heißen Quellen.

Die wenigen Mitschülerinnen, die ebenfalls hier waren, wollten mit ihr über das Match und Shinri sprechen. Da sie aber hierher gekommen war, um endlich abzuschalten und nicht weiter an ihn zu denken, schickte sie die Mädchen allesamt schlechtgelaunt weg. Immerhin hatte sie Berry bisher nicht ein einziges Mal mehr getroffen. Ein gutes Omen.

Ja, sie hatte vorgehabt, die Heißen Quellen zu genießen, doch das heiße Wasser und der Wind, der durch die Baumkronen tanzte, konnten ihre Gedanken nicht ablenken und besänftigen.

Immer wieder ertappte sie sich dabei, wie sie an Shinri dachte. An das erste Treffen und den ersten Kuss. Seit sie ihn von der Bank gerissen hatte, schien ihr Leben einen eigenartigen Weg zu gehen. Es war, als wären sie vom Schicksal füreinander bestimmt worden und sie konnte es nicht verhindern.

Natürlich konnte sie ihre Gefühle leugnen und ihm aus den Weg gehen, aber das würde auf lange Zeit nichts bringen. Shinri schien sie zu finden, egal wo sie war, und sie wollte Jackin nicht alleine zurück lassen. Andererseits … brauchte er sie überhaupt noch? Er hatte jetzt Ria. Sie schien ihm mehr zu bedeuten, als er vielleicht im Augenblick selbst erkannte, aber Aya wusste es. Die beiden gehörten zusammen und Jackin würde Ria nicht verlassen. Nein, das würde er wirklich nicht.

Aya schwamm einige Bahnen durch die Heiße Quelle, um die Gedanken aus ihrem Kopf zu treiben. Sie versuchte sich auf das heiße Wasser zu konzentrieren, das ihren Körper umschmiegte. Und irgendwann schaffte sie es, Shinri wenigstens für einige Minuten zu vergessen.
 

Der Abend brach an und die Dämmerung legte sich über das kleine Grundstück. Nebenschwaden bildeten sich über dem Boden und verliehen der Nacht etwas Unheimliches und doch Faszinierendes.

Aya verließ das Gebäude zur Abendszeit. Die Nacht rief aber nach ihr und sie ertrug es drinnen nicht länger. Auf dem Treppen des Haupteingangs setzt sie sich nieder. Die Kälte des Steines kroch durch ihre Jeans. Sie ignorierte das Frösteln und leichte Zittern ihres Körpers, zog die Beine an und ließ ihren Kopf auf ihren Knien ruhen. Müde und Gedankenversunken richtete sich ihr Blick auf die Nebelschwaden.

Der Tag war ruhiger verlaufen, als erwartet. Eigentlich war Aya es gewöhnt, dass der Zoma ihr auf Schritt und Tritt folgte, sie keine Sekunde aus den Augen ließ und nicht von ihrer Seite wich, aber heute hatte sie ihn weder gesehen, noch seine Anwesenheit gespürt.

All ihre Zeit hatte sie nur für sich gehabt. Sie genoss das Bad in den Heißen Quellen, spielte einige Runden Tischtennis mit einer Mitschülerin und ruhte sich schweigend in ihrem Zimmer aus; Nie hatte Shinri sich blicken lassen. Selbst zur Mittagszeit war sie ungeduldig auf ihren Platz gesessen, aber Shinri war nicht erschienen. Es war fast so, als mied er sie. Ihr Gedanke sagte ihr, dass es das Beste für die Beteiligten war, denn jetzt konnte sie anfangen, sich wieder von ihm zu lösen.

Ihr Herz machte ihr aber einen Strich durch die Rechnung und schrie vor Traurigkeit. Es wollte in tausend Stücke zerspringen. Aya wusste nicht mehr, wie sie diese Situation betrachten sollte. Es war unmöglich, mit ihm weiter zu leben. Sie wollte ihn von sich stoßen, vergessen und nie wieder sehen, aber genau dieser Gedanke schmerzte in ihrer Seele. Ihr wurde langsam Klar, dass Shinri sehr viel Macht über sie hatte. Vielleicht mehr, als sie sich vorstellen konnte.

Leise ging hinter ihr die Tür auf. Aya schrak aus ihren Gedanken und wand sich um. Ihr Herz hoffte, Shinri zu begegnen. Nur mit Mühe konnte sie die Enttäuschung verbergen, als sie ein Mädchen erblickte, welches sich als die unauffällige Schiedsrichterin entpuppte.

Etwas nervös trat sie auf Aya zu. Zögerlich fragte sie: “Könnte ich … mich zu dir setzten, oder möchtest du lieber alleine bleiben?” Sie wollte nicht stören und blieb einen Meter von ihr stehen, um sie nicht zu bedrängen. Aya fragte sich, wieso sie noch nie mit ihrer Mitschülerin gesprochen hatte. Das Mädchen schien sehr freundlich zu sein und Aya kam nicht umhin, ihr zu gewähren, sich neben sie zu setzten.

“Gerne. Hier ist genug Platz für zwei. Ach übrigens. Wir gehen ja in die selbe Klasse, aber ich weiß deinen Namen nicht. Ich bin Aya.” Aya reichte dem Mädchen die Hand und lächelte ihr munter zu. Die Tatsache, dass sie von fast keinem den Namen kannte, ließ sie ungeachtet.

Dankbar nahm das Mädchen Platz und schüttelte Aya die Hand. “Ich bin Nora”, erklärte sie und lächelte sanftmutig. “Und ich wollte dich etwas fragen.”

“Okay. Tu das”, entgegnete Aya dem. Eigentlich hatte sie selbst auch einiges zu fragen, schließlich hatte sie Nora einmal neben Shinri stehen sehen. Was hatten die beiden zu schaffen?

Nora nickte dankbar. “Eigentlich dürfte es mich nicht interessieren, aber könnte es sein, dass du und Shinri Streit habt?”

Ayas Züge entgleisten ihr. Fassungslos starrte sie Nora an. Streit? Mit Shinri? Sie wusste nicht, was sie dazu hätte sagen sollen. Eigentlich, dass wusste Aya, hätte sie lauthals ihren Zorn herausgeschimpft und Shinri für alles verflucht. Sie hätte ihn für alles verdammt, was ihr nur einfiel, aber Nora verströmte so viel Ruhe und Besonnenheit, dass Aya die bösen Worte verdrängte.

Schnell beruhigte sie sich wieder, damit sie Nora nicht mit ihrer aufbrausenden Art verekelte. Ihre Klassenkameradin machte sich Sorgen. Aya war ihr dankbar. Sie kannte nicht viele Leute, die auf ihrer Seite standen, die mit ihr reden wollten, und sie nahm es ihnen nicht einmal übel. Wer verstand schon eine Einzelgängerin, wie sie es war. Nie, in ihrem ganzen Leben, hatte sie irgendwo dazu gehört. Immer war sie einsam. Nur Jackin hatte ihrem Leben einen Sinn gegeben, bis nun Shinri kam und ihre ganze Welt auf den Kopf stellte.

“Wir … wir haben nicht gestritten. Nicht so, wie du dir das vorstellen magst. Ich bin nicht mit ihm zusammen, auch wenn jeder das denkt. Ich will nur meine Ruhe vor ihm, aber er weiß anscheinend nicht, was dieses Wort bedeutet.” Es schwang Verärgerung in Ayas Stimme mit und Trauer. Sie wollte alleine sein, obwohl sie die Einsamkeit hasste. Shinris Nähe war unerträglich, doch wünschte sie ihn nie verlassen zu müssen. Sie verstand sich selber nicht mehr. Wer konnte ihr bei dieser Frage helfen?

Nora, die wohl normalste und freundlichste ihrer Klasse, sah Aya lächelnd an. Höflich erkundigte sie sich: “Du willst gar nichts von Shinri? Wieso?”

In Aya herrschte ein Chaos der Gefühle. Natürlich konnte niemand ihre Beweggründe verstehen, schließlich kannten sie Shinri nicht so, wie sie ihn kannte. Niemand wusste, wie egoistisch und herrschsüchtig er war. Doch obwohl er sich einfach in ihr Leben geschlagen hatte, konnte sie ihm nicht aus vollem Herzen böse sein. Auch wenn er sich so komisch benahm, sie war ihm nicht egal und das war etwas, dass sie von kaum jemanden kannte. Selbst ihre Eltern hatten sie zurückgelassen, aber Shinri setzte alles daran, bei Aya zu bleiben. Sie hätte ihm dankbar sein müssen. Wahrscheinlich war sie es auch, tief in ihrem Herzen.

Die schwarzhaarige Nora räusperte sich. “Na ja … ich meinte ja nur …”, fing sie an und suchte nach den richtigen Worten. “Shinri scheint mir eigentlich ganz nett zu sein. Ich kenne ihn nicht so gut, wie du vielleicht, aber er hat dich vor Berry beschützt und scheint wirklich an dir zu hängen.”

Mit einem betrübten Blick starrte Aya auf ihre Hände. Nora hatte vollkommen Recht. “Hast du … ihn damals zu mir gebracht? Ich habe dich bei ihm gesehen.”

Nora lächelte etwas verlegen. “Ja, hab ich und jetzt haben wir auch den Grund, weswegen ich bei dir bin. Berry.” Sie sah Aya eindringlich an. “Du musst aufpassen. Das Mädchen hat einen Narren an Shinri gefressen - falls es dir aufgefallen sein sollte. Sie würde nur alles erdenkliche tun, um dir das Leben zu erschweren. Also dann. Ich werde dann wieder gehen. Ich hoffe, ich hab dir deine Zeit nicht gestohlen.” Nora lächelte freundlich, wand sich dann um und verschwand, bevor Aya ihr etwas entgegnen konnte.

“Nein … hast du nicht”, murmelte Aya, als Nora bereits im Gebäude war. Aya fragte sich aber immer noch, was Shinri gerade trieb. Wo war er?

Auf einmal lenkte sie ein Rascheln ab und sie warf einen Blick in den düsteren Wald. Es war verdammt dunkel. Etwas nervös sah sie weiterhin in das Dickicht, schließlich schien es sich hier nicht um ein Tier zu handeln. Doch dann wurde es ihr doch zu viel. Sie stand auf und wollte ins Haus gehen, als im selben Moment Shinri am Waldrand erschien, mit Ria im Schlepptau. Von Jackin war keine Spur.

“Mein Gott! Der glaubt wohl, wir haben nichts besseres zu tun”, murrte Ria und fischte ein Blatt aus ihren Haaren. Schnell eilte sie Shinri hinterher. Doch gleich darauf erspähte sie Aya, welche ihre rehbraunen Augen auf die beiden gerichtet hatte. Schnell eilte Ria an Shinri vorbei - flüsterte ihm dabei aber irgendetwas ins Ohr. Dann lief sie in das Gebäude, ohne Aya einen weiteren Blick zu schenken. Das Mädchen blieb stehen und sah zu, wie der Zoma auf sie zukam.

“Was hast du hier draußen zu suchen? Es ist hier gefährlich”, tadelte Shinri sie und ging ihr voran ins Gebäude.

“Wo ich bin, geht dich überhaupt nichts an! Aber was hattest du mit Ria im Wald zu suchen?”, knurrte Aya ihrerseits. Nicht nur, dass Shinri Geheimnisse vor ihr hatte, er musste ihr immer wieder zu Gemüte führen, was angeblich das Beste für sie war. Doch Aya ließ sich nicht von ihm sein Leben bestimmen.

“Bist du etwa eifersüchtig, Aya? Du musst keinen Grund zur Sorge haben”, neckte Shinri das brünette Mädchen, welches sich gleich darauf noch mehr aufregte.

“Tja! Ich und eifersüchtig! Der Einzige, der hier immer eifersüchtig ist, bist ja wohl du!” Aber Shinri kam nicht dazu noch etwas darüber zu sagen, denn sie betraten bereits den Speisesaal, der wieder brechen voll war mit Menschen und Stimmengewirr. Es war so laut, dass Aya ihn gar nicht verstanden hätte, hätte er irgendetwas gesagt.

Sie ließ den Blick kurz durch den Raum gleiten, machte dabei sowohl Nora als auch Berry aus, die weit voneinander entfernt saßen. An einem Tisch hatten Jackin und Ria Platz genommen. Genau dorthin führten Shinri und Ayas Wege. Sie begannen mit dem Essen. Alles verlief recht still, dass Aya es kaum glauben konnte. Natürlich plagte sie der Gedanke daran, was Shinri im Wald zu suchen gehabt hatte. Das die Zomas ihr etwas verschwiegen, war ihr bereits seit längerem Klar.

Das Abendessen ging langsam dem Ende zu und nur noch wenig Zeit verblieb, bis alle herausgeschickt werden würden. Herr Heulsu verließ auch kurz nach einer kurzen Rede das Zimmer und schon begannen die Schüler einiges auszuhecken. Eigentlich mussten sie um zehn Uhr Abends bereits im Bett lieben, aber keiner von ihnen war müde genug und so planten die, die noch hier waren, einige interessante Ausflüge.

Ein Junge von ihnen schlug sogar eine Nachtwanderung vor. Eine Mutprobe, bei der die ganzen Mädchen lieber weghörten, da sie sich ungern bei Nachts in den Wald schlichen. Am Ende fanden sich sechs mutige Jungs zusammen, die den Wald erkunden wollten.

Natürlich suchten sie noch immer eifrig weitere Mitstreiter. Einer von ihnen wand sich dann auch an Shinri und dessen Tischnachbarn: “Möchte vielleicht einer von euch mitmachen? Wie wär’s?” Der Blick des Mitschülers ging durch die Runde und verweilte an jedem einzelnen der vier Kandidaten. Jackin und Shinri sahen sich dann auf einmal an, das erste Mal an diesem Tag. Sofort nickten sie zustimmend und die herausfordernde Spannung, die zwischen ihnen stand, war kaum übersehbar.

“Aya wird wohl kaum mitmachen wollen. Sie hat viel zu viel Schiss”, meldete sich dann Ria zu Wort. Ihre hellblauen Augen funkelten belustigt, während sie sich zärtlich an Jackin schmiegte.

Sofort verneinte Aya diese Aussage und stimmte zu. Das war auch gleichzeitig eine gute Gelegenheit, gegen beide Zomas gleichzeitig anzukämpfen, dachte sie sich. Also wand sie sich auch an Shinri und meinte siegessicher: “Ich möchte eine Revanche. Wenn ich schneller als du sein sollte, wirst du nicht bei mir einziehen!”

“Und wenn ich gewinne, dann erwarte ich einen Kuss von dir”, entgegnete Shinri dem mit einem amüsierten glitzern in den schwarzen Augen. Aya wusste nicht, ob ihr Plan wirklich gut war, doch ein Zurück war undenkbar. Schließlich wollte sie nicht als Feigling dastehen.

“Und, was ist mit dir, Ria?”, fragte Aya dann bissig und mit wohlwollendem Gesichtsaudruck. Ihr war jedes Mittel recht, um Ria eines auszuwischen. Daher gefiel es ihr weniger, dass die Blondine sich besonnen zeigte. “So etwas habe ich nicht nötig. Es ist viel zu gefährlich.”

Aya lachte auf, als sie die Worte der anderen vernahm. “Ha! Du hast doch nur Angst! Feigling!”

Die Beleidigung schien Ria nicht auf sich sitzen lassen zu wollen. Doch anstatt sich aufzuregen, wie Aya, blieb sie ruhig und sprach gelassen: “Ich bin kein Feigling, dass solltest du wissen. Mir scheint der Wald nur zu gefährlich für eine derartige Mutprobe. Aber, um dich nicht alleine zu lassen, werde ich dich gerne begleiten.” Obwohl man es ihrer Stimme nicht anmerkte, war sie wütend. In ihren Augen funkelte der Zorn bedrohlich auf und Aya erfreute sich daran. Sie hatte Ria umgestimmt. Der Abend schien interessant zu werden.

Kapitel 11

Nacht um elf Uhr trafen die zehn Schüler sich draußen vor dem Wald. Zuvor waren sie gemeinsam den Weg entlang gegangen, den sie für die Mutprobe bestimmt hatten. Zuerst ging es einen Hügel hinauf, an Eichen vorbei. Den Weg folgend kamen sie an einem großen Stein an, an den sie Kerzen zurück ließen, die dann die zwei, die die Mutprobe gemeinsam bestritten, wieder abholen mussten. Insgesamt waren es fünf Kerzen. Sollte diese Aufgabe gemeistert sein, mussten sie weiter marschieren, den Hügel wieder hinab, an einer dunklen, unheimlichen Höhle vorbei und wieder zurück zu den anderen.

Da der Plan fest stand, losten sie als nächstes durch Streichhölzer die Pärchen aus. Der Zufall entschied sich für Aya und Ria als drittes Team. Vor ihnen kam Shinri und nach ihnen Jackin mit einem anderen Mitschüler dran.

Das erste Paar setzte sich bereits in Bewegung, um die Mutprobe hinter sich zu bringen, während die, die hier bleiben, die Zeit stoppen mussten. Die beiden Jungs waren zuversichtlich und erfreuten sich bereits an der Dunkelheit des Waldes. Aya teilte mit ihnen diese Zuversicht. Das Einzige, was sie an dieser Probe störte, war Rias Anwesenheit. Sie waren die einzigen beiden Mädchen und schon steckte das Schicksal beide in einem Team. Zu gerne hätte sie die Zeit mit Jackin genutzt, um das Problem zwischen ihnen aus den Weg zu schaffen, welches ihre eigene Dummheit heraufbeschworen hatte.

Einige Zeit warteten die Schüler auf ihre Kollegen. Nach einer Weile erschienen diese beiden hinter den Bäumen und einer von ihnen schwenkte siegesfreudig die Kerze. Die Jungs lachten ausgelassen. Niemand bemerkte die heraufziehenden, verschwörerischen Wolken, die den Himmel unheilverkündend bedeckten. Kühle Luft kam auf und der Wind blies stark durch den stillen Wald.

Nur Shinri bemerkte das aufkommende Unwetter, während er mit seinem Mitschüler auf dem Weg durch den Wald machte. Eine Unruhe regte sich in ihm. Er wollte Aya und Ria zurückpfeifen, als sie sich dann auf den Weg in den Wald wagten. Doch sie hörten nicht auf ihn. Er musste sich in Geduld üben. Ria würde es ihm nie verzeihen, wenn er ihr diese Chance verbaute, sich zu beweisen. Sollten sie aber seine Hilfe brauchen, wäre er sofort zur Stelle.

Aya und Ria liefen nebeneinander den Hügel hinauf, immer dem Weg folgend. Es war ungewöhnlich ruhig zwischen ihnen. Obwohl Aya diese Zweisamkeit hätte nutzen können, schwieg sie. Auch Ria wirkte sehr zurückgezogen und unnahbar. Kein böses Wort fiel zwischen ihnen, aber auch kein gutes. Irgendwann hielt Aya diese Stille nicht mehr aus. Eine Frage drängte sich auf, die sie sonst nie hätte fragen können, weil die Jungs immer in ihrer Nähe waren. „Ria, wieso hängst du eigentlich so sehr an Jack?“ Sie machte sich Sorgen um ihren besten Freund und wünschte sich nur das beste für ihn.

Ria blickte auf. Ein unergründliches Lächeln legte sich auf ihre Lippen, als sie antwortete: „Na ja. Es ist das selbe, was auch dich und Shinri verbindet. Jack und ich gehörten einfach zusammen.“

„Was soll das eigentlich immer mit diesem Du-gehörst-mir-Quatsch? Ich verstehe euch echt nicht! Du meinst bestimmt wieder das eigenartige Zeichen. Das ist doch nur Zufall!“, regte sich Aya laut auf. Eigentlich wusste sie, dass es kein Zufall sein konnte, aber sie wollte sich den Glauben nicht nehmen lassen, an dem sie so verzweifelt hing.

Ria schüttelte wissend den Kopf. “Du nennst es Zufall, aber es ist Schicksal. Wenn die Zeit gekommen ist, wir mein Cousin dir alles genau erzählen. Aber jetzt ist es noch zu früh.”

Das brünette Mädchen blieb wie stehen. Ihre Züge waren eine einzige Frage und jeder Trottel hätte ihr angemerkt, dass sie eben etwas erfahren hatte, dass sie nie für möglich gehalten hätte. Ria kicherte leise, als sie in ihr Gesicht sah und zog somit den Zorn ihrer Mitstreiterin auf sich.

Schnell schüttelte Aya die Lähmung des Schocks beiseite und folgte wieder dem Weg. In ihren Gedanken versuchte sie die Information zu verarbeiten. Ihr fiel nämlich erst jetzt auf, dass sie sich nie gefragt hatte, wie die beiden zueinander standen; Sie waren Cousin und Cousine. Somit hatte sie mit zwei Zomas zu tun und diese Einsicht schmerzte sehr. Diese Familie schien der Hölle entsprungen zu sein, so plötzlich und unerbittlich wie sie aufgetaucht waren. Ohne Rücksicht auf Verluste verfolgen sie immer ihren eigenen Plan. Aya schien ihr höchstes Opfer zu sein, denn genau so fühlte sie sich im Moment. Ihr war, als hätte man ihr ein Brett an den Kopf geschlagen, um ihr endlich die Augen zu öffnen. War Ria wirklich gut für Jackin?

Aya verließ den Gedanken, Ria und Shinri würden einen fiesen Plan verfolgen, und fuhr das Thema weiter fort: “Was ist eigentlich mit der Liebe? Ihr sagt immer, wir seien euer Eigentum, wir gehören euch, aber was hat das für einen Zweck, jemanden mit Gewalt an sich zu binden? Wo bleiben die Gefühle?”

Der zunehmende Wind drängte gegen Aya und zog an ihren Sachen, während sie versuchte, den Hügel zu erklimmen, um Ria einzuholen. Es war mühselig, doch sie gelangte schon bald an ihr Ziel. Sie bemerkte unter der ganzen Anstrengung kaum, dass Ria nicht antwortete. Sie schwieg und die Stille war bedrückend. Ihr betrübter Blick war auf den Boden vor ihren Füßen gerichtet. In ihren Gedanken war sie weit fern der Gegenwart. Ihr Aussehen verriet die Traurigkeit in ihrer Seele. Ein tiefes Mitgefühl breitete sich in Aya aus. Sie wollte Ria trösten, ihren Kummer vertreiben und sie Lächeln sehen.

Eigentlich war sie fest darauf aus, ihre Mitschülerin für immer zu hassen. Sie stellt sich rigoros zwischen Jackin und Aya. Ein großer Grund, sie nicht zu mögen. Jetzt erfuhr sie sogar, sie wäre Shinris Verwandte. Ein weiterer Grund. Zu guter Letzt hatte Ria einen Charakter mit dem Aya nicht klar kommen konnte. Wie konnte man ihr verübeln, sie nicht mögen zu wollen? Doch trotz den Augenblicken des Streites und den Hass, den Aya versuchte gegenüber Ria beizubehalten, war es ihr nicht möglich, den Kummers der Mitschülerin zu ignorieren.

“Du weißt nichts, Aya. Du weißt rein gar nichts von unserer Familie”, erklang dann irgendwann Rias Stimme. Sie hatte wieder Mut gefasst und sah selbstsicherer aus. Sofort verging Aya der Drang, sie zu trösten.

“Wie soll ich denn etwas wissen, wenn ihr es mir nicht erzählt?”, schimpfte sie und versuchte erneut mit Ria schritt zu halten.

“Wir werden es euch nicht erzähl-!”, schimpft Ria ihrerseits, verstummte aber kurz darauf, als ein Wassertropfen ihr ins Gesicht fiel. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck und sie wischte den Tropfen so schnell wie möglich beiseite. Doch half es ihr nichts, denn kurz darauf stürzte das Wasser wie aus Eimern auf sie herab.

“Verflucht!”, zischte Aya auf. “Wir haben es gleich, Ria! Dort vorne sind die Kerzen!” Doch Ria war im Gedanken ganz wo anders. Sie starrte aus schreckgeweiteten Augen in die Ferne. Doch es war nicht das, was sie sah, sondern das was sie spürte, dass ihr den großen Schock verpasste. Der Regen durchnässte ihre Haare und ihre Kleidung. Vor Kälte begann ihr Körper zu zittern.

Aya sah dem nicht länger zu. Schnell ergriff sie Rias Hand und zog sie mit sich. “Wir müssen das schnell hinter uns bringen, komm!” Somit riss sie das Mädchen aus ihren Gedanken und gemeinsam kämpften sie gegen das Unwetter an.

Der Wind, der über das Land fegte, brachte einen starken Schauer mit sich, der immer mehr zunahm. Die nasse Kleidung war nun eines der kleinsten Probleme, da beide Mädchen kaum mehr fünf Meter weit sahen und den Weg fast erahnen mussten. Dennoch liefen sie uneingeschränkt weiter und kämpften gegen den Wind, die drängenden Regentropfen und den tiefen Schlamm unter ihren Füßen an.

Vor ihnen erschien ihr Ziel. Erleichtert atmete Aya auf und schnappte sich die Kerze. Ria wartete wenige Meter weiter weg auf sie. Nervös, wie nie zuvor.

Sofort traten sie den Heimweg an und beschlossen, bis der Regen nachließ Schutz in der Höhle zu suchen. Sie stampften durch den Matsch, der sich unter ihren Füßen bildete und immer weicher zu werden schien, den Hügel hinab, darauf bedacht, nicht auszurutschen; Es bewies sich als schwierig.

Das Wasser rann unaufhörlich vom Himmel herab und befeuchtete den Boden, bis sie dachten, sie würden irgendwann darin versinken, wie in Treibsand. Die matschige Erde ruinierte ihre Hosen, aber beide ließen es ungeachtet. Ria wünschte sich nur noch eines, ins Trockene zu kommen und Aya wollte genau das selbe.

Doch auf einmal erhellte sich der Himmel über ihnen, gefolgt von lautem Donnern. Aya betrachtete den Himmel, als ein weiterer Blitz folgte. Sie schüttelte den Kopf. Damit hätte sie rechnen müssen. Sollte jemals das Unwetter angefangen haben, in diesem Ausmaß, dann war das Gewitter nicht mehr weit. Seufzend lief sie weiter. Unter dem nächsten Donnergrollen vernahm sie einen lauten Schrei. Schockiert fuhr sie herum.

Ria hatte sich nicht mehr vom Fleck bewegt. Sie stand nur wenige Meter hinter Aya, die Augen fest zugekniffen und die Hände auf die Ohren gelegt. Ein leises Wimmern entrang sich ihrer Kehle, als der nächste Blitz über das Land zuckte, gefolgt vom Grollen des Himmels. Einmal mehr empfand Aya ein tiefes Mitgefühl für Ria. Nun gesellte sich auch eine leichte Panik mit dazu, als sie dieses Bild miterleben musste. Sie wusste nicht, was mit Ria los war, doch wollte sie ihr helfen.

“Ria? Was hast du? Kann ich dir helfen?”, bat Aya flehend. Ihr war, als wäre Ria in einer anderen Welt. Sie bekam weder eine Antwort, noch regte sie sich, als die Worte erklangen. Verzweifelt betrachtete Aya ihre Mitschülerin, die einem inneren Kampf ausgesetzt war. Hilflos sah sie zu.

Als der nächste Donnerschlag ertönte schrie Ria dieses Mal laut auf und Tränen rannen über ihr Gesicht. Sie war nicht mehr in der Gegenwart, sondern weit weg, in einer Welt, die Aya nicht kannte. Sie vermutete wage, dass Ria in der Vergangenheit festsaß. Was sollte sie jetzt tun? In diesem Moment wünschte sich Aya, Shinri wäre hier. Er wüsste, wie er Ria helfen konnte, welche Worte sie jetzt brauchte, um getröstet zu werden.

Auf einmal erschrak Aya. Ria schien es kaum mitzubekommen, als der Boden nachgab. Halt suchend umklammerte Aya den nächstbesten Baum, während sie mit ansah, wie Ria in die Richtung des nächsten, baumbeschmückten Abhang hinuntergezogen wurden.

Schnell stürzte Aya hervor und griff nach der Mitschülerin, um sie vor dem Unheil zu bewahren. Es war zu spät. Beide stürzten hinab. Aya bekam kaum mehr was mit. Es ging zu schnell. Erst, als sie den Boden unter ihr spürte und ein schweres Gewicht auf ihr, öffnete sie wieder die Augen. Ganz in der Nähe saß Ria. Sie war gegen einen Baumstamm geschleudert worden und kauerte nun an dieser Stelle. Die Schmerzen nahm sie kaum wahr.

Aya selbst lag auf dem matschigen Boden. Ihr Fuß war zwischen Baum und Erde gefangen. Schmerz verzerrte ihr Gesicht. Sie biss sich auf die Lippen und hoffte, Ria könnte sie hören; Sie hätte Ria zu Shinri geschickt. Das Trauma, welches sie gerade durchlebte, vereinnahmte sie aber zu sehr und Ayas Stimme drang nicht bis in den dunklen Winkel, den Schatten der Angst.

Hilflos schrie sie einige Minuten. Vielleicht suchte man nach ihr. Doch wenig später gab sie diese Bemühungen auf. Durch den schweren Regen und unter den Donnergrollen war ihre Stimme nur schwer zu vernehmen. Es war vergeblich.

Schweigend lag sie dort, dem Unwetter ausgesetzt, betrachtete Ria und versuchte noch immer, mit Worten zu ihr zu gelangen. Es half alles nichts. Ihr blieb nur noch eine Wahl, sie musste warten, bis man sie suchen würde.
 

Als der Regen einsetzte, begaben sich die ersten drei Jungs wieder hinein. Ihnen folgten, zur späten Stunde, die letzten. Nur Jackin und Shinri blieben zurück. Sie wollten Aya und Ria nicht alleine lassen. Obwohl der Regen sie ganz durchweichte, rührten sie sich nicht von der Stelle.

Jackin beobachtete den Zoma, der seinen Blick unentwegt, entschlossen und lauernd auf das Waldstück gerichtet hatte, aus dem sie kommen sollten. Der Weg müsste bereits absolviert sein. Das Unwetter machte den Boden glitschig und ermöglichte dem beiden Mädchen auf keiner Weise vorwärts zu kommen, ahnte Jackin bereits. Er hoffte, dass ihnen nichts passiert, denn der Wald war tückisch und gefährlich.

Das Gewitter setzte ein und Jackin zuckte erschrocken zusammen. Er blinzelte durch den Regen, der bereits dichter geworden war, erkannte aber immer noch keine der Mädchen, weder Ria noch Aya erschienen am Waldrand. Eine Unruhe durchwühlte seine Seele. Er betrachtete ein weiteres Mal Shinri. Er stand ungerührt an der selben Stelle. Als das Grollen des Donners ertönte, hatte er nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Doch wusste Jackin nichts von den Höllenqualen, die sich in Shinris Seele abspielten.

Auf einmal legte sich der Ausdruck von Besorgnis auf Shinris feste Züge. Eine böse Vorahnung kroch in ihm hinauf. Ihm war klar, was Ria in diesem Moment durchmachte. Er erlebte mit ihr die selben Qualen, denn er war es, der ihr jahrelang zur Seite gestanden hatte. Er konnte nicht länger warten.

“Jackin! Wir müssen sie suchen! Ria braucht dich, dringend!”, drängte der Zoma und rannte bereits über den matschigen Boden, der ihm kaum etwas auszumachen schien. Leichtfüßig erreichte er den Waldrand und wartete einen Augenblick auf den anderen.

Als Jackin ihn erreichte fragte er ihn: “Wieso eigentlich ich? Du kennst sie doch länger als ich! Was ist denn überhaupt los mit dir?” Ihn verwirrte es, dass Shinris plötzliche Ruhe auf einmal einer Aufruhr glich. Obwohl die Außenstehenden es nicht bemerken würden, Jackin wusste, was in Shinri vorging. Er machte sich Sorgen und Vorwürfe zugleich. Jackin hatte keine Ahnung, um was es genau ging, aber er teilte diese Besorgnis. Er wollte nur, dass es den beiden Mädchen gut ging.

“Stell jetzt keine Fragen! Komm! Bevor es zu spät ist!”, rief Shinri hastig und setzte sich erneut in Bewegung. Ihm war bewusst, dass Jackin ihm ohne Kommentar folgen würde.

Der blonde Junge kämpfte sich durch den Schlamm. Der dickflüssige Boden erschwerte den Weg zunehmend und zerrte an seinen Kräften. Shinri schien es nichts auszumachen. Geschickt stieg er den Hügel hinauf, der Stelle entgegen, an er sie die Kerzen abholen müssten. Einen kurzen Moment ließ er Jackin alleine stehen und begutachtete die Höhle. Es gab keine Anzeichen dafür, dass sie hier Schutz gesucht hätten. Verzweifelt lief er weiter. Er musste sie finden, hätte es sogar sehr gut gekonnt, nur durfte er keine Aufmerksamkeit erregen. Jackin folgte ihm.

Shinri holte Luft und begann nach Aya und Ria zu rufen. Immer wieder erklangen ihre Namen. Seine Stimme durchdrang die Regenflut. Voller Sorge lief er nun einige Schritte langsamer. Er spürte es. Hier mussten sie sein. Er konnte Rias Angst riechen und Ayas Verzweiflung drang bis in sein Herz vor. Er musste sie finden!

Das Wetter zerrte an Jackins Kräften und er konnte sich nur mit Mühe durch den Schlamm bewegen. Die Sorge um die beiden Mädchen trieb ihn immer weiter voran. Er rief ebenfalls nach den Vermissten. Sie mussten hier irgendwo sein, ganz in der Nähe. Diese Vermutung bestätigte Shinris Verhalten. Zielstrebig, mit ruhigen Schritten, ging er den Weg entlang. Jackin schätzte sich glücklich, Shinri an seiner Seite zu wissen. Ohne ihn, wäre er nie so weit gekommen.

Der Regen behinderte die Sicht. Wahrscheinlich wäre Jackin vom Weg abgekommen, wenn er alleine gegangen wäre. Er wusste nicht, wie der Zoma es schaffte, doch er konzentrierte sich weiterhin auf die Suche. In diesem Augenblick war Shinris Eigenartigkeit unwichtig. Viel mehr ging es um das Leben zweier Mädchen, die ihnen viel bedeuteten. Hoffentlich ging es ihnen gut.
 

Aya horchte auf. Sie vernahm die Stimme eines Jungen, selbst durch das Gewitter und den dichten Regen. Ihr Herz erwärmte sich und klopfte vor Freude schneller. Das Zeichen begann zu kribbeln. Als sie schon die Hoffnung aufgegeben hatte, erkannte sie die Rettung. Einen kurzen Blick auf Ria werfend, bemerkte sie, dass das Mädchen nichts der Gleichen wahrnahm. Aya erlag der Vermutung, nur geträumt zu haben. Um diese Zeit, bei diesem Wetter, an diesem Ort gerettet zu werden war schier unmöglich. Doch dann erklang ein weiteres Mal dieselbe Stimme, lauter und verzweifelter als zuvor. Dann wusste sie es, Rettung war in Sicht.

Der Regen erschwerte die Suche, dass wusste Aya. Sie selbst sah kaum mehr das Umfeld, nur Ria und die dichten Regentropfen, die unaufhörlich auf ihre nasse Haut prasselten. Sie musste ihnen helfen. “Hier!”, wollte sie rufen, den Suchenden auf sich aufmerksam machen, doch es gelang ihr nicht. Ihr Rachen war trocken. Das Rufen fiel ihr schwer, selbst das Sprechen war kaum mehr möglich. Nur ein Flüstern und Ächzen entrang sich ihrer Kehle. Hoffnungslos.

Wieder schwand all ihre Zuversicht. Nie würden sie gefunden werden, sollte der Regen weiterhin andauern. Sie konnten weder gesehen noch gehört werden. Wie sollte dann eine Rettung gelingen? Sie werden an dem Abhang vorbei gehen, nicht ein Blick hinab werfen, und wenn doch, dann werden sie nichts erkennen, nur Dunkelheit und Regen.

Aya rührte sich. Sie wollte noch nicht aufgeben. Vielleicht gelang es ihr, sich zu befreien und nach oben zu klettern. Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, Ria in diesem Zustand hier alleine zu lassen, aber sie brauchten beide dringend Hilfe.

Der Baum rührte sich nicht. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihr Bein und breitete sich in ihrem Körper aus. Ein Brennen folgte. Aya wollte schreien, doch nur ein Ächzen entrang sich ihrer Kehle. Sie biss sich auf die Lippen und schluckte den Schmerz hinab. Nun erkannte sie das zweite Problem, dass sich ihr und der Rettung in den Weg stellte. Wie konnte sie sich von hier befreien? Selbst, wenn man zu ihnen eilte, der Baum rührte sich keinen Millimeter. Hoffnungslos ließ sie sich zurück sinken.
 

“Wo sind sie nur?”, fragte Jackin voller Sorge. Diese Frage war viel mehr an sich selbst und an die Götter gerichtet, als an Shinri. Müde kämpfte er gegen den Wind, den Matsch und den unaufhörlichen Regen an. Shinri lief vor ihm, ruhig und besonnen, nur seine Augen zeigten ihm, dass er sich ebenfalls Sorge.

Der Wald war zu groß!, stellte Jackin dann fest, ohne es laut aus zu sprechen. Sie würden die beiden nie finden, nicht heute und bei diesem Wetter. Die Sicht war beschränkt und sie könnten genauso gut den Abhang hinunter gestürzt sein, nur wo? Bei diesem Gedanken erschauderte Jackin. Er hoffte, beide noch lebend wiederzufinden.

Dennoch, solange Shinri bei ihm war, konnte er nicht aufgeben. Der Junge schien sich genauso viel Sorgen zu machen und lief unbeirrt weiter. Jackin glaubte sogar, Shinri wusste, wohin sie gehen mussten. Es war eigenartig, aber es war das erste Mal, dass er dem anderen vertraute. Vielleicht ärgerte Shinri Aya tagtäglich, aber es lag ihm auch verdammt viel an ihr. Ohne Aya an seiner Seite waren seine Augen immer so leer, als fehle ein Teil seiner Selbst.

Auf einmal blieb Shinri mitten im Weg stehen. Jackin wäre beinahe in ihn hinein gelaufen, da der Regen ihm die Sicht unmöglich machte. Verwirrt sah er Shinri an.

Dieser stand schweigend an der selben Stelle. Hatte er aufgegeben? Fraglich hob Jackin die Augenbraue und hoffte, der Zoma würde weiter gehen. Sie mussten schließlich die Mädchen finden, bevor es zu spät war. Es war dunkel, es regnete, dies alles erschwerte ihre Suche, aber Jackin wollte sich nicht aufhalten lassen. Er musste sie finden, koste was es wolle.

“Ich glaub, wir haben sie”, meinte Shinri leise, dennoch vernahm Jackin die Worte. Sofort setzte er sich wieder in Bewegung und kletterte geschickt den Abhang nach unten. Er suchte immer die Bäume mit festem Untergrund aus. Jackin fiel sofort auf, dass es hier vor kurzem einen Erdrutsch gegeben hatte. Er betete gen Himmel, dass es den beiden Mädchen gut ging.

“Aya”, murmelte Shinri erleichtert, als er durch die Dunkelheit die beiden Mädchen erblickte. Jackin sah um sich, doch konnte er sie nicht erkennen. Er sah die Dunkelheit und Shinris Umriss, aber sonst niemanden. Doch dafür spürte er Rias Gegenwart.

Jackin, der Aya nicht ausmachen konnte, folgte seinem Gespür und lief Richtung Ria, während Shinri sich dem umgestürzten Baum näherte, unter dem Ayas Bein vergraben lag.

Ria saß an einem Baum und kauerte sich zusammen. Der Anblick vermittelte Jackin Angst und Hilflosigkeit. Vorsichtig kniete er sich hinab und legte seine Hand trösten auf ihre Schulter. “Ria, ich bin es, Jack. Du bist nicht alleine.” Er ahnte nicht, was in ihr vor ging, wusste aber, dass sie Qualen durchzustehen hatte, die er sich nicht einmal selbst zumuten würde. Er hüllte sie in eine warme Umarmung und drückte sie an sich. Tröstend. Schützend.

Das Mädchen nahm seine Stimme war, die wie ein Licht in der Dunkelheit das Chaos in ihrer Seele durchdrang. Halt suchend klammerte sie sich an ihn und weinte bittere Tränen. Freude und Trauer. Es war ein Wunder, dass er bei ihr war. Sie hoffte, er war kein Traum und würde bei ihr bleiben. Binnen weniger Sekunden setzte der Schlaf ein, den ihr müder Körper ihr erst jetzt gewährte.

Erleichterung überkam Jackin, als er Ria in seinen Armen spürte. Die Gewissheit, ihr ginge es gut, erfüllte ihn mit großer Freude. Nachdem sie eingeschlafen war, wand er sich in der Dunkelheit um. Hoffentlich ging es Aya ebenfalls gut.

Shinri stürzte ohne Rücksicht auf sich selbst an Ayas Seite. Seine Hand ergriff ihre und er stützte ihren Kopf mit der anderen. Der Matsch, der dadurch an seinen Körper geriet, war ihm vollkommen gleichgültig. Ruhig peilte er die Lage und seine besonnene Art erreichte Ayas Herz. Sie kämpfte die Tränen der Dankbarkeit und Freude hinab, bevor er sie falsch verstehen würde. Sie war ihm dankbar, dass er gekommen war und freute sich, dass auch Jackin da war, aber Shinris Anwesenheit war anders. Er glich einer kleinen Flamme inmitten eines düsteren Raumes. Als sie ihn hörte, ihn sah, glaubte sie an die Rettung und wusste, er würde nichts unversucht lassen, um sie von hier weg zu bringen. Wieso sie sich dem so sicher war, war ihr nicht klar, aber das Gefühl brannte sich deutlich in ihr Herz, als wäre es schon immer da gewesen.

Besorgnis und Wut flammten in Shinris Augen auf. Er musterte den Baumstamm, der Aya höllische Schmerzen bereiten musste, während sein kleiner Wildfang nicht einen Mucks von sich gab. Sie gab sich in dem Moment stark, in dem andere weinend zusammen gebrochen wären. Ihm wurde wieder einmal klar, wie wichtig sie in seinem Leben war. Sie war seins, gehörte zu ihm. Niemand konnte sie trennen und das war auch gut so. Sollte es doch jemand wagen, er wäre unberechenbar gegenüber diesem Jemand.

“Es wird jetzt etwas weh tun”, meinte Shinri besänftigend und in seinen Augen spiegelte sich Sorge um Aya wieder, doch sie nickte mutig. Sie würde stark sein, hatte sie sich geschworen, obwohl ihr zum Heulen zumute war. Die Schmerzen waren das kleinste Problem in diesem Augenblick. Viel mehr erkannte sie Shinris Leid und Selbsthass in dessen Augen.

Sie war ihm dankbar, war glücklich über seine Anwesenheit und wollte ihn in die Arme schließen. Er war den ganzen Weg hier her gerannt, nur für sie? Sie konnte es kaum glauben, dass es wirklich so sein sollte. Seine Züge verrieten aber, dass dem so war. Er hätte nichts unversucht gelassen, um zu ihr zu gelangen. Ihr Herz machte Freudesprünge und wollte gleichzeitig zerspringen.

Noch einmal wies Shinri Aya darauf hin, dass er ihr Scherzen bereiten würde, bevor er unter den Baumstamm griff. Es dauerte einige Zeit, bis er das Holz richtig zu fassen bekam. Langsam Ruck zog er den Stamm ein Stückchen nach oben und schob sorgfältig Ayas Fuß in die Freiheit. Die Brünette stöhnte bei der Berührung vor Schmerz auf. Ein gewaltiges Feuer durchströmte sie, stechend und brennend rann es ihren Körper empor. Sie verkniff sich ein Aufschreien mit großer Mühe und biss die Zähne verzweifelt zusammen. Sofort beugte Shinri sich zu ihr hinab, schlang seine Arme um sie und hob sie ein Stück empor. Ein weiteres Mal war sie den Schmerzen ausgesetzt. Nur die Nähe des Jungen ließ sie die Qualen ertragen.

Shinri wand sich an Jackin. “Wir müssen Unterschlupf suchen. Ich schätze, das Unwetter wird die nächsten Zeit bleiben. Der Boden ist zu gefährlich, um ihn zu überqueren. Die Höhle ist nicht weit von hier. Lass uns dort Schutz suchen.”

Jackin nickte zustimmend, auch wenn er nicht wusste, ob Shinri es sah. Mit Ria in seinen Armen ging er zu Shinri - dessen Stimme leitete ihm den Weg. Als er ihn sah, erspähte er auch Aya, die mit einem schmerzverzerrten Gesicht in seinen Armen lag. Es gab aber keine Zeit zu fragen, sie mussten sich beeilen.

Kapitel 12

Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zur Höhle. Aya war bei ihnen, schwieg dennoch und ertrug die Schmerzen, so gut es ging. Immer wieder entrangen sich ihrer Kehle leise Klagelaute. Shinri schmerzte dieser Anblick. Er wollte ihr die Wunde nehmen und sie selber ertragen. Sie sollte in seinen Armen in Sicherheit sein, für immer. Doch war es zu gefährlich, ihr auf die Art seines Volkes zu helfen. Er konnte Jackin und Aya nicht in das Geheimnis einweihen.

Shinri erkannte den Eingang zur Höhle, bevor sie Jackin auffiel. Seine Augen waren um einiges geschulter, als die der anderen. Es war sehr hilfreich. Nur mit dieser Fähigkeit konnte er Aya und Ria finden. Es war das erste Mal, dass er die Familie Zoma für etwas loben musste, denn eigentlich hasste er seine eigene Familie, aus der er stammte.

Klitsch nass erreichten sie die Höhle. Das kalte Gestein hieß sie trocken willkommen. Sie gingen weit genug hinein, um nicht dem Wasser ausgesetzt zu sein, aber mieden das Innere der Höhle.

Müde ließ sich Jackin auf den Boden sinken und lehnte sich gegen die unebene Steinwand. Ria lag weiterhin beschütz in seinen Armen. Es war unbequem, kühl und ihre Kleidung war feucht. Sie riskierten in diesem Moment eine Erkältung, aber es war eines der unwichtigeren Probleme. Viel mehr sorgten sich die beiden Jungs um Ayas Fuß und Rias Seele.

Aya lag in Shinris schützenden Armen. Er drückte sie Besitz ergreifend und doch voller Zärtlichkeit an sich, als wolle er sie nie wieder gehen lassen; Er befürchtete, sie verlieren zu können, würde er es wagen. Zu gerne hätte er ihre Schmerzen gelindert, ihr den Schuh ausgezogen und sie auf seine Weise geheilt, auch wenn nicht vollständig. Sie benötigte in diesem Moment, mit dieser Verletzung, den Arzt seiner Familie. Wohl oder Übel musste er ihn besuchen, obwohl er es ungern tat.

Immer wieder strich Shinris Hand beruhigend über Ayas brünette Haare. Die Liebkosung seiner Finger beruhigte sie und zeigte ihr, dass sie sich nun in Sicherheit befand. Sie kuschelte sich dichter an ihn. Sie konnte seine Wärme durch die nassen Sachen spüren und den ruhigen Herzschlag hören.

“Shinri …”, begann sie zaghaft und ihre Stimme war nicht mehr als ein Hauch des Windes. Dennoch vernahm er die Worte und schenkte ihr ein aufmunterndes und liebevolles Lächeln. Sofort breitete sich erneut eine wohlige Wärme in Ayas Herzen aus. Noch nie hatte sie ihn so lächeln sehen. Hatte er sich in dieser kurzen Zeit wegen des Unglücks verändert?

“Ich … Danke für die Rettung.” Mehr brachte sie nicht hervor. Ihr war es peinlich, ihm danken zu müssen, nachdem sie geglaubt hatte, ihn zu hassen. Sie schürte eine Wut gegenüber sich selbst. Immer wieder hatte sie ihn verletzt, tief in seiner Seele, und er rettete sie rückhaltlos. Vielleicht steckte hinter seiner harten, unberechenbaren Schale ein liebenswürdiger, verletzlicher Kern?

Shinri lächelte leise und beugte sich hinab. Er hauchte einen zarten Kuss auf Ayas nasse Stirn und strich erneut durch die feuchten Haare. Er genoss ihre Nähe, während sie nicht einen Finger rührte, um zu entkommen. Er hoffte, es wäre immer so, doch wusste er es besser. Ein harter Weg lag vor ihm und er würde ihn gehen, egal welche Gefahren auf ihn lauerten.

“Solange es dir gut geht, ist mir alles andere egal”, flüsterte Shinri leise, sodass es in den Geräuschen des Unwetters und dem nächsten Donnergrollen unterging. Aya vernahm es nicht mehr, denn ihr waren die Augen bereits zugefallen. Sie verabschiedete sich still in einen ruhigen und tiefen Schlaf, geborgen in Shinris Armen.

Jackin und Shinri wechselten einen Blick. Obwohl es eine günstige Zeit gewesen wäre, Fragen zu stellen, wusste Jackin es besser. Er wollte Shinri Ruhe und Zeit schenken, um nachzudenken und Ayas Gegenwart und Sicherheit zu genießen.

Vor Kurzem hatten sie um das Leben beider Mädchen gebangt. Es grenzte an ein Wunder, dass es ihnen noch so gut ging. Diesen Moment mussten sie auskosten. Wer wusste, was noch auf sie wartete? Das Leben war viel zu kurz, um es mit sinnlosen Gesprächen zu vermiesen.

Shinri lächelte ein weiteres Mal. Jackin hatte verstanden, um was es dem anderen ging. Es ging viel mehr daran, als bloß eine einfache Beziehung. Es ging um das Leben wichtiger Personen, die niemand ersetzten konnte. Shinri wollte Ayas Leben nicht in Gefahr bringen, indem er sie weiterhin alleine ließ.

Jetzt, nachdem er sie gefunden hatte, war es seine Pflicht, sie zu beschützen. Vor seiner Familie und vor den Feinden seiner Familie. Es gab kaum ein Ort, an dem sie sicher sein konnte, außer bei ihm, auch wenn sie es nicht glauben wollte.

Geistesabwesend strich Shinri über die braunen, feuchten Haare. Immer wieder ließ er die Finger darüber gleiten und hoffte, der Moment würde nie verfliegen. Doch er musste Aya helfen: Die Schmerzen vergingen nicht, würden sie nichts dagegen machen.

Stundenlang saßen sie schweigend auf dem kalten Steinboden und beobachteten das Unwetter vor dem Höhleneingang. Sie warteten darauf, dass der Regen nachließ, damit sie ihren Weg fortsetzten konnten. In ihren Armen lagen die Mädchen, die für sie bestimmt worden waren, geborgen und beschützt.

War das Schicksal bereit, ihnen endlich eine glückliche Zeit zu gewähren? Die nächsten Tage lagen im Ungewissen und beide ließen es auf sich zukommen. Jedem Feind würden sie strotzen.
 

Am nächsten Morgen hatte das Unwetter nachgelassen und es fiel nur noch ein leichter Nieselregen hinab. Die Wolken begannen sich zu lichten. Die Lücken wurden immer größer und das Morgenlicht brach hindurch. Die Strahlen der Sonne wanderten über das Land; Sie erhellten es und erwärmten die Luft. Eine leichte Briese fegte durch die Baumkronen, warm und wohltuend. Im Wald suchten die Schatten ihren Unterschlupf, doch blieben sie nicht vom warmen Wild verschont.

Der Morgen begann in friedlicher Stimmung. Die Vögel in den Baumkronen setzten ihr Lied an und die Tiere des Waldes begannen sich zu regen. Im Hauptgebäude der Heißen Quellen erwachten die ersten Schüler. Sie erfreuten sich am Anblick der hellen Landschaft. Der Gedanke an das Unwetter wurde sofort vertrieben von all der schönen Farbenpracht. Alle begannen damit, ihre Sachen einzupacken, begaben sich danach aber in den Speisesaal. Sie unterhielten sich munter. Es war der letzte Tag. Heute würden sie wieder nach Hause gehen.

Nur einer Person schien die wunderschöne Natur nicht aufgefallen zu sein. Eine rothaarige Schönheit hatte sich im Gang positioniert und einige andere Mädchen gesellten sich zu ihr. “Ist das ärgerlich mit ihr! Wer braucht sie schon!”, flüsterte die Berry, das rothaarige Mädchen, aufgeregt. Ihre Mitschülerinnen stimmten ihr zu.

„Ich verstehe Shinri echt nicht! Er könnte mich haben!“, schimpfte sie. „Was findet er nur an dieser Aya?“ Die anderen kicherten und antworteten ihr: „Er will doch nicht wirklich etwas von ihr. Nie und nimmer.“ Natürlich gefiel das Berry und sie zeigte ein zufriedenes Lächeln.

„Was hast du jetzt vor?“, wollte eine ihrer Freundinnen wissen.

„Natürlich werde ich morgen die Gelegenheit nutzen. Schließlich habe ich schon lange genug gewartet. Er wird mir gehören“, bestimmte Berry und die umstehenden Mädchen freuten sich genauso wie ihr.

Es war jedem aufgefallen, wie gut Shinri aussah. Er war der hübscheste, der ihr je unter die Augen gekommen war. Ein kühler Held, der dem Word Coolness eine ganz neue Bedeutung gab. Er war ganz nach ihrem Geschmack und sie würde gewiss nicht tatenlos zusehen, wie Aya ihn ihr wegschnappte.

Ihren Plan erhörte auch Nora, die sich hinter der nächsten Ecke versteckte, um nicht entdeckt zu werden. Sie schluckte schwer. Aya tat ihr jetzt schon leid. Shinri war ein sehr freundlicher Junge, wenn er nur wollte. Kurz vor dem Wochenende hatte der Zoma ihr freiwillig mit den Arbeiten im Schulhaus geholfen. Doch sie merkte auch, wie viel Aya ihm bedeutete. Kein anderes Mädchen würde er je so ansehen, wie sie.

Sie musste die beiden warnen. Schnell eilte sie den Flur wieder zurück und zu Shinri und Jackins Zimmer. Es begegneten ihr einige aus ihrer Klasse, aber niemand schien sie wahr zu nehmen. Sie grüßte ein paar von ihnen, aber kaum jemand grüßte zurück.

Höflich klopfte sie an die Tür, hinter der Shinris Zimmer lag, aber niemand antwortete. Sie wartete eine Weile, bevor sie es erneut ausprobierte. Wieder keine Antwort. Zögerlich öffnete sie die Tür und trat ein. Der Raum war leer. Weder Shinri noch Jackin befanden sich hier und die Betten sahen ordentlich aus. Entweder sie waren bereits im Speisesaal, oder sie waren diese Nacht überhaupt nicht hier gewesen.

Panik überkam sie. Eilig blickte sie sich um, ob sie noch etwas anderes bemerkte, aber es gab keine Anzeichen. Schwer seufzend stand sie im Zimmer und überlegte, was sie noch machen sollte. Warten, bis sie wieder zurück kamen? In den Speisesaal gehen?

Ihr wurde die Entscheidung abgenommen, als sie das Fenster hinter sich aufgehen hörte. Schnell wendete sie sich um und betrachtete den schwarz gefiederten Adler, der auf dem Fensterbrett saß. Das Federkleid war in verschiedenen Schwarztönen und sein dunkler Schnabel war spitz und gefährlich. Die intelligenten Augen sahen Nora wissend an, während das Mädchen leise auf ihn zulief.

Es war, als erklang eine Stimme im inneren ihres Kopfes. Eine männliche, fremde Stimme. Melodisch wie das Zwitschern eines Vogels. Shinri kommt nicht. Shinri ist weg. Weg in Gefahr. Der Adler zwitscherte leise für sich und stieß sich dann vom Fensterbrett ab. Verwirrt starrte Nora hinterher. Shinri war weg. Das hieß, er befand sich im Wald und das schon die ganze Nacht über. Vielleicht waren sie sogar in Gefahr?

Schnell schloss sie das Fenster und rannte den Flur entlang. Auf ihrem Weg stieß sie gegen Berry. „Hey, Brillenschlange! Was soll das?!“, schimpfte sie hinterher, aber Nora hatte keine Zeit und rannte wortlos weiter.

Sie verließ das Gebäude und rannte sogar an Herr Heulsu weiter, nur mit einem kurzen „Guten Morgen“ auf den Lippen. Obwohl er ihr hinterher rief, sie solle nicht in den Wald gehen, ging sie weiter. Über sich konnte sie einen Flügelschlag vernehmen. Der Adler wies ihr den Weg und brachte sie durch den Wald. Sie stieg einen Hügel empor. Der Boden war wieder einigermaßen trocken und sicherer.

Sie kam an einem Stein vorbei, auf dem eine Kerze stand und rannte weiter, denn der Adler machte keine Pause. Auf einmal erblickte sie jemand vor sich. Sie blieb stehen und starrte hinüber. Jackin lief ihr entgegen, in seinen Armen die schlafende Ria tragend. Schnell eilte Nora auf ihn zu. „Guten Morgen, Jackin!“, grüßte sie ihn eilig. „Geht es euch gut? Wo ist Shinri?“

Verwirrt blieb Jackin stehen und musterte das unauffällige Mädchen. „Woher weißt du, dass ich mit ihm unterwegs war?“, fragte er sie und sah sie etwas verblüfft an.

„Der Ad-“, begann sie brach aber gleich wieder ab. Sie wollte ihm sagen, dass der Alder es ihr erzählt hatte, doch auf einmal war das schwarze Tier nirgends zu sehen. Sollte das etwa heißen, dass ihr Weg hier endete? Sollte sie überhaupt nicht nach Shinri sehen? „Ist er mit Aya unterwegs? Sie werden heute wohl nicht mehr kommen. Warte, ich begleite dich zurück.“

Mit einem Lächeln nahm Jackin das Angebot an und gemeinsam verließen sie den Wald schweigend. Jackin antwortete ihr nicht, was mit Shinri war. Er fand es selber etwas komisch. In der Nacht, als sie in der Höhle waren, fielen Jackin irgendwann selbst die Augen zu und als er dann aufwachte, waren sowohl Shinri als auch Aya nicht mehr hier. Das Einzige, was er vorfand, war einen schwarzen Adler und eine Stimme, die ihm verkündete, dass Shinri auf dem Weg zu einem Arzt war. Er würde auf Aya aufpassen.

Doch aus einem unerklärlichen Grund glaubte Jackin, was er hörte. Er machte sich keine Sorgen, was mit Aya war, schließlich war Shinri bei ihr. Ja, der Zoma würde gewiss gut auf Aya aufpassen. Er brauchte sich also keine Sorgen zu machen.

„Wie sollen wir es jetzt dem Lehrer klar machen?“, wollte Nora dann wissen, als sie aus dem Wald heraus kamen. Herr Heulsu stand draußen mit in paar anderen Schülern, während alle andern sich weiterhin drinnen vergnügten.

„Eine gute Frage“, meinte Jackin etwas verlegen. „Ich glaube, ich bringe lieber Ria zuerst hinein.“

„Gut und ich spreche mit dem Lehrer. Ich komm dann nach“, entgegnete Nora dem und Jackin lächelte ihr dankbar zu. Wieso Nora sich so sehr für sie alle einsetzte, konnte sie nicht sagen, aber irgendwie erschien ihr es als das richtigste.

Zögerlich ging sie auf den Lehrer zu, während Jackin mit Ria auf den Armen im Gebäude verschwand. Die anderen Schüler grinsten frech, als Nora dazu trat. Sie grüßte alle höflich, während sie sich etwas nervös an den Lehrer wandte. „Herr Heulsu. Könnte ich sie vielleicht kurz sprechen? Es … geht um Shinri.“ Sie schob sich nervös die Brille zurecht.

Der Lehrer sah sie erstaunt an. „Shinri? Wenn du ihn suchst, wirst du ihn hier nicht finden. Er ist bereits nach Hause gefahren, gemeinsam mit Aya. Ihr ging es nicht gut.“

Verwirrt blinzelte Nora ein paar mal. Woher wusste Herr Heulsu das alles? Hatte er auch eine Nachricht von dem Adler bekommen? Wohl eher nicht. Sie beschloss aber, dass es so besser war und verabschiedete sich dankend. Eilig lief sie erneut durch die Flure. Zum Glück traf sie auf weniger Leute, wie beim letzten Mal. So schnell es ging und unbemerkt kam sie an Ayas Zimmer an. Höflich klopfte sie an und wartete auf Jackins Antwort. Kurz danach öffnete der blonde Junge ihr die Tür und bat sie herein.

„Ria wird bald aufwachen. Was hat der Lehrer gesagt?“, wollte Jackin wissen, während er die Tür hinter Nora schloss.

„Tja … er sagte mir, dass Shinri und Aya bereits vorgefahren waren. Ich glaube, hier läuft etwas ganz falsch.“ Erneut schob sie ihre Brille hurecht und knabberte geistesabwesend an ihren Fingernägeln.

Jackin setzte sich auf die Matratze neben Ria und Nora nahm auf Ayas Bett Platz. Etwas nachdenklich rieb sich Jackin über das Gesicht und meinte dann: „Shinri ist allgemein etwas mysteriös, finde ich. Aber ich glaube, es ist besser, wenn wir es dabei belassen.“

Genau das selbe hatte auch Nora bereits gedacht. Sie nickte zustimmend. Etwas besseres wäre ihr nicht eingefallen. Dann stand sie auf. „Aber Aya wird ihre Sachen vermissen.“ Ayas ganze Sachen lagen noch über ihrem Bett. Also war Shinri nicht hierher gekommen. Eine verwirrende Sache, aber Nora und Jackin waren sich darüber einig, dass sie wohl nie eine Antwort darauf bekommen würden.

Höflicherweise packte Nora Ayas Koffer zusammen, genauso wie die wenigen Sachen, die Ria rum liegen hat lassen. Jackin bedankte sich für ihre Hilfe, aber das Mädchen schüttelte nur lächelnd den Kopf. „Du musst dich um Ria kümmern. Wenn du etwas von Aya und Shinri weißt, sag es mir bitte.“

So verging auch der letzte Tag in den Heißen Quellen und kurz nach dem Mittagessen wartete bereits der Bus auf sie. Herr Heulsu schien sich wirklich keine Sorgen um Shinri und Aya zu machen. Es kam allen Schülern merkwürdig vor und sie begannen deswegen auch zu tuscheln, aber niemand stellte Herr Heulsus Entscheidung in Frage. Nur Nora und Jackin wussten, dass sich etwas anderes dahinter verbarg.

Vielleicht konnte Ria ihnen etwas genaueres dazu sagen, auch wenn sie die ganze Zeit über geschlafen hatte, so kannte sie Shinri um einiges besser.
 

Es war Nachmittag und die Sonne schien noch immer weit über dem Wald. Doch an einer Stelle, tief in der Natur, drangen die Sonnenstrahlen nicht hervor. Laub und Moos bedeckten den Boden und die Äste der Bäume bargen Shinri in ihren großen Schatten.

Sobald der Regen nachgelassen hatte, war er aufgebrochen. Weder Jackin noch Aya hatte er dabei bescheid gegeben, aber er hatte einen Adler zurück gelassen, der Jackin eine Nachricht überbringen sollte. Jeder Auserwählte konnte mit den Beschützern der Zomas telepatisch in Kontakt treten. Shinri hoffte nur, dass Jackin nicht nach ihm suchte. Der Wald war tückisch und gefährlich und Ria brauchte Jackin viel dringender.

Eigentlich hatte Shinri die Entscheidung, hier her zu kommen, nur spontan getroffen. Während er über Aya gewacht hatte und Jackin langsam eingedöst war, war ihm das erste Mal aufgefallen, wo genau er sich befand. Dieser Wald war ihm sofort bekannt vorgekommen. Die Höhle, in der sie sich verschanzt hatten, war der ausschlaggebende Punkt gewesen. Es war eine wichtige Höhle und es war besser, wenn sich niemand tiefer hinein wagte.

Auf der anderen Seite des Berges, tief im Wald, befand sich ein Haus. Er konnte sich noch sehr gut daran erinnern, schließlich war es noch vor 6 Jahren wie sein zweites Zuhause für ihn gewesen. Erst der Tod einer geliebten Person hatte dies geändert. Mit 17 hatte er begonnen, gemeinsam mit Ria, durch das Land zu reisen. Hauptsache, er traf seinen Cousin nicht - welchen er seit damals verabscheute. Es war mehr ein Zufall, als er dann in die Stadt kam, in der auch Aya lebte. Er hatte ihre Anwesenheit sofort gespürt und er konnte nicht anders, als sie aufzusuchen, auch wenn er wusste, was das für ihr Leben bedeutete.

Shinri war schon Meilenweit gekommen, als Aya sich regte. Er lief in einer langsameren Geschwindigkeit weiter und beobachtete das Mädchen, wie es müde ihre Augen aufschlug und blinzelte. Bevor sie jedoch etwas sagen konnte, fuhr der Schmerz durch sie hindurch, wie ein loderndes Feuer. Aya biss die Zähne fest zusammen. Es dauerte eine Weile, bevor es sich wieder etwas legte. Mit verwirrten Blicken musterte sie die Umgebung. „Wo …?“, murmelte sie, brach aber ab. Sie erkannte, in welcher Situation sie war. Mit puderrotem Gesicht versuchte sie sich frei zu strampeln. Der Versuch erstarb gleich darauf, als erneut der Schmerz zurückkehrte.

Aus besorgten Augen blickte Shinri das Mädchen in seinen Armen an, während er den vielen Bäumen geschickt auswich. „Wir sind auf den Weg zu einem Arzt“, erklärte er, denn auch wenn sie ihre Frage nicht zu Ende gestellt hatte, so wusste er doch, was sie wissen wollte.

„Arzt?! Hier in dieser Gegend? Wie viel Uhr haben wir überhaupt?! Wo sind die anderen?! Sag bloß du hast mich gekidnappt!!!“, fauchte Aya und trommelte mit ihrer Faust auf Shinris Brust. Ihren Fuß wollte sie so wenig wie möglich bewegen.

Ein Grinsen huschte auf die schmalen Lippen des Zomas, aber er sagte kein Wort und ertrug Ayas Beschimpfungen. Sie schimpfte ihn einen Stalker, einen Perversen, einen Betrüger und Lügner und zusätzlich noch einen Kidnapper. Alles mögliche, was ihr einfiel, warf sie ihm an den Kopf, bis sie außer Atem war. Danach war Shinri nur zum Lachen zumute. Obwohl sie sich laut aufregte, wusste er, dass sie ihn nicht ernsthaft beschimpfte. Viel mehr versuchte sie ihn so sehr zu verärgern, dass er keine Lust mehr auf sie hatte. Doch er würde nie gehen. Nicht ohne sie.

„Sag doch auch mal was!“, zischte sie ihn an, als er noch immer nichts sagte und sein Lachen sich langsam legte. Ihre rehbraunen Augen funkelten verärgert und ihr Gesicht war zorngerötet, aber all die Wut konnte ihr Herzschlag nicht besänftigen. Es schlug nur für ihn.

„Ich glaube, es ist alles gesagt“, scherzte Shinri. „Oder hast du noch etwas auf dem Herzen?“

„Du … Du …!“, begann sie, aber ihr fiel nichts ein, dass alles auf den Punkt gebracht hatte. Die Beleidigung blieb aus und sie verschränkte verärgert die Arme. Über die ganze Wut hatte sie ihren Schmerz vergessen und auch jetzt schien sie kaum daran denken zu müssen. Viel mehr versuchte sie Shinris Nähe nicht zu genießen. Die starken Arme, der wärmende Körper und die Geborgenheit, die er ausstrahlte. Egal, wie sehr sie sich über ihn ärgerte, ihre Gefühle konnte sie nicht umstimmen.

„Jetzt mal ehrlich. Wo gehen wir jetzt wirklich hin?“, meinte Aya dann, nachdem sie die Stille zwischen ihnen nicht mehr aushielt. Shinri war mit ihr auf den Armen ein großes Stück gelaufen. Immer wieder sah sie Laub und Bäume. Bunte Blätter, die den Herbst bereits verkündeten. Sie war dem Zoma insgeheim dankbar, dass er sie trug. Mit ihrem schmerzenden Bein hätte sie die ganze Strecke nie und nimmer überstanden.

Shinri sah Aya mit einer hochgezogenen Augenbraue an. „Zu einen Arzt. Immer noch.“ Natürlich war ihm klar, dass es für Aya seltsam sein musste einen Arzt inmitten eines Waldes aufzusuchen. Eigentlich zog es jeder Arzt vor, bei seinen Patienten zu Hausen.

Da Aya ihn skeptisch ansah, brummte er: „Kann ich was dafür, dass er in einem Wald wohnt? Ich hoffe nur, dass er Zuhause ist.“

Aya schüttelte tadelnd den Kopf. „Hätte es denn nicht gereicht, wenn wir in der Stadt einen Arzt aufsuchen? So schlimm ist der Fuß nun auch wieder nicht!“ Um dies zu beweisen, wollte sie den Fuß heben und etwas hin und her schwenken, ließ es aber sofort sein, als erneut schmerzende Flammen durch ihren Körper fuhren.

„Oh, doch. Es ist sogar schlimmer, als es aussieht und deine Ärzte wissen nicht, mit Verletzungen richtig umzugehen“, knurrte Shinri. „Auch wenn ich ungern zu ihn gehe.“

„Wieso tust du es dann?“, fragte Aya sarkastisch.

„Wegen dir“, antwortete Shinri ruhig und sah sie mit seinen schwarzen Augen durchdringend an. Seine Worte trieben Aya erneut eine röte auf die Wangen und sie schwieg für eine kurze Weile, bis ihr ein anderes Gesprächsthema einfiel, mit dem sie sich und Shinri ablenken wollte. „Was war eigentlich mit Ria? Ich meine … sie war etwas komisch, als es begann zu regnen. Aber … als es dann blitzte. Ich mache mir Sorgen.“

Ein dankbares Lächeln zeichnete sich auf Shinris Lippen ab, als er Aya erneut musterte. Shinri hatte Sorge, dass Aya und Ria sich nie verstehen würden. Da Ria ihm so viel bedeutete, wie eine Schwester, wollte er nicht, dass sie und seine Zukünftige sich immer stritten. Doch wenn Aya sich jetzt wahrhaftig Sorgen um Ria machte, konnte es nur etwas gutes bedeuten.

„Ihr geht es wieder besser, glaube mir. Mit Jackin an ihrer Seite, wir sie ganz schnell wieder auf die Beine kommen“, erklärte er. „Aber danke, dass du dir Sorgen um sie machst.“

Verlegen wand Aya ihren Blick ab. „Bild dir bloß nichts, darauf ein.“ Sie hätte zu gerne gewusst, was mit Ria los war. Irgendetwas war in ihrer Vergangenheit geschehen, nur was? „Was war in ihrer Vergangenheit? Weißt du es?“

Der Zoma lief weiterhin durch den Wald und um sie herum versank die Sonne langsam. Der Himmel färbte sich dunkelrot. Die Luft wurde kühler. Shinri schwieg eine Zeit lang und erst, als die Sonne ganz untergegangen war, erhob er seine Stimme. „Ich kann dir nicht viel erzählen, denn ich weiß, Ria würde es nicht wollen. Aber ich kann dir sagen, dass es ihr und mein Leben vollkommen verändert hatte.“

Aya ärgerte sich nicht darüber, dass Shinri nicht mehr erzählte. Sie selbst würde auch nicht wollen, dass andere von ihrem Leben berichteten. Während Shinri unbeirrt weiter ging, versank sie aber in ihre Gedanken und versuchte sich etwas auszumalen, dass ein Leben so sehr verändern konnte.

Kapitel 13

Die Nacht lag über der Stadt. Es war noch immer Mittwoch und ging bereits auf zehn Uhr zu. Jackin saß im Wohnzimmer seiner eigenen Wohnung. Den Koffer, den er für Aya mitgebracht hatte, und auch Rias Koffer standen beide in einer Ecke. Die Busfahrt lag bereits hinter ihnen und Nora, seine Klassenkameradin, hatte ihm geholfen, die Koffer nach Hause zu bringen, da er Ria mit sich tragen musste. Das blonde Mädchen war erst vor etwa einer Stunde erwacht und saß nun neben ihm auf der Couch, eine Tasse Tee in der Hand.

Sie hatte ich bereits umgezogen und ihre Haare gerichtet, dennoch sah sie schrecklich aus, denn ihre Augen zeigten noch immer Trauer und Angst. Von dem Schrecken, der ihr gestern Nacht widerfahren war, hatte sie sich eigentlich recht gut erholt und sie hatte fast eine ganze Nacht geschlafen. Aber noch immer steckten die Erinnerungen in ihren Knochen und Jackin konnte nicht vergessen, wie er sie vorgefunden hatte.

Ria nippte erneut an ihrer Tasse, doch der Tee vermochte es nicht, sie zu wärmen. Sie sehnte sich nach Jackins Nähe, aber sie schämte sich für ihr Verhalten so sehr, dass sie es nicht wagte, ihn überhaupt anzusehen.

„Ria, wann möchtest du mir endlich sagen, was mit dir los ist?“, bat Jackin. Das Einzige, dass sie seit ihres Erwachens gesagt hatte, war sein Name. Einmal und kurz bevor sie die Augen aufgeschlagen hatte. Seitdem schwieg sie ihn beharrlich an und starrte mit einem leeren Blick in weite Ferne. Er wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Was erwartete sie, dass er tun sollte? Ihm war nur eines klar, je länger sie ihn ignorierte, desto mehr schmerzte es in seiner Seele.

Ria senkte ihre Tasse wieder und schüttelte nur den Kopf leicht, dann stellte sie die Tasse auf dem Tisch ab und stand auf. Jackin wusste, dass sie gehen wollte, in ein anderes Zimmer, aber wieso? Seit sie hier eingezogen war, suchte sie andauernd nach seiner Nähe und auf einmal wollte sie von ihm weg.

Seinem Bauchgefühl folgend, ohne lange darüber nachzudenken, ergriff Jackin Rias Hand. Ihre Haut fühlte sich kalt an, obwohl es im Zimmer recht warm war. Er wusste nicht wieso, doch spürte er, dass Ria seine Nähe brauchte. Während Ria schweigend und mit gesenktem Blick stehen blieb, stand er ebenfalls auf und holte eine Wolldecke aus seinem Schlafzimmer. Den Arm um Rias Taille gelegt, zog er sie mit sich auf die Couch und gab ihr den Platz direkt auf seinem Schoß. Die Decke legte er um sie beide.

Ria hätte nie geglaubt, dass Jackin einmal von selbst ihre Nähe suchen würde. Über die plötzliche Wärme dankbar, kuschelte sie sich an ihn und bettete ihren Kopf auf seine Schulter. „Jackin“, flüsterte sie seinen Namen.

„Was war denn eigentlich los? Du sahst so verängstigt aus. Hast du Angst vor Gewitter?“, fragte Jackin mit einer sanften Stimme nach. Er machte ihr keine Vorwürfe, für ihr schlechtes Benehmen und Ria war ihm dankbar. Außer Shinri hatte sie nie jemanden gehabt, der es einfach hingenommen hatte. Der Mann, der sie aufgezogen hatte, hatte ihr versucht zu helfen, doch hatte jede Therapie nichts gebracht. Nur Shinris Nähe hatte ihre wunde Seele heilen können, denn auch er hatte das erlebt, was ihr so zu schaffen machte.

„Was ist es, Ria. Möchtest du es mir erzählen?“, erklang erneut Jackins wohltuende Stimme. „Egal, was es ist, ich würde es gerne wissen.“

Seine Bitte war etwas schönes, denn damit zeigte er ihr, dass sie ihm nicht unwichtig war, dennoch wäre es besser, wenn sie es ihm nicht sagen würde. Das Erlebnis war etwas, dass ihr Leben bestimmt hatte. Es machte ihr immer noch Angst, nur darüber zu sprechen. Damals wäre sie am liebsten auch gestorben. Doch Shinri hatte sie gerettet.

„Ein andermal, Jack. Lass mich bitte nur hier liegen. Mehr nicht“, bat sie ihn und kuschelte sich enger an ihn. Sie atmete seinen Duft tief in sich ein und schloss die Augen. Sie war nicht müde. Jedes Mal, wenn sie so etwas durchmachte, schlief sie lange. Aber sie wollte diesen wundervollen Moment nicht zerstören, nur genießen.
 

Zur selben Zeit erreichten Shinri und Aya ihr Ziel. Noch immer befanden sie sich in Mitte des Waldes, umringt von Bäumen verschiedenster Art. Direkt vor ihnen stand ein großes Haus. Es sah alt aus und musste gewiss schon lange hier stehen, doch war es noch immer im besten Zustand.

In der Dunkelheit wirkte es düster und bedrohlich. Es kam einem Geisterhaus gleich. Alle Vorhänge waren zugezogen und es schien kein Licht zu brennen, ganz als wäre niemand Zuhause. Es konnte aber auch gut möglich sein, dass die Bewohner bereits schliefen, schließlich wusste Aya nicht, wie viel Uhr es war.

„Hier sind wir also … Dann lass und klingeln“, bestimmte sie und ihr Herz klopfte nervös. Sie war schon sehr darauf gespannt, wie der Arzt wohl war. Shinri mochte ihn nicht, also schien er keinen guten Charakter zu haben. Aya hatte schon ihre eigene Vorstellung von ihm. Einen älteren Herrn mit grauen Haaren und einem strengen Blick.

Shinri trug sie wortlos zur Tür, damit sie die Klingel drücken konnte. Ein schriller Ton hallte durch das große Haus. Sollten die Bewohner wirklich schon geschlafen haben, so würde es jetzt nicht mehr so sein, dachte sich Aya und wartete gespannt auf den Hausherrn.

Sie mussten kaum eine Minute warten, als die Tür nach innen ausglitt. Vor ihnen zeigte sich das Innere des Hauses nur in einem schwarzen Nichts. Wie gebannt starrte Aya in das Düstere. Erwartungsvoll musterte sie dann den Mann, der hervortrat und sich somit den beiden zeigte. Er war gekleidet in einer schwarzen Stoffhose und einem weißen Hemd. Seine dunkelroten Haare, die einen interessanten Kontrast zu den grünschwarzen Augen bildeten, fielen über seine straffen Schultern und immer weiter hinab.

Aya blieb das Wort im Halse stecken, als sie in das freundliche Gesicht blickte. Sollte das der Arzt sein? Er sah so jung aus mit seinem freudigen Lächeln. Aber in seinen grünen Augen zeigte sich, dass er mehr Erfahrung hatte, als Aya vermutete, genauso wie sie daraus etwas ähnliches wie Trauer herauslesen konnte.

Der fremde Mann musterte Aya kurz, bevor er Shinri ansah. Seine Augen weiteten sich erstaunt. “Shinri! Lange nicht gesehen, mein süßer Cousin! Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, du hättest vergessen, wo ich wohne!”, lachte er vergnügt, was nicht so ganz zu der Trauer passte, die sie in seinen Augen erhascht hatte. Vielleicht hatte sie sich auch nur getäuscht. Viel mehr interessierte sie die Tatsache, dass die beiden Verwandt waren.

Kalt wie Eis zischte Shinri: “Nerv mich nicht!” Nach Shinris Laune zu urteilen musste der Mann ihnen Gegenüber der Arzt sein. All ihre Vermutungen gingen den Bach herunter. Weder sah er streng aus, noch alt. Er war ganz das Gegenteil von dem, was Aya sich unter dem Arzt vorgestellt hatte. Dabei konnte sie nicht einmal glauben, dass er wirklich mit Shinri verwandt war.

“Ach, wir können ja auch noch später reden! Kommt doch erst einmal hinein. Ich heiße euch in meinem bescheidenen Heim willkommen.” Er zeigte mit der Hand in das Hausinnere, in dem sich ein langer Flur erstreckte, nur vom Mondlicht erhellt. Er überließ dem einzigen Mädchen den Vortritt. Wie ein Gentleman. Aya war mehr als angenehm überrascht von seinem Auftreten. Sie war regelrecht begeistert. Er war ihr sofort sympathisch, im Gegensatz zu Shinri, den sie vom ersten Augenblick am liebsten in den Hintern gebissen hätte.

Aya betrat das neue Reich als erstes. Shinri ließ sie herunter, blieb aber dicht an ihrer Seite, um sie zu stützen. Ihr Fuß schmerzte noch immer fürchterlich und sie wagte es kaum, ihn zu bewegen.

Ein dunkler Flur erwartete sie. Der Grund für diese Dämmerigkeit, waren die zugezogenen Vorhänge und geschlossenen Türen, wie sie Anfangs bereits festgestellt hatte. Der Cousin von Shinri schaltete das Licht an, welches über ihren Köpfen nur schwach aufflammte.

Mit einem Lächeln betrachtete Aya das Hausinnere. Ein gemütliches Haus, fand sie. Zwei Stockwerke. Ein langer, hölzerner Flur. In mitten diesem stand eine Treppe, die in den oberen Stock führte. Auf beiden Seiten des Korridors gingen einige Türen ab. Und an den Wänden hingen viele Porträts von Personen, die Aya noch nie in ihrem Leben gesehen hatte, aber jeder von ihnen wirkte düster und geheimnisvoll. Ihre dunklen Augen erinnerten an Shinris und die der anderen Zomas.

Das Mädchen schüttelte leicht den Kopf. Sie würde sich hier einsam fühlen, ganz alleine ohne Anschluss zu den anderen. Sie empfand es schon als einsam, wenn sie nur alleine in ihrer Wohnung saß. Was … was dachte sie da? Sie unterbrach ihren Gedankengang und versuchte es sich selber zu erklären. Seit wann war sie in ihrer Wohnung einsam? Sie hatte so etwas doch noch nie gefühlt. Bestimmt lag es wieder an Shinri!

Der Hausherr ging zielstrebig auf eine Tür zu und öffnete diese. Er geleitete seine Gäste hinein in die warme Stube und schaltete sofort das Licht an. Während er mit den Vorhängen des Fensters beschäftigt war, begutachtete Aya den Raum, in dem sie sich befand. Es schien eine Art Wohnzimmer zu sein. An einer Wand fand ein großer Kamin seinen Platz, in dessen einige Holzscheiteln lagen, aber die Glut war bereits erloschen. Ein schwarzer Holztisch stand in Mitten des Raumes und um ihn herum waren ein Sessel und eine Couch platziert. Aya machte es sich auf der Couch gemütlich. In diesem Raum gefiel es ihr.

“Oh! Ich bin wirklich unhöflich! Verzeiht mir!”, entkam es plötzlich vom Hausbesitzer, der sich die flache Hand gegen die Stirn schlug, als fiele ihm etwas Wichtiges ein. Er lächelte Aya an und erzählte ihr: “Ich sollte mich vielleicht doch einmal vorstellen. Mein Name ist Lucio Zoma. Ich wohne hier ganz allein, wie du siehst, und freue mich riesig dich als meinen Gast zu empfangen. Und, mit wem habe ich das Vergnügen?” Lucio, wie er sich nannte, lächelte freundlich und zwinkerte Aya zu. Das Mädchen antwortete ihm bedenkungslos, denn er war wirklich aufmerksam und höflich, weswegen sie ihm ebenso entgegnen wollte. Von ihm konnte sich Shinri wirklich eine Scheibe abschneiden.

Der rothaarige Mann ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen. “Was für ein wundervoller Name”, schwärmte er.

“Lass-!” Shinri versuchte seinen Cousin zu unterbrechen, doch gelang es ihm nicht wirklich, denn schon sprach dieser weiter: “Verzeih mir, dass ich so ein schrecklicher Gastgeber bin. Du musst doch bestimmt an Schmerzen leiden. Folge mir doch bitte in meine kleine Praxis, dann kann ich dich besser behandeln.” Obwohl Aya noch kein Wort über ihr schmerzendes Bein verloren hatte, schien es ihm bereits aufgefallen zu sein.

Dankbar stütze Aya sich an Lucios Arm ab, doch verließen sie nicht sofort den Raum. Eine düstere Aura ging von Shinri ab. Sogar Aya konnte seine Wut spüren. “Was wird das jetzt?!”, schimpfte er sie, als würden sie etwas unrechtes tun. Zwei unschuldige Augenpaare sahen ihn unverwandt an.

“Ich möchte Aya verarzten, dafür hast du mich doch gewiss aufgesucht. Und in meiner Praxis kann ich dich nicht reinlassen. Berufsgeheimnis.” Nun wand sich Lucio um und schritt durch das Wohnzimmer auf die Tür zu. Aya lief direkt neben ihm, während sie sich auf seinen Arm stützte. Ihr Bein schmerzte noch immer fürchterlich und sie wusste, Lucio konnte ihr helfen.

Schweigend sah er zu, wie beide hinter der nächsten Ecke verschwanden, bis er nur noch auf einen düsteren Flur starrte. Er biss sich auf die Lippe und hätte am liebsten kurz danach irgend einen Gegenstand zerschmettert, um seine Wut etwas herunter zu kurbeln. “Was mache ich nur falsch?”, stellte er die Frage in den Raum, wusste aber, dass er keine Antwort darauf bekommen würde.

Aya nahm auf einem weißen Bett Platz. Sie befand sich nun in der kleinen “Praxis“, wie Lucio diesen Raum nannte. Ihr Blick wandere umher. Das Arbeitszimmer war ein großer, heller Raum, in dem zwei große, weiße Schränke, das Bett und ein hellbrauner Schreibtisch mit einem dazupassenden Drehstuhl standen. Lucio zog einen großen Koffer hervor, in dem sich Unmengen Utensilien befanden, die er wahrscheinlich für seine Hausbesuche benötigte.

“Dein Fuß schmerzt also. Was ist damit passiert?”, wollte er wissen, während er einen seiner großen Schränke durchsuchte. Schon bald zog er einen Verband hervor und irgendwelche seltsamen Fläschchen, die Aya das erste Mal in ihrem ganzen Leben zu Gesicht bekam.

“Ich hab mich unter einem Baum eingeklemmt. Es war ein Unwetter und es gab einen Erdrutsch”, erzählte Aya etwas verlegen. Auch wenn Lucio sehr freundlich war, so war er dennoch älter als sie und gewiss erwachsener. Kein Erwachsener könnte es verstehen, wenn er hörte, dass sie bei einem derartigen Wetter im Wald war.

“Und Shinri hat dich gerettet, nehme ich an. Ich hätte nie gedacht, dass er jemals seinem Schicksal folgen würde. Na ja. Er hatte eigentlich ja keine Wahl”, meinte er, wobei es mehr klang, als würde er mit sich selbst sprechen. Verwirrt sah Aya ihn an, schwieg aber. Schicksal? Shinri sprach oft von eine Schicksal und über dieses Zeichen. Dennoch konnte sie sich keinen Reim daraus machen.

Lucio schien ihre Verwirrung zu bemerken und erklärte: “Vergiss einfach, was ich gesagt habe. Es ist nicht so wichtig. Ich rede öfters mit mir selber, aber mir bleibt ja auch keine andere Wahl, so alleine in diesem großen Haus.” Wieder lachte er und steckte Aya mit seiner guten Laune an.

Sie sah ihm zu, wie er Flüssigkeiten zusammenmischte und schwieg die Zeit über. Kurz darauf trat er damit und mit einem Verband auf sie zu. “Gut. Dann zeig mir die Verletzung.” Es war für Aya seltsam, dass Lucio nicht zuerst ihr Bein begutachtet hatte, aber sie stellte sein Handeln nicht in Frage. Vorsichtig schob sie ihre Jeans hinauf, zuckte aber zusammen, als der Schmerz durch sie hindurch fuhr. Es war auch für sie das erste Mal, dass sie ihr Bein begutachtete. Eigenartiger Weise hatte sie keine offene Wunde davon getragen, dafür hatte sich die Haut violettschwarz gefärbt und war angeschwollen.

“Das kann jetzt etwas weh tun”, erklärte Lucio und öffnete Ayas Schuh. Sanft zog er ihn aus und bereitete Aya eine riesige Qual. Sie biss sich hart auf die Zähne, doch konnte sie ein Klagelaut nicht unterdrücken. Der Schmerz blieb auch weiterhin bestehen, als Lucio ihren Schuh bereits ausgezogen hatte.

Der Arzt wartete keine Sekunde, bevor er die Flüssigkeit auf Ayas Haut auftrug. “Shinri wäre gewiss nicht sehr angetan davon, was ich hier tue”, lachte Lucio, um Aya den Schmerz erträglicher zu machen und um sie abzulenken.

“Der soll sich nicht so anstellen”, zischte Aya, während Lucio bereits begann, ihren Fuß zu verbinden. “Der findet doch immer irgendetwas, um sich aufzuregen.”

Lucio lächelte leicht, als er zu ihr aufsah. Seine Arbeit hatte er bereits erledigt und seltsamer Weise hatte der Schmerz etwas nachgelassen.

“Ja, aber vielleicht regt er sich auf, weil er sich Sorgen um dich macht”, kam es von Lucio und Aya merkte, wie sie nervöser wurde. Wenn dem so war, dann hieß es, sie bedeutete ihm etwas. Verlegen suchte sie ein anderes Gesprächsthema.

“Lebst du eigentlich wirklich ganz alleine hier? Also ganz alleine?”, fragte sie ihn kurzerhand, da ihr nichts besseres einfiel. Der Zoma nickte zustimmend. “Aber, wenn du möchtest, könntest du jeder Zeit bei mir einziehen. Ich würde mich über solch eine freundliche, hübsche und überaus interessante Mitbewohnerin freuen.” Das Mädchen stockte. Sie hatte gerade drei Komplimente auf einmal bekommen. Eigentlich wollte sie nicht mehr an Shinri denken, doch überlegte sie, was er jemals schönes zu ihr gesagt hatte. Sofort fiel ihr wieder Berry ein und sie lief tomatenrot an.

“Sollen wir uns wieder auf den Weg zu Shinri machen?”, fragte Lucio nach und bot Aya wieder seinen Arm an. Aya wich seinem Blick aus, um zu verbergen, wie rot sie geworden war. Auch nahm sie das Angebot nicht an, da sie noch etwas wissen wollte. Egal, wie sehr sie sich selbst davon zu überzeugen versuchte, dass sie Shinri nicht mochte, so war sie doch sehr neugierig.

“Lucio … Könntest du mir etwas über Shinri erzählen? Du kennst ihn länger, als ich.” Sie besah sich den Verband um ihren Fuß, nur um nicht in Lucios dunkelgrüne Augen sehen zu müssen. Es war ihr peinlich, überhaupt nach Shinri zu fragen.

Lucio lächelte sanft, dass konnte sie an seiner Stimme vernehmen. “Auch wenn du es vielleicht nicht verstehen magst, aber du kennst ihn besser, als jeder andere.”

Verwirrt blickte Aya auf und blinzelte den älteren an. Ja, sie verstand den Satz nicht. Wie sollte sie Shinri kennen, wenn sie überhaupt nichts über ihn wusste? Doch Lucio sah nicht danach aus, als wolle er dieses Thema näher vertiefen. Er lächelte und wies erneut darauf hin, dass es vielleicht besser wäre, wieder zu Shinri zu gehen. “Gewiss macht er sich bereits Sorgen um dich”, scherzte er.

“Ja, er ist gewiss krank vor Sorge”, grummelte Aya sarkastisch. Lucio lachte und half Aya auf, welche sich sogleich auf seinen Arm stützte. Ja, Lucio war um einiges freundlicher und liebenswürdiger als Shinri, dennoch ließ ihr Herz sich nicht umstimmen. Es schlug nur für Shinri. Nur für diesen verdammten, sturen Shinri! Egal was sie auch tat, sie konnte ihn nicht vergessen, doch verstehen würde sie ihn wohl dennoch nicht so schnell - trotz Lucios Worte.

“Na gut. Wenn es sein muss, dann gehen wir eben wieder zurück”, murrte Aya, sich an Lucios Arm abstützend. Er wartete nur darauf, dass sie bereits war, zurück zu gehen. Gemeinsam erreichten sie die Tür der Praxis, doch öffneten sie noch nicht die Tür. Anscheinend schien Lucios auch noch etwas auf der Seele zu liegen. Sein Lächeln war schwächer geworden und seine dunkelgrünen Augen musterten Aya ernst.

“Aya, ich weiß, du bist schlecht auf meinen Cousin zu sprechen. Wahrscheinlich ist er nicht gerade vorsichtig mit dir umgesprungen, als ihr euch getroffen habt. Dennoch … wenn du wirklich die Wahl hättest, ob er nun da bliebe oder nicht. Wie würdest du dann entscheiden? Ich möchte, dass du gut darüber nachdenkst. Mein Cousin ist mir sehr wichtig, auch wenn er mich vielleicht nicht so sehr leiden kann.” Mit diesen Worten verließ Lucio die Praxis und schwieg sich aus. Er erwartete keine Antwort von Aya, denn er hatte bereits das erreicht, was er wollte. Aya schien sich wirklich Gedanken darüber zu machen.

“Wo wart ihr so lange?”, fragte Shinri nach, als Lucio und Aya endlich wieder ins Wohnzimmer traten. In seiner Stimme schwang ein zorniger Unterton mit und er musterte seinen Verwandten misstrauisch.

“Wie geht es eigentlich Ria? Eigentlich hatte ich gehofft, sie ebenfalls wieder zu sehen”, wechselte Lucio plötzlich das Thema, um Shinris Frage auszuweichen. Er setzte sich auf den Sessel, während Aya neben Shinri auf der Couch Platz nahm.

“Wieso denn? Was hat sie?”, wollte Aya wissen, denn sie ahnte, dass es mit der Situation im Wald zusammen hing. Zu gerne hätte sie mehr darüber erfahren. Sie machte sich noch immer Sorgen um Rias Gesundheit. Der letzte Anblick war ihr noch immer im Gedächtnis eingebrannt.

Lucio sah Aya abschätzend an, als er dann meinte: “Ich kann es dir leider nicht sagen, auch wenn ich wollen würde. Das darf nur Ria. Es geht schließlich um sie. Tut mir leid, Süße.” Ein entschuldigendes Lächeln folgte. Aya verstand das Problem und den Grund für das Schweigen. Shinri hatte ihr genauso geantwortet und wieder ging sie nicht weiter darauf ein.

Aya warf nur einen kurzen Blick zu ihrem Nachbarn und merkte, dass seine eigentlich sehr dunklen Augen, noch schwärzer wurden und er seinen Cousin mit einem finsteren, Angst einjagenden Blick musterte. Sie wusste, wäre er ein Hund gewesen und kein Mensch, hätte er jetzt mit größter Sicherheit geknurrt, denn seine Wut war nicht zu übersehen. Doch wieso war er so wütend? Das letzte mal, als er zornig gewesen war, hatte er mit kalten Worten reagiert.

Aya fühlte sich zwischen den beiden Zomas unbehaglich. Sie wusste nichts zu sagen und die beiden Männer übten sich im Schweigen, was sie auch sehr gut beherrschten. Die Stille wurde immer unerträglicher und drückte auf die Stimmung aller. Schon bald hielt sie es nicht mehr aus. Sie wand sich an Lucio und erzählte ihn kurz, sie sei müde. Es stimmte sogar. Die lange Reise hier her hatte sie zunehmend ermüdet. Am liebsten hätte sie jetzt einfach die Augen geschlossen und wäre eingeschlafen.

Lucio stand auf. “Okay, ich bringe dich auf dein Zimmer. Shinri, du war-“ Bevor er Shinri zum Warten verdonnern konnte, stand dieser bereits auf. “Ich gehe mit!”, entgegnete er ihm bestimmend. Seine Augen fest auf die des anderen gerichtet. Ja, dieser Zoma wusste, was er wollte. Er duldete keine Widerworte.

Zu dritt gingen sie die Treppen hinauf. Aya ging dieses mal ohne Hilfe der anderen. Es war schwer, aber sie schaffte es. Das Holz knarrte leise unter ihren Füßen. Als sie im ersten Stock ankamen, erstreckte sich ein weiterer langer Gang vor ihnen, ebenfalls aus Holz. Einige Türen gingen ab und der Hausherr öffnete eine dieser, die sich gleich neben der Treppe befanden.

“Dies ist ab heute dein Zimmer, Aya”, verkündete er, während er die Tür aufschwang. Aya betrat den Raum, immer darauf bedacht, sich nicht zu sehr auf ihr Bein zu stützen. Ihr Blick wanderte neugierig umher. Es wirkte einladend, mit dem weichen Bett, dem großen Fenster, dem Schrank aus hellem Holz und einer weiteren, kleineren Kommode. Doch bei dem Gedanken hier alleine zu sein, kroch ihr die Angst den Rücken hinauf. Sie schlief ungern alleine in einer ungewohnten Umgebung. Wie sollte sie dies aber umgehen? Nein, sie wollte nicht bei Shinri sein! Sie hatte keine Angst! Eigentlich … Das redete sie sich alles ein, obwohl sie sich insgeheim wünschte jemanden an ihrer Seite zu wissen, auch wenn es Shinri sein sollte. Hauptsache, sie war nicht alleine.

Lucio und Shinri verließen den Raum wieder. Aya blieb an der Tür stehen. “Also, wir gehen noch etwas runter, wenn du etwas brauchen solltest. Bis morgen und eine gute Nacht. Ach! Übrigens, das Bad ist gleich daneben, falls du für keine Mädchen musst. Also, eine geruhsame Nacht, meine Hübsche”, kam es von Lucio. Er lächelte sein liebevolles Lächeln, an das sie sich schon langsam gewöhnte, und zwinkerte ihr zu. Auf einmal kam er ihr etwas näher. Aya stockte der Atem, als er ihr ungefragt einen Kuss auf die Wange hauchte. Bevor sie etwas sagen konnte, wendete er sich bereits wieder ab und schritt die Treppen hinab.

Shinri stand weiterhin bei ihr. Sein Blick folgte seinem Cousin, finster und zornig. “Halte dich von ihm fern, verstanden?”, befahl der Zoma barsch. Aya blickte auf. Sie verstand nicht, weshalb er so zornig war. Schließlich war doch nichts schlimmes geschehen.

“Wieso sollte ich? Er ist doch echt freundlich zu mir. Du solltest dir viel lieber ein Beispiel an ihm nehmen, Shinri”, erklärte sie ihm ruhig, dann wand sie sich um, denn sie wollte in ihr Zimmer und sich dann dort ausruhen. Hätte man sie nicht aufgehalten, wäre ihr dies auch gelungen, aber die Hand des Zoma umschlang ihr Handgelenk und hielt sie somit auf. Unsanft zog er sie in seine Arme. Verwirrt sah sie hinauf in seine finsteren Augen. Was hatte er denn jetzt schon wieder?!, fragte sie sich, bis sich seine Lippen plötzlich auf ihre eigenen legten und ihre Grübeleien damit ebenfalls versiegten. Der unsanfte, forsche Kuss war schmerzlich und ihr Herz stach. Erst, als dieser dann das Leidenschaftliche und Liebevolle entdeckte gefiel es ihr. Verblüfft stand sie in seiner Umarmung und insgeheim genoss sie dieses Gefühl, dass sie überkam. Wieso konnte er nur so gut küssen und schmeckte so köstlich?

Kurz darauf ließ er sie wieder los. “Schlaf gut”, meinte er und ging zur Treppe. Perplex starrte Aya ihm hinterher, als er die Stufen hinab schritt und schon bald aus ihrer Sicht verschwand.

Was war nur mit ihm los? Wieso war er plötzlich so eigenartig? Sie schüttelte schnell den Kopf, denn sie wollte nicht daran denken. Shinri musste ihr egal bleiben! Sie musste Shinri endlich vergessen! Sie betrat ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Sanft lehnte sie sich mit dem Rücken gegen das Holz. Ihre Hand wanderte geistesabwesend hinauf und strich sanft über ihre Lippen. War er etwa eifersüchtig? Das konnte doch nicht der Fall sein, schließlich liebte er sie nicht, sie gehörte ihm eigentlich nur, mehr nicht. Sie konnte nichts dagegen tun, Sie dachte schon wieder an ihn.

Kapitel 14

Erschöpft ließ Aya sich auf das fremde Bett fallen. Ihre Müdigkeit verschwand auf einmal und sie fing an nachzudenken. Zu gerne wäre sie jetzt wieder unten im Wohnzimmer. So könnte sie wenigstens etwas über Shinri erfahren und vielleicht irgendwann eines seiner Geheimnisse lüften.

Bisher wusste sie noch immer kaum etwas über ihn. Nur seinen Namen und das er mit Ria und Lucio verwandt war. Über seine Vergangenheit, seine Vorlieben und was er überhaupt nicht leiden konnte hatte sie noch nichts etwas erfahren, obwohl es nur Kleinigkeiten waren. Sie wusste nicht, wieso sie sich dafür interessierte, sie war eben sehr neugierig und Shinri lag ihr auf eine unbekannte Art am Herzen. Oh Gott! Was dachte sie da?!

Sie hoffte, sie würde ihn nicht wütend machen, wenn sie versuchte seine Geheimnisse zu lüften. Ach! Egal! Tatsache war, dass eine Langeweile sie plagte und sie etwas dagegen tun wollte. Sie hasste es, hier unnütz herumzuliegen. Somit beschloss sie, wieder hinunter zu gehen, um zu sehen, ob beide wirklich noch nicht schliefen. Die Müdigkeit war mit einem Mal verflogen.

Vorsichtig schlich sie die Treppen hinab. Sie versuchte leise zu sein, wie es mit ihrem Fuß nur ging. Unten angekommen bemerkte sie erst, wie laut ihr Herz klopfte. Es fühlte sich an, als tat sie etwas Verbotenes. Eine Angst, ertappt zu werden und die Konsequenzen zu spüren zu bekommen, beschlich sie.

Vom Treppenabsatz aus erspähte sie die Wohnzimmertür, die ein Spalt weit offen war. Licht flutete in den Korridor. Ihr Herz hämmerte laut an ihr Ohr. So leise wie möglich schlich sie über den Holzboden, als es auf einmal unter ihren Füßen knarrte. Entsetzt blieb sie stehen und traute sich keinen Schritt weiter. Wie zur Statue erstarrt, stand sie an derselben Stelle. Sicher öffnete sich gleich die Tür und Shinri erblickte sie. Sie machte sich auf eine Standpauke bereit.

Einige Minuten bewegte sie sich keinen Millimeter von der Stelle. Verblüfft starrte sie auf die Tür. Das Holz hatte sich keinen Millimeter geöffnet, wie sie eigentlich erwartet hatte. Hatten sie Aya vielleicht doch nicht gehört?

Sie atmete erleichtert aus und schlich weiter vor. Kurz darauf stand sie bereits neben der Wohnzimmertür. Vorsichtig lugte sich durch den kleinen Spalt. Zuerst blendete das Licht sie, doch sie gewöhnte sich schnell daran. Blinzelnd betrachtete sie die beiden jungen Männer, die auf der Couch saßen. Sie schienen sie wirklich nicht bemerkt zu haben.

Nur kurz blickte Aya um sich. Die Dunkelheit fühlte sich erdrückend an und in ihr kam das Gefühl auf, beobachtet zu werden. Trotzdem blieb sie hier stehen und belauschte die beiden Zomas, die sich anscheinend etwas Wichtiges zu erzählen hatten. Dafür war sie schließlich hier herunter gekommen, unter Todesangst. Daher würde sie sich auch nicht durch dieses eigenartige Gefühl vertreiben lassen. Hier war niemand. Es war ein leeres Haus, nur sie drei befanden sich hier. Einzig und alleine die Dunkelheit war es, die ihr das eigenartige Gefühl bescherte.

“Ja, wir haben die Nachricht gestern bekommen. Ich frage mich nur, was sich unser Onkel dabei dachte. Ria und ich mussten uns unbemerkt in den Wald stehlen. Hätte uns jemand gesehen … Ach egal. Wirst du hingehen?“ waren die ersten Worte, die Aya vernahm, und sie kamen aus Shinris Mund. Sofort fiel ihr ein, wann er sich aus dem Wald gestohlen hatte. Anscheinend schien er gestern Besuch bekommen zu haben von seinem Onkel und Aya hatte sich schon gefragt, was er die ganze Zeit gemacht hatte. Immerhin wusste sie jetzt, wieso Ria und Shinri gemeinsam im Wald gewesen waren. Doch sie fraget sich, um was es hier gerade ging.

“Natürlich! Was für eine Frage! Es müssen ALLE Zomas kommen! Das ist eine Pflicht, oder spielst du etwa mit dem Gedanken nicht zu kommen?”, fragte Lucio ungehalten. Er schien ernster, als sonst und sein Lächeln war ihm auch vergangen. Es schien um eine wichtige Sache zu gehen. Irgendein zusammen treffen.

“Ja, ich möchte nicht hingehen. Mir ist egal, ob das Oberhaupt nun heiratet oder stirbt, Hauptsache ich habe meine Ruhe”, entgegnete Shinri seinem Cousin bissig. Das Wort Oberhaupt kannte Aya bislang nur von Büchern, oder wenn es um Indianerfamilien ging. Eigenartig, dass Shinri dieses Wort verwendete. Anscheinend ging es um ein Familientreffen.

“Gesteh dir doch einfach ein, dass du bei ihr bleiben möchtest”, lachte Lucio plötzlich, als habe er den Angriff seines jüngeren Verwandten nicht mitbekommen. Seine Ernsthaftigkeit verflog langsam. Doch Shinri erreichte die Freude nicht.

“Selbst wenn ich bei ihr bleiben möchte, geht dich das etwa was an?”, konterte Shinri genervt. Aya fragte sich, über wen die beiden sprachen. Natürlich wusste sie, dass sie die einzige weibliche Person in diesem Haus war. Aber sie konnte ich nicht vorstellen, dass es wirklich um sie ging. Für sie klang das viel zu absurd.

Wieder lachte Lucio auf. “Ich habe ja nur aus reiner Neugierde gefragt. Es wird langsam Zeit für den ersten Schritt. Die Rasse stirbt immer mehr aus. Wir müssen etwas unternehmen!”, erklärte Lucio, doch lächelte er weiterhin. War es jetzt ernst gemeint, oder nur ein Scherz? Aya wusste nicht, wie das gemeint war. Schließlich sprach man schon lange nicht mehr von Rassen. Sie waren schließlich keine Hunde oder Katzen.

“Was soll das denn heißen?! Du bist doch derjenige, der seinen Partner nicht beschützen konnte!”, unterstellte Shinri seinem Cousin wütend und stand auf. Mit einem herausfordernden Blick aus seinen nachtschwarzen Augen musterte er Lucio.

“Jetzt fängst du wieder mit dieser alten Kamelle an! Kannst du Marysa nicht einfach vergessen? Sie ist gestorben! Vergiss sie endlich! Ich habe mich damit abgefunden und versuche ohne sie zu überleben, aber du?”, meinte Lucio weniger freundlich. Shinri schien einen wunden Punkt getroffen zu haben.

“Wer ist denn daran Schuld, dass sie nicht mehr unter uns weilt?! Wer hat sie denn zum Tode verdammt?!”

Nach dieser weiteren Unterstellung stand Lucio auf und entgegnete Shinris Blick ebenso erzürnt. “Ich habe es versucht! Aber sie ließ sich nicht aufhalten! Es war bereits zu spät! Sie hat sich ihr eigenes Schicksal ausgesucht. Ich wäre ihr gerne gefolgt, aber … Sie wollte es nicht wegen euch und ich wollte ihr ihren Wunsch in Erfüllung gehen lassen. Du bist der Einzige, der es nicht verstehen will! Entweder du verstehst es … oder nicht. Aber sprich nicht mehr darüber. Lass die Vergangenheit ruhen”, bat Lucio müde und leicht traurig. Die Erinnerung an die frühere Zeit hatte ihn schwer angeschlagen. Er sank zurück auf die weichen Polster.

Shinri, der immer noch stehen blieb, erklärte sich nicht mit Lucios Worten einverstanden. “Von wegen. Er hätte sie nicht sterben lassen müssen. Sie hatte doch nichts verbrochen. Nur weil sie alles wusste. Ich möchte nicht, dass ihr das gleiche widerfährt.”

“Dann pass gut auf sie auf. Sie ist wirklich ein liebenswertes Mädchen, aber auch sehr neugierig. Als ich sah, fühlte ich mich zurück an Marysa erinnert.” Lucio lächelte leicht verträumt, als schwelge er in Erinnerungen.

Aber sein jüngerer Cousin holte ihn sofort wieder zurück. “Lass bloß deine dreckigen Finger von ihr! Sie ist mein!” Nach diesen Worten herrschte eine unangenehme, drückende Stille. Lucio antwortete nicht und Shinri schien auch nicht mehr diskutieren zu wollen. Noch immer etwas zornig sank er auf die Couch und vergrub das Gesicht in seinen Händen.

Aya glaubte nicht, dass das Gespräch so schnell wieder fortgesetzt werden würde. Sie fragte sich noch immer, was genau zwischen ihnen abspielte. Sie hätte zu gerne mehr über ihre Vergangenheit gewusst. Viel mehr.

Schon spürte sie, wie die Müdigkeit zurückkehrte. Ihre Augen fielen ihr immer wieder zu und auf einmal war ihr egal, was die jungen Männer sich noch zu erzählen hatten. Müde schlich sie hinauf in ihr Zimmer. Da sie ihren Koffer nicht bei sich hatte, brauchte sie keine Zeit fürs Umziehen zu investieren. Sie kuschelte sich in das weiche Bett und schlief wenige Sekunden später auch schon ein.
 

Unten im Wohnzimmer legte sich die Stelle langsam wieder. Die beiden waren zu sehr in ihr Gespräch vertieft, um Aya wirklich zu bemerken. Selbst Shinri, der eigentlich immer wusste, wie weit sie sich von ihm entfernt hielt.

“Was wirst du machen, wenn Aya es herausfinden sollte?”, fragte Lucio nach, denn er konnte das Schweigen nicht länger ertragen. Er wusste, er hatte vor sechs Jahren einen dummen Fehler begannen, als er Marika nicht so beschützt hatte, wie er sollte. Doch wäre Shinri in der selben Lage, hätte er genauso gehandelt.

Shinri ließ sein Gesicht weiterhin in seinen Händen vergraben, denn er wollte Lucio nicht in die Augen sehen. Die Frage war berechtigt und Shinri konnte sie nicht beantworten. Sicher, er müsste sich gegen das Oberhaupt seiner Familie stellen, sollte es um Ayas Leben gehen. Aber ob er gewinnen konnte? Für das Geschlecht der Zomas nahte bereits das Ende. Konnte er sich dann solch einen Fehler erlauben? Für einen einzigen Menschen? War sie das Wert?

Ja. Aya war es wert. Für sie würde er jeder Gefahr trotzen. Für sie würde er sich selbst aufgeben und hinrichten lassen, solange es ihr gut ging. Und wenn sie wirklich dahinter kommen sollte, was die Zomas zu verbergen versuchten, dann würde er dennoch hinter ihr stehen.

Shinri hielt es keine Sekunde länger aus. Er musste nach ihr sehen. Es war für ihn das Wichtigste, sie in Sicherheit zu wissen. Ohne Lucio eine Antwort zu geben stand er auf. Weder nickte er, noch sagte er ein Wort, als er den Raum verließ. Sein Cousin hielt ihn auch nicht zurück, denn er kannte Shinris Empfinden nur zu genau. Auch er hatte einst so gefühlt, bis vor sechs Jahren, als der Tod ihn aus seinen Träumen gerissen hatte.

Geräuschlos überquerte Shinri die Treppen. Immer wieder zog es ihn magisch zu ihr, dass Band, das sie verband. Er hätte sogar blind zu ihr gefunden. Leise öffnete er die Tür, hinter der Aya schlief. Er erblickte das Mädchen tief schlafend auf ihrem Bett, umhüllt von einer weichen Decke. Wieder einmal erkannte er, wie süß sie sein konnte, wenn sie sich nicht aufregte und wütend auf ihn war. Doch er liebte es, wenn er sie ärgern konnte.

Leise betrat er das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Er stellte sich einige Zeit lang neben dem Bett auf und betrachtete die schlafende Aya. Es war kaum vorstellbar, was für schwere Lasten auf ihren Schultern lagen. Sie war wirklich neugierig, auch wenn sie ihn noch nie Löcher in den Bauch gefragt hatte, wusste er das. Und diese Neugierde barg Gefahren in sich.

Shinri fuhr mit seiner Hand sanft durch ihre Haare. Sie waren weich und wunderschön. Alles an ihr war wunderschön, auch wenn sie selbst es nicht glauben konnte. Sie und Shinri waren miteinander verbunden und füreinander bestimmt. Egal, was sie sagen und tun würde, er konnte sie nicht hassen. Dazu war er nicht imstande.

Zärtlich hauchte er einen liebevollen Kuss auf ihre Stirn und verließ dann leise den Raum. Diese Nacht würde sie ruhig schlafen können. Mit zwei Zomas in einem Haus war sie sicher. Shinri würde es nie dulden, dass irgendwer ihr etwas antat. Der Tod möge dem ereilen, der es wagen würde.
 

Müde gähnte Aya in den Morgen hinein. Sie streckte ihre Arme in die Höhe, dehnte sich und fühlte sich besser, als je zuvor. Sie hatte gut geschlafen und war fit für den Tag. Ihr Bein schmerzte ebenfalls nicht mehr so stark, wie zur gestrigen Zeit. Dieses fremdartige Mittel hatte ihr also wirklich geholfen.

Zufrieden stieg sie aus dem Bett. Sie streckte sich ein weiteres Mal und genoss den Tag und die Sonnenstrahlen, die bis in dieses Zimmer drangen. Es war Donnerstagmorgen und sie konnte kaum glauben, dass sie Shinri erst eine Woche kannte. Es kam ihr vor, als wäre er seit Ewigkeiten bei ihr. Auch fiel ihr jetzt erst ein, dass sie eigentlich in der Schule sein mussten. Ob Herr Heulsu und Jackin sich Sorgen machten? Vielleicht hatte man sogar eine Vermisstenmeldung aufgegeben?

Aya verließ ihr Zimmer gutgelaunt und stieg die Stufen hinab. Das Holz knirschte leise unter ihrem Gewicht. Ihre Hand glitt über das Geländer. Unerdessen bemühte sie sich ihre Orientierung wieder zu finden. Sie stand am Treppenabsatz und blickte durch den düsteren Korridor. Auf jeder Längsseite befanden sich Türen. Welche war nun die Richtige?

Sie entschied sich für eine Tür gleich in der Nähe. Sie öffnete bedächtig und erwartete jedes mögliche Zimmer auf der anderen Seite. Glücklicherweise hatte sie sich aber für den richtigen Raum entschieden. Das Wohnzimmer erwartete Aya bereits mit heller und freundlicher Ausstrahlung und in mitten dessen stand die Couch auf der auch schon Shinri und Lucio saßen. Überrascht betrachtete sie beide. Eigentlich hatte sie sich darauf eingestellt, die erste hier herunter zu sein.

“Guten Morgen”, strahlte Lucio, als er sie bemerkte, und lächelte ihr entgegen. Er schützte keine Müdigkeit vor, obwohl es noch früh am Morgen war. Sie konnte nicht anders und entgegnete ihm ebenso freundlich. Shinris Grummeln ignorierte sie, während der Hausbesitzer aufstand. “Lasst uns Frühstücken”, schlug dieser vor und geleitete bereits Aya zurück in den finsteren Gang. Shinri ließ nicht lange auf sich warten. Lucio und Aya alleine zu lassen war das Letzte, was er tun würde!

Gut gelaunt folgte Aya Lucio. Es schien, als hätte er ihre Gedanken lesen können. Seit dem Aufstehen hatte sie bereits einen großen Hunger und freute sich auf das Frühstück, das bald anstand. Den letzten Bissen hatte sie gestern Vormittag gegessen, seitdem nichts mehr.

Hinter ihr schritt Shinri. In ihren Gedanken verschwand der Hunger wieder für einige Zeit und sie rätselte darüber, was im Kopf des Zomas vor sich ging. Der Junge, der sie vor dem Bettgehen noch so Besitz ergreifend in eine Umarmung gezogen hatte, wünschte ihr heute noch nicht einmal einen guten Morgen. Vielleicht war gestern noch etwas vorgefallen, dass seine Laune senkte, oder es lag daran, dass sie es nur nicht verstand, wie sonst auch.

Ihr Gedankengang endete, als sie zu dritt die große, geräumige Küche betraten, in der an einer Wand ein Durchgang eingebaut war, der in das Nachbarzimmer, dem Esszimmer, führte. Dunkle Fließen säumten den Boden und eine weißhellbraune Küche zeichnete sich hier auf. In einer L-Form mitten im Raum standen Seite an Seite viele Schränke in Bauchhöhe und an der Wand hingen noch weitere. Der Herd besaß vier Platten und eine große Öffnung, die den Ofen ausmachte. Ein großer, breiter Kühlschrank gesellte sich daneben in einem strahlenden Weiß. Lampen hingen von der Decke und erleuchteten alles in einem freundlichen Licht.

Aya schritt über die Fließen und ihr Blick wanderte durch den Durchgang in das angrenzende Zimmer. Ein langer schwarzer Holztisch erstreckte sich durch den Raum. Dazu gehörige, elegante Stühle standen der Längsseite entlang und jeweils einer an jedem Enden. Zwei silberne Kerzenständer breiteten sich jeweils auf der Hälfte jeder Seite aus. An der eine Wand stand das Fenster offen und angenehm warme Luft strömte herein, ebenso wie durch die Fensteröffnung in der geschmackvollen Küche. Einige Bilderrahmen mit Stillleben hingen in jeden der Räume, gleichmäßig an der Wand verteilt.

Ayas Aufmerksamkeit wand sich wieder Lucio zu. Dieser kramte in den Schränken und dem Kühlschank und holte einige Sachen hervor. Bis sie sich versah standen Marmeladengläser, Honig, Butter, Brot und Semmeln auf der Theke, ebenso wie Milch, Tassen, Löffel, Messer und Teller. Aya räumte einige der Sachen bereits auf den langen Esstisch, während Shinri nur dort stand und seinen Cousin misstrauisch musterte.

Lucio, der diesen Blick ignorierte, wand sich an Aya: “Eine junge, hübsche Frau, wie du, muss sich doch nicht in meiner Küche abraffen. Du bist mein Gast. Setzt dich nieder und lasse dich von mir bedienen.” Er lächelte freundlich und bot ihr an, Platz zu nehmen. Aya wusste nicht, ob sie nicht doch weiter helfen solle. Dann registrierte sie jedoch seine bestimmende Miene und setzte sich gehorsam auf den ihr angebotenen Stuhl. Shinri nahm schweigend neben ihr Platz.

Es dauerte nicht mehr lange, dann stieß auch Lucio zu ihnen und sie begannen mit dem Frühstück. Es gab Kakao und Kaffe und den Rest, den Aya zuvor schon gesehen hatte. Es schmeckte köstlich und die Semmeln und das Brot waren frischer, als sie gedacht hätte. Woher hatte er das ganze Essen? Die Stadt musste doch mehrere Meilen von hier entfernt sein. Wann hatte er die gekauft? Immer wieder stieß Aya an die Grenzen ihres Urteilsvermögens. Die Familie Zoma schien mehr als nur ein Geheimnis zu halten. Nein, sie waren selber das Geheimnis, das nicht gelüftet werden wollte.

Bevor sie aber dazu kam, danach zu fragen, zog Lucio ihre Aufmerksamkeit anderweitig auf sich. Er erkundigte sich nach ihrem Befinden, wobei er sehr stark den Eindruck vermittelte, dass ihr Wohlergehen das Wichtigste auf der ganzen Welt war. Mit sorgevoller Miene betrachtete er Aya, als diese ihren Blick erhob. Schnell bejahte sie die Frage mit einer stummen Geste, bedankte sich dann aber mit Worten für die Nachfrage und Rücksicht. Wieder einmal bestätigten sich die eindeutige Unterscheidung zwischen den beiden Cousins.

“Das freut mich. Es wirkt also. Gut, dann müssen wir nach dem Essen nur noch einmal den Verband wechseln. Lass uns dafür wieder in die Praxis gehen.” Aya wusste, dies war das Beste, was ihr widerfahren hätte können. Lucio kümmerte sich gut um sie und sie war ihm höchst dankbar dafür.

Von Shinri erwartete sie nicht solches Verhalten. Obwohl er sich rührend um sie gekümmert hatte. Die Gedanken daran, machten sie auf eine Weise glücklich, die sie nicht kannte. Es lag ihr viel daran, dass Shinri sie gut behandelte. Dadurch wusste sie, wie viel sie ihm bedeutete. Nur, wieso wollte sie das wissen? Immer wieder kam sie in diesen Zwiespalt. Es war nicht mehr rückgängig zu machen. Er war ihr insgeheim wichtig, aber war sie es ihm auch?

Das Frühstück ging zu Ende. Es hatte super geschmeckt und Lucio hatte sich als wundervoller Tischnachbar herausgestellt. Freundlich und zuvorkommend, wie es sich für einen wahrhaftigen Gastgeber gebührte. Sie hatten einige Zeit lang über belanglose Themen gesprochen, angefangen mit dem Wetter, dann über den Wald und die darin lebenden Tieren. Es war interessant und aufregen, denn er war ein wirklich sehr interessanter Mann, der viel zu erzählen hatte. Jede Erzählung war spannend und lehrreich.

Bei ihren Gesprächen entging Aya dennoch nicht Shinris Gegenwart. Es ärgerte sie, dass er nichts dazu beitrug und nur schweigend neben ihnen saß. Vor allem aber hatte seine düstere Miene sie gestört. Es war nicht zu übersehen, dass er Lucio am liebsten an den Kragen gesprungen wäre. Ob es an ihr lag, oder ob die beiden Männer gestern einen Streit hatten, war ihr nicht ganz klar.

Shinris Laune wurde noch schlimmer, als Lucio Aya erneut in das Praxiszimmer führte. Der jüngere Zoma verschwand schweigend ins Wohnzimmer, aber sein Blick hätte Lucio töten können.

Im Behandlungssaal nahm Aya wieder einmal auf dem Bett Platz. Lucio kniete sich vor ihr nieder und nahm den Verband ab. Dass er ihn jetzt schon herunter tat, war schon eigenartig, aber Aya stellet es nicht in Frage. Die Flüssigkeit, die er gestern Nacht auf ihr Bein geschmiert hatte, wirkte schnell und ihr Bein tat immer weniger weh.

“Du, Lucio. Kann ich dich etwas fragen?” Aya blickte zu ihm hinab. Ihr Bein war nicht mehr geschwollen und nur noch leicht gerötet. Sie war erstaunt, dass es so schnell ging, doch bedrückte sie etwas, dass nicht mit ihrem Bein zu tun hatte.

Lucio lächelte freundlich. Er nickte, nahm sich einen nassen Lappen und fing an, Ayas Bein zu säubern. Das Wasser fühlte sich kalt an. Sanft wanderten einige Tropfen hinab und glitten über die weiche Haut.

“Na ja. Weißt du, wieso Shinri heute so mürrisch ist? Hast du ihn irgendwie verärgert, oder liegt es an mir?” Dass Shinri allgemein sehr eigenartig war, wusste sie schon lange. Diese Frage hatte sich bereits erübrigt, doch heute schien ihm wahrlich eine Laus über die Leber gelaufen zu sein. Vielleicht keine Laus, sonder Lucio?

“Ach. Ist mir noch gar nicht aufgefallen”, neckte Lucio Aya und zeigte ein schmunzelndes Lächeln. “Aber ich glaube, es liegt an dir.”

“An mir?!”, wiederholte Aya die Worte vollkommen erschrocken. Wieso sollte es an ihr liegen? Sie hatte ihm nichts angetan, außer ihn vielleicht zu oft beleidigt.

Lucio lachte amüsiert auf, sodass er Aya vollends verwirrte. “Du bist wirklich süß, Aya. Ein Zoma hat dich nicht verdient, aber ich wäre glücklich, wenn du trotzdem bei ihm bleiben würdest, egal was passieren sollte. Nur du kannst ihn retten.”

“Wovor?”, erkundigte sich Aya verwundert. Diese Worte klangen seltsam in ihren Ohren, als läge sehr viel daran, dass sie in Shinris Nähe blieb. Retten? Zuerst war sie schuld daran, dass er so schlecht gelaunt war und dann sollte auch noch sie ihn retten?

“Hör zu, Aya. Es gibt Sachen, die solltest du lieber nicht wissen. Und wenn du wissen möchtest, weswegen Shinri heute so gut gelaunt ist, dann solltest du ihn lieber selber fragen.” In Lucios dunkelgrünen Augen blitzte es amüsiert auf. Aber seine Worte brachten Aya nicht davon ab, irgendwie mehr über Shinri heraus zu finden. Was sollte schon großartiges geschehen, wenn sie etwas über ihn herausfand? So schlimm konnte es nicht sein, außer er hatte irgendwann mal ein Verbrechen begannen.

Sie schüttelte die Gedanken beiseite. Je mehr sie darüber nachdachte, desto verwirrter wurde sie. Selbst Lucio konnte ihr nicht helfen. Viel mehr brachte er sie immer mehr durcheinander, wofür Aya sich auch gleich bedankte.

Kapitel 15

Gemeinsam verließen die Praxis und gingen Richtung Wohnzimmer, in dem Shinri bereits auf sie wartete. Doch bevor sie die Tür erreichte, blieb sie stehen. Eine Hand, die sich auf ihre Schulter legte, veranlasste sie zum stoppen. Verwirrt wand sie sich um. Hinter ihr stand Lucio und er hatte sich sehr nach an sie herunter gebeugt. Fragend blieb sie stehen und betrachtete ihn abwartend. Was wollte er?

Sanft fuhr seine Hand durch ich Haar. Ein charmantes Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. Sofort wurde Aya bewusst, wie nah er ihr wirklich war. Sie wäre mit einen Schritt aus dieser peinlichen und zweideutigen Nähe verschwunden, läge nicht eine seiner Hände auf ihrem Rücken. Die Flucht war chancenlos.

“Sollte Shinri dich nicht glücklich machen können, dann kannst du jeder Zeit zu mir kommen. Ich finde dich nämlich verdammt süß”, hauchte er über seine Lippen, wodurch er Aya eine Röte auf ihre Wangen rief. Solche Worte hatte sie noch nie von irgendwem gesagt bekomme. Verlegen wendete sie ihren Blick ab. Erwartete er jetzt eine Antwort von ihr? Sie wüsste nicht, was sie erwidern sollte.

Aber die Möglichkeit hatte sie sowieso nicht mehr, da sich Lucios Hand plötzlich mit erschreckender Schnelligkeit von ihrem Rücken entfernte. Obendrein packte sie irgendjemand anderes und zerrte sie nach hinten.

Zunächst blickte sie verwirrt hinauf, bis sie die Person erkannte und schon kam ihr die Situation altbekannt vor. Es war Shinri, wer auch sonst! Er hatte mitbekommen, wie Lucio Aya näher kam, und hatte sofort eingegriffen.

“Lass deine Finger von Aya! Sie gehört mir!”, drohte er ihm knurrend. Aya stand dicht neben ihm. Seinen linken Arm hatte er fest um ihre Taille gelegt, während er mit seiner rechten Hand noch immer Lucio fernhielt. Aya war es etwas peinlich bei ihm zu sein und auch, dass sie sich nicht sofort von Lucio befreit hatte. Aus irgendeinem Grund fühlte sie ich Shinri verpflichtet, auch wenn dieser Gedanke absurd war.

Lucio schien keine Angst vor Shinri zu haben, noch beeindruckten ihn dessen Worte. Er ignorierte seinen Cousin sogar gekonnt und wand sich an Aya. Er informierte sie: “Aya, ich hätte es fast vergessen. Heute werden Shinri und ich uns für einige Zeit verabschieden müssen. Da wir dich aber nicht alleine lassen wollten, haben wir jemanden hierher eingeladen. Du kennst diese Person, also keine Bange.” Er zwinkerte lächelnd, was ihn ein weiteres wütendes Knurren von Shinri einbrachte.

Weiterhin ignorierte Lucio seinen jüngeren Cousin. Er hatte nur Augen für Aya. Diese war aber anderweitig in ihren Gedanken beschäftigt. Verwirrt überlegte sie, wer diese Person sein sollte, die ihr Gesellschaft leisten würde in diesem großen Haus, und wohin die beiden so dringend mussten. Ihr fiel nur dieses Familientreffen ein. Hatte vielleicht das etwas mit Shinris Laune zu tun?

Aya bedankte sich für die Information und wand sich dann an Shinri. “Und du lass mich sofort los! Ich möchte ins Wohnzimmer.” Doch anstatt sie loszulassen, öffnete Shinri die Tür und trug Aya in das dahinterliegende Zimmer. Das Mädchen begann zu zappeln und versuchte sich zu befreien, denn ihr war das ganze verdammt peinlich und das auch noch alles vor Lucios Augen. Ihr Bein tat fast nicht mehr weh und sie hatte wieder genügen Kraft, dennoch schaffte sie es nicht aus Shinris Armen zu entfliehen.

Shinri nahm auf der Couch Platz und zog Aya auf seinen Schoß. “Lass mich los!”, fauchte Aya laut und versuchte sich irgendwie zu befreien. Der Junge ließ sie aber nicht los und meinte mit kalter Stimme: “Wieso darf ich dich nicht berühren? Lucio durfte es schließlich auch.” Beinahe hätte Aya geglaubt, dass er eifersüchtig sei, aber dass konnte unmöglich sein.

Ihre Fluchtversuche und ihre Stimme erstarben sofort. Sie fühlte sich schuldig und ihr fiel auch nicht ein, wie sie Shinri entgegnen sollte. Er hatte schließlich recht. Lucio war ihr nahe gekommen und sie hatte weder um sich geschlagen noch geschrien. Aber immer, wenn Shinri sie berührte, dann fauchte sie ihn an.

Eigentlich lehnte sie sich ihm gegenüber immer nur auf, weil er sie sein Eigentum genannt hatte. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass er sie als ein Gegenstand betrachtete, wo sie doch auf etwas wie Liebe hoffte.

“Shinri, wieso bist du heute so schlecht drauf. Was ist los?”, wollte sie von ihm wissen. Da er sie noch immer fest an sich drückte, blieb ihr nichts anderes übrig, als ihren Kopf auf seine Schulter zu betten. Dabei fiel ihr das erste mal auf, wie schön das schwarz seiner Haare war. Er hatte auch andere dunkle Töne darin und es sah faszinierend aus.

Shinri atmete tief ein und aus. Sein Brustkorb hob und senkte sich und Aya konnte sein beruhigendes Herzklopfen an ihrem Ohr hören. “Es … ich mag es nicht, wenn irgendein anderer dir so nahe kommt und … ich möchte dich auch nicht alleine lassen. Wenn etwas passiert, dann bin ich nicht bei dir.”

Also machte er sich doch Sorgen. Ayas Herz erwärmte sich und begann schneller zu schlagen. Sie wusste nicht, wie sie darauf antworten sollte und schwieg eine Zeit lang. Insgeheim genoss sie die Nähe zu Shinri. Sie fühlte sich dann immer geborgen und sicher. Vielleicht sogar geliebt, auch wenn sie diesen Gedanken nicht weiterspinnen mochte.

Irgendwie war Aya so, als könne sie Shinris Glück spüren. Sie glaubte sich zu täuschen, aber ihr Herz sagte ihr, dass es wirklich so war.

Aya begann es fast zu genießen, doch wie immer musste jeder schöne Moment ein Ende nehmen. “Man, ihr solltet euch mal sehen. Wie ein frischverliebtes Pärchen. Man, ich bin neidisch”, neckte Lucio sie und riss sie aus der Zweisamkeit. Aya erschrak sich und wurde sich erst jetzt ihrer Lage wirklich bewusst. Sie hatte es zugelassen, dass sie Shinri - und sich selbst - Hoffnungen gemacht hatte.

Wieder versuchte sie sich aus Shinris Umarmung zu befreien und dieses Mal ließ er es sogar zu. Leicht verwirrt nahm sie einen kleinen Abstand zu ihm ein, spürte aber sogleich, dass etwas in ihr dagegen rebellieren wollte. Das Zeichen, dass sie beide angeblich miteinander verband, begann zu jucken und Shinri sah Aya mit einem intensiven Blick an, dass ihr die Härchen zu Berge standen. “Ich … Ich glaube, ich habe etwas vergessen”, meinte sie, da ihr nichts besseres einfiel.

Eilig lief Aya an Lucio vorbei und stürzte die Treppen hinauf. Erst als sie in ihrem Zimmer ankam und die Tür hinter ihrem Rücken fühlte, blieb sie stehen und atmete tief durch. Irgendetwas war geschehen, als er sie so unverholt angestarrt hatte. Ihr ganzer Körper hatte darauf reagiert und es war wunderschön gewesen. Das Gefühl war ihr durch Mark und Knochen gegangen und hatte eine feurige Spur in ihrem Blut hinterlassen, die sie noch immer spürte. Es war unglaublich gewesen und hatte ihr doch eine Heiden Angst eingejagt. Wieso wirkte Shinri nur so auf sie?
 

“Oha. Shinri. Was war das?” Lucio, der den Abgang ebenfalls mitbekommen hatte, konnte sich ein begeistertes Pfeifen nicht unterlassen. Anscheinend wurde die Verbindung der beiden immer stärker. Aya konnte nicht mehr lange die Gefühle zu ihm verleugnen.

Shinri starrte zur Tür, aus der Aya so schnell wie ein Orkan geflüchtet war. Wieso tat sie das immer? Wieso rannte sie vor ihm weg? Natürlich hatte er sich bereits damit abgefunden, aber dennoch konnte er nicht aufhören, sich diese Frage zu stellen. Vielleicht lag es daran, dass er von der Warashi-Linie abstammte. Er hatte das Blut des Adler in sich und seine Auserwählte musste natürlich den selben starken Willen wie er haben.

“Ich hoffe, die Versammlung dauert nicht so lange”, meinte Shinri mürrisch und lehnte sich zurück. Er hatte eigentlich keine Lust, dorthin zu gehen, aber sein Onkel könnte sonst Verdacht schöpfen. Er wollte Aya so wenig wie möglich in Gefahr bringen.

“Kann ich verstehen. Würde so eine süße Maus auf mich warten, würde ich auch nicht gerne länger als nötig fern bleiben”, lachte Lucio. Obwohl er wusste, dass er damit Shinris Wut heraufbeschwor, konnte er es nicht sein lassen.

Shinri knurrte eine leise Drohung, aber in Wirklichkeit hatte Lucio recht. Er wollte nicht länger, als er musste, von Aya fern bleiben. Er brauchte sie.
 

Gegen Nachmittag war es soweit. Aya hatte nicht mehr viel getan, außer sich einige der Bücher aus Lucios Sammlung anzusehen. Bei dem erklang der Türklingel legte sie das Buch aber zur Seite, um den anderen in den Flur zu folgen. Noch hatte sie das Gefühl nicht ganz überwunden, welches Shinri in ihr ausgelöst hatte.

Lucio und Shinri machten sich bereits fertig, um sie zu verlassen. Es war eigenartig, aber Aya wünschte, Shinri würde nicht gehen. Sie redete sich ein, dass die unbekannte Person, die als Ersatz kam, interessanter war. Ein guter Ausgleich für Shinri. Aber sie wusste, Shinri konnte niemand ersetzten.

Überrascht stand Aya hinter Lucio, der die Tür öffnete, um den neuen Besuch willkommen zu heißen. Aya hatte es gehofft, aber hätte nie geglaubt, dass dem wirklich so sein würde. Nun stand er wirklich vor ihr. Jackin! Ein Schweißfilm lag auf seiner Stirn. Die Anstrengung des Weges, der nun endlich hinter ihm lag, zeigte sich in seinen Zügen. Als er aber Aya erblickte, schenkte er ihr ein Lächeln. Vergessen waren die Schwierigkeiten.

“Ich weiß nicht, was ich hier machen soll, aber Ria bat mich hier her. Sie sagte, sie müsse woanders hin. Ich freue mich sehr, dass ich nicht so alleine bin. Vor allem, dass ich mit dir meine Zeit absitzen darf”, lachte er und stellte seinen Koffer ab. Er schüttelte Lucio die Hand, um sich ihm bekannt zu machen. Dann nickte er Shinri kurz zu und machte sich zusammen mit dem Hausherrn auf den Weg nach oben, da er sein Zimmer zugeteilt bekam. Somit ließen sie Aya und Shinri zurück.

Schweigend blickte Aya die Tür vor sich an. Sie wagte es nicht, Shinri ins Gesicht zu sehen. Sie fühlte sich in seiner Gegenwart ruhelos und der Gedanke an das Gefühl, dass er ihr beschert hatte, ließ sie einfach nicht los. Ob Shinri wusste, was in ihr vorging? Hatte er bemerkt, was sie dazu getrieben hatte, abzuhauen? Vielleicht, wenn er jetzt nicht mehr hier war, konnte sie endlich Zeit finden, darüber nachzudenken, sowohl über Lucios Worte, als auch über ihre eigenen Gefühle.

“Morgen, wenn es beginnt zu dämmern, werden wir wieder zurück kommen”, verkündete der schwarzhaarige Zoma. In seiner Stimme schwang ein Ton des Missfallens mit. Er wollte nicht weg, dass hatte Aya erst vor kurzen erfahren. Der Gedanke, er wolle nicht ohne sie sein, erfüllte sie mit Freude. Genauso wie die Tatsache, dass Shinri Jackin in ihrer Nähe duldete. Anscheinend hatten sie ihren Streit endlich begraben.

Doch Shinri wusste nicht, was in Aya vorging. Sie selbst war über ihre eigenen Gefühle verwirrt. Seit ihr gesagt wurde, dass Shinri eine Zeit lang fort von ihr sein würde, pflanzte sich ein Gedanke immer weiter in ihren Kopf ein. Sie wollte nicht ohne ihn sein. Auch wenn sie die Einsicht erschreckte, so musste sie sich eingestehen, dass sie nicht wollte, dass er ging.

Aus Trotz gegen ihre eigenen Gefühle sagte sie ihm: „Du könntest auch noch länger weg bleiben, wenn du möchtest. Ich hätte kein Problem damit. Dann hätte ich wenigstens meine Ruhe.” Sie meinte es nicht so, aber er durfte es nicht wissen. Hätte sie gewusst, was sie Shinri damit antat, hätte sie es gelassen. Sie bemerkte es kaum, aber in ihm stieg etwas auf. Ein eigenartiges Gefühl, dass sich mit Hass aber auch mit Trauer vergleichen ließ. Etwas dazwischen, dass aber so überwältigend war, dass Shinri sich kaum beherrschen konnte.

Impulsiv, etwas, dass überhaupt nicht zu ihm passte, packte er Aya am Arm und zog sie ein Stück zurück zu ihm, tiefer in den Flur. Dort angekommen fand sich sofort eine Wand hinter Aya, die sich als Sackgasse herausstellte. Shinri griff nach ihren Handgelenken und drückte diese gegen die Wand, direkt neben ihrem Kopf. Somit verhinderte er ihre Flucht.

Verwirrt und entsetzt riss sie die Augen auf. Eigentlich hätte sie ihn schimpfen sollen und ihm irgendwelche Beleidigungen an den Kopf werfen müssen, aber das Gefühl, wie schon zuvor, durchfuhr sie, wie ein Tornado. Es nahm ihr die Luft und sie konnte sich nicht dagegen wehren.

Shinri fiel über Ayas Mund her. Es war Zorn, das ihn dazu trieb. Er verstand nicht, wieso sie sich immer noch dagegen wehrte, obwohl sie doch das selbe spüren musste, wie er, wenn er ihr näher kam. Er spürte, dass Ayas Herz sich zusammenzog, als er sie so hart küsste. Sein Zeichen, dass ihn mit Aya verband, brannte auf, als wolle es ihn tadeln. Er spürte das selbe, wie Aya, und er wusste, er tat etwas falsches, aber der Gedanke, dass er sie hier lassen musste und es ihr nicht einmal etwas aus machte, schmerzte und trieb ihn an den Rande des Wahnsinns.

Die Tränen, die ihre beiden Herzen weinten, beruhigten ihn. Seine Hände ließen Aya los und umschlossen ihr Gesicht sanft. Er beugte sich über sie und küsste sie sehnsüchtig. Er konnte es nicht ertragen, sie hier lassen zu müssen und in dem Moment überfluteten all seine Gefühle Aya. Sie schnappte nach Luft, als sie seine Sehnsucht und Sorge spürte. Ihr Herz flatterte vor Aufregen und in ihr breitete sich ein Gefühl aus, das größer war, als Zuneigung.

Sie konnte es nicht mehr länger unterdrücken und legte die Arme um seinen Nacken. Die Gefühle, die sie ihm entgegenbrachte, waren überwältigend und mächtiger, als sie vermutet hatte. Nein, sie konnte es nicht mehr länger leugnen. Mit geschlossenen Augen drückte sie sich an ihn und entgegnete den Kuss. Leidenschaft entbrannte zwischen ihnen, so stark, dass es Aya erneut den Atem raubte. Shinri war mehr, als nur irgendein Junge. Das wusste sie und sie spürte das erste Mal, wie stark ihre Verbindung zueinander wirklich war. Unglaublicher Weise konnte sie sein Herz hören, dass im selben Takt schlug wie ihres und sie fühlte das Glück, dass ihn durchströmte, als sie ihn ebenfalls küsste.

Keuchend lösten sie ihre Lippen voneinander. Noch immer pulsierte die Wärme und das Glück durch ihre Adern und sie sahen sich schwer atmend in die Augen. Was gerade zwischen ihnen passiert war, konnte Aya kaum begreifen und genauso wenig leugnen. Ein Lächeln tanzte auf Ayas Lippen, während Shinri sie verblüfft ansah. Er schien es noch immer nicht glauben zu können und Aya teilte mit ihm diesen Gedanken.

“Ich … sollte jetzt gehen”, murmelte Shinri leise. Ihm kam das alles, wie ein Traum vor. Es fiel ihm schwer, wirklich daran zu glauben, dass es real war. Ein Blick in Ayas Augen korrigierte sein Irrtum. Und jetzt, da er sich Ayas Gefühle gewiss war, wollte er nicht gehen. Er hasste seine Familie mehr denn je.

Genau in diesem Moment kamen Lucio und Jackin wieder herunter. Sie sahen die beiden, eng umschlungen im Flur stehen und hielten für einen kurzen Moment verblüfft an. Vor allem Jackin konnte nicht glauben, was er sah. Es war das erste Mal, dass er nicht der Vermutung erlag, Shinri hätte Aya zu irgendetwas gezwungen. Sie schien es sogar genossen zu haben.

“Komm Shinri. Wir müssen gehen. Je früher, desto schnell erkommst du wieder zu deiner geliebten Aya”, meinte Lucio und ein zufriedenes Lächeln lag auf seinen Lippen. Shinri brummte etwas unverständliches und allen war bewusst, dass er ungern gehen wollte, doch Lucio war bereits auf den Weg zu Tür und ließ seinem Cousin keine Chance, sich zu entscheiden.

“Passt gut auf mein Haus auf. Ich vertraue euch. Essen steht im Kühlschrank. Na dann, viel Spaß.” Während Lucio sprach, hauchte Shinri einen sanften Kuss auf Ayas Stirn. Als er sich von ihr löste, spürte er eine Sehnsucht in ihn erwachen, gefolgt von dem Gefühl der Einsamkeit. Nur widerwillig folgte er Lucio hinaus. Er warf noch einen letzten Blick zurück in Ayas Gesicht. In ihren Augen stand die selbe Einsamkeit geschrieben, die Shinri plagte.

Die beiden Zomas gingen Richtung Wald und Shinri wagte es nicht, sich noch ein weiteres Mal umzudrehen. Wäre sein Cousin nicht da gewesen, wäre er wahrscheinlich sofort wieder zurück gerannt.
 

Aya sah den beiden hinterher, während sie spürte, wie ein Stück von ihr mit ihnen ging. Die beiden waren schon lange im Wald verschwunden, als sie aus ihren Gedanken gerissen wurde. Jackin stand direkt neben ihr und musterte sie aufmerksam. „Jetzt sind wir nach all der Zeit endlich wieder alleine. Was machen wir?“, fragte Jackin und seine dunkelblauen Augen beobachteten, wie Aya mit sich rang.

Einerseits war es Aya peinlich, dass sie sich so hatte gehen lassen und Jackin sie auch noch dabei beobachtet hatte, andererseits konnte sie vor ihren Gefühlen nicht ewig davon rennen. Das, was gerade zwischen ihr und Shinri vorgefallen war, hatte nichts mit Eigentumsrecht zu tun. Sie fühlte sich nicht mehr, wie eine Sklavin. Sie glaubte sogar, dass Shinris Gefühle ihrem ähnlich waren und wem dem wirklich so war, dann liebte er sie.

Sie errötete bei ihren eigenen Gedanken. Wortlos ging sie an Jackin vorbei ins Wohnzimmer. Da Jackin sich in diesem Haus noch nicht auskannte, folgte er ihr genauso still. Im Wohnzimmer nahm er neben ihr auf der Couch Platz und behielt die Stille noch ein bisschen länger bei. Er wollte Aya nicht drängen, ihm irgendetwas zu erzählen.

Doch irgendwann musste die Stille gebrochen werden. “Ich hab gehört, deinem Fuß geht es wieder besser?”, erkundigte Jackin sich und richtete Ayas Aufmerksamkeit auf sich. Diesmal musste sie Antworten und konnte sich nicht in ihren Gedanken verkriechen. Also wand sie sich an ihn und nickte. “Ja! Wir sind hier her gekommen, weil Lucio Arzt ist. Und es war eine gute Entscheidung. Ich spüre die Schmerzen kaum mehr. Nur ganz wenig.” Sie lächelte. Es war wirklich gut gewesen, hier her zu kommen.

“Das hört sich gut an”, stimmte Jackin ihr zu. “Und, wie läuft es bei dir?”, wollte dann Aya wissen. Die Frage bezog sich auf Ria und das wusste Jackin auch. Er wechselte einen kurzen Blick mit Aya, dann seufzte er. Er hatte gewusste, dass es kommen würde. Aber viel mehr dachte er an Ayas frühere Worte. Es stand noch immer zwischen ihnen. Er musste es hinter sich bringen, bevor sie über die Zomas reden könnten.

“Aya”, fing er an. “Ich wollte dir etwas sagen. Es hat mich gefreut, dass ich dir viel bedeute, aber-” Er verstummte. Aya hatte es kommen sehen. Sie wusste, worauf er anspielen wollte. Daher nickte sie beschwichtigend und deutete ihm an, zu schweigen. Es war an ihr, die Situation zu entschärfen. Er musste nicht den Mist, den sie begannen hatte, aufräumen. Sie musste es selbst machen.

“Jack. Ich weiß, was ich gesagt habe, und ich nehme es zurück. Du bist mir sehr wichtig, Jack. Sehr, sehr wichtig. Wir kennen uns schon lange und haben eine gemeinsame Vergangenheit, die ich nie vergessen könnte. Ich habe dich sehr gerne. Mehr, als meine Eltern. Aber, ich liebe dich nicht. Damals habe ich gelogen, denn ich wollte mich nicht in Shinri verlieben. Es wäre doch viel einfacher gewesen, mit dir zusammen zu sein. Aber … du bist mein allerbester Freund. Und diese Freundschaft will ich nicht aufs Spiel setzten. Du bist wie ein Bruder für mich, wie ein Seelenverwandter und mein aller bester Freund. Aber dieser eine, besondere Platz in meinem Herzen gebührt jemand anderem.” Und beide wussten, über wen sie sprach.

“Ja, finde ich auch. Du bist die Person, die ich nie aus meinem Leben verbannen könnte, da wir schon zu viel zusammen durchlebt haben und ich dich viel zu gern dafür habe. Aber ich finde auch, es sollte genauso bleiben, wie es jetzt ist.” Jackin hatte sie verstanden. So war es schon immer.

Aya nickte zustimmend. Nach diesen Worten fühlte sie sich befreit. Die Last rutschte von ihren Schultern und verschwand gänzlich. Es war schön, dass sie es jetzt geklärt hatten. Nun wussten sie beide, woran sie waren. Und sie hatten einander nicht weh getan, durch falsche Worte. Das war gut.

Schweigen umhüllte sie nach diesem Geständnis. Beide überlegten, wie sie das Gespräch vertiefen sollten. Nachdem die Zomas gekommen waren, war nichts mehr, wie früher. Zuvor hätten sie nie dieses bedrückende Schweigen akzeptiert. Sie hatten über alles mögliche gesprochen, oder sich in eine gemütliche Stille vertieft. Diese Situation, in der sie jetzt aber steckten, war fremdartig. Sie wussten nicht, wie sie damit umgehen sollten.

Aya wollte aber die Initiative ergreifen. Jetzt war die Zeit gekommen, Jackin etwas zu fragen. Shinri war nicht hier, um sie zu unterbrechen. Das selbe galt auch für Ria. Es war der perfekte Augenblick, um sich zu unterhalten, bevor es nie wieder dazu kam. Somit verfolgte sie die Frage, die vor dem Geständnis in der Luft gelegen war. Das, was sie eigentlich wissen wollte. “Wie geht es eigentlich Ria? Euch beide?”

Auf Jackins Lippen breitete sich ein sanftes Lächeln aus. In seinen Augen stand die Zuneigung geschrieben, die er Ria entgegen brachte. “Ihr geht es wieder besser. Und mir geht es auch sehr gut. Ich weiß nicht, als was ich unsere Beziehung beschreiben könnte, aber es ist gut, dass sie hier ist. Es fühlt sich einfach richtig an.”

Aya wusste, was ihr bester Freund damit sagen wollte. Genau das hatte sie gespürt, als sie Shinri vorhin geküsst hatte. Es kam ihr so richtig vor, so vertraut. Als wären sie füreinander bestimmt. Und Jackin schien die selbe Verbindung zu Ria zu haben, nur dass er es nicht verleugnete, wie Aya selbst. Er stand zu seinen Gefühlen und versuchte sie zu begreifen. Vielleicht hatte er Ria noch nie geküsst und ihr auch kein Liebesgeständnis gemacht, aber er wusste, sie spürte ganz genau, wie er für sie fühlte und das gleiche galt für ihn.

“Aber wenn wir schon mal dabei sind. Was ist eigentlich mit dir und Shinri?”, wollte Jackin wissen, um von sich selbst etwas abzulenken. Die Situation im Flur war mehr als eindeutig gewesen und doch wollte er es von Aya selbst hören.

Sofort kehrten die Erinnerungen in Aya zurück. Wie es war, ihm so nahe zu sein. Es war zu spät, es zu leugnen. Sowohl Jackin als auch sie wussten, was es zu bedeuten hatte. Auch wenn sie Angst vor den möglichen Folgen hatte. “Ich glaube, ich habe mich in ihm verliebt”, gestand sie leise. “Er kann sehr herrisch sein und nerven, doch das kann meine Gefühle auch nicht abbringen. Ich frage mich, was er vor mir verbirgt. Er hat irgendwelche Geheimnisse. Auch Ria. Ich weiß fast nichts über beide und es interessiert mich, schließlich möchte ich nicht irgendwann mit jemanden zusammenleben, von dem ich nur den Namen weiß. Du etwa?” Sie sah Jackin an, als erwarte sie eine Zustimmung.

Auf einmal schien ihre Energie anzusteigen. Sie war neugierig und wollte ihre Neugierde stillen. Shinri würde wohl nie von selbst darauf kommen, sie darin einzuweihen, also musste sie es selbst heraus finden, was er vor ihr zu verheimlichen versuchte. “Und dann das Zeichen”, begann sie erneut, dieses Mal reagierte Jackin.

“Zeichen?” Er klang etwas verwirrt. “Welches Zeichen?” Doch Aya antwortete ihm nicht und schüttelte nur den Kopf. “Nichts Wichtiges.” Jackin fragte auch nicht erneut nach, also fuhr sie fort. “Auf jeden Fall werde ich nicht tatenlos zusehen! Es geht um meine Zukunft und … ich habe eine Idee!”

Aya sah Jackin in die Augen und ein Schweigen entstand. Das Mädchen schien wirklich eine Idee zu haben und Jackin wollte lieber nicht wissen, was sie sich jetzt in den Kopf setzte. Er kannte Aya zu gut, als dass er sich beruhigen konnte. Gewiss plante sie irgendetwas, dass anderen nicht gefallen würde.

Wortlos stand Aya auf. Sie hielt es für unnötig, Jackin weiter über ihr Vorhaben in Kenntnis zu setzen. Ihre Füße trugen sie an den ersten der beiden Schränke in diesem Zimmer heran. Ungefragt und ohne schlechtes Gewissen begann sie darin zu stöbern. Sie öffnete eine Schulblade nach der anderen. Ihre Suche beendete sie aber erfolglos.

Dann wand sie sich den Büchern zu. Ihre Finger glitten über die Bücherrücken und studierten jedes einzelne und die Zwischenräume. Immer noch war nicht eine Spur in Sicht. Nachdem sie dann auch den zweiten Schrank hinters ich hatte, stellte sie sich vor eines der Porträts und hob es ein Stück von der Wand weg. Ihr Blick wanderte über den Rücken des Bildes und über die Wand. Nichts. Dasselbe wiederholte sie an den anderen Bildern, die in diesem Zimmer hingen, aber es schien nichts gefunden werden zu wollen.

Auch wenn sie jetzt noch nichts gefunden haben sollte, sie ließ sich nicht entmutigen. Sie überprüfte den Raum ganz genau. Die Couch, den Tisch und jeden Millimeter. Aber das große Wohnzimmer schien keine Informationen hergeben zu wollen. Sie schloss diese Suche ab und überlegte einen Moment.

Schweigend stand sie in der Mitte des Raumes. Jackin sah sie zweifelnd an, sagte aber kein Wort. Es war ein riesiges Haus, in dem sie sich befanden. Hier musste etwas zu finden sein, dachte Aya sich. Vielleicht nicht in diesem Zimmer, aber in eines der anderen! Schon hatte sie sich dafür entschieden, die Suche auf das ganze Haus auszuweiten.

Jackins Blick folgte ihr weiterhin. Schweigend betrachtete er die herumstöbernde Aya, die gerade etwas tat, das nicht der feinsten Art entsprach. “Was wird das, wenn es fertig ist?”, erkundigte er sich dann doch, obwohl er es bereits ahnte. “Du weißt, dass das nicht gut ist, was du da vor hast?”, fügte er hinzu. Dann schüttelte er aber den Kopf. Er kannte Aya. Wenn sich das Mädchen etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann würde sie dies auch durchziehen, egal wer sich dagegen stellen würde. Nur bei Shinri, da konnte er sich noch nicht sicher sein. Bei diesem jungen Mann war sie ganz anders, denn er wusste, wie er mit Aya umzugehen hatte. Jackin seufzte kurz und ließ sie walten.

Aya wand sich kurz um, sah Jackin an, sagte aber nichts. Als sie den resignierten Seufzer aus dem Mund ihres besten Freundes vernahm, ließ sie ihren Unternehmungen freien Lauf. Sie verließ das Wohnzimmer.

Kapitel 16

Es war ein großes Haus und man konnte sich sehr schnell verlaufen, aber auch einiges entdecken. Aya ließ sich nicht aufhalten, ihre Suche fortzusetzen und Jackin folgte ihr, um auf sie aufzupassen.

Jackin fiel auch ein, wo genau sie sich befanden. In einem großen, unbekannten Wald. Wer konnte Ahnen, was für Gestalten hier vorbeikommen könnten. Dieses Risiko wollte er nicht eingehen und folgte dem Mädchen, das leise durch den Korridor schlich und hinter der nächstliegenden Tür verschwand. Der Blonde lehnte sich an das Holz des Türrahmens an und stellte eine interessante Frage: “Wie sehr würdest du dich darüber freuen, wenn man in deinen Sachen herumstöbert?”

“Er wird es ja nicht mitbekommen. Übrigens sind sie selber Schuld, wenn sie immer solche Geheimnisse haben müssen! Hilf mir doch lieber!” Sie stand in einem geräumigen Bad aus hellen Fließen und weißen Wänden. An der einen Wand standen zwei saubere und strahlendweiße Waschbecken und dem gegenüber befand sich eine riesige Badewanne, ebenfalls ins dieser hellen Farbe. In dem beigefarbenem Holzschrank, der neben dem Fenster ragte, wurden die Handtücher und Badeutensilien aufbewahrt. Aya staunte, denn sie fand nirgends eine Waschmaschine. Vielleicht gab es ein weiters Zimmer nur für die Wäsche?

Aya schritt über die kalten Fliesen, während sich eine Verwunderung über den großen, freien und ungenutzten Platz in der Raummitte in ihr ausbreitete. Vor den Waschbecken blieb sie stehen. Sie öffnete eine der Hängeschränke aus beigefarbenem Holz und durchsuchte diese.

Jackin schüttelte den Kopf und stieß einen Seufzer aus. “Nein, kein Bedarf. Ich glaube, ich gehe wieder ins Wohnzimmer. Viel Spaß”, antwortete er und verschwand lächelnd. Als hätte er es nicht geahnt. Genau diese Antwort hatte er von Aya erwartet, die genüsslich und unbedacht den ganzen Raum durchforstete. Was erwartete sie zu finden? Ein Brief, ein Bild oder ein Tagebuch? Er ließ sie jetzt lieber alleine suchen und trat seinen Rückweg in das Wohnzimmer an.

Einsam schritt er durch den verlassenen Korridor und bog nach wenigen Schritten bereits in den Raum ein, den er als Zielort gewählt hatte. Er setzte sich zurück auf die Couch, machte es sich gemütlich und hing seinen Gedanken nach. Langsam verstand auch er, weswegen Aya das ganze Haus auf den Kopf stellen wollte. Er wünschte sich auch, mehr über Ria zu erfahren. Doch er wollte es nicht erfahren, indem er ihr Zimmer auf den Kopf stellte und ihr hinterher spionierte. Er würde auf den richtigen Zeitpunkt warten, bis sie ihm vertraute und es ihm von selbst erzählte.

In seinen Gedanken versunken, bemerkte er nicht, wie die Zeit verging. Aya war bisher noch immer nicht aufgetaucht. Er hatte sie aber die Treppen hinauf schleichen hören. Wahrscheinlich ahnte sie, dass im Erdgeschoss nichts zu finden war, daher versuchte sie es lieber im oberen Stockwerk und erwartete irgendwo hinter irgendeiner Tür Lucios Zimmer.

Jackin schloss die Augen. Ein Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. Natürlich unternahm Aya gerade etwas illegales, wenn man es so nennen wollte, trotzdem konnte der junge Mann nicht böse ihr gegenüber werden. Seit er sie kannte, wusste er, dass sie ein sehr neugieriger Mensch war. Dazu musste es kommen, wenn sie auf solch einen Geheimniskrämer traf, wie Shinri einer war.

“Kyaaaaaaaah!!!” Jackin schrak auf. Ein Schrei drang an seine Ohren. Entgeistert starrte er auf die Tür, die ihm die Aussicht auf den Flur unmöglich machte. Das konnte nur Aya gewesen sein!, stellte er entsetzt fest. Was war passiert?! Er sprang auf. Seine Füße trugen ihn über den Korridor, den er gerade eben betrat, bis hinauf in den ersten Stock. Panik überkam ihn. Er hoffte, dass Aya unbeschadet war. Das es ihr gut ging. Zuvor hatte er sich noch Sorgen über gefährliche und unwillkommene Besucher gemacht, die hier vielleicht hereinkommen könnten. Wieso hatte er dies vergessen? Wieso war er so sorglos wieder hinab in das Wohnzimmer gegangen? Er verfluchte sich selber dafür.

Er erreichte das Obergeschoss und rannte geradeaus weiter. Er setzte seine Geschwindigkeit langsam herab, als er eine offene Tür bemerkte. Hier musste es sein! Vorsichtig trat er näher. Er lugte um die Ecke und erblickte sofort Aya, die auf dem Boden mit dem Rücken zur Tür saß. Ihre vor Schreck geweiteten Augen starrten das offenstehende Fenster ihr gegenüber an.

Jackin trat näher. Liebevoll sank eine seiner Hände auf ihre zarte Schulter. Besorgt musterte er sie. “Was ist passiert? Geht es dir gut?” Aya reagierte kaum auf diese Berührung. Ihre Hand hob sich und mit ausgestrecktem Zeigefinger wies sie zitternd auf das Fenster, durch das kühle Luft in das Zimmer hereingetragen wurde.

“Da … ein … er”, entkamen ihr nur einzelne Wörter des Satzes, den sie eigentlich zu sagen versuchte. Jackin stand wieder auf und durchquerte das Zimmer, in dem sich ein Bett in einer Ecke breit machte, groß und mit dunklen Seidenüberzug. Neben diesem stand ein Nachtkästchen und auch ein Schreibtisch aus dunkelbraunem Holz mit einen schwarzen Drehstuhl. An der Wand gegenüber stand eine Kommode und ein Bücherregal. Zudem zierten zwei Stillleben die beiden Wandhälften neben dem Fenster, gegenüber der Tür. Es mangelte an persönlichen Wertgegenständen, zum Beispiel Bilder von geliebten Personen oder ähnlichem, aber genauso an dem, was Aya so erschrocken haben musste.

Jackin hatte den dunkelgrauen Teppich mit den schwarzen, verschlungenen Linien überquert und stand direkt vor dem Fenster. Der weiße Vorhang blies ihm entgegen und bäumte sich in das Innere der Räumlichkeit auf. Mit Mühen schaffte er es endlich diesen beiseite zu schieben, um das Fenster zu schließen. Danach verließ er, gemeinsam mit Aya, diesen Raum, schloss die Tür wieder und betrat die große, geräumige Küche.

Er bereitete einen Tee zu. Seine beste Freundin beruhigte sich währenddessen. Zusammen mit den beiden Tassen Tee saßen sie sich wieder gemütlich auf die Couch. Aya wurde noch etwas Zeit gelassen, sich wirklich zu erholen. Erst, als sie sich wieder wohl fühlte und den Schock verarbeitet hatte, erzählte sie ihrem besten Freund, was dort oben geschehen war.
 

Als Jackin sie im Bad verlassen hatte, war ihr das kaum aufgefallen, da sie voller Euphorie bei der Arbeit war. Kurz danach hatte sie diesen Raum fertig durchwühlt. Dabei aber nichts interessantes gefunden. Sie zweifelte, ob sie überhaupt je was finden würde. Etwas niedergeschlagen verließ sie das Zimmer. Sie betrat den Flur und dachte nach.

Etwas in ihr drängte sie dazu, hinauf zu gehen. Ihre Neugierde. Das Erdgeschoss war für sie nun minderer interessant. Sie trat auf die erste Stufe der hölzernen Treppe. Ihr Blick viel auf das Dunkle, das sie dort erwartete. Anfänglich zweifelte sie. Sollte sie nicht lieber zu Jackin? Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie alleine war. Gewiss wartete Jackin bereits darauf, dass sie endlich zurückkam. Sie würde ihm eine Freude bereiten, ginge sie jetzt zurück in das Wohnzimmer.

Einige Zeit lang rang sie mit sich selbst. Sie musste eine Entscheidung fällen. Ihr Blick fiel immer wieder auf das im Dunkeln liegende Obergeschoss. Sie setzte unsicher einen Fuß vor den anderen. Ein letzter Blick zurück über die Schulter. Die Neugierde hatte gesiegt und sie betrat den ersten Stock. Jackin sollte warten, dachte sie sich. Es gab genug gute Bücher dort unten. Er konnte sich auch alleine beschäftigen.

Sie betrachtete den düsteren Korridor, der zur Geisterstunde einlud. Sie ignorierte das flaue Gefühl in der Magengegend und wand sich der ersten Tür zu. Dunkles Holz und ein silberner Griff, wie jede andere Tür auch. Den Durchgang, den sie sich ausgewählt hatte, war der Dritte von rechts nach ihrer eigenen Zimmertüre. Sie hatte das Gefühl hier etwas finden zu können. Sie spürte eine seltsame Aura, als sie ihre Hand langsam an die Türklinke wanderte. Sie musste schlucken und machte sich auf alles gefasst, egal was auf sie wartete.

Die Tür schwang leise auf. Sie wagte es noch nicht ganz herein zu blicken, sah aber bereits einen Teil des Schreibtisches auf der rechten Seite. Ihr Körper zitterte vor Anspannung. Eine ungewöhnliche Angst ergriff sie, wobei die Neugierde überwog und sie dazu antrieb einzutreten. Sie wusste, hier könnte sie etwas finden.

Vorsichtig trat sie ein. Ihr Blick flog durch den Raum und sie verschaffte sich einen Überblick über das, was sich ihr bot. Ein Schlafzimmer lag vor ihr. Vielleicht gehörte dies Lucio, denn es wirkte ordentlich aufgeräumt, dennoch benutzt. Kurz warf sie noch einen Blick durch das geschlossene Fenster. Über dem Wald schien bereits der Mond und erhellte nur spärlich die Nacht.

Aya schaltete das Licht an und über ihr flammte die Deckenbeleuchtung auf. Sie überlegte, welchen Ort sie sich zuerst vorknöpfen sollte. Den Schrank? Den Schreibtisch? Außerhalb standen keine persönlichen Wertgegenstände, doch vielleicht hatte Lucio diese versteckt, in einen der Einrichtungsmöbel. Sie entschied sich für den dunklen Schreibtisch. Schnell durchquerte sie den dämmrigen Raum. Sie öffnete die obere Schublade auf der rechten Seite. Leere Blätter, Stifte und Hefte sprangen ihr in die Augen. Einige der Hefte schienen benutz und alt. Ihre vergilbten Seiten deuteten auf das letztere ganz stark hin.

Sie durchwühlte diesen Haufen. Es könnte sich dazwischen irgendetwas versteckt halten, vermutete sie. Lose lag nichts interessantes darin. Sie nahm eines der Hefte zur Hand, das einzige, das einen schwarzen Umschlag trug, der Rest war in braunen Umschlägen gekleidet. Sie blätterte interessiert in diesem, als ihr etwas heraus fiel, das zwischen den Seiten gelegen hatte.

Schnell legte sie das Heft zurück in die Schublade und hob das Verlorene auf. Es war ein Bild. Neugierig warf sie ein Blick auf das, was es zeigte, eine wunderschöne, bezaubernde junge Frau mit seidig, braunem Haar und dunkelblauen Augen, die wie Saphire strahlten. Sie lächelte verliebt und wirkte rundum glücklich.

Aya starrte einige Zeit lang diese eine Bild an und diese eine Frau. Wer war das? Konnte dies Marysa sein? Sie versank ins Grübeln. Immer wieder wiederholte sie das Gespräch zwischen Lucio und Shinri. Marysa war wichtig für beide und sie war tot. Wenn sie eine wertvolle Person war, dann wäre es erdenklich, dass diese Bild sie zeigte. Ein Andenken an die damalige Zeit.

Aya blickte auf. Was war das? Sie spürte einen starken, kühlen Luftzug, der durch den Raum geisterte. Sie wagte es nicht, sich umzudrehen, noch nicht. Schnell schob sie das Bild zurück zwischen die Seiten des Heftes. Dann erst wand sie sich um, stand auf und wollte zur Tür laufen, als sie erstarrte.

Ihr Blick fiel auf ein Gesicht, verborgen hinter dem Vorhang, der in das Zimmer wehte. Das Fenster stand offen. Der Wind blies von draußen herein und spielte mit dem weißen, großen Tuch, das sonst vor dem Fenster hing. Direkt dahinter schien eine Person zu stehen. Sie kam kaum dazu diese genauer zu betrachten, denn sie wollte nur noch hier heraus.

Sie versuchte zur Tür zu gelangen, überquerte schnellen Schrittes den Raum, um endlich zum Durchgang zu gelangen. Plötzlich stolperte sie aber, denn sie hatte vergessen ihren Fuß anzuheben und war an einer ganz kleinen Erhebung des Teppichs hängen geblieben. Mit einem schockierten Aufschrei flog sie zu Boden. Schnell wälzte sich herum, um wenigstens den Fremden im Augenschein zu haben. Sie wollte etwas sagen, als ihr das Gesicht entgleiste. Was war denn jetzt los? Wo war er hin? Sie verstand die Welt nicht mehr.

Hinter dem Vorhang war doch eben noch eine Gestalt gestanden? Ein Mann, groß und schlank, mit pechschwarzen Haar und hellen Augen, dessen Gold sie ernst und finster gemustert hatten und die Erinnerung an diese ihr einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließen. Ihr war auch so, als hätte sie seine Stimme vernommen. “Pass auf dich auf. Geh nicht in den Wald. Er wartet auf dich”, hatte die tiefe, raue Stimme sie gewarnt, doch wie wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Wer wartete auf sie?

Während sie vor Schock wie gelähmt war, hörte sie jemanden die Treppen hinaufeilen. Sie wusste, es war Jackin, der nach ihr sehen wollte.
 

Jackin sah das Mädchen fragend an. Wer sollte diese Gestalt gewesen sein, die erschien und wieder verschwand? Vielleicht hatte Ayas Fantasie ihr einen Streich gespielt und in Wirklichkeit hatte sie überhaupt nichts der gleichen sehen können? Aya bestand aber darauf, dass sie diese Person gesehen hatte und Jackin konnte nicht anders, als ihr zu glauben. Aya war nicht geisteskrank. Wieso sollte sie sich so etwas einbilden? Nur, wer war dieser Fremde und was sollten seine Worte bedeuten?

Aya hatte sich mittlerweile damit abgefunden, den Mann gesehen zu haben. Sie hatte sich bereits beruhigt und nun kam anstelle der Angst die Neugierde hervor. “Ach, wenn ich nur wüsste, wer diese junge, hübsche Frau auf dem Bild war”, seufzte sie betrübt. Natürlich konnte Jackin ihr bei dieser Frage nicht weiter helfen. Er hatte das Bild nicht gesehen. Ein Verdacht prägte sich aber bereits in ihr ein. Sie wusste, es konnte nur Marysa sein. Nur, wer war Marysa? Was für eine Bedeutung hatte sie im Leben der Zomas?

“Und, was machen wir beide jetzt?”, fragte Aya dann. Nach diesem Ereignis wagte sie es nicht wieder alleine durch die Räume zu streifen und sie ahnte bereits, dass Jackin sie bestimmt nicht begleiten würde. Somit fiel die Durchsuchung aus. Ihr wurde zunehmend langweiliger. Es war bereits Nacht und ihr fiel nichts anderes ein, als sich ins Bett zu legen, damit der morgige Tag so schnell wie möglich kam.

“Ich gehe jetzt ins Bett, bin müde”, verkündete sie und sah Jackin noch ein letztes Mal an, dann verließ sie den Raum. Ihr bester Freund blickte ihr hinterher, bis sie ganz in der Dunkelheit des Korridors verschwunden war. In Jackin breitete sich Sorge aus. Was, wenn der Mann erneut wiederkam?

Aya blickte sich im Flur stehend um. Die Dunkelheit breitete sich im Inneren des Hauses aus. Ein Schauer lief ihren Rücken hinunter. Jackin und sie waren ganz alleine in diesem Haus, doch rief sie sich immer wieder ins Gedächtnis, dass noch jemand anderes hier sein könnte. Vor allem, nachdem sie den Fremden gesehen hatte. Es war ein riesiges Gebäude, in dem sie sich befanden, so war es gut möglich, dass sie nicht alleine waren. Irgendwie ein sehr beängstigender Gedanke, nicht zu wissen, mit wen man es zu tun hatte.

Die Dunkelheit umschloss sie, hüllte sie in einen düsteren, schaurigen Nebel ein. Die Treppe lag direkt vor ihr. Schnell schüttelte sie die beängstigenden Gedanken beiseite und stieg die Stufen hinauf. Ihr Zimmer wartete bereits oben auf sie. Kurz blieb sie vor der Tür stehen, bis sie dann zögerlich nach dem Griff langte und leise öffnete. Vorsichtig betrat sie den Raum, der sie genauso begrüßte, wie sie ihn verlassen hatte.

Sie atmete erleichtert auf, die Angst ließ sich aber noch immer nicht besiegen. Sie fühlte sich unsicher, konnte sich nicht vorstellen, jetzt einzuschlafen. Woran lag es nur, dass sie sich so unwohl und beobachtet fühlte? So, als wäre sie hier nicht alleine? Letzte Nacht war ihr das doch auch gelungen. Sie wollte dieses Gefühl, das sie plagte, gerne los werden. Nur wie? Sie hielt es kaum aus und musste immer wieder an den fremden Mann denken.

Aya versuchte es trotzdem zu ignorieren, es zu vergessen, zu unterdrücken. Das seltsame Gefühl konnte nur eine Einbildung sein. Hier hatte sie nichts zu befürchten. Jackin saß noch unten im Wohnzimmer, sein Zimmer lag direkt neben ihrem. Sollte etwas passiere, wäre er sofort an Ort und Stelle, wie zuvor auch. Nur, war ihr dann noch zu helfen, bis er dann hier im Zimmer war?

Obwohl sie wusste, der Blonde wäre gleich in der Nähe, gleich ein Stockwerk tiefer, spürte sie dieses eigenartige, schmerzliche Bauchgefühl, eine unheimliche Angst. Diese Dunkelheit. Diese Einsamkeit. Panik überkam sie, obwohl sie nicht alleine war. Gestern Abend stand sie noch eine ganze Weile in einem stockdunklen, ihr fremden Korridor. Ihr hatte es nichts aus gemachte. Sie konnte sich auf das Gespräch vertiefen. Sie hatte etwas gehabt, das sie ablenkte und Shinri war in der Nähe gewesen.

Ja, jetzt kam er ihr wieder in den Sinn. Shinri. Der junge, schwarzhaarige Zoma, der mit seinem Cousin an einem ihr unbekannten Ort verreist war. Er nahm ihr alle Angst, gab ihr Geborgenheit. Wenn sie ihn bei sich wusste, konnte sie besser schlafen. War er der Grund für die Geborgenheit letzte Nacht gewesen? Hatte sie nur Angst, weil er nicht hier war?

Auch wenn sie es akzeptierte, ihn zu lieben, hieß es noch lange nicht, dass sie ihn so dringend brauchte. Sie hatte Jahrelang alleine gelebt. Damals hatte sie sehr gut auf sich alleine aufpassen können, also brauchte sie seine Hilfe nicht. Vor allem nicht, wenn es nur darum ging, in einem fremden Haus einzuschlafen.

Schnell legte Aya sich ins Bett. Sie zog die Decke bis über ihren Kopf, denn so fühlte sie sich um einiges sicherer. Die Nacht war noch lang, dachte sie sich. Zu gerne wäre sie jetzt wieder unten bei Jackin. Was er wohl gerade tat? Keine Ruhe folge dem Gedanken und sie lag die gesamte Nacht über wach. Immer wieder, wenn sie drohte einzudösen, erschrak sie, horchte auf, doch es war nichts. Nein, es war nichts.

Der Schlaf folgte nicht mehr. Die Nacht war lange. Hätte sie nur geschlafen, dann wäre sie ihr nicht ganz so lange vorgekommen. Sehnsüchtig erwartete sie den nächsten Morgen.
 

Endlich fielen die ersten, langersehnten Sonnenstrahlen durch das Fenster. Sie zeichneten sich auf dem Teppich ab und erhellten das Zimmer. Aya vernahm das Zwitschern der Vögel, die von den Bäumen aus ihre Lieder sangen. Vorsichtig streifte sie die weiche Decke vom Kopf. Ihr Blick wanderte langsam durch den Raum und suchte ihn ab. Erleichtert sank sie zurück in die Kissen. Es hatte sich nichts verändert.

Sie seufzte glücklich. Es war hell und freundlich. Nichts erinnerte sie an die vergangene, lange Nacht, in der sie wach gelegen war.

Das erste Mal seit Stunden traute sie sich aus den Laken. Sie verließ das Bett. Bis sie weiter gehen konnte, musste sie sich erst einmal an die strahlende Helligkeit gewöhnen, die sie erwartete. Der Tag hatte etwas wundervolles an sich. Sie wollte diese nicht missen.

Nach einer kurzen Weile verzog sie sich in das Bad, das ebenfalls geräumig und hell war. Sie richtete sich etwas her und genoss das kalte Wasser in ihrem Gesicht. Leider hatte sie noch immer nichts zum umziehen, schließlich befand sich das alles noch irgendwo in den Heißen Quellen oder bei ihr Zuhause.

Sie trat an das große Fenster und betrachtete die Umgebung des Hauses. Alles wirkte friedlicher, als gestern Abend. Der einladende Wald mit seinen vielen verschiedenen Bäumen, Blumen und anderen Pflanzen. Die unterschiedlichen Tiere und das zwitschern der Vögel. Sie stimmte sich selber zu, der Tag war wundervoller als die Nacht jemals sein konnte, auch wenn sie den Mond am nächtlichen Himmel und das Sternenzelt ebenso sehenswert fand. Dann aber nur, wenn sie sich in Sicherheit wusste.

Müde gähnte sie und verließ das Bad. Sie spürte den Schlafmangel tief in ihrem Körper. Sehnlich wünschte sie sich ein Bett zu ihren Füßen, auf das sie sich hätte fallen lassen können. Zusätzlich zu dieser Müdigkeit plagte sie auch ein riesiger Hunger.

Ihr nächstes Ziel war die Küche. Sie durchsuchte den geräumigen Kühlschrank. Einige gute, frische Sachen zeigten sich ihr. Sie begann das Frühstück herzurichten. Alles stellte sie auf das nähere Ende des Tisches. Nachdem dies bereit stand verließ sie die Küche wieder und schleppte sich die Treppe hinauf.

Im oberen Stock betrat sie vorsichtig ein Zimmer, das sich direkt neben ihrem eigenen befand. Vor ihr Lag ein Raum, ebenso eingerichtet wie ihr einziger, nur in einer anderen Reihenfolge. Ordentlich stand der Schrank direkt neben der Tür und das Bett verbarg dich dahinter. Der kleine, spärlich eingerichtete Raum zeigte sich trotz allem von seiner gemütlichen Seite. Aya lächelte kurz, als ihr Blick wieder nach draußen viel, direkt durch das große Fenster, gegenüber der Tür.

Aya bog um die Ecke und hinter den großen Schrank. Vor dem Bettende blieb sie stehen. Jackin lag seitlich auf dem weichen Bett. Die Decke lag quer über die untere Hälfte seines Körpers. Seine Hände hatte er neben das Kissen gebettet. Die Augen geschlossen, schlummerte er friedlich. Das weiße Bettbezug hüllte ihn sanft ein und verlieh ihm eine engelsgleiche Erscheinung.

Aya musste schmunzeln. Jackin war wahrlich ein Engel, ein wahrer Freund und eine liebenswerte Person. In seinem früheren Leben, das er jetzt hinter sich hatte, hatte er oft Fehler begannen, die nicht mehr abänderbar waren. Mit dieser Vergangenheit musste er leben. Als Zeichen der Reue seine schwarzen Haare zu blondieren, vielleicht war das wahrlich ein guter Schritt, um von einem Teufel zu einem Engel zu werden. Sie freute sich, ihn auf seiner Seite zu wissen. Ria machte mit ihm sicherlich einen guten Fang, würde er ihr endlich mehr entgegen komme. Ob dasselbe bei Shinri und Aya der Fall sein könnte? Sie musste unbedingt über ihre eigene Zukunft nachdenken.

“Guten Morgen, Jack”, weckte Aya den schlafenden Jungen mit sanfter Stimme. “Das Frühstück ist fertig und wartet auf dich.” Jackin regte sich. Er blinzelte kurz. Das Licht blendete ihn und er drehte ihr den Rücken zu. Nuschelnd vergrub er sein Gesicht in den Kissen. Aya kicherte. “Weiß Ria eigentlich, wie süß du bist, wenn du schläfst?”, seufzte sie lächelnd.

Sofort setzte sich der Junge auf. Er wechselte einen kurzen Blick mit Aya. “Lass Ria aus dem Spiel, ich bin ja schon wach”, meinte er müde, lächelte aber innerlich. Dann streckt er sich gähnend, bis er noch einmal einen Blick auf Aya warf. Er musterte sie eingehend. Ihre ungewöhnlich schmalen Augen, das blasse Gesicht und die niedergeschlagene Miene. Obwohl sie versuchte das alles unter einem Lächeln zu verstecken, war ihre Müdigkeit nicht zu übersehen.

Aya bemerkte den Blick, denn so eingehend hatte Jackin sie schon lange nicht mehr studiert. “Du siehst verdammt müde aus. Willst du dich nicht noch ein bisschen ausruhen?”, erkundigte er sich, aber Aya winkte ab. “Das ist nichts Schlimmes. Hab nur unruhig geschlafen, mehr nicht. Einmal kurz duschen und das ist alles weg”, versuchte sie ihm klar zu machen. Sie hoffte, er beließe es dabei, aber er war nicht so einfach von seinen Gedanken ab zu bringen.

Tadelnd schüttelte er den Kopf. “Es geht hier um deine Gesundheit. Wer aber nicht will, der hat schon. Besser für dich wäre es aber, dich jetzt noch hinzulegen.” Ein gut gemeinter Rat, kein Befehl. Aya wusste es, doch wollte sie nicht. Der Tag musste ausgenutzt werden, also konnte sie sich keinen Schlaf gönnen. Solange Shinri nicht hier war, durfte sie die Zeit nicht vertrödeln. Sie war sich sicher, dass sie mit einer kurzen Dusche die Müdigkeit schnell wieder beheben konnte.

Aya lächelte Jackin noch einmal kurz an und verließ dann den Raum, bevor er ihr eine weitere Frage stellen konnte. Kurze Zeit später folgte er ihr in die Küche, in der sie bereits auf ihrem Stuhl saß und eine Scheibe Brot in der Hand hielt. Genüsslich biss sie ein Stück ab.

Jackin nahm ebenfalls Platz. Sie spürte den missbilligenden Blick ihres besten Freundes. Sie gab ihm ja Recht. Es wäre viel besser, wenn sie sich noch einmal hinlegen würde. Der einzige Grund, weswegen sie nichts dazu sagte und auf blieb, lag darin, dass sie nicht zugeben wollte, dass eine unnatürliche Angst sie gestern Abend heimgesucht hatte. Sie wusste nicht, wieso, aber sie konnte es einfach nicht zugeben. Selbst Shinri durfte es nie erfahren. Sie benötigte niemanden an ihrer Seite. Sie brauchte keinen Mann, der ihr die Angst nahm. Sie war stark. Ja! Sie musste es einfach sein!

Jackin ging den Tag über nicht mehr darauf ein. Es deprimierte ihn etwas, da sie ihm nicht vertraute, doch wollte er ihr keinen Ärger bereiten. Wenn sie nicht wollte, musste sie auch nicht. Er verpflanzte sich an diesem Freitag im Wohnzimmer, das Fenster weit geöffnet und den Blick auf den Garten gerichtet, in dem Aya sich befand. Er las ein Buch, aber immer wieder wanderte sein Blick hinüber zu seiner besten Freundin. Er wollte nicht, dass ihr wieder etwas ähnliches wie Gestern widerfuhr.

Kapitel 17

Aya genoss die angenehme Luft im Freien. Zuvor hatte sie sich eine Dusche gegönnt. Doch die Müdigkeit wollte nicht ganz von ihr weichen. Danach, als ihre Haare wieder trocken waren, suchte sie den Weg in den Garten. Als sie gestern hier angekommen war, hatte sie den Zaun bereits gesehen, der den Garten bereits andeutete, aber es genügte ihr nicht. Sie wollet ihn vor sich sehen und suchte, bis sie die Tür dazu fand.

Erstaunt durchquerte sie ein ihr fremdes Zimmer. Unmöbliert, hell und groß lag es vor ihr. Nichts außer ein rotweißer Teppich zierte diese Räumlichkeit. Trotzdem passte es auf eine bestimmte Art und Weise.

Direkt gegenüber der Tür befand sich eine weitere Tür, der Durchgang zur Terrasse. Groß, gefenstert, freundlich. Der Wind drückte die Vorhänge in den Raum, bäumte sie auf und zog sie wieder zu sich nach draußen. Hinter diesen großen Glastüren, die weit offen standen, verbarg sich der schönste Garten, den sie je gesehen hatte, direkt nach einer eleganten Terrasse.

Mit viel Liebe waren die Steine der Terrasse per Hand angebracht worden. Stilvoll eingravierte Muster, die sich wie Sträucher ausbreiteten, ließen sie alt und antik wirken. Über diese großen, quadratischen Steine stieg Aya und betrachtete weitgehend die zarte und berauschende Umgebung. Um der Terrasse, auf der nur zwei Liegen und ein kleiner Tisch, beides aus hellem Holz, standen, wuchsen Rosenbüsche und ein Erdweg führte durch den Garten an vielen, unterschiedlichen Blütenarten und Gemüsesorten vorbei. Alles hatte seine Ordnung, dennoch wirkte es natürlich und friedlich.

Auf einigen Bäumen, die Aya in diesem Wald zum ersten Mal erblickte, hatten Vögel ihre Nester errichtet und zwitscherten im Chor. In der Mitte des Gartens ragte ein altertümlich wirkender Brunnen an dem sich Pflanzen empor kletterten. Dies verlieh dem ganzen einen weiteren natürlichen Glanz. Nur der hölzerne Zaun, der hierum errichtet wurde, zeigte, dass dieser Garten jemanden gehörte.

Interessiert und voller Bewunderung durchquerte sie den großen Garten. Ein wundervolles Bild bot sich ihr und sie atmete den frischen, unwiderstehlich Duft der bunten Blüten ein. Eine bezaubernde Farbenpracht, kaum überschaubar. Zusätzlich zu der Gartenpracht spielte auch das Wetter mit. Die Sonne schien über ihr am Himmel und erwärmte die Luft. Der kühle Wind gestellte sich auch dazu und erschaffte eine angenehme Temperatur, in der es sich sehr gut leben ließ.

Eine Weile tat sie nichts anderes, außer die Natur zu bestaunen. Der Nachmittag verging langsam und sie wusste, schon bald würde die Sonne versinken und dann wäre die Nacht nicht mehr weit. Auch Shinri würde dann wiederkommen und insgeheim freute sie sich bereits darüber. Sie wünschte, der Junge könnte diesen Garten mit ihr besichtigen.

Sie betrachtete die Bäume auf der anderen Seite des Zaunes. Noch nie hatte sie einen Garten in einem Wald gesehen. Ein ungewöhnliches, aber bezauberndes Bild. Als sie dort stand und alles in sich aufnehmen wollte, erstarrte sie auf einmal. Sie blinzelte drei Mal, doch das Bild verschwand nicht. Nein, sie sah es ganz deutlich vor sich. Ihr Mund formte Worte, die sie nur leise verließen. “Das … kann doch nicht sein …” Es war Tag, helllichter Nachmittag. Das konnte keine Fata Morgana sein. Nein. Es zeichnete sich klar ab und zeigte ihr deutlich, dass es die pure Realität war!

Nur zwanzig Meter weiter weg, unter einem großen, stämmigen Baum, erblickt sie einen schwarzhaarigen Fremden. Es war nicht derselbe, der sie gestern in Lucios Zimmer aufgesucht hatte. Nein. Viel mehr glaubte sie, Shinri wäre zurück gekehrt - was natürlich nicht sein konnte. Das war nicht Shinri, er sah nur so aus, wie er.

Aya fragte sich, was der Junge hier zu suchen hatte, der mit einem düsteren Lächeln am Baum lehnte und sie beobachtete.

Als der Fremde ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte, trat er von dem Baum Weg und wand sich um. In Aya erwachte der Drang, ihm zu folgen und ihn zur Rede zu stellen. Der Junge, der ihr den Rücken zugewandt hatte, wartete nicht auf sie und betrat mit ruhigen Schritten den Wald. Bevor Aya wusste, was sie tat, rannte sie los, sprang über den Zaun und folgte ihm. Sie musste ihn aufhalten, bevor sie ihn aus den Augen verlor, ging es ihr durch den Kopf.

Einige Zeit lang huschte er vor ihren Füßen her. Ayas Rufe stoppten ihn nicht. Sie versuchte ihn zu erreichen, doch irgendwann verschwand er hinter dem nächsten Baum. Aya verlangsamte ihr Tempo und blickte hinter den großen Stamm, aber niemand war zu sehen. Sie lief einige Schritte umher, bis sie sicher sein konnte, dass er nicht mehr hier war. Das Laub um sie herum bewegte sich keinen Millimeter. Nur der Wind tanzte durch den Wald. Aya war ganz alleine.

Sie versuchte sich zu orientieren. Ihr Atem stockte. Nein, zischte es durch ihren Gedankengang. Sie suchte die Umgebung ab, aber es gab kein Anzeichen, woher sie kam. Panisch fragte sie sich, welchen Weg zu zurück nehmen musste, aber außer Laub gab es nichts, dass ihr den Weg hätte weißen können. Jetzt stand es fest. Sie hatte sich verlaufen. Das Haus war meilenweit von ihrem Standort entfernt und nie würde sie von hier wieder herausfinden. Nicht ohne Hilfe.

Auf einmal fiel ihr etwas ein. Die Erinnerung holte sie mit einem Schlag ein und es war ihr, als würde der Mann wieder vor ihr stehen und zu ihr sprechen. Pass auf dich auf. Geh nicht in den Wald. Er wartet auf dich.
 

Jackin saß noch immer auf der Couch. Er beendete das Buch und schlug es zu. Müde rieb er sich die Augen und legte das Buch seufzend zur Seite. Dann stand er auf. Geschickt schob er es an die Stelle des Regals zurück, aus der er es genommen hatte. Gestern hatte er mit diesem Buch angefangen. Vor Müdigkeit konnte er es nicht fertig lesen, aber heute hatte er es geschafft. Er lächelte. Lucio besaß wirklich gute Bücher. Er würde leider nicht mehr dazu kommen heute ein Neues anzufangen, denn Shinri und Lucio würden heute noch zurückkommen.

Er streckte sich genüsslich, dann trat er endlich wieder an das Fenster. Die Sonne schien ihm ins Gesicht und entlockte ihm ein zufriedenes Lächeln. Der Himmel strahlte in seiner ganzen Pracht, während sich aber langsam die Sonne der Erde entgegenbewegte und schon bald den Horizont berührte. Der Sonnenuntergang von hier aus musste wunderschön sein, träumte er, und Ria kam ihm wieder in den Sinn. Sie wünschte sich bestimmt, mit ihm irgendwann so einen wunderschönen, romantischen Moment zu erleben. Nur ob jemals diese eine Zeit kommen würde?

Eine Weile lang beobachtete er Aya, die mit freudestrahlendem Gesicht durch den wunderschönen Garten wanderte. Sie begutachtete die Pflanzen, die großen Bäume und die Vögel auf den schmalen Ästen. Ob Shinri sie ebenfalls glücklich machen konnte? Jackin hoffte es, nur fehlte ihn der Beweis. Der junge Zoma war immer zur Stelle, würde Aya Hilfe brauchen, aber konnte er sie akzeptieren und sie endlich in die Geheimnisse einweihen? Jackin hatte nicht dieselbe wissbegierige Ader, wie Aya sie besaß. Aya musste alles wissen, um sich sicher sein zu könne, dass sie ihm vertrauen konnte. Der Gedanke entlockte Jackin einen Seufzer.

Auf einmal riss ihn etwas aus seinen Überlegungen und zurück in die Gegenwart. Er vernahm eine schnelle Reaktion des Mädchens. Sie lief auf den Wald zu. Sein Blick folgte ihr verwirrt. Was hatte sie vor?

Aya überquerte den Zaun. Sie rief jemanden nach, doch Jackin verstand kein Wort. Hatte sie etwa jemanden gesehen? Jackin warf einen nervösen Blick auf die Uhr. Lucio und Shinri konnten nicht wieder zurück sein, dafür war es viel zu früh. Außer dem schien es so, als renne die fremde Person vor ihr weg. Vielleicht … und auch er erinnerte sich an den Satz, den der Unbekannte angeblich zu Aya gesagt haben sollte.

Jackin es nicht mehr aus. Eine bedrohliche Lage zeigte sich vor ihm. Der tiefe, düster werdende Wald, der Aya verschlingen wollte, würde sie nur einen Schritt zu weit hineinwagen, und ein gefährlicher Fremder, der anscheinend nur darauf wartete, dass sie sich darin verirrte. Doch das Mädchen stoppte nicht und rannte den ersten Bäumen entgegen.

Sofort öffnete der Blonde das Fenster. Er musste handeln. Schnell sprang er über den Fenstersims, fetzte durch den Garten und überquerte geschickt den Zaun. Jackin erspähte Ayas brünetten Haarschopf, versuchte sie noch zu überholen, sie zurück zu bringen, als sie dann gänzlich verschwand. Er befand sich noch nicht weit entfernt von der Lichtung und schon hatte er ihre Spur verloren.

Eine Weile wanderte er auf der Stelle, ohne das Haus aus den Augen zu verlieren. Verzweifelt rief er nach Aya. Keine Antwort. Er wartete einige Zeit, doch nichts tat sich. Verzweifelt seufzte er auf. Nun stand er vor einer Wahl. Sollte er hinterher und vielleicht, aber nur vielleicht, Aya finden, oder im Haus bleiben und Shinri um Hilfe bitten, der sie bisher immer wieder gefunden hatte.

Wütend schlug er gegen die dunkle Rinde eines großen Baumes. Er hasste sich und seine Unnützlichkeit. Noch nie hatte er es geschafft Aya aus eigenen Kräften zu helfen. Wer wollten schon einen Kumpel wie ihn? Er war ein schlechter Freund. Irgendetwas hinderte ihn, dort hinein zu gehen. Nur, was hielt ihn zurück? Wäre es Ria gewesen, die sich in den weiten Wald verlaufen hätte, würde er ohne zu zögern hinterher eilen. Nur eine ganz bestimmte Person konnte Aya jetzt noch retten.
 

Entsetzt starrte Aya um sich. Die Dunkelheit legte sich über den Wald. Die Sonne sank langsam und die Abendröte wich einem dunklen, sternenbesetzten Himmel. Sie hatte die Orientierung wirklich verloren. Jeder Baum ähnelte dem anderen und die Nacht erschwerte ihr das Sehen. Es war hoffnungslos. Sie war müde, traurig und hungrig. Am liebsten hätte sie sich auf den Boden geschmissen und wäre eingeschlafen. Sie hatte aber bereits bemerkt, dass sich unter dem Blättergewirr einige Schlangen befanden. Ungewöhnlich, durchdrang es ihre Gedanken. Schlangen an solch einem Ort. Obwohl, sie wusste nicht einmal, wo sie sich genau befand.

Eine Zeit lang rief das Mädchen noch um Hilfe, schon bald aber gab sie es auf. Es half ihr nicht weiter. Niemand kam. Sie suchte sich einen Weg aus und ihre Beine trugen sie weiter, über das Laub hinweg. Schritt für Schritt, fast schon wie benebelt, lief sie in irgendeine Richtung.

Vielleicht schaffte sie es ja doch heraus. Sie durfte die Hoffnung nicht aufgeben. Noch nicht. Sogar, als die Nacht kälter wurde und sie mit dem T-Shirt einsam im Wald stehen blieb, gab sie noch nicht ganz auf. Doch langsam schwand die Hoffnung und in ihr breiteten sich Traurigkeit und Angst aus. Sie versuchte die aufkommende Verzweiflung zu unterdrücken. Irgendwer würde sie sicher suchen. Es musste jemand kommen! Shinri. Wird er sie wirklich suchen?

Die Gedanken daran, hier alleine herumzuirren, ließen ihr die Tränen in die Augen steigen. Schnell wischte sie diese mit dem Handrücken ab und versuchte sich zusammen zu reisen. Noch dufte sie nicht aufgeben und auch nicht an solch schreckliche Sachen denken, die vielleicht passieren könnten. Nein, nicht wenn es Shinri gab. Oh Gott! Wieso konnte sie sich nicht einfach zusammenreisen, ihr Herz beruhigen und weiter gehen? Wieso bleib sie stehen und hoffte einfach, dass Shinri kam? War es die Müdigkeit, die ihr Hirn benebelte, oder war das etwas in ihr, dass an den Zoma dachte?

Sie lehnte sich an einen Baum und verschnaufte. Es war dunkel und düster und sie war alleine. All das, wovon sie gehofft hatte, dass es sie nach dem gestrigen Tag nicht mehr ereilen würde. Immer wieder verfluchte sie sich, weil sie nicht auf den Rat des fremden Mannes gehört hatte. Wieso war sie auch so naiv gewesen und war dem unbekannten Jungen gefolgt? Nur, weil er aussah wie Shinri? Oder war sie es gar nicht, die sich dorthin bewegt hatte? Vielleicht trug eine unbekannte Macht ihre Schuld daran, oder auch nur ihre eigene Dummheit.
 

“Vergesst das nie! Es liegt an euch! Euer Leben ist das Wichtigste, das ihr habt. Lasst euch nicht von diesen Menschen um den Finger wickeln. Bis zum nächsten Mal hoffe ich auf Besserungen”, schloss das Oberhaupt die Versammlung ab. Die Zomas verließen den großen, verdunkelten Saal und gingen ihre eigenen Wege.

Shinri wollte auch so schnell es ging verschwinden, als er aufgehalten wurde. Sein Onkel rief nach ihm. Lucio und Ria standen bei ihrem Cousin und alle drei betrachteten den älteren Herrn. “Shinri”, erklang seine raue Stimme. Die dunklen, pechschwarzen Augen musterten ihn ernst. Die Haut war rau und bleich. Falten zeichneten sich um seine Mundwinkel und seine Augen. Er wirkte dennoch sehr jung für sein eigentliches Alter.

Shinri blickte ihn düster an, wartete aber auf die nächsten Worte. Das Oberhaupt wand sich an Shinri und Ria: “Ihr wisst, die Hoffnung aller lastet auf euren Schultern.”

Ria nickte sofort zustimmend. “Ich versuche, so schnell wie nur möglich meine Aufgabe zu vollbringen!”, versprach sie. Die Energie floss in ihr, denn sie wusste, was sie wollte. Shinri aber wich dem Blick seines Onkels aus und wollte seinen Weg fortsetzen.

Auf einmal legte sich die knochige, alte Hand auf Shinris Schulter und hielt ihn somit auf. Der Schwarzhaarige entgegnete den ernsten Blick mit grimmiger Miene. “Du kannst sagen, was du möchtest! Aber ich werde machen, wozu ich Lust habe!”, fauchte der Jüngere. “Von dir lasse ich mir bestimmt nichts vorschreiben!” Er war mit seinen Vorwürfen noch nicht fertig. “Übrigens hast du ja wohl überhaupt nichts Großartiges erreicht! Nicht ein einziges Kind kannst du dein eigen nennen! Das ich nicht lache. Und du nennst dich Oberhaupt der Zomafamilie?!” Shinri schäumte vor Wut. Er hasste seinen Verwandten mehr als jeden anderen auf dieser weiten Welt. Am liebsten wäre er ihm an den Hals gefallen, wäre in diesem Moment nicht Ria dazwischen gegangen. Sie redete auf ihn ein und versuchte ihn zu beruhigen, was ihr nicht wirklich gelang.

“Ich habe es eilig! Ich hoffe, wir sehen uns nie wieder, Onkel”, verabschiedete sich Shinri mit verächtlichem Ton, der seinem Onkel nicht entging. Der schwarzhaarige Junge machte auf dem Absatz kehrt und verschwand hinter der nächsten großen Tür.

“Ich entschuldige mich vielmals für ihn, Onkel”, meinte Ria und folgte ihrem Cousin mit schnellen Schritten. Lucio blieb mit dem Oberhaupt der Familie zurück. Der Ältere von beiden blickte durch den Gang, dann wand er sich wieder an Lucio. “Mir scheint es so, als liege das Mädchen Shinri am Herzen. Er hat versucht, sie so wenig wie möglich ins Gespräch zu bekommen und sie verteidigt, wo es nur ging. Hast du sie bereits kennen gelernt?”

Lucio nickte zustimmend. “Ja, ich hatte das Vergnügen sie kennen zu lernen. Sie ist recht süß, aber keineswegs auf den Kopf gefallen. Eine interessante Person. Es so lange mit Shinri auszuhalten, ist eine bemerkenswerte Leistung.” Das Oberhaupt musterte seinen Neffen mit hochgezogenen Augenbrauen. “Sie scheint es dir aber angetan zu haben”, bemerkte er mit einem missfallenden Blick. Der Onkel Rashid hasste alles, was mit den Menschen zu tun hatte, vor allem da sie für die Zomafamilie lebenswichtig war.

“Lucio, behalte Shinri im Auge. Es ist von größter Dringlichkeit, dass sich keiner von uns den Menschen zu sehr anvertraut. Sie sind es nicht wert, egal wie süß sie für euch erscheinen mögen. Du weißt, was sie trifft, wenn sie Schwierigkeiten macht.“ Rashids Augen waren eiskalt, als er Lucio unverwandt ansah. Ja, er würde nie vergessen, was es hieß, den Zomas Schwierigkeiten zu bereiten. Auch nach sechs Jahren steckte ihr Tod ihm tief in den Knochen.

“Ach, übrigens. Kurai hat sich heute nicht blicken lassen. Aber ich glaube, er haltet sich in der Nähe deines Hauses auf. Finde ihn und bringe ihn endlich zu Vernunft! Wenn er sich weiterhin weigern sollte, wird er zu einem Verräter unseres Volkes”, erklärte Rashid beiläufig, aber seine schwarzen Augen sagte Lucio, wie wenig er von Kurais Verhalten angetan war.

Kurai war ebenfalls ein Cousin von Lucio. Er war nicht so alt wie Lucio selber, doch weigerte er sich vehement, einer Frau zu nahe zu treten. Jeder Zoma brauchte die Nähe eines Menschen, egal ob Auserwählte oder nicht. Lucio selbst blieb keine andere Möglichkeit, als sich mit menschlichen Frauen zu treffen, die nicht vom Schicksal für ihn bestimmt waren, denn seine eigene Auserwählte war vor sechs Jahren hingerichtet worden.

Kurai, mit seinen 21 Jahren, suchte noch immer verzweifelt nach seiner Auserwählten. Er wollte es nicht einsehen, sich mit anderen Menschenfrauen einzulassen und riskierte damit seine eigene Gesundheit. Immerhin härtete ihn diese ungesunde Lebensweise ab und er konnte länger ausharren, als Lucio selbst. Sein Onkel war weniger davon begeistert, denn laut seinem Gesetzt, sollten die Zomas nicht zögern, die Menschen für ihre Zwecke zu missbrauchen - ohne Gefühle.

Mit einem schwachen Nicken antwortete Lucio seinem Oberhaupt Rashid. Der ältere Herr legte seine knorrige Hand auf die Schulter seines Neffen und sah ihm ernst in die Augen, doch sagte er kein Wort. Die Drohung verstand Lucio auch so. Sollte er nur irgendetwas gedankenloses tun, was das Oberhaupt erzürnen könnte, würde es Konsequenzen geben.

Eine unterdrückte Wut brodelte in Lucio, als er endlich entlassen wurde. Er wusste ganz genau, was Rashid hätte sagen wollen. Lucio war schon 31 Jahre alt und hatte noch keine eigenen Kinder. Aber leider würde er auch nie in dessen Genuss kommen, da seine Auserwählte umgebracht worden war. Und für all das gab Rashid ihm die Schuld.

So schnell es ging, aber ohne Aufsehen zu erregen, durchquerte Lucio die selbe Tür, die auch Ria und Shinri genommen hatten. Dahinter warteten die beiden auch bereits. Sie sahen angespannt und wütend aus und Lucio konnte es ihnen nicht verdenken. Er fühlte sich genauso. Mit einem sanften Lächeln bat er sie, weiter zu gehen, doch anscheinend machte Shinri etwas ganz anderes Sorgen. Nicht das Treffen. Nein, etwas ganz anderes, dass nur er spüren konnte.

So schnell es ihnen möglich war, brachten sie den Weg hinter sich. Als sie ankamen, waren sie fast schon erleichtert und Ria fühlte sich, als käme sie nach langer Zeit nach Hause zurück. Nicht, weil sie früher in diesem Haus gelebt hatte, sondern weil sei Jackins Anwesenheit spürte.

Shinri dagegen war nicht erleichtert oder glücklich. Etwas plagte ihn. Eine Angst und er wusste, es hatte etwas mit Aya zu tun. Er wollt sie in Sicherheit wissen, also rannte er zum Haus, die verwirrten Rufe der beiden anderen ignorierend.

Als er die Haustüre erreichte, kam Jackin ihm entgegen. Er sah besorgt aus und sofort wusste Shinri, dass etwas nicht stimmte. Bevor er Jackin ganz erreichte, fragte er ihn bereits: “Wo ist sie? Wo ist Aya?” Er war außer Atem vor Sorge um sie und hätte Jackin am liebsten geschüttelt, um die Information aus ihm heraus zu holen. Doch der blonde Junge war kooperativ und sofort erzählte er ihm: “Aya ist in den Wald gelaufen! Ich weiß nicht, aber ich glaube, irgendwer ist mit ihr dort draußen.”

“Wieso bist du ihr nicht gefolgt?!”, knurrte Shinri aufgebracht, als er das hörte. Es war bereits mitten in der Nacht und der Wald barg Gefahren, von denen er nichts wusste.

“Du weißt genauso gut, wie ich, wieso! Du bist der Einzige, der sie zurückholen kann”, entgegnete Jackin ihm scharf, denn auch er war fast krank vor Sorge. Zum Glück verstand Shinri ihn sofort. Ihm war klar, dass Jackin sie nie und nimmer in diesem großen Wald gefunden hätte. Seine Wut auf Jackin verflog und die Angst nahm immer mehr zu.

“Ihr bleibt hier!”, befahl er allen drei in einem Ton, der keine Widerrede duldete. In diesem Moment, war er kein Freund von ihnen, er war der Zoma, der sein Leben beschützen wollte. Denn Aya war sein Leben.

Schnell rannte Shinri in den Wald, ohne sich einmal umzudrehen. Er wusste, es war dringend und er wollte keine Zeit verlieren. Die anderen blieben zurück. Sowohl Shinris Blick, als auch seine Worte, wiesen ihnen an, nicht gegen ihn zu arbeiten. Lucio wusste, wie beharrlich und gefährlich Shinri sein konnte. Deswegen war es er, der eigentlich den Platz des Oberhauptes annehmen hätte müssen.
 

Shinri rannte mit schnellen, lautlosen Bewegungen durch den Wald. Die Dunkelheit konnte ihn nicht abschrecken. Sie wirkte weniger bedrohlich auf ihn, als ein kleines, weißes Kaninchen. Er hatte es eilig und niemand würde ihn aufhalten können, denn er hatte etwas wichtiges zu erledigen. Es gab nichts, was wichtiger war, als Aya zurück zu holen. Deswegen ließ er sich keine Ruhe und hetzte durch den Wald, bis jeder normale Mensch bereits die Orientierung verloren hatte. Kopflos war er gerannt und an vielen, gleich aussehenden Bäumen vorbei gekommen. Es war kein Wunder, dass Aya sich verirrt hatte.

Irgendwann, als er tief genug im Wald war, blieb er stehen, umringt von großen, dünnen Bäumen, die sich in den Himmel streckten. Auf dem Boden lag Laub ausgebreitet und er wusste, dass sich darunter einige interessante Schlangenarten tummelten. Doch eigentlich gab es hier keine Schlangen und er wurde schlagartig an einen Zoma erinnert. Schnell schüttelte er den Gedanken ab. Es war absurd, dass er wirklich hier sein sollte. Wieso auch? Um seinen großen Bruder zu besuchen?

Still blieb Shinri im Wald stehen. Tief atmete er durch, um alle Gedanken zu lösen. Danach öffneten sich seine dunklen Augen wieder und spähten durch die Nacht, suchten die Umgebung ab und warteten auf etwas. Er sprach in die Nacht: “Kommt, meine Freunde. Tiere der Nacht! Weißt mir den Weg! Meine Auserwählte wartet auf mich.”

Der Wind trug die Nachricht an den Bäumen vorbei und noch weiter in den Wald hinein. Shinri stand regungslos da und wartete auf eine Antwort. Eigentlich war ihm nicht nach Geduld zumute, aber er beherrschte seine innere Aufruhr. Er wollte nicht wahllos umher rennen und panisch reagieren, wie es andere in seiner Situation getan hatten. Und auch half ihm das Band, dass sie verbanden, nicht weiter. Er konnte sie nicht spüren. Es war, als wäre ihre Verbindung getrennt und das machte ihm wahrlich Sorgen. Er zwang sich dazu, ruhig zu bleiben.

Still und unbewegt lauschte er in die Nacht hinein. Er schloss die Augen und konzentrierte sich. Innerlich kämpfte er gegen einen Strudel aus Gefühlen an, die mit Angst, Sorge und Sehnsucht angehäuft waren.

Ein leises Krächzen erklang und schickte ihm einen Hoffnungsschimmer. Sofort löste Shinri seine bewegungslose Position und rannte los. Mit geschmeidigen, lautlosen Schritten hetzte er durch das Unterholz. Schnell und gewand überquerte er den mit Laub zugeschütteten Boden und ließ mehr als genug Bäume achtlos hinter sich zurück. Sein Blick war wachsam und beobachtete die Umgebung, die in Dunkelheit gehüllt war. Nichts entging ihm, auch wenn die Sorge ihn schier aufzufressen drohte.

Als er dann endlich Aya erblickte, setzte sein Herz für einen Augenblick aus. Entsetz blieb er am Rande der Lichtung stehen. Wut packte ihn mit schier endloser Kraft und es blieb nur zu hoffen, dass Aya kein Haar gekrümmt worden war.

Kapitel 18

Vor Shinri zeichnete sich ein Bild des Grauens ab. Ein schwarzhaariger Mann, den er als seinen Cousin Kurai identifizierte, versuchte sich aufzurappeln, um dem Feind entgegen zu treten. Doch er war nicht der Grund für Shinris Hass. Der Angreifer selbst entfachte die Wut in ihm. Denn er wusste, dass es der Feind sein musste. In der Mitte der Wiese stand ein junger Mann, der Aya mit einer Hand am Kragen in der Luft baumeln ließ. Sie war bewusstlos, doch sie schien nicht schwer verletzt zu sein. Der Feind selbst hatte kurze, schwarze Haare und ähnelte vom Gesicht her sehr dem Shinris. Nur, dass er etwas schmächtiger war und seine Augen in einem gefährlichen Rot glühten. Diese Augen konnten ihm keine Angst machen, denn er kannte sie nur zu gut und er fragte sich, was er verbrochen hatte, dass dieser Junge sich gegen ihn stellte.

Bevor Shinri noch mehr Zeit vergeudete, setzte er bereits zum Sprung an. Er wollte Aya nicht länger in den Klauen des anderen lassen. In der Luft begann er sich zu verändern. Federn sprossen aus seinem Körper und schon bald war die gesamte Haut von einem Federkleid überdeckt, welches seine Kleidung ersetzte. Große, schwarz gefiederte Flügel schossen aus seinen Schulterblättern. Seine Füße wurden kleiner und krummer, bis sie denen eines Vogels ähnelten und auch sein Gesicht verzerrte sich zu dem eines Vogels. In kürzester Zeit vollbrachte er es und stürzte in der Form eines schwarzen Adlers auf seinen Gegner zu.

“Ach, du bist auch schon da?”, hörte er den Feind sagen, bevor dieser geschickt auswich. “Schön, dass du dich hierher traust. Aber, willst du wirklich kämpfen?”

“Los, Shinri! Ich bin auf deiner Seite! Machen wir ihn fertig!”, knurrte eine Stimme hinter Shinri. Auch sein Cousin Kurai hatte seine Gestalt verändert und stand in der Form eines großen, schwarzen Wolfes neben ihm. Seine Augen funkelten golden und waren auf den Feind gerichtet. Er knurrte wütend.

Shinri nickte ihm zu. Sie mussten Taiyo-Yoru, unschädlich machen, bevor dieser das selbe mit Aya machen konnte. Bevor er sich versah, stürzte Kurai auch schon los. Zähnefletschend bereitete er sich für einen Angriff vor. Auch Shinri flatterte auf Taiyo-Yoru zu. Doch als der Feind seine Zähne ausfuhr und den beiden drohend zuzischte, blieben sie wie vom Donner gerührt stehen. “Bleibt, wo ihr seid, oder wollt ihr, dass ich das Mädchen töte?”

Sofort ließ Shinri sich zurück auf die Erde sinken und wandelte sich zurück in die menschliche Gestalt. Wütend und mit einer Todesdrohung im Blick, starrte er hinauf in das Gesicht, dass seinem so ähnlich sah. Das Gesicht seines kleinen Bruders. “Yoru! Was willst du? Wieso bist du hier? Sag!” Eigentlich war es nicht Shinris Art, mit Leuten zu diskutieren, die ihm böses wollten, aber er konnte Aya nicht in Gefahr bringen. Nicht sie! Er konnte von Glück reden, dass Kurai ebenfalls die Lage gepeilt hatte und nicht gewillt war, Ayas Leben auf den Spiel zu setzten. Er stand in seiner menschlichen Gestalt einen Meter neben ihm.

Yoru lächelte hinterlistig, wie es nur eine Schlange konnte. Seine tödlichgiftigen Zähne blitzen gefährlich auf. “Du bist klug, Bruderherz”, meinte er und in seiner Stimme schwang Verachtung mit. Shinri wusste nicht, was er seinem kleinen Bruder angetan hatte, weswegen er Aya in Gefahr brachte. Er hatte noch nie ein besonders gutes Verhältnis zu ihm gehabt. Die meiste Zeit hatten sie einander nicht einmal zu Gesicht bekommen. Wieso wollte er nun Ayas Tod? Es ergab keinen Sinn, doch er musste sich beruhigen, bevor diese listige Schlange seine Zähne in das zarte Fleisch seiner Auserwählten schlug. Er wollte nicht, dass sie an einem qualvollen Tod starb.

“Sag, was soll ich tun?” Shinri versuchte ruhig zu bleiben. Er musste einen kühlen Kopf bewaren, bevor er etwas unachtsames tat und Aya damit in Gefahr brachte.

Yoru lächelte boshaft. “Ach, mein lieber Bruder. Nicht so ungeduldig. Ich werde ihr sicher nichts tun.”, versicherte er, doch ein leises Kichern begleitete seinen Worten.

“Natürlich nicht. Sieht ja überhaupt nicht danach aus”, entgegnete Shinri bissig. In diesem Moment wünschte er sich, Aya nie gefunden zu haben. Wer wusste, ob er ihr nicht doch etwas antat? Wären sie nie aufeinander gestoßen, hätte sie wenigstens ihr ruhiges Leben weiterleben können. Jetzt war es zu spät und er musste sie unbedingt aus dieser Lage befreien.

Yorus rote Augen musterten Shinri tadelnd. Kurais Muskeln spannten sich an. Shinri spürte dessen Nervosität. Sie hatten es mit einem gefährlichen Gegner zu tun und er war genauso nervös, wie sein älterer Cousin.

“Taiyo-Yoru! Lass die Spielchen.” Das Kurai nun auch seine Stimme erhob war etwas Neues, aber in dieser Situation dennoch nicht verwirrend. Obwohl Shinri ihm gegenüber Dankbarkeit hätte zeigen müssen, tat er es nicht. Er schenkte ihm einen strafenden Blick, der ihn zum Schweigen verdonnern sollte. Es ging um seine Aya. Unüberlegtes Handeln könnte ihren Tod bedeuten.

“Los, mach endlich! Ich weiß nicht, was du willst, aber im Austausch für Ayas Leben werde ich mit dir kommen. Was hältst du davon?” Ein Deal, den Shinri für kein anderes Mädchen auf dieser Welt ausgesprochen hätte. Nur für Aya. Auch, wenn es sein eigenes Todesurteil bedeutete, Hauptsache sie lebte. Zu seinem Glück schien sein Bruder darüber nachzudenken. Als Antwort bemerkte Shinri die Schlangen, die auf ihn zu schlichen. Zu gerne hätte er seine Flügel ausgefahren und wäre in die Luft empor geflogen, um den Angriffen zu entgehen. Doch für Aya ließ er es zu, dass zwei der Schlangen langsam seine Beine hinaufkletterten. Er fragte sich, ob sie ihn mit ihren giftigen Zähnen beißen würden, aber das tat hier nichts mehr zur Sache. Er hatte sich geopfert. Für Aya.

Kurai wollte etwas sagen, wollte eingreifen, aber Shinris drohender Blick ließ ihn Einhalt gebieten. Verbissen blieb er an der selben Stelle stehen, auch wenn es ihm verdammt schwer fiel. Die Schlangen hatten es wenigstens nicht auf ihn abgesehen. Sie waren nur auf Shinri fixiert. Das war auch nicht wirklich verwunderlich. Taiyo-Yoru war ihr Herr und befehligte sie.

“Lass mich kurz nachdenken”, lachte Yoru. Er tat für einen Augenblick, als müsse er die Entscheidung abwiegen, obwohl die Schlangen sich bereits um Shinris Körper wanden. Auf einmal ruhten die roten Augen auf Shinri und er sah ihn durchdringend an. “Okay. Ich bin dafür. Du bist meine Geisel. Hier, fang!” Shinri konnte sich nicht bewegen. Die Schlangen, es waren mehr als genug, fesselten ihn. Eine von ihnen biss ihn sogar in die Kehle. Es war kein tödliches Gift, aber es wirkte lähmend auf ihn. Er konnte nur mit ansehen, wie seine Auserwählte durch die Luft segelte. Zu gerne wäre er aufgesprungen und hätte sie aufgefangen. Er wollte nicht, dass sie noch mehr litt. Doch die Schlangen und das Gift zeigten ihre Wirkung und er war schutzlos seinem Bruder ausgeliefert.

Ein Glück, dass er nicht alleine im Wald war. Kurai fing sie geschickt auf und bewahrte sie vor großem Schaden. Er knurrte wütend. Schon wollte er an Yorus Kehle springen, doch als seine goldenen Augen den Feind suchten, war dieser bereits verschwunden. Ein erneutes wütendes Knurren entrang sich seiner Kehle, als er bemerkte, dass er ganz alleine mit dem Mädchen war. Die listige Schlange hatte Shinri entführt!

Einige Zeit lang wartete Kurai noch, aber er spürte weder die Anwesenheit des einen, noch des anderen. Beide hatten den Wald bereits hinter sich gebracht. Er verfluchte sich selbst dafür, dass er Taiyo-Yoru nicht aufhalten konnte. Jetzt war es aber zu spät für eine Rückkehr. Shinri hatte seine Entscheidung getroffen. Obwohl er das Oberhaupt hätte werden können, hatte er den Freitod gewählt. Ohne Aya würde er sein eigenes Ich verlieren und nach einiger Zeit der Qual sterben.

Kurai hatte noch nie viel für seine Familie übrig gehabt. Auch Shinri war für ihn uninteressant gewesen. Jahrelang hatte er alleine gelebt. Dennoch. Shinri wäre die einzige Möglichkeit gewesen, gegen das jetzige Oberhaupt anzukommen. Der Onkel, der die Zomas ins Verderben stürzte, mitsamt der Menschheit. Nur Shinri hätte ihn aufhalten können, indem er ihn den Anspruch auf den Thron streitig machte. Nun war es zu spät. Es gab keine Rettung mehr. Nur ein Krieg konnte ihnen jetzt noch helfen.

Shinris Auserwählte in seinen starken Armen geborgen, verließ er diesen Ort. Auch wenn er nicht wollte, so musste er doch bei Lucio Zuflucht suchen und dessen Hilfe in Anspruch nehmen, denn er war der einzige, dem er auf dieser weiten Welt wirklich trauen konnte.
 

Leise Stimmen drangen an Ayas Ohr. Dunkelheit umfing sie und hielt sie gefangen. Ihr Kopf schmerzte und sie dachte an die unheimliche Begegnung im Wald zurück. Sie konnte sich nicht mehr an alles erinnern, nur an den jungen Mann, der Shinri verdammt ähnlich sah. Sie hatte zuerst gehofft, er könne sie aus dem Wald herausführen, doch dann hatte auch sie seine düstere Aura gespürt. Irgendetwas an ihm schien gefährlich zu sein. Seine roten Augen leuchteten sie bedrohlich an. Sie glaubte sogar noch immer seinen Blick auf sich zu spüren.

Zu guter Letzt war auf einmal der schwarzhaarige Mann erschienen und hatte sich dem Fremden gestellt. Aber was war dann geschehen? Hatte dieser eigenartige Unbekannte, der Shinri so sehr ähnelte, sie angegriffen? Nur ganz dunkel konnte sie sich daran erinnern, wie der Feind sie angegriffen hatte und der Mann zu ihrer Rechten daraufhin ein wütendes Knurren ausstieß.

Als sie dann aber die roten Augen dicht vor sich sah, rebellierte ihr Kopf. An mehr konnte sie sich nicht erinnern. Wahr sie ohnmächtig geworden? Bewusstlos? Oder wollte ihr Hirn nur nicht mehr Preis geben?

Die Stimmen wurden lauter. Sie wurde sich langsam bewusst, dass sie nicht mehr ganz in der Dunkelheit der Bewusstlosigkeit gefangen war. Wo befand sie sich? Die kühle Nachtluft war verschwunden. Die Wärme eines Raumes umschloss sie. Eine Decke umhüllte ihren kalten, schmerzenden Körper. Ihr Kopf ruhte auf etwas warmen. Hatte sie letzten Endes alles nur geträumt? Irgendwie gefiel ihr dieser Gedanke. Schließlich musste sie sich dann nicht mit dem Problem quälen, dass sie soeben von jemanden angegriffen worden waren. Der Schmerz, der aber durch ihren Körper zog, sprach dagegen und ließ sich nicht leugnen.

Ihr Kissen bewegte sich etwas. Das schockierte sie etwas. Also hatte sie es hier mit etwas lebendigen zu tun? Gut, dann musste sie nur noch abchecken, ob sie wirklich in Sicherheit war? Nicht, dass dieser eigenartige Mann sie verschleppt hatte?

Sie versuchte dem Gespräch zu folgen. Ihr war klar, dass es die Stimme zweier Männer waren. Doch irgendwie wusste sie, dass sich noch andere in näherer Umgebung befanden. Also, sie war nicht alleine. Nicht ganz alleine mit zwei Männern. Vielleicht waren es drei oder vier Männer? Na ja, auch keine gute Aussicht. Mit einem hätte sie vielleicht fertig werden können. Zwei waren schon fast unüberwindbar. Aber eine ganze Horde davon war wie eine hohe Mauer aus Stacheldraht, in dem Storm floss. Sie hätte sich nicht einmal Mut zusprechen müssen, es wäre gelogen. Sie hatte keine Chance!

Sie horchte auf. Leider schaffte sie es nicht, dem Gespräch zu folgen. Ihr Kopf arbeitete zu langsam, um die Worte zu verstehen und vor allem den Sinn darin, aber sie wurde sich der Person über sich bewusst. Die Stimme war unverkennbar. Ihr Herz wünschte sich, es wäre Shinri, aber dem war nicht so. Dennoch war sie beruhigt und dankbar, dass er sich hier befand. Lucio!

Also war sie wohl wieder zurück bei ihm Zuhause. Wer war der andere Mann? Vielleicht ja dieser eigenartige Typ mit den goldenen Augen, der sie gewarnt hatte? Jemand anderes kam nicht in Frage. Besser gesagt, jemand anderes fiel ihr nicht ein. Shinri und Jackins Stimme hätte sie allemal erkannt! Aber mit keinem der beiden hatte sie es hier zu tun. Um was ging es eigentlich?

Ihr Kopf wollte dieses Ratespiel nicht mehr mitmachen und schickte sie komplett aus dieser düsteren Dunkelheit. Sie bewegte sich unruhig und öffnete ihre Augen. Geblendet schloss sie diese wieder und schützte ihre Augen zusätzlich mit den Händen. Sofort bewegte sich ihr Kissen erneut. “Sie ist wach!”, erklang eine weibliche Stimme. Aya brauchte eine kurze Zeit, um zu erkennen, dass sie es hier mit Ria zu tun hatte. Was hatte sie denn hier zu suchen?

“Geht es dir gut?” Lucios weiche Haare streiften ihre Wangen, als er sich zu ihr herabbeugte und ihr zuflüsterte. Er klang äußerst besorgt.

“Ja, es geht. Danke.” Langsam gewöhnten sich Ayas Augen an das Licht. Sie blinzelte hinauf und entdeckte direkt vor sich die dunkelgrünen Augen des Gastgebers. Lucio lächelte sie sanft an. Jedes Mädchenherz wäre bei diesem Anblick dahin geschmolzen, nur Ayas Herz schien diese Gefühle nicht mit den anderen zu teilen. Sie fühlte für Lucio nicht so, wie für dessen Cousin Shinri. Und sie wusste, dass könne auch nie passieren. Irgendetwas verband sie beide. Und der schwarzhaarige Junge fehlte ihr im Moment.

Aya setzte sich auf und blickte in die Runde. Sie fand alle vor, außer Shinri, und ihr Herz schmerzte fürchterlich. Es fühlte sich leer an. Der Mann, der mit ihr gegen den Feind angetreten war, saß ebenfalls in der Runde. Zu ihrer größten Verblüffung fand sie auch Ria vor, die auf dem kürzeren Stück der Couch neben Jackin Platz genommen hatte.

Nur Shinri war nicht hier. Und mit Shinri fehlte ihr auch ein Stück ihrer selbst. Denn irgendwie wusste sie, ohne es aus den Gesichtern der anderen zu lesen, dass es Shinri nicht gut ging. Dass er nicht hier war. Ihr Herz war schwer, wie aus Blei. Es rutschte immer tiefer und das schwarze Loch der Einsamkeit verschlag es unaufhaltsam.

“Lucio? Jack? … Ria? Ihr … wo ist Shinri?” Sie fragte nicht nach dem Mann, der auf dem Sessel ihnen gegenüber saß. Ihr war es egal. Sie wollte nur wissen, was mit Shinri war. Ging es ihm gut?!

Ria senkte den Blick betrübt und auch die anderen wirkten genauso bedrückt. Nur der fremde Mann blickte Aya ungerührt in die Augen. “Er ist weg und er kommt nie wieder”, erklärte er kühl und distanziert, aber sie glaubte Schmerz in seinen Augen gelesen zu haben. Kurz darauf waren diese unmenschlich goldenen Augen undurchschaubar und kalt.

“Sei still, Kurai!”, zischte Ria und stand auf. Eilig lief sie um den Wohnzimmertisch herum, um an die Couch zu gelangen. Lucio erkannte ihr Ziel und rutschte beiseite. Somit konnte sich das blonde Mädchen neben Aya setzten und in ihrem Blick lag sehr viel Schmerz und Trauer, sodass sich Ayas Herz schmerzlich zusammenzog. Nein, Shinri konnte nicht tot sein!

Jackin wollte seiner besten Freundin beistehen, aber auch er verstand nicht, was hier los war. Er wusste nur, dass Shinri etwas passiert sein musste. Deswegen überließ er es Ria, mit Aya zu sprechen. Ihr Blick verkündete aber nichts gutes. Hatten sie Shinri für immer verloren? Lucio schien genauso aufgewühlt, wie sie. Seine Hand ruhte beruhigend auf Rias Schulter, um ihr Mut zu machen, während Kurai unberührt auf seinem Sessel saß, als ging ihn das Ganze überhaupt nichts an.

“Hör zu, du musst jetzt ganz stark sein. Shinri wird nie wieder kommen.”

“Das weiß ich auch schon! Aber wieso? Er kann nicht tot sein! Nein, dass kann nicht sein! Was ist passiert?!“ Auch wenn Ria um Ayas Stärke gebeten hatte, das Mädchen war nicht fähig dazu. Die Sorge um Shinri schien sie zu treffen, wie eine eiskalte Flut. Noch immer brannte in ihr das Gefühl der Leere. Ihr Zeichen brannte lichterloh und schien sich in ihre Haut zu fressen. Dieses Zeichen verband sie doch mit Shinri? Wieso schmerzte es so?! Sie konnte es nicht wahrhaben. Sie konnte es einfach nicht glauben!

“Er ist tot. Das wolltest du doch hören? Und jetzt? Hilft dir das irgendwie weiter?”, meinte Kurai und klang aggressiv. Aya horchte auf. Tränen hingen in ihren Augen. Unvergossene Tränen, die schon bald über ihre Wangen laufen würden. Wieso schmerzte es so? Sie hatte Shinri immer wieder gesagt, er solle verschwinden. Jetzt war er weg und sie alleine. Aber, dass war falsch! Er konnte nicht tot sein!

Lucio erhob sich und eilte auf die andere Seite der Couch. Er packte Kurai am Kragen und schimpfte ihn: “Hör auf! Willst du sie denn noch mehr quälen? Du weißt genau, dass es für Auserwählte schwer ist, von ihren Partnern alleine gelassen zu werden!”

Kurai funkelte Lucio böse an und erhob sich ebenfalls. “Nein, ich weiß es nicht, aber du hast es doch schon einmal miterlebt, oder nicht?” Aya wusste nicht, was vor sich ging. Wieso reizte Kurai Lucio? Wieso drängte er ihn mit seinen gehässigen Worten fast schon dazu, die Kontrolle zu verlieren? Und … wieso war Shinri nicht hier?

“Ja und? Was willst du damit sagen?!”, knurrte Lucio und seine Hand zitterte vor Wut. Er verkrampfte sich und sah Kurai bissig an.

Der andere Mann entgegnete ihm ebenfalls mit einem Knurren. Sofort stand Ria auf und trat mit erhobenem Haupt zwischen die streitenden Männer. “Hey! Hört sofort auf! Was glaubt ihr eigentlich, wer ihr seit?” Während sie versuchte, die beiden zu beruhigen und sie gleichzeitig für ihr benehmen strafte, stand Jackin von seinem Platz auf und setzte sich neben Aya, die mit einem leeren Blick vor sich hinstarrte.

“Es tut mir leid, Aya. Ich habe gesehen, wie du in den Wald gerannt bist und ich hätte hinterher gehen müssen. Nein, ich hätte dich nicht einmal alleine lassen dürfen. Es ist ganz alleine mein Fehler und es tut mir leid. Aber …” Seine dunkelblauen Augen sagten ihr, wie leid es ihm tat und wie sehr er es bereute, doch brachte es Shinri nicht zurück.

Aya schüttelte leise den Kopf und auf einmal rannen ihr die Tränen über die Wangen. Als sie sprach, schluchzte sie leise. “Nein, du hast nichts falsches getan. Kurai hatte mich gewarnt und ich war trotzdem darauf herein gefallen. Doch das ist es nicht einmal.” Sie fuhr sich über das Gesicht und versuchte sich vergeblich die Tränen wegzuwischen. “Shinri ist nicht tot. Er ist nicht tot. Ich weiß es einfach. Er lebt, irgendwo. Ja. Er würde doch nie sterben, ohne es mir vorher zu sagen. Oder?”

Verzweifelt suchte Aya Trost in Jackins dunkelblauen Augen. Der Junge konnte ihr nichts darauf entgegnen, denn er wusste es nicht. Tröstlich schloss er Aya in seine Arme und drückte sie an sich. Zu gerne hätte er ihr den Schmerz genommen, doch war es ihm nicht möglich. Er konnte nur versuchen, sie aufzuheitern und ihr die Einsamkeit zu nehmen. Denn er wusste, er würde Shinri nie ersetzten können.

Ayas Schluchzen erstarb, als sie keine Träne mehr übrig hatte. Mit geröteten Augen verließ sie die wärmende Umarmung ihres besten Freundes. Jackin sah sie mitfühlend an und stand auf. Ohne den anderen Bescheid zu geben, zog er Aya mit sich hinaus in die Küche. Er bereitete einen Tee her, während Aya sich auf einen Stuhl am Esstisch setzte und sich beruhigte. Doch wusste sie in diesem Moment nicht, was die anderen wichtiges besprachen.
 

“Doch! Wir sollten es ihnen erzählen!”, keifte Ria. Sie musste die beiden Männer einfach umstimmen. Egal, wie sehr es Lucio geschmerzt hatte, als seine Auserwählte starb, so musste er doch einsehen, dass es das Beste wahr, Aya alles zu beichten. Die Zomas mussten ihre Familie hintergehen, das Geheimnis offenbaren und vielleicht Shinri retten. Aber Kurai und Lucio waren nicht ihrer Meinung.

“Spinnst du?”, kamen die ehrlich gemeinten Worte von Kurai, woraufhin Lucio meinte: “Das wäre das Aus für uns alle! Wenn sie uns erwischen? Wenn sie das herauskriegen, dann sterben wir alle und nicht nur Shinri!” Ria stimmte ihnen ja zu, sie hatten recht. Aber es konnte auch nicht immer so weiter gehen.

“Ohne Shinri gibt es kein ‚Wir‘ und um ihn zu befreien, müssen die anderen erst einmal wissen, um was es geht!” Ria sah verzweifelt aus. Sie wünschte sich ein Leben mit Jackin, aber wenn Shinri nicht das Oberhaupt der Familie werden würde, dann konnte sie eine getraute Zweisamkeit vergessen. “Wenn Shinri jetzt stirbt, dann wird irgendjemand anderes den Posten übernehmen, der genauso auf Rashids Seite steht, wie Shinris Bruder. Wisst ihr was das bedeutet?”

Schweigen herrschte zwischen den beiden Männern. Diese Stille war Antwort genug. Sie wussten es. Aber sie wollten die anderen nicht auch noch in Gefahr bringen. Ihr Hass, durfte der Sorge nicht obliegen, denn jeder von ihnen hasste das Oberhaupt, genauso wie Shinri. Kurai wollte sich ihm widersetzten, weil er sein Leben selbst bestimmen wollte und handelte sich dabei eine tödliche Strafe ein. Während Shinri, Lucio und Ria bereits den Verlust geliebter Personen erlitten hatten.

Shinri hatte seine Eltern verloren, da Rashid machtgierig war und die Familie auslöschen wollte. Hätte er damals gewusst, dass Shinri ein Warashi war, dann hätte er ihn gewiss nicht in die Obhut Rias Eltern gegeben.

Die Eltern Rias lebten aber auch nicht lange. Vor etwa zwölf Jahren wurden Shinri und Ria aus der Familie gerissen. Ein Tag, der das Leben der beiden ganz auf den Kopf stellte. Danach kamen beide zu Lucio.

Aber das Unglück schien sie zu verfolgen, denn Lucios Auserwählte - er fand sie kurz nachdem die beiden zu ihm gekommen waren, fand das Geheimnis der Zomas heraus. Da Rashid das Haus beschattet hatte - denn Shinri lebte darin - entging ihm nichts. Er ließ Marika hinrichten unter Lucios Augen, um ihm eine Lektion zu erteilen. Danach veränderte sich alles und Shinri zog schon bald mit Ria aus, da er Lucio die Schuld in die Schuhe schob.

Ja, Rashid machte vor nichts Halt. Er zerstörte alles, was zusammengefunden hatte und zog so die Wut vieler Zomas auf sich. Aber die anderen hatten Angst, sich ihm zu stellen und schon fragten sie sich, machte es wirklich Sinn, sich gegen Rashid zu stellen? Sie brachten ihre Auserwählten in Gefahr, ohne zu wissen, ob sie wirklich eine Chance gegen das jetzige Oberhaupt hatten.

Eine kurze Stille trat ein. Jeder schien für sich darüber nachzudenken, was er zu verlieren und zu erhalten hatte. Erst Lucio brach die Stille, als er verkündete: “Okay. Machen wir es. Ich habe nichts zu verlieren. Und wenn ich sterbe, dann weiß ich wenigstens, dass es für eine gute Sache war.”

Kurai gab sich ebenfalls geschlagen. “Wenn es sein muss, bin ich dabei. Das kann ja was werden.” Sie wollten ihnen wahrhaftig alles erzählen. Kurai konnte es noch immer nicht glauben.

Bevor sie noch einmal darüber nachdenken konnten, stand Ria auf und eilte hinaus, um die anderen beiden zu suchen. Kurai ließ sich schwer seufzend in die Polster sinken. “Ich glaube, sie hofft darauf, Shinri zu befreien”, erkannte er und sah Lucio entgegen.

Der rothaarige Zoma nickte zustimmend. Ria wollte die anderen beiden nur darin einweihen, um ihnen mitzuteilen, dass es noch nicht zu spät für Shinri war. Sollen die beiden wissen, um was es genau ging, hatten sie vielleicht zwei Mitstreiter mehr. Ein guter Plan, aber die Reise würde schwer werden, denn Taiyo-Yoru würde sie nicht einfach herzlich willkommen heißen.

Kapitel 19

Kurz darauf trafen die beiden ein. Aya und Jackin sahen etwas verwirrt aus, denn Ria hatte ihnen nicht mehr verraten, als dass sie ihnen etwas zu erzählen hatten. Noch immer hoffte da brünette Mädchen, dass es Shinri gut ging. Sie hatte schon längst keine Tränen mehr und sah müde und fertig aus.

Aya nahm wieder einmal neben Lucio auf der Längsseite der Couch Platz, während Ria und Jackin sich auf den kürzeren Teil setzten. Gespannt und nervös sahen Ayas rehbraune Augen von einer Person zur anderen. Was hatten sie ihnen zu erzählen?

Da Ria den Vorschlag gemacht hatte, begann auch sie mit der Erzählung. Es war schwer, die richtigen Worte zu finden, denn jeder normale Mensch würde sie danach für verrückt halten. Nur Auserwählte waren offen genug, um sie zu verstehen.

“Gut. Bevor ich es euch aber erzähle, müsst ihr mir versprechen, dass ihr niemanden etwas davon verratet. Ein einziges falsches Wort könnte euer und unser Todesurteil bedeuten.” Rias hellblaue Augen sahen Jackin und Aya eindringlich an. Die beiden nickten und begegneten den Blick mit ernster Miene.

“Die Geschichte unserer Familie reicht bereits über 1000 Jahre zurück. Unsere Vorfahren lebten damals noch friedlich neben den Menschen, bis sich die Menschheit sich gegen sie gewandt hatte. Unbekanntes macht ihnen Angst und bringt sie dazu, unüberlegt zu handeln. Aus diesem Grund mussten die Zomas ihr Heim verlassen und suchten Schutz in den Wäldern. Um ihr Volk vor feindlichen angriffen zu schütten, mussten sie sich mit der Natur vereinigen. Die drei stärksten Zomas nahmen sich je einen Beschützer des Waldes. Den Adler Warashi der Lüfte. Den Löwen Rayon der Erde und den Hai Saré des Wassers.

Seitdem sind sie ein Teil unseres Seins. Jeder von uns stammte einer dieser Blutlinien ab. Doch gleichzeitig zu dem Schutz kam auch eine Schwäche auf. Um zu überleben und uns fortzupflanzen brauchten wir die Nähe der Menschen. Es war eine Zwickmühle, in die wir geraten waren.”

Ria rieb sich die Stirn. Diese Geschichte lernte jeder Zoma von seinen Eltern. Es war etwas, dass sie nie vergessen durften, denn es war eins mit ihnen. Auch wenn Ria die ganze Erzählung hätte abkürzen können, wollte sie den beiden alles erzählen.

“Es war schwer, zu überleben, aber wir schafften es und dann, vor 600 Jahren, wurden wir mit einem Fluch belegt. Das ist der Fluch, der uns an euch bindet. Warui war zu dieser Zeit unser Oberhaupt. Sie hatte sich mit einem Menschen eingelassen und erwartete einen Jungen, der nach ihr das Amt übernehmen sollte. Warui war eine der wenigen, die sich mit den finsteren Mächten auskannte. Sie war eine Hexe und Wahrsagerin. Ihre Macht war groß, aber Warui wusste, dass sie nicht mehr lange zu leben hatte. Um das Schicksal ihres Kindes und das der nächstgeborenen Zomas zu beschützten, legte sie einen Fluch über die Zomafamilie. Damit manipulierte sie das Schicksal und wies jedem neugeborenen Kind ab seinem 19. Lebensjahr den Weg zu dem Menschen, der für ihn auserwählt worden war.”

Ria schwieg erneut und betrachtete die beiden Auserwählten. Jackin und Aya wussten, dass damit auch das Zeichen gemeint war. Es war das, was Shinri mit ihr verband. Doch spürte sie es auch tief in ihrer Seele.

“Und was genau heißt das jetzt für die beiden, die zusammenfinden sollten?”, wollte Jackin wissen. Er hatte die ganze Zeit über geschwiegen und der Geschichte gelauscht, die so unwirklich erschien. Dennoch glaubte Jackin ihnen, wie auch Aya. Es war etwas in ihnen, dass ihnen sagte, dass es richtig war.

Dieses Mal antwortete der Älteste im Raum ihnen. Lucio kannte sich leider zu gut mit diesem Fluch aus und wollte ihnen nichts verschweigen. “Ab dem 19. Lebensjahr sind wir Zomas von den Menschen abhängig. Wir beginnen unsere Auserwählten zu suchen und lassen uns von unserem Zeichen leiten. Sollten wir es vermeiden in die Nähe der Menschen zu kommen, egal ob auserwählt oder nicht, lässt unsere Kraft immer mehr nach. Ohne Zuneigung und Zärtlichkeiten wird unsere Seele schwach und irgendwann verwandeln wir in das Tier, dass in unserem Blut fließt und verlieren unseren Verstand.

Dennoch müssen wir unseren Auserwählten suchen, denn nur mit ihnen können wir Kinder bekommen und wirklich glücklich werden. Ohne sie bleiben wir trotz der Nähe zu anderen Menschen immer Einsam.”

Aya blinzelte etwas verwirrt. “In die Tiere verwandeln? Was … hat es damit auf sich?” Sie wollte mehr über diese Tiere erfahren und über die Blutlinie. Sie konnte sich nichts darunter vorstellen. Zum Glück antwortete Kurai ihr sogleich: “Wir haben mit unseren Beschützern einen Bund geschlossen. Anfangs waren es nur Adler, Löwe und der Hai, doch mit der Zeit hatten sich immer mehr daraus entwickelt. Es gibt unterschiedliche Arten von Vögeln und Raubkatzen, oder auch Wölfe, wie ich einer bin. Dafür war der Hai bereits unter unseren Blutlinien ausgestorben und der Löwe und der Adler tauchen nur noch sehr, sehr selten auf. Tatsächlich ist Shinri der letztgeborene Adler. Wenn wir nicht stark genug sind, verwanden wir uns zwangsläufig in dieses Tier und sollten wir schon zu lange ohne Zuneigung leben, verlieren wir unseren Verstand, was so viel bedeutet, dass wir unsere menschliche Seite ablegen. Alle Gedanken und Erinnerungen und nur noch als das Tier, welches wir sind, leben.”

Aya wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Schweigend starrte sie Kurai an und überlegte. Die Geschichte war wirklich unglaublich. Eigentlich fast schon verrückt. Doch irgendwie passte sie zu Shinri. Er hatte ihr nie etwas erzählt, weil das ganze zu verzwickt war, um keinen Verdacht zu erwecken.

“Aber, wenn wir Auserwählten so gut für euch sein sollten, wieso dürft er es uns dann nicht erzählen? Schließlich leben wir ungern mit Leuten zusammen, von denen wir überhaupt nichts wissen”, fragte Jackin dann und unterbrach die vorherrschende Stille. Er glaubte ihnen auch. Ria würde ihm nie belügen. Nicht bei so etwas großen und es war zu sehr ausgefeilt, um wirklich eine Lüge zu sein.

Kurai unterdrückte ein Knurren, als er an Rashid denken musste. “Unser jetziges Oberhaupt hasst die Menschen. Er ist machtgierig und hat Shinris Vater umgebracht, nur um dessen Thron zu übernehmen. Seit dem geht alles nach seinem Kopf. Ihm ist egal, wie schwer es die Familie trifft, niemand darf sich gegen ihn stellen. So hat er auch das Gesetz erlassen, dass kein Mensch über sie bescheid wissen darf, angeblich um uns zu beschützen.” Erneut knurrte er und verkündete damit, dass er dessen Ansicht nicht teilte.

“Das bedeutet doch, dass Shinri der eigentliche Thronerbe ist. Wieso hat er ihm den Platz nicht streitig gemacht?”, meldete Jackin sich erneut zu Wort.

“Du hast recht, Jackin”, stimmte Lucio ihm bei. “Aber um unseren Onkel - das jetzige Oberhaupt - von seinem Thron zu stoßen, müsste Shinri ihn umbringen. Aber er lässt keinen an sich heran und umgibt sich mit unzähligen Wachen.” Lucio schien den Onkel ebenfalls zu hassen, denn seine dunkelgrünen Augen flackerten hasserfüllt. Keiner der Zomas in diesem Raum, war gut auf ihn zu sprechen und Aya konnte es verstehen.

“Könnte jemand anderes, außer Shinri, auch den Thron übernehmen?” Jackin sprach nicht aus, was er dachte. Wenn Shinri wirklich tot war, dann konnte er nicht gegen diesen Onkel antreten.

Ria schüttelte betrübt den Kopf. “Nein. Das Oberhaupt muss in der Blutlinie dieser Familie stehen, oder ein Adler sein. Aber da der Warashi eigentlich selten ist und nur in dieser Linie vorkommt, gibt es niemand anderen, der unserem Onkel den Platz streitig machen könnte.”

“Aber … wenn wir Shinri befreien?” Auf einmal blickten alle auf. Aya sah sie mit ernsten Augen an. Bevor man ihr erklären konnte, dass Shinri tot sei, begann sie erneut zu sprechen: “Shinri lebt noch! Das weiß ich ganz genau und sonst würdet ihr uns das alles nicht erzählen. Wäre die ganze Sache so aussichtslos, dann hättet ihr schon längst diesen Ort verlassen und hättet euch in der Stadt verschanzt, oder nicht? Ich weiß, dass er noch lebt, auch wenn ich nicht weiß, wo er ist. Ich kann ihn nicht spüren, aber … ich weiß es einfach.”

Sie konnte es ihnen nicht beschreiben. Es war einfach so ein Gefühl, dass sie hatte. Irgendetwas schien die Verbindung zu unterbrechen, aber es war nicht so, als wären sie überhaupt nicht mehr miteinander verbunden. Ja, sie war sich ganz sicher. Er war nicht tot!

Es war Kurai, der antwortete. Mit seiner kalten, rauen Stimme erklärte er: “Ja, er lebt noch. Er hat sich für dich geopfert und wurde entführt. Aber er wird schon bald nicht mehr der sein, den du so liebst.”

Ein kalter Schauer lief Aya den Rücken herunter, gefolgt von einer Gänsehaut. Seine Worte erschreckten sie, doch konnte sie sich darunter einiges vorstellen. Ohne die Nähe der Menschen würde er schon bald seinen Verstand verlieren. Danach wäre er ein einfacher Adler, nicht mehr ihr Shinri. Sie musste ihn helfen!

“Denk nicht einmal daran, ihm zur Hilfe zu eilen. Ich kann es in deinen Augen sehen, aber es wäre glatter Selbstmord. Der Ort, an dem er gefangen gehalten wird, birgt große Gefahren und es könnte bereits zu spät sein, wenn wir bei ihm ankommen. Das Risiko ist zu groß, als dass du als Mensch es tragen könntest.” Kurais Stimme war kalt, aber etwas Sorge lag dennoch in seinem Blick. Für ihn schien es hoffnungslos. Er kannte die Gefahren gut genug. Menschen hatten an diesen Ort nichts zu suchen.

Ayas Herz schmerzte fürchterlich. Sie verstand Kurais Anliegen, aber er schien nicht verstehen zu wollen, um was es hier ging. Etwas in ihr drängte sie dazu. Sie musste Shinri zurück bringen, es war noch nicht zu spät. Es unversucht zu lassen, was der größte Fehler. Was hatten sie denn zu verlieren?

Entschlossen stand sie auf und sah alle ernst an. “Vielleicht ist euch egal, was mit Shinri wird. Ich werde ihn aber nicht im Stich lassen! Entweder ihr helft mir, oder ich gehe ohne euch.”

“Du weißt doch gar nicht, wo er ist!”, fuhr Ria nun auf. Sie sah besorgt aus, schien Aya aber am besten verstehen zu können. Das blonde Mädchen, wollte sie nicht alleine lassen. Ihr lag Shinri ebenfalls am Herzen. “Ich werde dich begleiten.”

Während Aya das andere Mädchen dankbar musterte, sah Jackin für eine kurze Zeit verblüfft aus. Dann aber nickte er zustimmend. “Ich gehe mit euch mit. Schließlich muss jemand auf euch aufpassen.” Ria umarmte den blonden Jungen dankbar. Jetzt waren sie immerhin zu dritt.

Auf einmal stand Kurai auf und überragte Aya um zwei Köpfe. Er hatte etwas bedrohliches an sich, doch sein Blick bekündete Aya, wie viel Respekt er vor ihr hatte. “Da ich nichts zu verlieren habe, werde ich euch hinführen.”

“Aber … Lucio und du können nicht mitgehen. Ihr seid genauso gefährdet, euren Verstand zu verlieren. Ihr solltet euch nicht unnötig in Gefahr bringen.”

Obwohl Ria sich nur sorgen machte, sprach Kurais eiskalter Blick Bände. “Ich kann auf mich selber aufpassen, Ria. Ich habe nicht umsonst Jahrelang dagegen trainiert. Ich kann es lange genug aushalten. Aber Lucio. Du solltest wirklich hier bleiben. Vor allem für den Fall, dass uns jemand auf die Schliche kommt.”

Dankbar für all die Unterstützung, die Aya bekam, blickte sie jedem im Raum an. Es war das erste Mal, dass sie wieder lächeln konnte. Die Hoffnung, Shinri wieder zurück zu bringen, schenkte ihr Freude. Lachen würde sie aber erst können, wenn Shinri wieder bei ihr war.

Sie begannen sich für die Reise vorzubereiten. Ria packte Vorräte ein, damit sie auf dem Weg nicht verhungerten, aber mehr brauchten sie auch nicht. Luxusartikel waren unerwünscht, denn sie hielten sie nur unnötig auf. Shinris Gesundheit war ihnen w wichtiger, als Decken. Nach kürzester Zeit trafen sie sich im Gang vor der geschlossenen Haustür. Sie wollten keine Nacht mehr verschlafen und sich nicht unnötig aufhalten. Auch auf die Warnung hin, dass die Reise lange und ermüdend sein würde. Sie brauchten keinen Schlaf. Die Angst um Shinri würde sie antreiben.

Lucio blieb als einziger Zurück und wünschte den anderen viel Glück. Er bläute vor allem Aya ein, gut auf sich aufzupassen und sich gut um Shinri zu kümmern, sobald sie ihn endlich gefunden hatten. Die vier verabschiedeten sich von ihm und dem Haus und machten sich auf den Weg in den düsteren Wald, aus dem Aya erst vor kurzem gerettet worden war. Kurai bildete die Spitze und führte sie an. Jackin war der Letzte, um die Mädchen beschützen zu können, sollten sie von hinten angegriffen werden.

Auf dem Weg durch den Wald schwiegen sie sich an. Die Sorge bedrückte sie und sie konnten sich nicht davon befreien. Der Laub unter ihnen raschelte und die Blätter über ihnen wehten sanft im Wind mit.

Sie liefen eine Zeit lang, doch wussten sie nicht, wie lange genau. Der Himmel über ihnen errötete und die ersten Sonnenstrahlen trafen auf die Erde. Der Morgen begann und es war Samstag. Die Luft erwärmte sich um sie herum und der Wald begann sich zu regen. Vögel sangen und die Insekten schwirrten an den Bäumen vorbei. Es war ein Morgen, wie jeder andere. Nichts wies daraufhin, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Doch die vier konnten sich von dieser Idylle nicht ablenken lassen.

Kurai lief weiter und sprach kein Wort zu den anderen. Er schien nicht müde zu sein. Jackin und Ria dagegen schlürften nur noch schwach hinter ihm her. Es war wieder einige Zeit vergangen und die Sonne stand bereits hoch über ihnen, nur von den Wolken ab und an verdeckt.

Im Gegensatz zu den beiden war Aya munter, wie nie zuvor. Die lange Nacht, die sie Ohnmächtig gewesen war, hatte ihre Reserven wieder aufgetankt - egal, ob sie eine Nacht zuvor kein Auge zu bekommen hatte. Auch wenn sie müde gewesen wäre, ihre Entschlossenheit war stärker und trieb sie immer weiter an. Und nur aus dem Grund der Sorge liefen auch Jackin und Ria weiter.

Es vergingen weitere Stunden und noch immer war kein Ziel in Sicht. Außer Bäume und Himmel war nichts zu sehen, dass ihnen verkündet hätte, Shinri einen Schritt näher zu kommen. Doch Kurai meinte, sie kämen ihrem Ziel immer näher. Die Frage war nur, wie weit es bis dahin noch war. Näher kommen hieß noch lange nicht, dass sie gleich da sein würden.

Ria lief direkt neben Jackin. Sie hatte es nicht mehr zwischen den beiden jungen Männern ausgehalten und hatte sich zu ihrem Auserwählten gesellt. Mit einem erschlagenen Geschichtsausdruck hetzte sie den anderen beiden weiterhin hinterher. Jackin merkte, wie schwer es ihr fiel, mit ihnen mit zu halten und lächelte sie aufmunternd an. Er nahm ihre Hand und verschränkte seine mit ihren Fingern, denn er wusste, es würde ihr Kraft geben, weiter auszuhalten. Und tatsächlich sah sie danach glücklicher aus und lief mit einem munteren Blick weiter, Jackin die ganze Zeit festhaltend.

Auf einmal erschien Aya auf der anderen Seite von Jackin. “Und, könnt ihr noch?”, fragte sie und sah dabei beide an. Alle drei waren von der Reise verschwitzt und müde. “Passt schon und bei dir?”, meinte Jackin und Ria fühlte sich ausgeschlossen, da sie nicht zum Antworten kam.

“Ja, etwas müde, aber das schaffen wir bestimmt. Und du Ria?” Auf einmal erwachte ein leises Glücksgefühl in Ria, als Aya sie auf einmal mit ins Boot holte. Sie hatte das Gefühl, als wurde eine Brücke zwischen ihnen aufgebaut. Dankbar lächelte sie Aya an. Es war das erste Mal, dass sie Aya weder verachtete, noch auf ihr neidisch war. Wahrscheinlich wird das auch nie mehr der Fall sein.

“Danke, dass du mit uns nach Shinri suchst”, meinte Ria und sah Aya mit einem warmen Blick an. Bisher waren die beiden nicht wirklich miteinander ausgekommen, aber auch nur, wegen Jackin. Doch jetzt, nachdem Ria wusste, dass Aya ihr Jackin nicht wegnehmen wollte, musste sie auch nicht mehr grob ihr gegenüber werden. Der eigentliche Punkt, der sie aber dazu trieb, nicht mehr böse auf Aya zu sein, war Shinri. Dadurch, dass Aya sich für ihn einsetzte, wurde Ria erst bewusst, dass Aya Shinri wirklich mochte.

“Es tut mir leid, dass wir immer Streit hatten, Ria. Und es war auch dumm von mir, mich so falsch Shinri gegenüber zu verhalten”, begann Aya, aber Ria hob beschwichtigend die Hand. “Nein. Du hast dich Shinri gegenüber nur richtig verhalten. Zu ihm passt einfach kein liebes Mädchen, dass sich ihm einfach an den Hals wirft.”

Aya war auch Ria dankbar für ihre Worte. Sie berührten ihr Herz und brachten sie erneut dazu zu lächeln. Wenn sie Shinri befreit hatten, würde sie ihre Gefühle nie wieder leugnen. Das hatte er nicht verdient, denn er hatte für sie so viel aufgegeben und durchgestanden. Dieser Gedanke gab Aya erneute Kraft und sie folgte Kurai mit neuer Energie. Während Jackin und Ria Hände haltend hinter ihnen liefen, befand sich Aya direkt hinter dem ältesten unter ihnen. Hoffentlich kamen sie bald an.

Irgendwann, die Sonne stand noch immer am Himmel, begann aber schon langsam der Erde entgegen zu sinken, erreichten sie eine kleine Höhle. Jackin wusste sofort, wo sie waren. Nicht weit von hier befanden sich die Heißen Quellen. Es war die selbe Höhle, in der sie vor dem Unwetter Schutz gesucht hatten. Hier lag also ihr Ziel. Kurai blieb direkt vor dem Eingang stehen. Ria und Jackin ließen sich ermüdet auf dem harten Steinboden in der Höhle fallen, während Aya weiterhin neben Kurai stand. Sie waren alle atemlos und müde, doch Aya wollte am liebsten weiter, um so schnell wie möglich Shinri zu erreichen.

“Haben wir es geschafft? Sind wir hier richtig?”, fragte Jackin und schnaufte leicht. Ria kuschelte sich an ihn und blickte ebenfalls zu Kurai empor, der einzige, der den Weg kannte.

Kurai aber raubte ihnen ihre Hoffnung, auf eine kurze Reise. Mit ernster Miene erklärte er ihnen: “Wir sind richtig und haben es fürs erste, aber wir haben noch einen sehr langen Weg vor uns. Tief in der Höhle befindet sich das Portal, das uns zu den anderen Zomas bringt.

“Hab ich richtig gehört. Portal?” Aya sah ihn skeptisch an. Es klang ungewöhnlich, aber andererseits waren die Zomas selbst auch sehr unreal. Daher akzeptierte sie die Erklärung des älteren sofort. “Ja. Das Portal bringt und an einen anderen Ort, verborgen vor den Menschen. Dort verstecken sich die meisten Zomas. Mein eigenes Zuhause befindet sich ebenfalls dort. Eigentlich haben Menschen keinen Zutritt in diese Welt - laut Rashid, unserem Oberhaupt - aber das ist in dem Fall egal.”

“Ja, die Gesetzte haben wir sowieso schon gebrochen”, meinte Ria ihrerseits. “Gehen wir dann weiter? Oder können wir uns noch ausruhen?”

Aya wurde nervös bei dem Gedanken, hier und jetzt zu schlafen. Sie wollte zu Shinri. Ihre Seele rief nach ihm und sie würde wohl keine Ruhe finden, bevor sie ihn nicht bei sich wusste. Andererseits konnten sie Shinri schlecht zurück holen, wenn sie ausgelaugt und müde eintrafen.

“Schlaft. Noch haben wir etwas Zeit. Ich werde euch zeitig wecken.” Kurai klang bestimmend und Aya stellet sich nicht dagegen. Kurai wusste besser, als jeder andere, was auf sie wartete und wie viel Zeit sie noch hatten. Ria legte sich nieder auf den kalten Stein und bettete ihren Kopf auf Jackins Bein. Sie wollte den Kontakt zu ihm nicht verlieren. Mit ihm an seiner Seite könnte sie wohl überall einschlafen.

Aya nahm auf der gegenüberliegenden Wand Platz und lehnte sich an das kalte Gestein. Sie war müde, aber viel zu nervös um die Augen zu schließen. Jackin und Ria schienen schon zu schlafen. Sie atmeten beruhigend ein und aus und hatten die Augen fest geschlossen. Kurai stand noch immer am Höhleneingang und blickte in den Wald hinein. Die Sonne versank am Horizont bereits und verkündete das Ende dieses Tages. Doch noch immer konnte Aya nicht schlafen. Ihr Herz schlug vor Besorgnis schneller und sie wollte am liebsten sofort weiter gehen.

Als die Nacht hereinbrach, wand Kurai sich endlich der Höhle zu und betrat sie. Er bemerket sofort Ayas Augen, die ihn folgten. “Du solltest schlafen. Für die Reise, die noch vor uns liegt, wirst du einiges an Kraft brauchen.”

“Das weiß ich doch auch, aber ich kann nicht schlafen. Shinri ist irgendwo dort draußen. Ich …” Es brauchte nicht mehr Wörter, um Kurai begreiflich zu machen, was sie meinte. Obwohl er kaltherzig wirkte und seine Augen sie diabolisch ansahen, so schien er doch kein so schlechter Zoma zu sein, wie vielleicht erwartet. Er setzte sich direkt neben sie und sie spürte eine beruhigende Wärme von ihm ausgehen. “Lehn ich an mich an und schließe die Augen. Ich werde dir helfen, den Schlaf zu finden”, bot er ihr an.

Aya lehnte sich an der breiten Schulter des Zomas an, schloss aber nicht die Augen. Sie wollte noch nicht schlafen. Es brannten so viele Fragen in ihr, über das, was vor ihnen lag. Zu ihrer Verblüffung, war es Kurai, der ein Gespräch begann und sie dadurch vom Schlaf abhielt.

“Bereust du es, uns Zomas kennen gelernt zu haben?”

Aya sah betrübt auf den Steinboden zu ihren Füßen. Wenn sie Shinri nie kennen gelernt hätte, dann würde sie noch immer in ihrem ruhigen Leben stecken und nicht einmal ahnen, dass so etwas verrücktes auf sie wartete. Der Gedanke war verführerisch, wenn man bedachte, dass sie ihr Leben gerade aufs Spiel setzte. Doch sie bereute es nicht.

“Nein. Ich bereue es nicht. Vielleicht war der Start mit Shinri nicht gerade super und vielleicht habe ich ihn auch viel zu oft beleidigt und geschimpft. Ich war wirklich verärgert über ihn, aber in Wirklichkeit hatte ich ihn von Anfang an gemocht. Ohne ihn, wäre mir einiges entgangen und ich bin ihm dankbar dafür, dass er mich gefunden hat.” Sie lächelte leicht. “Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, dann würde ich nur eines anders machen. Ich würde ihn nicht versuchen zu vergraulen.”

Kurai lächelte und in seinen goldenen Augen lag Dankbarkeit. Anscheinend hatte Aya genau das richtige gesagt, die Wahrheit.

Da er wieder zu Schweigen begann, begann Aya ihrerseits ein Gespräch. “Was ist eigentlich im Wald passiert. Ich kann mich an diesen Jungen erinnern. Er sah Shinri verdammt ähnlich. Wer war das?” Sie hatte bisher noch keine Zeit gehabt, dies zu fragen, aber sie wollte es zu gerne wissen. Da sie nicht bei Bewusst sein war, hatte sie einiges verpasst. Kurai erzählte ihr alles. Davon, wie Shinri aufgetaucht war und sich geopfert hatte und erklärte ihr auch, dass der Feind Taiyo-Yoru hieß und Shinris kleiner Bruder war, der Blutlinie der Schlange.

Je mehr Aya mit ihm sprach, desto mehr hatte sie den Anschein, dass er überhaupt nicht so kalt war, wie er wirkte. Und als sie diese Frage endlich beantwortet hatte, drängte ihr eine weitere auf, die nichts mit Shinri zu tun hatte. Eine, die sie persönlich an Kurai stellte. “Was ist eigentlich mit deiner Auserwählten?”

“Ich … suche sie”, antwortete Kurai. In dem Moment wurde Aya klar, dass sie, während Kurai ihr half einzuschlafen, ihm auch etwas gutes Tat. Sie beschenkte ihn mit ihrer Nähe. Denn auch kleine Berührungen wie diese waren für Zomas wie ein kleines Geschenk.

“Wie alt bist du? Älter, als 19, nehme ich an?”

“22 Jahre”, antwortete Kurai knapp.

“Aber das heißt, dass du doch eigentlich wissen musst, wo deine Auserwählte ist. Wieso findest du sie nicht? Was hält dich auf? Du möchtest sie doch finden, hoffe ich.” Ayas rehbraune Augen waren nun auf ihn gerichtet, ohne dabei den Kontakt zu ihm zu verlieren.

Kurai nickte zustimmend. “Ich möchte sie finden. Rashid - unser Oberhaupt - lässt aber nach mir suchen. Wenn ich meine Auserwählte finde, wird er sie mir wohl wegnehmen.”

“Wieso sollte er?” Aya war lauter geworden, als gedacht. Schnell sah sie zu Jackin und Ria hinüber, aber beide schliefen noch immer noch. Dann wiederholte sie ihre Frage leiser und sah wieder zu Kurai hoch.

In den Augen des Zomas war zu lesen, dass er die Frage nur ungern beantworten wollte. Zuerst glaubte Aya sogar, er würde ihr nie antworten, als er dann doch sprach. “Ich habe noch vor meinem 19. Geburtstag einen schweren Fehler begannen. Ich habe versucht, Rashid umzubringen. Mein Versuch misslang und seitdem vertraut er mir nicht mehr. Er wollte mit mir sprechen, aber ich bin von Zuhause abgehauen und seitdem sucht er mich.” Aya schwieg eine Weile und sah Kurai mit stillem Mitgefühl an.

“Schlaf jetzt endlich. Wir können ein andermal weiter reden. Ruh dich aus.” Und Aya tat, was er sagte. Sie schloss die Augen und fiel kurz darauf in einen unruhigen Schlaf.

Kapitel 20

Die Nacht war grausam für Aya und auch Kurai konnte ihr die unruhigen Träume nicht nehmen. Sie träumte von Shinri und es quälte sie zutiefst. Die Dunkelheit, die sie umgab, schien sie verschlucken zu wollen. Und immer wieder sah sie inmitten diesem schwarzen Nichts Shinri, gefesselt und alleine. Schmerz lag in seinen Augen. Nicht der Schmerz von Schlägen und schwerer Folter, sondern die Einsamkeit.

Shinri wollte seine Hände nach Aya ausstrecken, doch die Ketten an seinen Armen hielten ihn auf. Er konnte nicht entkommen und Aya konnte ihm nicht helfen. Sie konnte ihm nur zusehen, wie es ihm schlecht ging und ihr Herz zog sich immer mehr zusammen.

Irgendwann verschwand Shinri. Es blieb ein großer, unheimlicher Schatten zurück. Sie wusste, dass er es war. Sie fühlte es. Der Schatten wirkte bedrohlich und flößte ihr Angst ein, sie wollte weg, ganz weit weg und in Sicherheit. Doch sie konnte Shinri nicht einfach zurück lassen! Als die Ketten verschwanden, stürzte sich das unbekannte Wesen auf sie. Genau in diesem beängstigenden Moment erwachte Aya aus ihrem Traum.

Schweißgebadet saß Aya in der Höhle, schwer um Atem ringend. Einige Momente verstrichen, in denen sie ihr Herz beruhigen musste. Es war nur ein böser Traum gewesen, versuchte sie sich weis zu machen. Doch es gelang ihr nicht ganz. Was, wenn es eine Vision war? Vielleicht kämpfte Shinri in diesem Moment wirklich mit diesem Schmerz der Einsamkeit?

Schnell schüttelte sie die Qualen des Albtraumes beiseite. Ihr Blick glitt über ihre Begleiter. Kurai war nicht mehr hier. Ihr Gegenüber war nur Ria wach, während Jackin neben ihr saß und schlief.

Die Blicke der beiden Mädchen trafen sich. “Guten Morgen, Aya. Hast du schlecht geschlafen?”, fragte Ria besorgt nach und setzte sich auf. Für einen kurzen Augenblick musterte sie Jackin mit einem liebevollen Blick, bevor sie sich wieder ganz an Aya wandte. “Du hast im Schlaf vor dich hin gemurmelt und sahst gequält aus. Was hast du geträumt?”

Aya wusste nicht so recht, ob sie ihr alles anvertrauen sollte. Aber nachdem die Zomas ihr größtes Geheimnis Preis gegeben haben, dass ihnen wirklich viel bedeutete, konnte sie ihnen gegenüber das gleiche Vertrauen entgegenbringen. Sie erzählte von ihrem Traum. Von Shinri und der Dunkelheit. Von dem finsteren Schatten und auch von ihren eigenen Vermutungen, dass es ihm vielleicht wirklich in diesem Moment so erging. Ria sah noch besorgt aus, als sie davon erfuhr. Also hatte Aya sich nicht umsonst Gedanken darum gemacht.

“Shinri hat dir das bestimmt nicht absichtlich zukommen lassen. Entweder, es war ihm nicht bewusst und in seinen Qualen wurden dir diese Bilder geschickt, oder Taiyo-Yoru hat dabei seine Finger im Spiel. Ich glaube, er möchte dich quälen”, erklärte Ria und dachte verbissen nach. Es schien sie zu ärgern, dass Aya diese Bilder zubekommen hatte. Wahrscheinlich rechnete sie mit dem Letzteren. Aya war es egal. Sie wollte Shinri retten und der Schatten war fast schon vergessen.

„Mach dir erst mal keine weiteren Sorgen darum. Wir reden einfach mit Kurai, sobald er wieder hier ist. Er wird mehr darüber wissen, okay?“, schlug Ria vor und lächelte Aya aufmunternd zu. Nachdem das Problem mit Jackin zwischen den beiden Mädchen geklärt war, kamen sie viel besser miteinander zurecht und je mehr Aya von Ria wusste, desto mehr mochte sie das blonde Mädchen.

Kurz darauf erwachte Jackin aus seinem Schlaf. Er gähnte herzhaft und wünschte den beiden Mädchen einen guten Morgen. Ihm entging nicht, dass den beiden etwas Sorge bereitete, doch bevor er nachfragen konnte, kam Kurai wieder in die Höhle. „Wir müssen aufbrechen. Es ist schon Morgen.“ Die Sonne schien in die Höhle und erwärmte das Innere kaum merklich. Alle standen auf und folgten ihm in die Dunkelheit der Höhle. Aya hatte etwas Angst. Die Gänge wirkten fast schon erdrückend. Das einzige Licht, dass sie hatten, war eine Taschenlampe, die Kurai sich von Lucio ausgeliehen hatte, als die anderen mit dem Packen des Proviants zu tun hatten.

Auf dem Weg durch die unzähligen Tunneln begannen sie etwas zu essen. Es war besser, keine Zeit zu vertrödeln, also erzählte Ria Kurai auch erst dann von Ayas Alptraum, als sie bereits inmitten der Höhle waren. Auch Jackin hörte ihnen zu und ihm verging der Appetit. Wäre es nicht so dunkel gewesen, hätte Aya die selbe Sorge wie bei Ria in seinen Augen gelesen.

Kurai hörte ihnen wortlos zu und zeigte keine Regung, während er vor ihnen durch die Höhle schritt und sie unzählige Gänge entlang führte. Er nahm sich etwas Zeit, um darüber nachzudenken, bevor er ihnen seine eigenen Gedanken mitteilte.

“Ich glaube, es war Taiyo-Yoru, der dir diese Bilder geschickt hatte. Er möchte dich quälen. Er hasst Shinri und dich, denn du bist seine Auserwählte. Aus diesem Grund möchte er, dass du ihn suchst, dass du zu ihm kommst. Aber der Schatten, der sich auf dich gestürzt hat, muss von Shinri aus gekommen sein. Das schlimmste für einen Zoma ist es, zu wissen, dass seine Auserwählte in Gefahr ist. Shinri ist gefährlich. Er verliert bereits seine Kontrolle und er möchte, dass du fern von ihm und Taiyo-Yoru bleibst. Ihm ist egal, was mit ihm passiert, solang du in Sicherheit bist. Möchtest du immer noch dorthin, obwohl Shinri dich fortschickt?”

Kurai sah Aya abwartend an. Doch ihm war klar, dass eine Auserwählte seinen Partner nie im Stich ließ. Egal, wie gruselig dieses Wesen Aya gegenüber gewesen sein muss, sie hielt fest an ihrer Entscheidung. “Ja! Auf jeden Fall! Ich kann ihm doch nicht einfach im Stich lassen!”

Ria konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Sie freute sich, dass Shinri solch eine Freundin gefunden hatte. Egal, wie widerspenstig Aya die Tage gewesen war, sie mochte Shinri wahrhaftig. Sie würde für ihn durch die Hölle gehen. Der Ort, den sie bald erreichen würde, wahr gefährlich. Ria wusste, für die Sicherheit der Familie und aller Auserwählten, würde sie bis zum Ende an Ayas Seite bleiben.

Wieder einmal legte sich die Stille um sie. Ihr Weg führte sie immer tiefer in den Berg hinein und an einer Vielzahl an Tunneln vorbei. Egal wie alles verschlingend die Dunkelheit um sie herum auch sein mag, die Gruppe lief dennoch zielstrebig weiter. Das Licht der Lampe leuchtete ihnen den Weg zu ihren Füßen und Ria war auch noch hier. Mit ihren Augen konnte sie durch die durchringende Finsternis sehen.

Kalte Wände. Es tropfte von der Decke. Aya hatte es langsam satt. Sie wollte das Ziel erreichen, ihr war aber nicht nach fragen zumute. Es war so still, dass sie nur ungern diese Stille durchbrochen hätte. In einem beklemmten Schweigen folgte sie den anderen, machte sich aber ihre eigenen, verzwickten Gedanken. Sie stellte sich vor, wann und wo sie nach diesen endlosen Gängen ankommen würden. Ohne Kurai hätte sie bereits ihre Orientierung verloren. Sie verließ sich ganz auf ihn und war dankbar, ihn an ihrer Seite zu wissen.

Den anderen schien es genauso zu gehen, denn nur Kurai wusste, wie sie auf die andere Seite gelangten. Ihr wäre es lieber gewesen, wenn sie über den Berg geklettert wären. Was sollte denn anders auf sie warten, als ein Wald? Der gleiche Wald, den sie hinter sich gelassen hatten? Vielleicht war es schneller, gleich quer durch zu marschieren, aber eigentlich bevorzugte sie die Freiheit unter dem blauen Himmelszelt, als hier durch die engen, düsteren Räume zu marschieren. Sie fühlte sich erdrückt und konnte die gesamte Last der Steine über sich spüren. Doch sie gab nicht zu, wie viel Panik sie hatte. Sie nahm das alles auf sich, nur um Shinri zu retten.

Die dunklen Gänge schienen kein Ende nehmen zu wollen. Aya war schlapp. Eigentlich hatte sie gehofft, dass sie sich nicht so früh wieder müde fühlte, aber sie konnte nichts dagegen machen. Sie liefen bereits einige Stunden lang und es kam ihr vor, wie eine Ewigkeit. Da sie sich im Inneren des Berges befand, wusste sie nicht, ob bereits wieder die Nacht einbrach, oder es noch immer helllichter Tag war. Sie konnte nur Vermutungen anstellen, was die Uhrzeit betraf. Denn niemand ihrer Mitreisenden trug eine Uhr mit sich.

“Der Weg ist nicht mehr weit, dann erreichen wir unsere Welt”, erklärte Kurai. Seine Stimme durchbrach das Schweigen und hallte an den Wänden wieder. “Ich muss euch aber bitten, euch nicht zu auffällig zu benehmen. Auf unserer Welt gibt es keine Menschen. Sollte euch jemand erkennen, könnte es sein, dass man euch ausliefert bei unserem Oberhaupt, oder euch gleich tötet. Also verlasst die Gruppe nicht, habt ihr verstanden?” Aya bekam bei seinen Worten eine Gänsehaut. Tod? Irgendwie schienen die Zomas keine andere Drohung zu kennen, als den Tod.

“Was genau erwartet uns eigentlich auf der anderen Seite?”, fragte Jackin nach. Er lief wieder als Letzter und als er sprach, hallte seine Stimme ebenfalls an den Wänden wieder.

“Ich kann es euch nicht genau beschreiben. Lasst euch überraschen und passt auf euch auf.” Eine schlechte Erklärung, wenn man bedachte, dass man ihnen immer wieder einbläute, es wäre sehr gefährlich auf der anderen Seite.

“Und was ist, wenn wir doch auf Zomas stoßen?”, wollte Aya ihrerseits wissen, die sich die Situation bereits ausmalte. Mehrere dieser geheimnisvoll erscheinenden Männer, die sie mit Waffen bedrohten und ihnen am liebsten den Kopf abgeschlagen hätten, nur um sie los zu werden. Bei diesem Gedanken musste sie schwer schlucken.

“Bleibt einfach in meiner Nähe und ich werde auf euch aufpassen. Zomas sind nicht anders zu bekämpfen, als Menschen oder Tiere. Wir können nicht zaubern, außer die wenigen, die das Blut der drei stärksten Tiere in sich haben.”

“Shinri kann zaubern?” Aya hatte nicht vergessen, dass Warashi der Adler und damit einer der stärksten war. Shinri war ein Adler. Aber Zaubern? Sie versuchte sich vorzustellen, wie Shinri Feuer und Blitze auf seine Gegner schleuderte, aber es gelang ihr nicht recht. Der Gedanke beängstigte sie mehr, als dass sie mut sammelte.

Diesmal meldete sich Ria zu Wort, um ihre Frage zu beantworten. “Zaubern ist vielleicht das schlechte Wort. Viel mehr hat Shinri einige Fähigkeiten weitaus besser ausgefeilt. Er ist stärker und schneller, als jeder von uns und er beherrscht den Wind - wenn auch nur minimal, da er noch sehr jung ist.”

Erstaunt starrte Aya Ria an. Sie war stehen geblieben und bemerkte erst ein kleines bisschen später, dass Kurai ohne sie weiter ging. Eilig holte er ihn auf und wand sich dann wieder an Ria. “Okay. Wenn das so ist … dann versteh ich einiges.” Zum Beispiel den Sturz im Klassenzimmer an ihrem ersten Tag kurz nach dem ersten Streit mit Ria und auch, weshalb Shinri die geschlossene Tür aufmachen konnte. “Und … du sagtest, noch jung. Wie alt werdet ihr eigentlich normalerweise?”

Ria zuckte die Schulter und an ihrer Stelle antwortete Kurai auf diese Frage. “Wenn wir in eurer Welt leben, dann höchstens so alt, wie ihr auch. Aber in unserer Welt altern wir nur halb so schnell.”

Wieder blieb Aya stehen und starrte Kurai ungläubig an. Ria und Jackin schoben sie sanft weiter und ihre Starre löste sich damit. “Das ist unglaublich”, flüsterte sie und versuchte das zu verstehen. Aber sie hatte es mit Flüchen und ähnlichen unmöglichen Sachen zu tun, wieso dann nicht auch das?

Den Rest der Reise schwiegen sie dann wieder und erst das Licht, das am Ende des Tunnels auf sie wartete, ließ sie aus ihren Gedanken schrecken. Aya freute sich, doch behielt sie Kurais Tempo bei. Schon bald standen sie draußen in der Freiheit. Der Wind fegte durch ihr Haar, während sie hinaus traten. Schon bald blieben alle drei stehen und staunten. Es sah ganz anders aus, als gedacht. Wenn sie geglaubt hatten, in dem Wald von vorhin wieder zu erscheinen, lagen sie falsch.

Das Gestein zu ihren Füßen war nicht trocken, kalt und grau sondern braun und erdig. Vor ihnen breitete sich die Natur aus, nicht als Wald, sondern viel mehr als Dschungel. Er schien viele Gefahren zu bergen. Die Pflanzen und Bäume waren so unterschiedlich, dass Aya nicht wusste, wohin sie als erstes gucken sollte.

Bevor Aya aber die Natur aus der Nähe betrachten konnte, hielt Kurai sie auf. Er legte seine Hand auf ihre Schulter und meinte: “Passt auf euch auf. Der Wald birgt große Gefahren.” Wie immer wurden sie vorgewagt und mit größerer Vorsicht folgten sie Kurai, der sie abseits des Weges durch den Dschungel brachte.

Sie durchquerten den Dschungel und Ayas Blick wanderte interessiert von einer Seite zur anderen. Arten von Pflanzen, die sie noch nie zu Gesicht bekommen hatte, wuchsen hier. Die Bäume waren groß, knorrig und hatten eigenartig graue Blätter. Das Gestrüpp, durch dass sie sich hindurchkämpfen mussten, ging ihnen bis zu den Knien und schien recht eigensinnig zu sein. Es verfing sich immer wieder an den Kleidungen der Vorbeigehenden und wollte sie daran hindern, weiter zu marschieren.

Eine eigenartige Welt, meinte Aya. Es fröstelte sie etwas, denn der Wald machte ihr Angst. Er war düster und unheimlich, obwohl über ihnen die Sonne schien. Bei dem Gedanken, welche Tiere im Dickicht lauerten, lief sie zügig weiter. Sie dankte Jackin und Ria dafür, dass sie nicht das Schlusslicht bilden musste. Jackin hatte sich wieder einmal freiwillig dazu bereit erklärt.

“Wohin gehen wir jetzt? Wo befindet sich Shinri?”, wollte Jackin wissen, der direkt hinter Ria lief. Er spähte immer wieder hinter sich, um auch sicher zu sein, nicht verfolgt zu werden. Kurai zuckte mit den Schultern. “Ich nehme an, wir werden zuerst das Anwesen von Shinris Familie besuchen.” Er klang überzeugend, obwohl er es nicht wusste und nur vermutete. “Und wenn wir nah genug an Shinri dran sind, wird Aya von selbst wissen, wo genau er sich befindet.”

Aya stimmte dem mit einem kurzen Nicken zu. Auf einmal bemerkte sie, dass sie Shinris Anwesenheit ganz leicht spüren konnte. Es war wie ein leichter Hauch und das erleichterte ihr das Herz. Sie wusste, er war hier und je näher sie kommen würden, desto sicher wäre sie sich dem.

Mit einem Gedankenversunkenen Blick spähte sie vor sich hin und merkte so auch nicht, dass sich der Schauplatz langsam wechselte. Zu ihren Seiten sprossen eigenartige Pflanzen, die fast die gleiche Größe hatten, wie sie selbst. Die großen roten Blütenblätter waren mit weißen Punkten verziert und sie sah äußerst hübsch aus.

Auf einmal blieb Aya stehen und fand sich von einem Duft umringt wieder. Sie hatte Kurais Warnung zuvor nicht wahr genommen und besichtigte eine der Blumen interessiert. Die Blätter bewegten sich, fast als würde sie Atmen und der betörende Duft drang immer heftiger zu ihr hindurch. Ria sprach auf Aya ein und versuchte, sie von der Blume wegzuzerren, während Jackin Kurai zurief. Aber Aya war viel zu berauscht von dem Duft und der Schönheit, als dass sie auf die anderen hörte. Sie verstand nicht einmal, was sie sagten.

Kurai stürzte auf sie zu, als auf einmal die Blume nach Aya schnappte. Die Blütenblätter schlossen sich blitzschnell und erwischten Ayas ganzen Oberkörper. Erst jetzt bekam sie mit, was sich hier abgespielte und zappelte wild umher. Doch all das Wehren half nichts, denn die Blume begann, sie langsam in sich hinein zu saugen, um sie dann zu verspeisen.

Ria und Jackin packten beide Ayas Beine, um sie heraus zu zerren. Mit aller Kraft zogen sie an ihr, aber die Pflanze gab nicht nach. Sofort griff Kurai ein. So schnell wie nur möglich stürzte er auf die Blume zu. Seine Hand verformte sich zu einer Hundepfote und die Krallen schlugen in die roten, fiesen Blüten. Blut rann daran herunter. Kurai schlug weiter auf das Mistvieh ein, bis dieses Aya endlich ausspuckte und sich wehleidig krümmte.

Aya landete im hohen Gras. Jackin bot ihr seine Hand an und half ihr hinauf, während Kurai sie anknurrte: “Du solltest doch auf dich aufpassen! Das nächste Mal rette ich dich nicht!” Natürlich meinte er es nicht so, wie er es sagte, aber Aya verstand, weswegen er böse war. Ria musterte Aya von Kopf bis Fuß und nickte zufrieden, als sie feststellte, dass Aya nur voller Speichel war, aber keine Verletzung aufwies. Schnell folgten sie Kurai wieder und Aya bedankte sich bei ihm.

Jackin, der das erste mal zugesehen hatte, wie sich ein Zoma verwandelte, staunte still für sich. Ohne diese Fähigkeit hätten sie Aya nur schwer wieder herausbringen können, denn niemand trug eine scharfe Waffe mit sich.

Zu gerne hätte Aya sich den ganzen Speicheln, den das fleischfressende Vieh hinterlassen hatte, abgewaschen. Es fand sich aber kein geeignetes Wasser in der Nähe und sie wusste auch nicht, ob dieses nicht auch Gefahren beherbergen würde. Zudem wollte sie nichts mehr ohne Kurais Zustimmung machen, bis sie in Sicherheit waren.

“Wir wurden nicht umsonst gewarnt, Aya. Überall lauern Gefahren. Die noch so harmlos aussehenden Sachen können dir schädlich sein, oder dich sogar töten. Also bleib bei uns und halte die Augen offen”, bat Ria das Mädchen, das vor ihr lief. Sie hielt aber einen gewissen Abstand, um nicht Bekanntschaft mit dem Speichel machen zu müssen. Aya konnte ihr es auch nicht verdenken. Es war widerlich. Aber sie schwieg und nickte ihr zu. Ja, ab jetzt würde sie um einiges mehr aufpassen.

Auf ihrem Weg begegnete ihnen noch einige interessant aussehende Art von Pflanzen und Tieren, aber Aya nahm einen Sicherheitsabstand zu jedem von diesen ein, um nicht wieder angegriffen zu werden. Sie spürte, wie die Augen des Waldes auf ihr ruhten, als wolle sich alles gegen sie verschwören.

Ohne Pause lief Kurai weiter und ließ sich nicht von seinem Weg abbringen. Ihre Reise schien genauso lang anzudauern, wie die durch den Wald. Schon bald taten ihnen die Füße weh und über ihnen brach die Nacht heran. Da fiel Aya eine interessante Frage zu den Zeiten ein, doch sie wollte die Stille zwischen ihnen nicht brechen.

Über ihnen leuchteten die Sterne ihnen den Weg. Der Wald sah bei Nacht noch viel bedrohlicher aus, als bei Tag, wenn man davon absah, dass die Dunkelheit das meiste verschlang.

Plötzlich erhellte etwas neben Aya den Weg. Sie sah auf und erkannte ein kleines Licht, dass neben ihr her flog. Nein, es waren keine Glühwürmchen. Sie sahen aus wie Schmetterlinge, nur doppelt so groß, wie bei ihnen Zuhause. Ihr Flügelkleid glitzerte und leuchtete in wunderschönen Farben. Es wurden immer mehr und schienen ihnen einen Weg leuchten wollen. Zwischen den Bäumen hindurch konnte sie einen See sehen, über dessen schwarze Oberfläche unzählige dieser Schmetterlinge flogen.

Aya lief nur ungern daran vorbei. Der See sah fabelhaft aus und sie hätte zu gerne noch länger den kleinen Tierchen zugesehen, aber sie wollte nicht wieder in eine gefährliche Situation hineingeraten und eilte schnell hinter den anderen her, mit dem Wissen, dass Ria und Jackin ihr ebenfalls folgten.

Wohin Kurai wollte, wussten keiner von ihnen. Es musste aber bereits spät in der Nacht sein, als Kurai sein Tempo abbremste und langsamer wurde. Sein Blick glitt immer öfters durch das düstere Dickicht, als suche er etwas. Seine Begleiter folgten ihm nur schweigend, aber auch sehr müde. Und genau deswegen wollte er einen geeigneten Schlafplatz finden. Hier in der Wildnis seiner Welt war es äußerst gefährlich und es gab nur wenige Tiere, in dessen Gegenwart man sich in Sicherheit wissen konnte.

Leise eilte er durch das hohe Gras und blickte immer wieder zurück, um seine Gruppe nicht zu verlieren. Es war gut zu wissen, dass sie ihm immer noch folgten.

Erst in einer der spätesten Stunden der Nacht, blieb er stehen. Er betrat, dicht gefolgt von den anderen, eine Lichtung und sie fanden sich von wilden Wölfen umzingelt wieder.

Wie es dazu kam, dass sie wieder einmal in Gefahr steckten, wusste Aya nicht mehr. Nur eines war ihr klar, die scharfen Reiszähne der schwarz-grauen Wölfe sahen wirklich bedrohlich aus. Da war es ihr auch gleich egal, wie sie in die Situation kommen, denn sie wollte nur noch sicher wieder heraus.

Mit vorsichtigen Schritten fand sich die Gruppe zusammen. Ihre Blicke schossen von einem Wolf zum nächsten, als warteten sie nur darauf, dass einer von ihnen den Angriff startete. Jackin nahm einen starken Ast zur Hand, um die anderen vor den Wölfen schützen zu können, während er wartend um sich sah. Die Wölfe knurrten bedrohlich, schienen aber nicht wirklich an einen Angriff zu denken.

Kurai sah einen Wolf nach den anderen an. Er suchte einen bestimmten, aber dieser schien nicht mehr hier zu sein. Er spürte, dass die Wölfe unschlüssig waren. Sie überprüften die Lage und schwankten, zwischen Feind oder Freund. Sie erkannten Kurai nicht, spürten aber seine starke Anwesenheit.

Ein Knurren drang tief aus Kurais Kehle und hörte sich genauso gefährlich an, wie die der Wölfe. Aya und die anderen sahen ihn verwirrt an, denn es klang, als kommuniziere er mit den Tieren. Er ignorierte aber ihre Blicke und konzentrierte sich auf das Rudel, das sie umkreist hielt. Ein erneutes Knurren von seiner Seiten aus, veranlasste die Wölfe leiser zu werden. Einige von ihnen sahen die Wölfe neben ihnen fragend an. Die Unschlüssigkeit stieg.

Aya wusste nicht, was hier vor sich ging, aber sie war glücklich, dass Kurai bei ihnen war. Er schien der Einzige zu sein, der zwischen den Wölfen und ihrer Gruppe stand und sie von einem Angriff abhielten.

Auf einmal teilte sich der Rudel und einer ihrer Kollegen lief an ihnen vorbei. Er war um einiges größer, als seine Begleiter und sein Fell war schwarz wie die Nacht. Eine breite Narbe zeigte sich auf seinem Hals. Er schien bereits einmal knapp dem Tod entronnen zu sein. Als er seine Zähne fletschte, um ein gewaltiges Knurren aus seiner Kehle freien Lauf zu lassen, wirkte er äußerst bedrohlich und Aya zuckte zusammen. Die Reiszähne waren größer und gefährlicher, als die der anderen Wölfe. Die Vorstellung, er würde sich auf Aya stürzten, ließ dem Mädchen das Blut in den Adern gefrieren. Aber die goldenen Augen des Tieres wiesen Ruhe auf. Obwohl er wild knurrte, zeigte er keine Anzeichen dafür, dass er die Gruppe gerne zum Mittagessen verspeisen würde. Dennoch, Aya bekam es mächtig mit der Angst zu tun.

Kurai ignorierte die Wölfe auf der einen Seite und wand sich an den Rudelführer. “Guten Abend, Kamaruh. Lange nicht gesehen. Es tut mir leid, dass ich so ungefragt in dein Revier eindringe. Ich bin unterwegs mit meinen Freunden und suche Unterschlupf für die Nacht.” Kamaruh knurrte unvermittelt. Mit einem Satz sprang er auf und landete direkt vor Kurai. Der Mann blieb ungerührt stehen und seine Augen folgten den geschmeidigen Bewegungen des Wolfes, der sich hin und her bewegte und dann die Gruppe umkreiste, um jeden einzelnen in Augenschein zu nehmen.

Aya stockte der Atem, als er sie musterte. Sie versuchte sich aber möglich wenig zu bewegen und wartete mit rasendem Herzen.

Nach dieser Runde stand Kamaruh wieder vor Kurai und ihre goldenen Augen trafen sich. Mit einem leisen Knurren wand er sich dann um. Unerwartet dessen was dann geschah, starrte Aya verwirrt drein. Der Rudelführer jaulte laut auf und kurz darauf stimmten seine Begleiter mit ein. “Folgt mir und seit ruhig”, meinte Kurai, bevor er dem davoneilenden Rudel folgte. Aya tauschte einen kurzen Blick mit den anderen beiden, die noch bei ihr standen. Kurz darauf zuckte sie mit der Schulter. Wenn er sagte, man solle ihm folgen, würde sie das auch tun. Schließlich vertraute sie ihm. Also liefen sie alle vier den Wölfen hinterher, die auf ein ihnen noch unbekanntes Ziel zumarschierten.

Hoffentlich lauerte dort nicht wieder eine Gefahr, bat Aya, während sie sich fragte, warum Kurai Kamaruh verstand. Ihr fiel dann aber wieder ein, dass Kurai ein Zoma war. Vielleicht hatte er einen Wolf als seinen Schutzbefohlenen? Hieß es dann aber auch gleich, dass man die Sprache dieser Tiere sprechen konnte? Sie hob sich diese Frage für später auf.
 

Die Dunkelheit in dem Raum war kaum auszuhalten. Sie spiegelte Shinris Einsamkeit in seinem Herzen wieder. Es quälte ihn, ohne Aya zu sein. Sein Herz brannte vor Sehnsucht, denn ihm fehlte ein Stück. Ihm fehlte Aya.

Er spähte in die Finsternis, die ihn umgab. Er wusste weder, ob Tag, noch ob Nacht war. Jegliches Zeitgefühl ging ihm bereits verloren. Doch er hatte schwerwiegendere Probleme. Taiyo-Yoru. Sein Bruder hielt die Fäden in der Hand und versuchte Aya hier her zu locken. Er hoffte nur, dass es ihm nicht gelang. Er hatte sich geopfert, um sie zu retten, weswegen er darum betete, dass die Zomas klug genug waren, von hier fern zu bleiben.

Ohne Aya, dass wusste er, würde er der ewigen Einsamkeit anheim fallen. Ihm war auch klar, dass seine Auserwählte sich in diesem Moment genauso einsam fühlen musste, wie er. Doch sie musste überleben. Er könnte sich nie mit dem Gedanken vertragen, dass sie wegen ihm in die Hölle käme. Die Hölle der Qualen und der Folter. Sie war seine Auserwählte und er hatte sie gefunden. Das machte ihn auch zu ihrem ewigen Beschützer. Es war seine Aufgabe, auf sie aufzupassen und ihr ein glückliches Leben zu schenken. Jetzt hatte er sich für sie geopfert und sie sollte ohne ihn leben.

Dennoch. Es schmerzte. Auch, wenn ihre Sicherheit für ihn das wichtigste auf Erden war, so musste er zugeben, dass die Vorstellung, sie fände einen anderen, ihn ärgerte. Er wünschte sich, sie würde nur ihn lieben, für immer und ewig. Aber mit diesem egoistischen Gedanken sollte er sich lieber nicht befreunden. Solange sie in Sicherheit war, musste er genügsam sein. Da sein Leben sowieso bald nicht mehr das selbe sein würde, musste er sich auch keine unnötigen Hoffnungen machen. Er sah der Wahrheit ins Auge. Taiyo-Yoru würde bis zum Ende versuchen, Aya anzulocken, während Shinri hier versauerte und zu einem richtigen Monster mutierte, bis er seinen Verstand verlor und sich den anderen Tieren der Finsternis anschloss.

Er seufzte und zog einmal an den Ketten, die bei dieser Bewegung zu klirren begannen. Es war hoffnungslos. Egal, wie sehr er sich bemühte, er schaffte es nicht, hier heraus zu kommen. Es waren Ketten, die kein Zoma bezwingen konnte. Nur gutherzige Personen waren in der Lage, diese zu überwinden. Aber in diesem Schloss befand sich keine derartige Person. Sein Bruder war weder gutherzig, noch würde er mit dem Gedanken spielen, ihn zu befreien. Und sonst wusste niemand von dieser Gefangenschaft.

Niedergeschlagen lehnte er sich an die kühle Wand. Wenn wenigstens ein Fenster hier eingelassen wäre, dann könne er zumindest dem Himmel zusehen. Ihm war langweilig und er konnte sich nicht von seinen Schmerzen ablenken, die durch die fehlende Zuneigung eines Menschen entstanden. Es würde höchstens drei Tage dauern und sein Verstand wäre dem sicheren Untergang geweiht. Drei lange Tage. Aber wann waren diese vergangen?

Er schloss die Augen und widmete Aya seine Gedanken. Es fiel ihm nichts anderes ein, um sich zu beruhigen, deswegen begann er an Aya zu denken. An ihre erste Begegnung und jeden Moment mit ihr. Immer wieder wiederholten sich die Bilder in seinem Kopf, bis es fast schmerzte, sie nicht bei sich zu haben. Doch er wollte genau diesen Schmerz spüren, denn er zeigte ihm, wie wichtig Aya ihm war und wie sehr er sie vermisste. Hoffentlich kam sie nicht, denn er wollte, dass sie noch viele solcher wundervollen Momente erleben konnte und vielleicht an ihn dachte, wenn er nicht mehr da war. Wenn seine Seele nicht mehr hier weilte.

Kapitel 21

“Und, hast du dieses Mal besser geschlafen?”, wollte Jackin wissen und reichte Aya das Brot rüber. Sie waren bereits alle früh aufgewacht, beschützt durch das Rudel Wölfe. Ihre Nacht hatten sie auf einer kleinen Lichtung verbracht und Aya hatte sich irgendwie wohl gefühlt in der Nähe der Tiere.

“Ja, dieses Mal hatte ich keine Träume. Leider …”, seufzte Aya und biss in das trockene Brot. Jackin hob fragend die Augenbraue. “Leider?” Sie saßen alleine auf dem Platz. Ria und Kurai waren mit dem Rudelführer unterwegs. “Ja, wenn ich von Shinri träume, kann ich wenigstens hoffen, dass es ihm dem Traum entsprechend gut geht”, gestand Aya und seufzte erneut. Sie beobachtete ein paar Wölfe in dessen Rudelmitte sie saßen. Jackin verstand und nickte zustimmend.

Er bemerkte auch Ayas deprimierten Zustand. “Hey, Aya. Lass den Kopf nicht hängen. Wir finden ihn gewiss. Aber, darf ich dich etwas fragen?”

“Ja, klar. Nur zu”, kommentierte Aya und lächelte schwächlich. Sein Mutzuspruch war ja schön, aber noch konnte sie Shinri nicht in Sicherheit wissen. Immerhin schien die Verbindung stärker zu werden. Das war ein gutes Zeichen.

“Was wäre, wenn wir Shinri nun befreien und das Oberhaupt stürzen? Was wirst du danach tun?” Aya blickte auf. “Wie meinst du das?” Sie sah ihn abwartend an und er begann zu lächeln. Mit einer ausholenden Bewegung, die alles um sich einschließen sollte, erläuterte er: “Nehmen wir an, wir befreien Shinri. Er wird Oberhaupt. Wirst du dann mit ihm zusammenziehen, ihm deine Liebe gestehen? Oder versuchst du auf Abstand zu schalten, die Schule zu beenden und dann auf der Flucht vor ihm durch die Weltgeschichte zu reisen?” Sein leichtes Grinsen und seine Worte sagten alles. Und Aya begann darüber nachzudenken.

Sollten sie Shinri wirklich retten, würde er sich bestimmt nicht von ihr fernhalten. Aber das wollte sie auch nicht. Sie hatte gehofft, mit ihm zusammen leben zu könne, solang er das wollte.

“Tja, Jack. Ich werde ja wohl nicht umsonst hierher kommen, oder? Wenn ich ihn schon befreie, dann möchte ich auch, dass er bei mir bleibt.“ Sie seufzte ein drittes Mal. Es war schwer zu sagen und beruhte nur auf Hoffnungen. Es war nur eine Wunschvorstellungen. Sie wusste nicht, ob sie es wirklich schaffen würde. Konnte sie ihn befreien? Würde sie das wirklich schaffen?

“Dacht ich’s mir. Hast dich also doch in ihn verliebt.” Er lachte leise, als Aya rot anlief, aber sie dachte nicht daran, Widerspruch zu erheben. Nein, sie nickte sogar und stimmte ihm zu.

“Und was ist mit dir? Hast du nun vor, Ria nach diesem Ausflug einen Heiratsantrag zu machen, mit ihr zusammen zu wohnen und dich für immer um sie zu kümmern?” Eigentlich hatte sie vor, sarkastisch zu klingen, um ihn zu ärgern, wie er es zuvor getan hatte. Doch er wurde weder rot um die Ohren, noch schien er erschrocken. Nein, er lächelte sogar und antwortete: “Wieso nicht? Aber ich glaube, zuerst müsste ich meinen Abschluss machen und eine Arbeit suchen, um sie durchzubringen. Aber doch, mit dem Gedanken könnte ich mich anfreunden. Und vielleicht auch noch ein, zwei kleine Kinderchen. Und du und Shinri wären die Paten. Was sagst du?”

“Du bist gemein. Aber okay”, schimpfte Aya und schlug ihm leicht auf den Oberarm. Eigentlich hätte sie gelacht, wäre sie in Gedanken nicht immer noch bei Shinri.

Schon bald kamen die anderen beiden wieder. Ria ließ sich neben Jackin sinken, und umarmte ihn. “Haben wir etwas verpasst?”

Kurai blieb stehen und sah zu, wie die anderen die Brote wieder einpackten. Er und Ria hatten bereits gegessen. “Nein, nichts”, gestand Aya. Es war schließlich nichts wichtiges passiert. Dann fiel ihr auf einmal wieder die Frage ein, die sich um die Zeit in diesem Land drehte. Schnell stand sie auf und klopfte sich Gras von der Hose, bevor sie Kurais Blick entgegnete und ihn fragte: “Wie ist das eigentlich mit den Zeiten. Es hieß ja, hier werdet ihr doppelt so alt, wie in unserer Welt, aber heißt das, die Tage dauern auch doppelt so lang oder wie darf ich das verstehen?”

Jackin stand ebenfalls auf und zog sich den Rucksack über, während Ria seine Hand nahm und auf die anderen beiden wartete. “Die Zeit vergeht hier parallel zur Menschenwelt. Es ist exakt die selbe Zeit, wie bei euch Zuhause”, erklärte Kurai kurz und ließ keine weiteren Fragen zu, da er sich bereits umwand und losging. Wenn die Zeit genauso verging, wie bei ihnen Zuhause, dann musste sie annehmen, dass es heute Montag sein musste. Montagmorgen. Aber gewiss konnte sie sich nicht sein.

Mit ihrem neuen Ziel vor Augen, welches nur Kurai kannte, folgten sie ihm und wurden dabei sogar von den Wölfen begleitet. Ein erneuter langer Fußmarsch lag vor ihnen und sie traten ihn ohne zu zögern an. Alles für Shinri.

Nach einiger Zeit kamen sie endlich dort an, wohin sie wollten. Die Sonne stand noch immer am Himmel, also hatten sie keinen ganzen Tag dafür gebraucht. Ihre Begleiter, die Wölfe, waren bereits gegangen und nun standen die vier hinter großen Bäumen und Büschen und spitzelten hindurch.

Vor ihnen lag ein großes Dorf aus vielen kleinen Häusern und einem Fluss, der sich hindurchschlängelte. Der Anblick war äußerst faszinierend und Aya versuchte alles, was sich ihr bot, in sich aufzunehmen. Die Wände der meist zweistöckigen Häuser waren aus hellbraunen Stein und die Dächer aus sehr dunkelroten Ziegeln. Zwischen ihnen war einiges an Platz, als brauche jedes Häuschen seine eigene Privatsphäre. Zwischen ihnen wuchsen weite Felder aus Gras, Obst oder Gemüse. Es gab auch zwei große Plätze. Doch auch wenn es wunderschön aussah, so wirkte es verdammt leer. Keine einzige Person befand sich außerhalb des Hauses und Aya wusste nicht, ob in den Häusern überhaupt Leben weilte.

Eine Hand legte sich auf Ayas Schulter, sodass sie sich ihren Begleitern wieder bewusst. Ria, die neben ihr stand, lächelte sie an. “Wunderschön, nicht?”, fragte sie nach und Aya nickte sofort zustimmend. “Mehr als wunderschön. Ich hätte nichts dagegen, hier einzuziehen.”

“Ja, kann ich mir vorstellen. Wer wohnt eigentlich alles hier? Ich dachte, dass sich alle Zomas in der Nähe des großen Schlosses niedergelassen hatten”, wand sich Ria dann an Kurai, der mit seinen goldenen Augen das Geschehen vor ihnen beobachtete. Ohne den Blick abzuwenden, antwortete er: “Ja, alle Zomas wohnen direkt vor dem Schloss des Oberhauptes. Er hat es so veranlasst, damit er sie besser im Auge behalten konnte. Hier in diesem Dorf leben nur noch recht wenige, die sich um den Garten und die Pflanzen kümmern. Früher war es ein sehr harmonischer Ort, an dem die Zomas mit ihren Auserwählten hingezogen waren, nachdem sie sich gefunden hatten. Seitdem es aber verboten wurde, Menschen in diese Welt mitzubringen, lebt hier auch niemand mehr.”

Aya fühlte, wie sich ein eiskalter Schauer über ihren Rücken bahnte und sich ihre Nackenhärchen aufstellten. Es war grausam, Leute zu entzweien, sie so füreinander bestimmt waren. Aya wünschte sich, dass an diesem Ort wieder Leben erwachte. Sie konnte sich sehr gut vorstellen, wie die Kinder über die Wiesen rennen würden, unter lautem, glücklichen Gelächter. Je mehr sie wusste, desto mehr hasste sie diesen Rashid.

“Sollen wir denn nicht endlich hinein gehen? Ich glaube, hier ist keine Gefahr, oder? Wenn ihr also nichts dagegen habt, dann gehe ich schon mal voooo-” Ihre Stimme brach nach dem Aufruf gänzlich ab. Sie hatte sich nur einen Schritt weit hinaus gewagt und war eine kleinen Hügel hinabgeflogen. Mit einem dumpfen Geräusch landete sie.

“Geht es dir gut?!”, fragte Jackin sofort und blickte durch die Gebüsche hinunter. Ria machte sich von ihm los und folgte Aya geschickt hinab.

“Ja! Keine Sorge! Aber passt auf, wenn ihr runter kommt. Hier geht es steil abwärts”, riet Aya die andere, doch schon war Ria bei ihr angekommen und half ihr auf. Aya klopfte sich die losen Blätter von ihrer Kleidung, während Jackin und Kurai den beiden Mädchen hinab folgten. Nachdem sie wieder beisammen waren, folgten sie Kurai durch die Stadt. Aus der nähe betrachtet war sie noch wunderschöner aber auch einsamer. An den Wänden der Häuser fanden sich interessante Malereien und auf der Tür waren Zeichen abgebildet, die denen ähnelten, die Aya und Shinri verbanden, nur andere Buchstaben und Verzierungen.

“Was machen wir eigentlich hier, Kurai? Ich glaube nicht, dass sich Shinri hier versteckt”, meinte Aya, als sie den Blick von den Häusern abwendete und Kurai aufholte.

Kurai lief zielstrebig weiter und schien eine bestimmte Richtung zu verfolgen. Wahrscheinlich sahen sie jetzt gleich sein Haus. “Ich bringe euch in mein Zimmer, damit ihr euch noch einmal gut ausruhen könnt, bevor wir zu Shinri aufbrechen. Kannst du spüren, ob er in der Nähe ist?”

Aya konzentrierte sich und versuchte die Verbindung genauer zu erkennen. Er schien nicht hier an diesem Ort zu sein, aber er war auch nicht mehr zu weit weg und er lebte. “Es ist nicht mehr weit, bis zu ihm.”

Kurai nickte sofort und blieb kurz stehen. Mit einem Finger deutete er über den Wald in die Ferne. Am Horizont konnten sie ein Schloss erkennen. “Das ist das Anwesen von Shinris Familie. Gegründet von seinen Vorfahren. Ich schätzte Taiyo-Yoru hat ihn dorthin gebracht.” Sofort ging er weiter und die anderen folgten ihn im stillen, bis sie endlich das Haus erreichten, dass er als sein eigenes Heim vorstellet. An seiner Tür stand kein Zeichen, wie an den anderen, und Aya wusste, es lag daran, dass er noch nicht seine Auserwählte gefunden hatte.

Höflich öffnete Kurai die Tür und ließ die anderen eintreten. Sofort wurden sie von einer freundlichen und ruhig wirkenden Umgebung begrüßt. Die Wände waren alle im schönen Weiß gehalten und die großen Fenster hießen die Sonne herzlich willkommen. Der Eingangsraum war sehr groß, aber auch sehr karg eingerichtet. Eine Couch und einige Sessel standen um einen großen Tisch herum, während auf der anderen Wandseite vor dem Fenster ein länger Esstisch stand, umringt von Stühlen aus hellem Holz.

Doch Kurai hielt sich nicht lange in diesem Zimmer auf und führte die anderen in die geräumige Küche. Sofort schlug Ria vor, dass sie sich etwas kochen sollten. Seltsamer Weise befand sich im Kühlschrank frische Zutaten - wie es auch immer bei Lucio war. Während sie begannen das Essen herzurichten, wand Aya sich mit einer Frage an Kurai. “Du, Kurai. Mir kam es schon bei Lucio so seltsam vor. Aber jetzt fällt es mir erneut auf. Wieso ist euer Kühlschrank immer voll? Lucio wohnt tief im Wald, weit weg von Kaufläden, wie bekommt er frische Zutaten? Und du? Du bist seit geraumer Zeit nicht mehr hier gewesen. Jetzt kommen wir hierher und dein Kühlschrank ist voll.”

Kurai zuckte mit den Schultern, was sie nicht sah, da sie dabei war, Gemüse zu schneiden. Schon erhob er seinerseits das Wort, um ihr zu Antworten: “Wir haben so etwas wie einen Einkaufservice, so wie ihr Menschen auch. Nur, dass ich selbst nicht die Bestellung aufgegeben hab, sondern die Tiere der Nacht.”

“Die Wölfe”, schlussfolgerte Jackin.

“Ja. Bei mir sind es die Wölfe”, antwortete der Ältere.

Mit einem flauem Gefühl im Magen kochte Aya weiter. Sie machte sich noch immer Sorgen um Shinri, während dieser in dem Schloss gefangen gehalten wurde. Sie wollte so schnell wie möglich weitergehen, aber sie wusste, dass sie hier übernachten werden würden. Konnte sie dann auch einschlafen? Würde sie wieder von ihm träumen? Oh Gott, mach dass es Shinri gut ging!
 

Der Tag verging schnell und schon bald schien der Mond in das Haus hinein. Kurai hatte sie bereits nach dem Essen ins Bett geschickt, da sie alle die Zeit nicht unvergeudet lassen wollten. Doch als es auf Mitternacht zuging, schreckte Aya auf. Sie lag alleine in einem Gästebett - diese Haus hatte insgesamt zwei Gästezimmer und ein Schlafzimmer für den Hausherr. Ria und Jackin hatten sich ein gemeinsames Bett genommen.

Aya hatte bis vor kurzen noch tief und fest geschlafen, bis ein erneuter Alptraum sie heimgesucht hatte. Es ging um Shinri. Er rief nach ihr und schrie gequält. In ihrem Traum war er nicht in der alles umfassenden Dunkelheit gewesen, sondern in der Freiheit. Er hatte sich unter Schmerzen über das Laub bewegt, Kurais Haus entgegen, als suche er Schutz.

Es war ihr so real vorgekommen, dass sie die Decke zurückwarf und aufsprang. Schnell eilte sie die Treppen hinunter und in den großen Eingangsraum. Durch die weiten Fenster drang der Mond herein und erhellte ihn. Sie fand sich alleine wieder. Die anderen schienen nicht bemerkt zu haben, dass sie wach war. Sofort rannte sie auf die Fensterreihe zu und blickte hinaus auf die Wiesen. Ein Schock durchfuhr sie, wie ein Blitz. Auf dem Boden lag jemand und ihr Herz schien stehen zu bleiben.

Für einen Moment war sie wie gelähmt. Lag da wirklich jemand? Ja! Und es musste Shinri sein! Sie ließ sich keine Zeit und lief so schnell zur Tür, wie es ging. Draußen angekommen wehte ein kalter Wind und sie trug keine Jacke, aber das war ihr im Moment egal. Wenn es wirklich Shinri war, musste sie zu ihm!

Sie rannte um das Haus und auf die Wiese, die sie zuvor durch das Fenster betrachtet hatte. Der Mond beschien die Landschaft und der Wind fegte über die Wiesen und brachte kalte Luft mit sich. Es fröstelte sie, aber bei dem Gedanken, Shinri wieder zu haben, fiel ihr die Kälte überhaupt nicht auf.

Sie rannte über die Wiese an die Stelle, an der er sein musste, auf einmal blieb sie wieder stehen und erstarrte. Ihr Blick flog über das geschnittene Gras, dass in der Nacht fast schwarz wirkte. Weg! Shinri war nicht hier. Niemand war hier. Sie war ganz alleine in einer eiskalten Nacht.

Eine Welle aus Angst befiel sie und lähmte sie. Ihr Blick segelte durch die Gegend und sie suchte nach Gefahr. Sie fühlte sich beobachtet und nicht so alleine, wie sie eigentlich war. Das Einzige, was sie jetzt wollte, war zurück in das Haus zu gehen, aber als sie los schritt, hörte sie etwas rascheln. Irgendetwas bewegte sich durch das Gras und sie blieb erneut stehen. Ihre rehbraunen Augen suchten die Umgebung ab, aber noch immer fand sich nichts. Etwas streifte ihr Bein und eine erneute Welle der Angst durchfuhr sie. Sie war wie gelähmt.

Die Erkenntnis traf sie wie ein Blitzschlag und ereilte sie erst, als sie sah, wie etwas versuchte über ihr Bein zu klettern. Schlangen! Von allen Seiten schlichen sie sich durch das dunkle Gras und waren praktisch unsichtbar. Nur das leise Knistern verriet sie und einige der Schlangen befanden sich direkt unter ihr. Schnell rannte sie los, um davonzukommen, aber sie schienen ihr zu folgen.

Eine umkreiste sie gerade, als sie schon auf die Nächste traf. Ihr Blick ruhte durchgehend im Gras, um den Schlangen zu entkommen. Sie wusste nicht, wohin sie lief, aber sie konnte ihren Blick nicht von ihren Füßen nehmen. Erst, als sie gegen etwas krachte, wurde sie zurück in die Realität gerissen. Ein Schrei entrang sich ihrer Kehle, ohne dass sie die Kontrolle darüber hatte. Das etwas, dem sie gegenüber stand, war groß, schlank und warm. Lebendig. Sie blinzelte ängstlich hinauf.
 

“Guten Abend, mein Brüderchen”, grüßte eine kalte, gehässige Stimme Shinri. Eine Tür schwang auf und für einen kurzen Moment fiel der Lichtkegel auf ein Wesen, halb Mensch, halb Tier. Taiyo-Yoru trat ein und schloss hinter sich ab. Er betätigte den Lichtschalter und der gesamte Raum wurde erhellt. Das grelle Licht blendete das Wesen und es schloss sofort die nachtschwarzen Augen. Taiyo-Yoru ging ungerührt daran vorbei. Seine Schritte hallten auf dem stählernen Boden wieder. Der Raum war ausschließlich mit einem Tisch und einem Stuhl versehen. Es gab keine Fenster und die steinernen Wände waren feucht und kalt.

Er wand sich seinen Bruder Shinri zu. Shinri sah miserabel aus und Taiyo-Yoru freute sich darüber. Seine Kräfte ließen langsam nach. Die Einsamkeit zerfraß ihn von innen und machte ihn zu einer leeren Hülle, während sein Körper langsam die Wandlung hinter sich brachte. Die sonst so hübsche Haut war fast gänzlich mit schwarzen und dunkelgrauen Federn bedeckt. Nur an wenigen Stellen schien noch die helle Farbe durch. Auch sein Gesicht hatte sich zu einer grässlichen Fratze verzerrt. Mund und Nase wandelten sich bereits langsam in einen Schnabel um. Er war wirklich nicht schön anzusehen, dachte sich Taiyo-Yoru. Erst, wenn seine Wandlung vollendet war. Andererseits war es Shinri bis dahin vollkommen egal, denn dann hätte er seine Seele gänzlich verloren. Eine wundervolle Aussicht.

Shinri wand sich. Er hatte sich bereits an die Helligkeit einigermaßen gewöhnt und seine dunklen Augen funkelten Taiyo-Yoru wissend an. Noch hatte er sein eigenes Selbst behalten. Ein Blick in seine Augen sagte alles. Sie spiegelten Schmerzen, Wut und Einsamkeit wieder. Sie waren wunderschön.

Taiyo-Yoru trat auf seinen älteren Bruder zu und vor ihm in die Knie. “Na? Gut geschlafen?”, fragte er mit fast liebevoller Stimme und strich über die Federn, die einst Haare waren. Das schwarze Federkleid war samtig weich. “Yoru … verschwinde …”, zischte Shinri und stemmte sich unter größtem Kraftaufwand auf seine Arme. Er funkelte seinen kleinen Bruder erzürnt an. Auch, wenn er nicht mehr bei Kräfte war, so hatte er noch immer seinen eisernen Willen. Wenn er starb, dann mit den Gedanken an die Person, die ihm am meisten bedeutete. Aya.

“Shinri, mein süßer Bruder. Du siehst kläglich aus, weißt du das? Ich hab aber eine interessante frohe Botschaft für dich.” Die hinterlistige Schlange kicherte. Seine Hand legte sich auf Shinris Hinterkopf und zwang ihn zurück zu Boden. Der Ältere konnte nichts dagegen tun und wurde niedergedrückt. In seinem jetzigen Stadium der Wandlung war er kaum mehr in der Lage, sich zu bewegen. Die Arme hatten nun mehr die Form von Schwingen und seine Füße krümmten sich ebenfalls zu undefinierbaren Vogelstelzen. Ihm war es egal, wie er aussah.

Er schnaufte seinen Bruder verächtlich an. Zu etwas anderem war er nicht fähig.

Taiyo-Yoru sah ihn tadelnd an. “Willst du mir denn nicht zuhören?”, säuselte er und fuhr weiterhin über die hübschen Federn. Er wünschte sich sehnlich, dass sein großer Bruder endlich seine andere Form annahm. Er würde ein prächtiges Haustier abgeben. “Aya ist auf den Weg hierher”, erklärte er kurzerhand, da von Shinri nichts kam. Auch, wenn er nicht nachfragen wollte, sollte er es wissen. Schließlich konnte er ihm dadurch noch mehr seelisches Leid zufügen.

Shinri zog die Luft scharf ein. Aya! “Du lügst …” Er glaubte ihm nicht. Wie sollte Aya hierher gelangen? Dies war die Welt der Zomas. Gefährlich, düster und schwer zu finden. Es gab sehr wenige Eingänge. Selbst Shinri kannte nicht alle.

Zu seinem Entsetzten lachte Taiyo-Yoru auf. “Das ist kein Scherz, Brüderchen”, tadelte er ihn und rupfte eine Feder, die in Shinris Nacken wuchs. Es gefiel ihm, wie sein großer Bruder zusammen zuckte. Leise und kaum merklich, aber der Schmerz war da.

“Sie hat sich mit Kurai und Ria zusammen getan. Ein respektables Mädchen, wirklich. Es hätte sie so viel besser getroffen, wenn sie nicht deine sondern meine Auserwählte gewesen wäre. Aber ich möchte dich trösten. Ich werde sie nicht umbringen. Dafür wäre sie viel zu kostbar. Ich bräuchte noch eine Dienerin in diesem Schloss. Sie würde sich darin prächtig machen.” Er wollte Shinri alles nehmen. Auch, wenn er nicht mehr war, so konnte er ihm jetzt noch Schaden zufügen, bevor er seinen kompletten Verstand verlor.

Shinri liebte Aya, eine Tatsache mit der jeder Zoma zu kämpfen hatte, der seine Auserwählte fand. Yoru hatte niemanden. Aber schon bald würde er Aya besitzen. Alles Eigentum seines Bruder sollte an ihn gehen.

Shinri spürte Zorn in ihm aufsteigen. Er wusste, was sein Bruder vorhatte. Was er mit Aya vorhatte. Er wollte es nicht zulassen. Sie gehörte zu ihm und musste von ihm beschützt werden. Nein, er wollte ihm nicht glauben, aber jetzt spürte er es deutlich. Sie war in seine Welt übergelaufen. Sie befand sich nicht weit von hier. Wahrscheinlich in dem friedlichen Dörfchen, in dem Kurai sein Haus hatte.

Entsetzt starrte er den Boden unter sich an. Er musste etwas unternehmen, aber die Ketten hinderten ihn daran und sein Körper versagte. Er war hilflos und hasste sich dafür. Was war er für ein Herrscher, der nicht einmal seine Auserwählte rette konnte? Selbsthass zerfraß ihn und die Angst um Ayas Leben.
 

Ria schmiegte sich in Jackins Arme. Sie lagen im Bett und schliefen selig. Selbst im Traum atmetet Ria den Duft, der von Jackin kam, tief in sich ein. Er roch so gut. Das Gefühl der Geborgenheit hüllte sie gänzlich ein. Sie hätte auch noch lange so weiterschlafen können, wäre sie nicht so jäh aus ihrem Traum gerissen worden.

Ein Schrei hallte laut durch die Nacht. Es war eine weibliche Stimme und Ria saß sich wie vom Donnergerührt auf. Auch Jackin erwachte sofort und sprang gleich darauf aus dem Bett. “Was war das?”, fragte er Ria mit einem Blick des Entsetzten. Das Mädchen konnte nur die Schultern zucken, bis sie sich erinnerte, wer es sein könnte. Die Erkenntnis traf sie gleichzeitig. Sie sahen sich entsetzt in die Augen, als sie gleichzeitig flüsterten: “Aya.”

Schon stand auch Ria auf und folgte Jackin, der hinaus rannte. Er wollte in Ayas Zimmer eilen, als er Kurai erblickte, der die Treppen hinunter lief. Sofort folgten sie ihm. “Sie ist draußen!”, zischte Kurai fast wütend. “Was hat sie dort zu suchen?” Sie hielten sich nicht damit auf, aus dem Fenster zu sehen und rannten sogleich hinaus auf die Wiese. Sie hofften nur, dass es ihr gut ging.
 

Ayas Schock löste sich und es blieb eine Erleichterung. Als sie gegen ihn gelaufen war, hatte sie gedacht, es wäre ein Feind. Die Schlangen hatten sie so sehr verwirrt und ihr glauben gemacht, nur noch Gefahren würden hier lauern. Doch jetzt war sie angenehm überrascht und zutiefst erleichtert.

Sie hätte nie gedacht, ihm hier zu begegnen, wo sie ihn doch in der anderen Welt zurückgelassen hatten. Es war ein Segen, ihn genau jetzt zu erblicken und sie hatte auch nichts dagegen, dass er sie einfach auf seine Arme hievte und über die Wiese spazierte, ohne die Schlangen eines Blickes zu würdigen. Ja, sie freute sich sogar darüber. Ihre Rettung. Er konnte Shinri nicht ersetzten, aber er konnte ihr etwas Seelenfrieden schenken.

“Wie hast du uns gefunden? Wieso bist du uns gefolgt?”, wollte Aya wissen, während sie auf Händen zum Haus zurück getragen wurde. Dort erspähte sie auch schon die anderen an der Tür. Anscheinend hatte ihr Schrei alle aufgeschreckt und sie sahen äußerst verstört aus. Als sie aber Aya und die Person bei ihr erkannten, seufzten sie erleichtert.

Der Gefragte zuckte elegant mit den Schultern, obwohl er Last mit sich trug. Seine dunkelgrünen Augen wanderten über ihr Gesicht, als versuche er herauszufinden, ob es ihr gut ginge. “Es war eigentlich ganz einfach”, verkündete er. “Ich bin weiß wo Kurai wohnt und bin also hier her gekommen.” Er lächelte süß, bevor er an den anderen vorbei ins Haus schritt.

“Den Rest hätte ich auch laufen können”, erklärte Aya, als sie auf die Couch abgesetzt wurde. Sie war ihm dennoch dankbar und lächelte ihn freundlich an.

“Lucio?! Was hast du hier zu suchen?”, erklang Rias Stimme und die anderen folgten ihr in das Hausinnere. Lucio wand sich ihnen zu, setzte sich aber neben Aya auf die weichen Polster. “Mir war langweilig und ich wollte nicht nur dämlich zusehen, während ihr Rettungsaktionen startet”, erklärte er und lächelte den anderen zu, die sich ebenfalls zu ihnen an den Couchtisch gesellten.

Ein wissendes Nicken aus Kurais Richtung. Er wusste, was der andere Mann meinte. Doch wand er sich gleich darauf an Aya und sah sie finster an. “Und was hast du dort draußen zu suchen?! Hab ich dir nicht gesagt, du sollst aufpassen?”

Aya schrumpfte in ihrem Selbstbewusstsein zusammen. Er hatte recht damit, dass er wütend auf sie war. Eigentlich hätte sie wissen müssen, dass Shinri nicht hier war. Sie hasste sich selbst dafür, so naiv gewesen zu sein. Dennoch versuchte sie sich zu erklären: “Ich … ich hatte einen Alptraum. Shinri war auf der Wiese und hat unter Schmerzen versucht, zu mir zu kommen. Deswegen bin ich hinunter gerannt und … ich hab wirklich jemanden gesehen! Jemand lag in der Wiese. Ich wollte zu ihm, aber dann war er auf einmal verschwunden und stattdessen … Schlangen!” Sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen und atmetet schwer. Sie hasste sich für ihre Naivität, aber sie hatte ihn nun mal gesehen. Hätte nicht jeder so gehandelt?

Kurai sah sie mit einem finsteren Blick an und schwieg. Es war Lucio, der die Stimme erhob und versuchte die bedrückende Stille zu brechen. “Ich finde, dass Aya wirklich nichts dafür kann. Sie ist eben auf Taiyo-Yorus Trick reingefallen. Er hat ihr den Traum geschickt. Wahrscheinlich war sie so sehr verwirrt, dass er ihr in das Gehirn gepflanzt hatte, sie würde die Person auf der Wiese sehen. Aber es wäre wirklich besser gewesen, jemanden von den andern bescheid zu geben, Aya. Was wäre passiert, wenn ich nicht in der Nähe gewesen wäre?”

Aya ließ die Hände sinken und sah schuldbewusst auf die Tischplatte. “Ja, ich weiß. Es tut mir leid. Ich hätte euch wirklich bescheid geben sollen.” Doch konnte sie es nicht mehr ändern und so wusste sie auch nicht, was sie noch hätte sagen sollen. Zum Glück sprach erneut Lucio und lenkte die Aufmerksamkeit aller auf sich.

“Gut, dann hätten wir das ja geklärt. Aya ist in Sicherheit und da ist jetzt das Wichtigste. Da Taiyo-Yoru bereits von uns weiß, müssen wir ja nicht länger verstecken spielen. Ich nehme an, Shinri sitzt in dem Schloss gefangen?”

Ein zustimmendes Nicken von allen.

“Gut, dann lasst uns doch mal einen Plan auslegen. Ich hätte da schon ne kleine Idee, die uns vielleicht weiterhelfen könnte.” Lucios Energie färbte auf die andern ab und sein Lachen gab ihnen wieder neuen Mut. Sie setzten sich enger zusammen und begannen flüsternd über den Rest der Reise zu reden. Es stellte sich heraus, dass Lucio eine sehr große Hilfe dabei war. Das Ziel, Shinri zu retten, rückte immer mehr in Reichweite. Aya sammelte neue Hoffnung.

Kapitel 22

Nach wenigen Minuten hatte die kleine Gruppe endlich einen geeigneten Plan entwickelt und kurz darauf waren sie mitten in der Nacht losmarschiert. Vielleicht konnten sie Taiyo-Yoru nicht überraschen, aber sie konnten ihn immerhin verwirren.

Während der Mond weit oben am Himmelszelt hing, umringt von vielen wunderschön leuchtenden Sternen, liefen sie durch das Gras, aber nicht gemeinsam.

Die Gruppe von Lucio war bereits in sichtweite des Schlosses und wanderte durch das Dickicht. Sie wollten nicht gesehen werden, doch hielten sie sich nahe dem Weg. Kurai und Aya waren nur zu zweit unterwegs, denn alle waren der Meinung, Aya konnte als einzige wirklich in das Schloss vordringen. Somit hatten sie sich getrennt, um nicht auf die beiden aufmerksam zu machen.

„Glaubt ihr, wir schaffen das?“, fragte Ria etwas nervös nach. Das Schloss vor ihnen stand auf einem kleinen Hügel, von einer dicken Mauer umgeben, die es vor der Außenwelt schütze. Ob sie das Schloss erreichten, war nicht die frage, denn die Mauer war das wirkliche Hindernis, dass es zu überwinden galt.

Ihre beiden Begleiter, Lucio und Jackin, blieben stehen und wanden sich an sie. Sie standen inmitten der Gebüsche, um nicht aufzufallen. Lucio nickte bekräftigend. „Natürlich schaffen wir das! Schließlich sind wir nicht umsonst bis hierher vorgedrungen. Nur nicht den Mut verlieren.“ Er lächelte sanft, als auch Jackin ihm zustimmte. „Und wenn wir es nicht schaffen sollten, dann die anderen. Shinri wartet auf uns, also geben wir unser Bestes, um ihn zu befreien.“ Dass es dabei aber auch um das Leben aller Zomas ging, musste nicht unbedingt extra erwähnt werden.

Ria schöpfte aus den Worten ihrer Begleiter neue Hoffnung und lief an ihnen vorbei, durch das Dickicht, immer den Blick auf das Schloss gerichtet. Sie würde Shinri befreien. Ob mit der Hilfe der anderen, oder alleine. Sie konnte es nicht wagen, ihn weiterhin dort zu lassen. Er war in Gefahr und die Hoffnung der Zomas lag in seinen Händen.

Jackin und Lucio folgten ihr leise und schweigend. Das Lucio hier war, hatte Ria etwas verwirrt. Der junge Mann brauchte die Zuwendung menschlicher Frauen, um zu überleben. Andererseits hatte er seine Partnerin bereits verloren. Also was hatte er denn schon zu verlieren? Dafür war es umso eigenartiger, wie sehr Jackin sich für die Zomas einsetzte. Der Junge glich ihnen auf eine gewisse Art und Weise, ohne es vielleicht zu merken. Er wahrte eine tödliche Ruhe und hatte Mut ohne Maß.

Mit jeder Minute, die Ria ihn nun schon kannte, verliebte sie sich ein weiters Stück in ihn. Dabei hatte sie ihr Herz bereits bei der ersten Begegnung verloren. Das Schicksal schweißte sie unweigerlich zusammen. Es gab kein Entkommen und Ria zeigte ihm nur zu gerne ihre Liebe. Deswegen verstand sie nicht, weswegen Aya diese Gefühle gegenüber Shinri so lange hatte leugnen können. All diese Versuche, sich von ihm abzuwenden, brachten sie keinen Schritt weiter. Früher oder später wäre sie dann so verliebt, dass sie nicht ohne ihn leben wollte. Wahrscheinlich hatte sie diese Grenze bereits erreicht, sonst würde sie nicht ohne Unterlass nach ihm suchen. Liebe war etwas schönes, aber sie konnte auch genauso schmerzhaft sein.

„Was denkt ihr, wird Shinri im Kerker festgehalten?“ Jackin war ein kleines Stück vorgelaufen und wartete an einem großen Wildbeerbusch. Die Entschlossenheit stand ihm und machte ihn gefährlich schön. Zu gerne hätte sie sich in diesem Moment von seinen Lippen genährt, musste sich aber erst von einem Busch befreien, der mit seinen Ästen nach ihr griff.

Lucio half Ria, bevor Jackin zurück kommen konnte, und antwortete dann: „Kann sein. Aber vielleicht auch in einen der ganzen Zimmer. Das Schloss ist sehr groß und leer. Er könnte überall sein.“ Er runzelte die Stirn sorgevoll. Er dachte an die Qualen, die Shinri wohl in diesem Moment erlitt. Auch Ria konnte es sich nicht verkneifen. Die Vorstellung war schmerzhaft und vielleicht auch wahr. Wer wusste, wie weit er in seinem Stadium bereits war. Es konnte sogar sein, dass sie zu spät kamen, um ihn zu retten. Doch diese Möglichkeit mussten sie ausschließen, bis sie ihn sahen. Solange konnten sie hoffen, dass er noch zu retten war.

Der blonde Junge rieb sich die Schläfe, als plage ihn Kopfschmerzen. Die Lage war fast aussichtslos und er zermaterte sich bereits seit Stunden das Gehirn. Ria gefiel es, wenn er sich genauso Mühe gab, wie einer von ihren Cousins. Das zeigte ihr, dass ihm viel daran lag.

Sie legte ihm eine Hand beruhigend auf seinen Oberarm und sah ihn liebevoll an. „Das schaffen wir, auch wenn wir dafür alle Zimmer durchsuchen müssen. Wir schaffen es“, verkündete sie zuversichtlich. Es ging um Ayas Sicherheit. Jackin wollte seine beste Freundin für immer von den Schmerzen des Verlustes retten. Dieser selbstlose Wunsch zauberte ihr ein Lächeln auf die Lippen. Er war der perfekte Mann, dachte sie bei sich. Sie wollte nie jemand anderen an ihrer Seite haben. Nur ihn.

Nun musste auch Jackin lächeln. „Ja, selbst wenn wir Tage dafür brauchen sollten, wir werden es schaffen. Mit dir an meiner Seite, kann nichts schief gehen.“ Er sah ihr tief in die Augen, als ihm diese wundervollen Worte über die Lippen kamen. Ehrlichkeit und Liebe sprach aus seinem Blick. Und auf einmal, wie um es zu besiegeln, hauchte er ihr einen zarten Kuss auf die Lippen.

Ein Schauer überkam Ria und ihr Herz schlug schneller und schneller gegen ihren Brustkorb. Sofort entgegnete sie seinen Kuss, legte ihre Arme um seinen Nacken und zog ihn noch näher an sich heran. Sie intensivierte den Kuss und verschlang Jackins Mund heißhungrig. Und sie entfachte auch ein kleines Feuer in Jackin, der sie fest in die Arme schloss und einen innigen und leidenschaftlichen Kuss mit ihr genoss. Ihr erster Kuss. Ria konnte es kaum glauben, dass es wirklich geschah.

„Und wer küsst mich?“, scherzte Lucio und blickte sich mit schnellen Blicken im Dickicht um. Natürlich war keine Menschenseele in Sicht. Mit einen resignierenden Seufzer zuckte er mit den Schultern und schüttelte den Kopf. „Ihr wollt mich wohl quälen. Aber nicht mit mir. Ich gehe und suche mir meinen Schatz. Sicher wartet Aya irgendwo auf mich.“ Schon wand er sich um, kam aber nicht weit.

Er schluckte schwer und räusperte sich dann, um die anderen beiden auf sich aufmerksam zu machen. „Ich glaube, wir haben Besuch.“ Er klang angespannt und nervös. Ria und Jackin lösten sich nur widerwillig voneinander. Sie taten es nur, weil Lucios Stimme nach Ärger klang und seine Worte auch nichts gutes verhießen. Als sie dann in dessen Richtung blickten, verschlug es ihnen den Atem. Verdammt!
 

Die Mauer war wie eine unüberwindbare Festung. Sie barg das Schloss hinter ihren Schranken und ließ niemanden walten, der nicht erwünscht war. Doch Aya wusste, dass sie unbedingt hinein mussten. Shinri war hier. Das spürte sie tief in ihrem Inneren. Es zog sie an diesen Ort und je näher sie kamen, desto tiefer wurde dieses Gefühl eines leisen Rufens. Shinri.

Sie blickte zu ihrem Begleiter. Kurai stand neben ihr im Dickicht und starrte die Mauer schweigend an. Sie mussten sich unbedingt einen Weg suchen, um hinein zu gelangen. Leider wusste keiner von ihnen weiter.

“Was denkst du, wo sind die anderen jetzt?”, fragte Aya dann nach, denn das Schweigen wurde immer unerträglicher.

Kurai sah sie mit seinen kalten, goldenen Augen an. “Ich hoffe doch, dass sie bereits im Schloss sind.” Aber Aya wusste, dass er nicht wirklich daran glaubte. Die Reise war doch etwas länger gewesen als gedacht und der Himmel rötete sich bereits. Schon bald würde die Sonne aufgehen.

“Fliegen kannst du nicht zufällig?”, wollte Aya dann wissen. Es war eine verzweifelte Frage, die eigentlich keinen Sinn ergab. Welcher Mensch konnte denn fliegen? Andererseits … Die Zomas waren keine richtigen Menschen.

“Ich bin ein Wolf, ein Tier der Erde, kein Vogel”, entgegnete Kurai ihr ruhig, aber in seinen Augen glitzerte ein Wissen auf. “Shinri ist ein Kind der Lüfte. Er kann fliegen.” Aya schüttelte den Kopf. Nicht, dass sie ihm nicht glaubte, aber Shinri konnte im Moment gewiss nicht fliegen. Schließlich war er in diesem Schloss eingesperrt. Wahrscheinlich an Ketten gelegt und unter Qualen so sehr geschwächt, dass er nicht einmal hätte fliegen können, wenn man ihn befreit hätte.

“Das geht nicht. Shinri ist nicht hier und das weißt du auch”, schimpfte sie ihn, klang dabei aber sehr traurig. Sie senkte den Blick, um Kurai nicht die Traurigkeit in ihrem Augen zu zeigen. Doch der Zoma sah sie weiterhin an. Seine dunkle Stimme erklang erneut, so ruhig wie das tiefe Wasser: “Ja, aber seine bessere Hälfte ist bei uns. Und wer über einen Zoma regiert, hat auch die Macht über dessen Beschützer.”

Aya blickte auf und sah sich wieder den durchdringenden goldenen Augen gegenüber. “Ich?”, fragte sie etwas perplex. Sie war Shinris Auserwählte. Seine Partnerin. Aber das hieß nicht, dass sie Macht über ihn hatte. So tief ging ihre Beziehung nicht. Nein. Sie hatten nicht einmal etwas ähnliches, wie eine Beziehung.

Kurai schien ihren Zweifel zu bemerken und nickte bekräftigend. “Versuch es, Aya. Was haben wir denn schon zu verlieren?“

Das Mädchen seufzte leise. Sie hatten Shinri zu verlieren und sie mussten jeden Versuch in Kauf nehmen, der ihnen helfen konnte. Selbst wenn sie sich vielleicht zum Volldeppen machen würde, so hatte sie es immerhin versucht. Für Shinri.

Mit neu gesammeltem Mut nickte sie ihrem Begleiter zu. Entschlossen, es zu versuchen, egal was es kostete, bat sie ihn: “Sag, was soll ich machen.”

Ein leichtes Lächeln zierte für einen flüchtigen Moment Kurais Lippen. Dann erschien wieder seine ernst Miene, die er sonst immer aufgesetzt hatte. “Schließe die Augen und konzentriere dich nur auf Shinri. Er ist die Person, die dich mit seinen Beschützern verbindet. Konzentrier dich auf ihn und rufe den Adler der Nacht herbei. Wenn du dich fest genug konzentrierst, wird er dich hören.”

“Hoffentlich funktioniert ‘s wirklich”, nuschelte Aya leise zu sich selbst, denn sie hatte ihre Zweifel. Wer sollte sie denn im Wald hören? Adler? Würde wirklich ein Adler angeflogen kommen? Doch sie blendete diese Gedanken aus und schloss die Augen. Sie musste nur an Shinri denken. Egal, ob es schief ging, oder nicht. Hauptsache sie hatte den Versuch gestartet.

Sie dachte an den jungen Mann. Stellte sich ihn vor. Seine schulterlangen Haare in der Farbe der Nacht. Die Augen gleich der Dunkelheit. Ein freches Grinsen im Gesicht und neckende Worte auf den Lippen. Shinri. Immer wieder rief sie im Gedanken seinen Namen, wie ein leises Gebet. Sie versuchte Kontakt aufzunehmen, zu irgendjemanden, der auf Shinris Seite stand. Währenddessen hielt sie das Bild des Zomas in ihrem Kopf fest verankert und rief im Hintergrund immer wieder seinen Namen. Shinri.
 

Erschöpft öffnete Shinri seine Augen. Noch immer herrschte undurchdringbare Dunkelheit. Er sah nichts, als schwarze Nacht. Ob nun Tag oder Abend war, konnte er nicht bestimmen und es war ihm mittlerweile auch egal. Das Einzige, was er wollte, war die Sicherheit von Aya. Er betete, dass es ihr gut ging und dass man sie zurück in die Menschenwelt gebracht hatte.

Mehr wünschte er sich nicht. Denn sein Ende würde komme, ob er wollte oder nicht. Ihm war nicht mehr zu helfen. Wer sollte denn auch kommen? Es wäre ein Wunder, wenn man ihn hier herausschaffen konnte. Er glaubte nicht mehr daran. Seine Hoffnung war bereits gestorben und er existierte nur noch vor sich hin, bis seine Instinkte das Kommando übernahmen und sein Verstand komplett ausschaltete.

Shinri, Shinri, Shinri, …, hallte es in seinem Kopf wieder. Er blickte schwach um sich, doch sah er nichts. Anscheinend halluzinierte er bereits. Müde schloss er die Augen und wartete auf den Schlaf, eine Ohnmacht oder sonst irgendetwas, damit er nicht weiter denken musste. Jetzt schlafen wäre schön.

Shinri, Shinri, Shinri, …, erklang es erneut. Shinri riss schockiert die Augen auf, erblickte aber wieder nur Dunkelheit. Diese Stimme. Aya sagte seinen Namen, aber er konnte ihre Anwesenheit nicht spüren. Er konnte nichts anderes, als seinen schweren Körper und die Schmerzen fühlen. Aber die Stimme war keine Halluzination. Wie ein leises summen wurde sein Name immer und immer wieder ausgesprochen. Verzweifelt aber mit einer kleinen Hoffnung sprach Aya erneut und erneut. Und ihre liebevolle Art, wie sie ihn aussprach, hüllte sein Herz in Liebe ein. Er vermisste sie so schmerzlich. Er wollte unbedingt zu ihr. Zu seiner Aya.

Shinri, Shinri, Shinri, …, erklang es erneut, aber leiser. Über den leisen Refrain, der seinen Namen bildete, ertönte ein weiterer Text. Bitte, helft mir. Kommt zu mir und helft mir. Ich brauche euch. Er braucht euch. Das leise Gebet wurde wieder lauter und sie wiederholte seinen Namen mehrere Male.

Shinri genoss ihre Stimme und schloss die Augen für einen kurzen Moment, bis ihre leise Bitte erneut einsetzte. An wen wand sie sich damit? Auf einmal schlug er die Augen erneut auf und starrte in die Finsternis. “Verdammt”, ächzte er und fluchte innerlich einige Male. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein! “Aya, hör auf. Hör auf, bitte. Geh. Verschwinde! Such dein Glück wo anders und lass mich hier. Bitte!”, flehte er leise und fluchte wieder, denn ihr Gebet hörte nicht auf. Sie holte sie. Sie versuchte Kontakt zu den Adlern aufzubauen. Das hieß, sie suchte ihn immer noch. Wie konnte Kurai das zulassen? Und Jackin? Wieso hielten sie Aya nicht auf, sondern ließen sie unaufhaltsam in ihren Untergang rennen? Verflucht!

Shinri, Shinri, Shin-. Auf einmal verstummte sie. Der Kontakt brach ab und Shinri stieß ein verärgertes Brüllen aus. Die Wut auf seinen kleinen Bruder wurde immer unerträglicher und die Lage, in der Aya sich befand, wurde ihm nun schmerzlich bewusst. Und was tat er? Er hing hier fest und versauerte. Eigentlich müsste er jetzt unten bei Aya sein und sie von hier wegbringen. Verflucht! Er hasste sich dafür.

Seufzend schloss er die Augen und wartete auf seinen eigenen Tod. Wenn sie spürte, dass es bereits zu spät war, würde sie vielleicht verschwinden. Aber … der Tod setzte nicht ein und würde es auch niemals. Der Schmerz war fast unerträglich, aber dennoch brachte es ihn nicht um.
 

Erstaunt betrachtete Aya den großen Adler, der über den Himmel flog, wie ein Geier in der Luft kreisend. Während Aya ihm zusah, konnte sie kaum glauben, dass sie den pechschwarzen Vogel herbeigerufen hatte. Erst, als er auf einem großen Ast, des nächsten Baumes, landete und sie unverwandt ansah, wurde es ihr wirklich bewusst.

“Ich wusste, du kannst es.” lobte Kurai sie, und legte ihr anerkennend die Hand auf die Schulter. “Sprich mit ihm.” Aya nickte. Ihr erster Versuch war gelungen und sie schöpfte aus dieser Erfahrung neue Hoffnung und neuen Mut.

Sie sah in die pechschwarzen, intelligenten Augen des großen Adlers. Aus der Nähe betrachtet, war er riesig. Er maß mehr als einen Meter und besaß ein Federkleid in verschiedenen Schwarztönen. Düster und faszinierend. Der dunkle Schnabel war spitz und sah gefährlich aus und seine Augen hatten etwas, dass sie kaum definieren konnten.

Die dunklen Augen funkelten sie wissend an. Das Schwarz erinnerte Aya an jemand ganz bestimmten. Shinri. Er hatte die selben wunderschönen schwarzen Augen.

Aus einem undefinierbaren Grund heraus, ging sie auf den Vogel zu und streckte langsam die Hand aus, als wage sie sich in ein fremdes, gefährliches Territorium vor. Genauso fühlte sie sich auch.

Ihr Begleiter blieb an der selben Stelle stehen und sah zu. Aber Aya wusste, dass Kurai eingreifen würde, wenn etwas geschehen würde. Andererseits war sie sich ungemein sicher, dass sie nicht in Gefahr war. Nicht sie.

“Ich … mein Name ist Aya. Und du musst Shinris Beschützer sein? Ich habe dich gerufen, weil wir deine Hilfe brauchen. Kannst du uns helfen?” Sie stand vor dem Ast, auf dem der große Adler zu ihr herabblickte. Sie sahen sich unverwandt in die Augen und es war, als würden sie wortlos Kontakt zueinander aufnehmen. Auf einmal hörte sie eine leise, weibliche Stimme in ihrem Kopf. Aya blickte nicht um sich, denn sie wusste, dass es der Alder war, der zu ihr sprach.

Ich kenne dich. Und ich weiß, was dein Problem ist. Die Mauer verwehrt es dir, zu Shinri zu kommen. Mein Name ist Shiko und ich werde dir helfen, so gut ich kann. Leider werde ich dir keinen schmerzfreien Flug ersparen können.

Shiko sah Aya entschuldigend an, aber dem Mädchen waren Schmerzen egal. Sie wusste, dass Shinri in diesem Moment mehr zu leiden hatte und sie würde alles auf sich nehmen, um ihn zu retten.

“Ich bin bereit, lass uns aufbrechen”, stimmte Aya dem Vorschlag zu und nickte mit ernsthafter Miene. Noch nie war ihr etwas so wichtig, wie heute. Sie wollte und musste über diese Mauer, egal was es kosten möge.

Auf einmal heulte im Wald ein Wolf auf und alle blickten in diese Richtung. Nur der Alder ließ seinen Blick nicht von Aya los. “Was war das? Kurai, was ist los?”, fragte das Mädchen, denn nach Kurais Blick zu urteilen, schürte er im Moment ernsthafte Wut. Der Zoma knurrte bedrohlich, den Blick weiterhin in den Wald gerichtet, als ein erneutes Heulen erklang. “Die anderen wurden angegriffen. Und es sieht nicht gut aus. Es ist Taiyo-Yoru.” Seine Stimme triefte vor Hass.

Aya sah Kurai besorgt an. Ihre Freunde brauchten jetzt dringen Hilfe und Aya war beinahe so weit, in das Schloss hervor zu dringen. Sie fasste einen Entschluss. “Kurai, du musst ihnen helfen. Geh und kämpf. Ich werde mich um Shinri kümmern. Los, mach schon!”

Kurai schüttelte mit ernsten Blick den Kopf. “Und wenn es eine Falle ist? Was ist dann? Ich kann dich nicht alleine lassen, bevor ich dich nicht in Sicherheit weiß.”

Aya schnaubte wütend. “Als ob ich nicht auf mich selbst aufpassen könnte”, schimpfte sie. “Ich pack das schon! Und jetzt zisch ab, oder willst du noch jemanden verlieren?” Kurai sah noch immer unaufhörlich in den Wald, als suche er nach irgendetwas. Aber man sah seinen Augen an, dass der Gedanke, Aya hier zu lassen, ihn mehr als störte.

“Und was ist, wenn du Taiyo-Yoru begegnest? Oder wenn irgendwelche Wachen dich aufhalten?”, wollte der Zoma wissen. Er sorgte sich, auch wenn seine Stimme noch immer ruhig und kalt war. Aya wollte nicht, dass er blieb. Es ging um das Leben von drei Leuten, die ihr wichtig waren. Sie war nur ein einziges, kleines Mädchen. Jackin war nicht stark genug. Ob Ria kämpfen konnte, war genauso fraglich, also blieb nur Lucio übrig. Und alleine gegen Taiyo-Yoru? Kurai musste ihnen unbedingt helfen!

Beruhigend und sanft legte Aya ihre Hand auf Kurais Schulter. “Ich werde schon klar kommen. Ich bin vorsichtig und wenn ich jemanden erblicke, dann werde ich sie anschreien und ihnen einen richtig harten Tritt gebe, in eine Gegend, die sehr schmerzhaft ist, okay? Ich komme schon klar. Ich bin schon so lange alleine klar gekommen. Also geh schon. Die anderen brauchen dich dringender!”

Ja, sie war schon so lange alleine. Ihre Eltern waren weit weg und meldeten sich fast nicht mehr. Und sie hatte bis vor kurzen auch nur einen einzigen Freund. Jackin. Was blieb ihr denn sonst, wenn Jackin nicht mehr war? Und Shinri? Die beiden wichtigsten Menschen in ihrem Leben waren in Gefahr. Sie mussten etwas unternehmen!

Ein weiterer Wolf begann zu heulen und kommunizierte mit Kurai. Dieser zuckte zusammen, als hätte er eine schlechte Nachricht empfangen. “Wachen. Taiyo-Yoru hat sie in eine Falle gelockt und sie müssen zusätzlich gegen seine Leute kämpfen. Es sieht schlecht aus. Sehr schlecht.”

“Dann verzieh dich endlich!”, fauchte Aya wütend und funkelte ihn zornig an. “Steh nicht so blöd rum und geh. Mach schon!” Kurai merkte, wie ernst es ihr war. Aya würde sich alleine zu Shinri begeben, werden sie Taiyo-Yoru versuchten zu besiegen. Mit einem zustimmenden Nicken erklärte er sich bereit und wies Aya noch einmal darauf hin, dass sie aufpassen sollte. Kurz darauf machte er sich auf den Weg, um den anderen zur Hilfe zu eilen. Aya blieb alleine zurück.

Aya wand sie sich erst wieder an den wunderschönen Adler Shiko, als sie auch wirklich sicher war, alleine zu sein. Sie tauschten einen wissenden Blick miteinander, bevor Aya beschwörend erklärte: “Los, Shinri braucht uns. Bringen wir es hinter uns.” Schon breitete Shiko ihre dunklen Flügel aus, mit einer Spannweite von mindestens drei Metern. Beeindruckend und beängstigend zugleich. Aber es schlug Aya nicht in die Flucht. Sie hatte keine Angst. Mutig und unerschütterlich blieb sie stehen, während der Adler sich in die Luft erhob.

Einem Instinkt folgend hob Aya ihre Arme, ging einige Schritte zurück auf eine freie Fläche und wartete auf Shiko, die hoch oben in der Luft ihre Kreise zog. Der Sturzflug ließ nicht lange auf sich warten. Schnell und geschmeidig stürzte der Adler auf sie zu, visierte sie an wie eine Beute und ließ sie nicht entkommen. Aya blieb ungerührt stehen und blickte dem Vogel entgegen.

Kurz über ihr änderte Shiko ihren Kurs, flog über Ayas Kopf hinweg und schnappte sich ihre Handgelenke. Die Krallen bohrten sich schmerzhaft in das zarte Fleisch. Es brannte und schmerzte, aber Aya blieb still und biss die Zähne zusammen. Gleich darauf wurde sie von den Schmerzen abgelenkt, als sie den Boden unter den Füßen verlor. Ihr Körper wurde in die Luft gezogen und immer weiter fort getragen, als wöge sie nicht mehr als ein Sack voller Federn. Das Gras und die Bäume wurden kleiner und die Entfernung zur Erde weiter. Sie hatte den Blick in Richtung Wald und gab sich ganz unter Shikos Schutz.

Nach einigen Sekunden passierten sie bereits die Mauer und Aya sah hinab in einen großen Garten, der bereits ungepflegt und alt war. Efeu überzog den großen Springbrunnen und die Innenmauer. Die Gewächse waren groß und undurchdringbar. Nach einigen weiteren Metern hörte der Garten auf und eine Wiese fing an.

Aya spürte, wie sie dem Schloss immer näher kamen. Sie fühlte, wie sie angezogen wurde und je näher sie kam, desto erleichterter fühlte sie sich, als fiele ihr eine schwere Last von den Schultern.

Das Schloss sieht still und leer aus. Wir sind bald da. Ich kann nicht mit hinein kommen. Aber wenn etwas ist, kannst du jederzeit ein Fenster öffnen. Ich werde hier sein, verkündete Shiko, während sie viele Meter über der Wiese hinweg flog, dem Schloss von Shinris Familie entgegen.

“Vielen Dank, dass du gekommen bist. Ich werde Shinri befreien. Das verspreche ich”, verkündete Aya feierlich und dankbar. Ohne Shiko wäre sie nie so weit gekommen. Ein weiser und liebenswürdiger Adler. Sie hatte Shiko bereits tief in ihr Herz geschlossen.

Danke mir nicht, sondern mache Shinri glücklich. Wenn er zufrieden ist, bin auch ich es. Sein Glück ist auch mein Glück. Wenn du ihn befeist, dann bin ich es, die zu danken hat. Sie schwieg kurz, bevor sie dann wieder ihre freundliche Stimme erhob. Wir sind da. Ich werde dich jetzt loslassen. Mach es gut und rufe mich, wenn du mich brauchst. Ich weiß immer, wo du bist.

Obwohl sie es nicht wollte, dankte Aya ihr trotzdem noch einmal. Shiko segelte einige Meter tiefer und auf einmal löste sich der schmerzliche Griff und Ayas Handgelenke und sie stürzte in die Tiefe.

Das Gras war hoch und weich und dämpfte ihre Landung ab. Der Schmerz, der sie durchfuhr, nahm ihr dennoch den Atem. Sie blieb für einen kurzen Moment liegen und verdaute ihr Leiden, riss sich dann aber wieder zusammen, denn ihre Wunden waren nicht halb so schlimm, wie Shinris.

Sie rappelte sich auf und blickte sich um. Vor ihr stand das Schloss in seiner ganzen altertümlichen Pracht. Das Gestein war dunkel und alt. Efeu wuchs hinauf und bedeckte das Grau der Steine. Aya ließ sich keine Zeit, um das Bild weiter zu bewundern. Es ging um Leben und Tod. Ganz allein an ihrer Geschwindigkeit hing es ab, ob sie Shinri noch retten konnte.

Ungeachtet aller Schmerzen rannte sie los, dem Schloss entgegen.

Kapitel 23

Umzingelt und in die Enge getrieben. Taiyo-Yoru wusste wirklich, wie man andere in eine Falle lockte. Sie hatten nichts bemerkt, erst als sie ihm gegenüber standen. Seine roten Augen glühten amüsiert und ein hinterhältiges, zufriedenes Grinsen lag auf seinen schmalen Lippen. Er betrachtete die drei, wie Fische in einem Fischernetz. Sein Fang war gut, zu gut. Aber jemand fehlte.

“Schön euch wieder zu sehen, meine Lieben”, lachte er. Er war nicht alleine. Seine Schlangen und seine Diener hatten die Eindringlinge umzingelt. Es war hoffnungslos für sie. Der Tod oder eine Gefangenschaft wartete auf sie. Je nachdem, auf was er Lust hatte.

“Wo ist meine süße Aya?”, fragte er nach und blickte einen kurzen Augenblick um sich. Seine roten Augen schienen alles zu sehen, außer die Person, die er zu finden versuchte. “Sie ist nicht bei euch. Auch nicht Kurai. Habt ihr sie verloren?” Er lachte erneut, sein Blick drückte aber Hass aus. Es ärgerte ihn, dass er Aya nicht einfacher fand. Jetzt musste er sie doch noch suchen. Dabei hatte er endlich diese Gruppe gefunden. Entweder sie hatten Aya aus Sicherheitsgründen zurück gelassen, oder sie hatte einen anderen Weg mit Kurai eingeschlagen.

Lucio funkelte den Feind böse an, während Jackin sich schützend vor Ria stellte und von einer Wache zur anderen sah. Ein Mensch und doch war er wachsam und schnell.

Der rothaarige Zoma trat auf Taiyo-Yoru zu und schimpfte ihn laut. “Was hast du vor? Wieso hast du Shinri gefangen genommen? Was bringt dir das?! Dadurch wirst du auch kein Adler werden, du miese Schlange.”

Yoru sah Lucio giftig an. Es lag eine bedrohliche Anspannung in der Luft. “Was weißt du”, zischte der Feind und konzentrierte sich auf Lucio. Die anderen beiden waren keine Gefahr für ihn. Lucio dagegen konnte wirklich kämpfen.

Lucio breitete die Arme aus. “Komm, greif mich an. Lass dich gehen, du Feigling.” Die dunkelgrünen Augen des Zomas visierten den Jungen an. Eigentlich war Lucio ein Gentleman und zeigte sich höflich gegenüber jedem, außer gegenüber seinen Feinden. Er hasste Taiyo-Yoru. Zu gerne würde er ihn hier und jetzt vernichten, damit er Shinri nie wieder in Gefahr brachte, genauso wie das Schicksal der anderen Zomas. Taiyo-Yoru war eine Bedrohung für jeden anderen Zoma, genauso wie das jetzige Oberhaupt. Sie mussten vernichtet werden!

“Wer ist hier der Feigling?”, wollte Yoru wissen und stand weiterhin still an der selben Stelle. “Warst es nicht du, der seine Geliebte nicht retten konnte, weil er sich nicht getraut hatte, sich gegen das Oberhaupt zu stellen?”

Lucio sprang wütend los. Ria versuchte ihn noch aufzuhalten, bekam seinen Arm zu fassen, aber dann war es bereits zu spät. Sein Cousin machte sich von ihr los und stürmte wie ein Gewitter auf den Feind zu. In seinen Augen leuchtete der Hass, der sich seit Jahren in ihn angesammelt hatte. Er schleuderte seine Faust zielsicher in Yorus Gesicht. Dieser ächzte leise unter der Wucht, blieb aber stehen. Einen kurzen Augenblick später stand er an einem anderen Ort. Auf einem großen Ast eines Baumes sitzend, rieb er sich das schmerzende Gesicht. Ein Grinsen lag auf seinen aufgesprungenen Lippen und er leckte sich genüsslich das Blut ab. “Macht sie fertig”, zischte er zufrieden. Die Wachen, die alleine auf dieses Kommando gewartet hatten, sprangen los. Ihre Gesichter waren unter Kapuzen versteckt. Sie waren groß und mit größter Wahrscheinlichkeit die Anhänger des Oberhauptes. Taiyo-Yoru war ein begnadeter Lügner. Er schaffte es mit Leichtigkeit, andere für sich zu begeistern.

Der ältere Zoma wollte eigentlich alleine gegen Yoru kämpfen. Doch jetzt hatte er keine andere Wahl, als sich den Wachen zu stellen. Die ersten Männer traten auf ihn zu. Schnell und präzise wich er ihren Angriffen aus. Er war ein guter Kämpfer und der Hass in seinem Herzen half ihn um einiges, sich gegen seine eigenen Leute zu stellen. Zomas. Das hier waren alles Zomas. Unerfüllte Männer, die ihre Auserwählten gesucht, aber nie gefunden hatten.

Lucio fühlte sich mit ihnen verbunden, aber in diesem Kampf waren sie dennoch Feinde. Wütend schlug er zu und traf den Ersten. Geschickt wich er dem Angriff des anderen aus und brachte einen kleinen Abstand zwischen sie, bevor er wieder in die Offensive ging.

Jackin hatte ebenfalls alle Hände voll zu tun. Er stand vier Männern gegenüber, da er sich ebenfalls denen, die Ria angreifen wollte, stellte. Ria versuchte ihrerseits Jackin dazu zu bewegen, sie kämpfen zu lassen, aber er ließ sie nicht. Es war zu gefährlich. Er war vielleicht nicht ganz so geschickt, wie Lucio, aber er hatte Erfahrung im Kampf und war schnell. Vier waren mindestens zwei zu viel, doch er ließ es sich nicht anmerken und schleuderte einem nach den anderen von sich, durch die Wucht seines Schlages. Immer wieder trafen ihn Gegenangriffe, aber er ignorierte den brennenden Schmerz einfach und machte wortlos weiter.

Ria hasste es, einfach nur zuzusehen. Sie nahm sich einen Ast zu Hand, um eine Waffe zu besitzen, aber Jackin ließ keinen der Angreifer in ihre Richtung kommen. Lieber steckte er selber alles weg, als sie in Gefahr zu bringen. Eine noble Tat, die ihr eigentlich hätte imponieren sollen, aber es machte sie nur wütend.

Jackin stürzte zu Boden. Einer der Angreifer war nahe genug heran gekommen, hatte mit ihm gerungen und ihn dann den Boden unter den Füßen weggezogen. Mit einem leisen Laut des Protestes landete er auf dem Laubboden. Nicht eine Sekunde verstrich, als die Feinde sich bereits über ihn hermachten. Schnell griff Ria in das Geschehen ein und schlug dem erstbesten Mann mit ihrem schweren Ast eine über den Schädel. Knurrend wanden sich die Männer an sie, denn sie war ebenfalls eine weitere Bedrohung.

Als sie auf Ria zukamen, die sich trotz ihres Asts um einiges unterlegen vorkam, gaben sie Jackin genügend Zeit, um sich wieder aufzurappeln. Wütend stürmte er in deren Mitte und zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. “Versteck dich”, zischte er Ria kurz zu, bevor er den nächsten Schlag einsteckte, um kurz darauf selber einen auszuteilen. Aber Ria wollte nicht auf ihn hören. Sie wollte helfen, nicht unnützlich sein. Sie war kein Feigling.

Es tat ihr weh, als sie Jackin zusah, wie er geschlagen und getreten wurde. Auch wenn er sehr stark war und sich in dem Kampf sehr gut machte, war er doch in der Unterzahl. Lucio konnte ihm nicht zur Hilfe eilen, denn er hatte ebenfalls genug am Hals. Dabei hatte ihr Cousin es nur auf einen einzigen abgesehen. Taiyo-Yoru.

Dieser saß vergnügt auf seinem Ast und betrachtete das Schauspiel. Immer wieder sah er von einem zum anderen. Und er war sich auch Ria bewusst. Er ließ ihr keine Chance, ihn hinterrücks anzugreifen. In der Offensive hätte sie keine Chance.

Auf einmal ruhten die furchtlosen Rubine auf ihrem Gesicht und musterten sie eindringlich. Ein böses Lächeln lag auf den Lippen des Jungen, als er seinen Platz verließ. Geschickt landete er auf seinen Füßen und trat über den von Laub verdeckten Erdboden. Sein Blick ruhte alleine auf ihr, als er auf sie zuging. Er interessierte sich nicht für den Kampf. Er wusste, wie es enden würde. Lucio und Jackin hatten keine Chance. Ein armseliger Zoma und ein noch armseligerer Mensch.

Einen Meter vor Ria bleib er stehen. Rechts von ihm war der Kampf des Menschen und zu seiner Linken beschritt Lucio sein Match. “Na, Ria. Lange nicht gesehen”, begann er in einem Plauderton.

Sofort ging Ria eine Abwehrstellung machte sich auf alles gefasst. Taiyo-Yoru war ihr nicht geheuer. Er war ihr Feind. “Ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn es so geblieben wäre. Was willst du hier?”, fauchte sie ihn an. Ihre hellblauen Augen, dem Himmel gleich, sahen ihn voller Verachtung an.

Natürlich ließ er sich nicht aus der Ruhe bringen. Tadelnd erklärte er ihr: “Ich bin doch dein Cousin, also sei doch wenigstens ein bisschen freundlicher, liebe Ria. Du brauchst keine Angst haben. Für dich werde ich nie eine Bedrohung darstellen. Ich möchte nur wissen, wo Aya ist, mehr auch nicht.” Er lächelte und seine giftigen Zähne blitzen weiß auf. Er war ein hübscher Junge, genauso wie sein großer Bruder. Doch täuschte das Äußere nicht über seinen Charakter hinweg. Er war eine miese Schlage. Man konnte ihm nie trauen.

“Sag ich dir nicht”, zischte Ria wütend. “Hauptsache sie ist in Sicherheit.” Auch wenn es nicht stimmen mag. Sie war genauso wenig in Sicherheit, wie sie es gewesen waren. Vielleicht befanden sie sich in einem Kampf, oder sie hatten bereits aufgeben. Aber vielleicht, nur vielleicht, standen sie bereits an der Mauer und waren dem Ziel näher, als erwartet.

“Böses Mädchen”, scherzte ihr jüngerer Cousin, doch seine Augen verrieten ihr, dass er wütend war. Wieso wollte er unbedingt Aya finden? Hatte er Shinri nicht schon genug Schmerzen zugefügt? Musste er auch noch dafür Sorgen, dass Shinris Herz zersprang, bevor er seinen komplett Verstand verlor?

Unerwartet griff er an und seine Hand legte sich fest um ihr Handgelenk. Er drückte zu und sie stöhnte vor Schmerz auf. Das Blut drang nicht mehr bis zu ihrer Hand durch. Ihre Finger wurden taub und sie ließ den Ast zu Boden fallen. Aber ihre Miene blieb unerschüttert und wütend. “Lass mich los!”, fauchte sie und versuchte sich irgendwie zu befreien, aber Yoru sah sie unbeeindruckt an und drehte ihren Arm, bis zu ihrem Schmerzpunkt. Sie schrie auf.

Sofort wanden Lucio und Jackin sich zu ihr um. Das war ein Fehler. Die Wachen stürzten sich auf die unachtsamen Gegner. Rias eigenes Leiden war weniger Wert, als das ihrer Begleiter. Sie schluchzte leise auf, als die Fäuste auf Jackin und Lucio niederprasselten. Der Zoma konnte sich den Schlägen entziehen und wieder zum Angriff übergehen, aber Jackin wurde rigoros zu Boden gedrückt.

“Lasst ihn sofort in Ruhe”, schrie sie. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Sie wollte zu ihm, ihm helfen, aber Taiyo-Yorus Hand ließ nicht locker. Wie eine Schraubzange krallten sich seine Finger in ihre Haut. Sie spürte den Schmerz kaum, denn der Hass und die Angst nahmen sie ganz ein. “Lass sie, bitte”, hauchte sie und versuchte sich weiterhin aus dem Griff freizukämpfen. Noch immer tat sich nichts. Ungerührt blieb Yoru neben ihr stehen und hielt sie fest.

“Nur, wenn du mir sagst, wo ich Aya finden werde”, schlug Yoru vor. Seine Augen leuchteten amüsiert auf. Er ignorierte das Schauspiel vor sich. Für ihn war es uninteressant, zuzusehen, wie seine Wachen jemanden verprügelten. Aber solange er seinem Ziel damit näher kam, war es von Nöten. Schon bald hätte er Ria so weit, dass sie auspackte.

Jackin lag regungslos am Boden. Er kam nicht mehr dazu, sich zu wehren, oder irgendwie zur Tat zu schreiten. Nur noch das leise, schmerzerfüllte Ächzen verkündete, dass er noch lebte. Die Wachen ergriffen ihn bei den Armen und hielten ihn fest, während sie auf Yoru zutraten. Jackins Kopf hing hinab und seine Füße wollten ihn kaum mehr tragen. Hätten die Arme der Männer ihn nicht gehalten, wäre er zu Boden geflogen.

“Meister Taiyo-Yoru, was sollen wir mit ihm machen?”, fragte einer der Männer, dessen Gesicht weiterhin unter der Kapuze verborgen blieb. Yoru begutachtete den Menschen, bevor er sich an Ria wandte. “Was sollen wir mit ihm machen, meine liebe Cousine?” Er ließ ihr die Wahl. Würde sie ihm die Information geben, die er verlange, wäre Jackins Leben in Sicherheit. Sollte sie sich weiterhin weigern, könnte er für nichts garantieren.

Ria schluchzte auf, als sie ihren Jackin betrachtete. Sie wollte zu ihm gehen, aber noch immer hielt sie ihr jüngerer Cousin fest. Sie musste aussagen, um Jackins Willen. Lucio konnte ihnen nicht helfen. Er war noch immer in dem Kampf gegen die Wachen verstrickt und jemand anderes war nicht in Sichtweite. Es lag ganz alleine an ihr. Aber … damit würde sie Aya in Gefahr bringen. Die einzige Rettung, die Shinri im Moment hatte.

Sie schluckte schwer, als sie mit leiser, trauriger Stimme anfing, die Information Preis zu geben, die Yoru sich so sehr wünschte. “Ich weiß nicht, wo genau sie sich jetzt befinden mag. Aber … wir haben-” Auf einmal unterbrach sie sich und blickte verwirrt auf, so wie auch die andere Wachen ihre Blicke erhoben. Nur Lucio kämpfte unbeirrt weiter.

Im Dickicht raschelte etwas. Rias Herz wurde schwer und rutschte ihr immer tiefer. Sie wollte nicht, dass noch weitere Wachen kamen. Waren sie denn nicht schon genug? Sie hatten bereits verloren. Was brachte es, noch mehr Feinde zu haben? Ria hatte Angst, dass Yoru die Meinung ändern würde, Lucio ebenfalls gefangen nahm und sie alle aufs Schloss brachte. Gefangen sein und Aya dann auch noch auszuliefern, war das Letzte, dass sie tun wollte. Aber hatte sie eine Wahl?

Auf einmal betrat ein schwarzhaariger Mann das Kampffeld. Groß, stattlich und wütend. Die goldenen Augen betrachteten das Schauspiel und schafften sich sehr schnell einen Überblick. Ria fühlte, wie ihr ein Stein vom Herzen fiel, als sie Kurai erkannte. Sie konnte kaum ihren eigenen Augen trauen, aber er war wirklich hier, bei ihnen. Bevor sie oder die anderen es richtig registrieren konnten, rannte er bereits auf sie zu, griff sich die erste Wache und schleuderte dieser seine Faust in den Magen. Ächzend sackte der Mann mit der Kapuze zusammen.

Kurai hielt sich nicht lange auf und kämpfte sich durch Jackins Wachen hindurch und rannte auf Yoru zu. Die Männer, die bereits wieder standen, ignorierte er. Sein Ziel stand direkt vor ihm. Seine Hand verwandelte ich in die Pfote eines Wolfes und er setzte zum Schlag an.

Taiyo-Yoru versuchte sich, in Deckung zu bringen, ließ Ria los und trat einen Schritt zurück, als ihn Kurais Krallen bereits erreichte. Der schwere Schlag auf die Brust, nahm ihn den Atem. Die spitzen Krallen durchdrangen die Haut und hinterließen eine rote Spur, während Taiyo-Yoru zu Boden stürzte. Schnell machte der junge Zoma eine Drehung und brachte sich ganz außer Reichweite des älteren. Mit einem Satz sprang er auf einen großen Ast, die Hand auf die blutende Wunde drückend. Für einen Moment verfingen sich die roten Augen in den goldenen Kurais. Eine kurze, knappe Verbeugung. Ein hinterhältiges Grinsen und Yoru verschwand in den Tiefen des Waldes.

Kurai eilte ihm nicht hinterher. Er sah sich kurz nach Ria um, die sich einen Ast zur Hand genommen hatte und auf einen der Wachen einschlug. Schon machte auch er sich dran, den Wachen eine Lektion zu erteilen. Er brachte sie ein Stück von Jackin ab, der schwer atmend auf dem Boden lag, zwang sie in die Knie und als sie für einen kurzen Augenblick kampfunfähig waren, rannte er in den Wald und holte eine Schlingpflanze hervor.

Geschickt fesselte Kurai die Wachen, sodass sie bewegungsunfähig waren. Danach half Kurai Lucio, welcher bereits eine Wache ausgeschalten hatte und sich nur noch mit einem duellierte. Dass Lucio den einen umgebracht hatte, ignorierte er gekonnt. In einem Kampf wie diesem, war jedes Mittel recht. Lucio verpasste dem Letzten ebenfalls den Gnadenstoß. Er biss ihm in den Nacken und riss dabei ein großes Stück heraus, besudelte sich selbst und den Boden mit Blut seines Feines. Lucios grüne Augen funkelten tödlich.

Kurai stellte sich vor Ria und versperrte ihr den Anblick. Lucio gab sich nicht oft seinen Instinkten hin, aber wenn er es tat, konnte es sehr brutal enden. Ria blieb nicht lange hinter Kurais Rücken versteckt. Sie brauchte keinen Schutz von ihm und trat hervor. Ein leises, erschrockenes Keuchen erklang, als sie Lucio erblickte. Langsam und mit gehobenen Händen, um ihrem Cousin zu zeigen, dass sie keine Bedrohung für ihn war, ging sie auf ihn zu.

“Es ist vorbei, komm. Kurai ist hier. Lass uns über unsere nächsten Schritte sprechen.” Lucio hob den Kopf, als er Rias Stimme vernahm. Dann runzelte er die Stirn und der gefährliche Ausdruck auf seinem Gesicht legte sich. “Was ist mit Aya. Wo ist Aya?”, fragte er und blickte sich um. Aber nirgends war das brünette Mädchen zu finden. Auch Ria machte sich Sorgen. Sie wanden sich an Kurai.

“Hast du sie etwa zurück gelassen? Wieso? Was ist, wenn sie angegriffen wird?”, fragte Ria entsetzt. Sie wollte sich nicht einmal ansatzweise ausmalen, was passieren würde. Sie hätte es verstehen können, wenn sie Shinri verloren hatten. Er war bereits so weit weg, dass die Rettung unsinnig war, aber Aya alleine zu lassen, um ihren Tod damit herbeizurufen?

Kurai entgegnete ihnen im ruhigen und ernsten Ton: „Aya wollte es so. Sie ist fast am Ziel und nicht alleine. Vertraut ihr und lasst uns lieber einen anderen Weg in das Schloss finden.“ Er deutete mit einem Nicken auf die Wachen. “Ich nehme an, dass sie etwas wissen, was uns helfen könnte.” Er trat als erster auf ihre Feinde zu, die gefesselt, Rücken an Rücken, auf dem Laubbesetzten Boden saßen.

Lucio folgte ihm, aber Ria kümmerte sich lieber um Jackin, der sich mittlerweile aufgesetzt hatte. “Geht es dir gut?”, fragte sie besorgt nach, als sie seine Wunden inspizierte. Aber ihr Freund nickte nur und lächelte sie zuversichtlich an. Erleichtert fiel sie ihm um den Hals. “Ich habe mir so Sorgen gemacht.” Ein Glück, dass Kurai zu ihrer Rettung gekommen war. Die Wölfe mussten ihn davon berichtet haben. Wie sollte es auch anders sein? Aber was wird jetzt aus Aya?

Sie sei am Ziel, hieß es. Aber bedeutete das nicht auch, dass sie ins Schloss vorgedrungen war? Was, wenn dort Wachen auf sie warteten, oder Yoru ihr auf die Schliche kam? Sie war hilflos und Shinri konnte ihr keine Hilfe sein. Schließlich musste sie ihn erst einmal finden und befreien. Ria betete, dass Aya das Glück zur Seite stand. Denn sie würde es sehr dringen brauchen.
 

So schnell ihre Füße sie trugen, rannte Aya auf das Schloss zu. Sie hasste Sport, seit sie aber Shinri kannte, kam sie immer wieder an ihre eigenen Grenzen. Sie erinnerte sich noch gut an das Tischtennismatch gegen ihn. Sie hatten bis zum bitteren Ende gespielt. Wahrscheinlich hätte sie sogar so weiter gemacht, bis sie umgekippt wäre. Damals war Shinri so nah gewesen. Und immer wieder hatte sie versucht, ihn von sich zu stoßen. Aber jetzt rannte sie, so weit ihr Körper sie trug, nur um ihn wieder zu sich zurück zu holen. Wie die Zeit sie verändert hatte, merkte sie erst jetzt.

Sie ignorierte das Brennen in ihrem Brustkorb und auch die Schwere ihrer Beine, die drohten, einzuknicken. Unbeirrt rannte sie weiter. Außer Atem und nach Luft ringend hielt sie vor dem Holztor an. Die große Tür war alt und von Efeu überwuchert. Aya versuchte sie zu öffnen, aber das Grünzeug wollte nicht nachgeben. Eilig machte sie sich dran, das Holz zu befreien. Ihre Finger flitzten über die grüne Pflanze, rissen und zogen. Immer wieder fuhr sie über das morsche Holz und fing sich ein Holzsplitter nach dem anderen ein. Aber sie vergaß die Schmerzen und dachte nur an Shinri. Sie übersah das Blut, mit dem sie das Tor beschmierte und arbeitete gehetzt weiter. Als sich die Ranken gelöst hatten, öffnete sie die Tür erleichtert und huschte in das Innere des Schlosses.

Das Tor glitt laut knarrend ins Schloss. Aya fand sich in einem langen Gang wieder. Die Fackeln an der Wand spendeten nur wenig Licht und leuchteten ihr den Weg nur einige Meter weit. Sie konnte das Ende des Ganges nicht sehen, oder welche Fallen dieser herbergte. Ihr war mulmig zumute. In der Luft hing ein fauliger Geruch. Die eigenartige, widerliche Kulisse rief in ihr ein Gefühl der Übelkeit hervor. Sie Kämpfte gegen den Wunsch, sich hier zu übergeben, an. Der Würgereiz war noch immer da, aber um einiges geringer, als sie sich die erstbeste Fackeln zur Hand nahm. Nach einem kurzen Blick auf die Tür hinter ihrem Rücken, eilte sie weiter. Ob Fallen, oder nicht, war ihr egal. Sie hatte es eilig.

Je weiter sie in das Schloss vordrang, desto lauter wurde der Ruf ihres Herzens. Shinri musste ganz in der Nähe sein, verkündete ihre Seele. Dieses Gefühl trieb sie weiter an, obwohl ihre Beine nachgeben wollten und ihre Hände vor Schmerzen brannten.

Sie konnte immer nur wenige Meter vorausschauen, denn der Rest lag im Dunklen. Nur ab und an erhellte eine weitere Fackel den Gang, der so kahl war, wie ein leer geräumter Keller. Kalt, dunkel und nass. Sie fühlte sich unwohl und die Vorstellung an mögliche Begegnungen bescherte ihr eine Gänsehaut. Alleine die Gedanken an Shinri waren ihre treibende Kraft. Hätte sie kein Ziel vor Augen gehabt, wäre sie bereits nach den ersten Schritten wieder umgedreht. Doch nur für Shinri lief sie und lief, solange ihre Füße sie trugen.

Erleichtert atmete sie auf, als der Korridor sein Ende nahm. An der leeren Wand ihr gegenüber befand sich eine Tür aus hellem, alten Holz, genauso morsch, wie das Tor, durch das sie hierher eingedrungen war, nur ohne Efeu.

Ungeachtet dessen, was sich dahinter verborgen halten könnte, eilte Aya an die Tür und legte ihre wunden Hände auf die kalte, rostige Klinke. Sie drückte mit einem leisen Knarren das Silber herab und zog, aber zu ihrer Enttäuschung gab die Tür nicht nach.

Mit einem zornigen Seufzen zog Aya erneut und erneut, aber das Holz hielt stand. Es machte sie wütend und traurig zugleich, da sie annehmen musste, ihre Reise würde hier ihr Ende nehmen. Aber sie wollte dieser Vorstellung nicht erlegen und in Tränen ausbrechen. Schimpfend und fluchend lief sie von einer Wand zur nächsten, die nur wenige Meter auseinander waren, während sie überlegte, wie sie die Tür aufbringen konnte.

Es blieb nur die Möglichkeit der Gewalt übrig. Da das Hindernis anscheinend verschlossen war, konnte sie nur mit Wucht hindurchrasen. Das würde schmerzhaft werden und mit einer Fackeln in der Hand war es ebenfalls ein Problem. Doch dann blieb sie vor der Wand stehen. Sie blickte das kahle Grau empor, bis sie eine Halterung fand. Schnell und entschlossen steckte sie ihre Fackel hinein. Hätte sie das Feuer zu Boden geworfen, stünde sie nun im Dunklen, aber sie hatte Glück und konnte jetzt mit freien Händen und genügend Licht vor die Tür treten.

Ein paar Meter vor dem Hindernis blieb sie stehen. Sie sammelte all ihre Kraft und ihren Mut, während sie das Holz anvisierte. Nach einem kurzen, tiefen Einatmen, rannte sie los. Sie ließ ihr ganzes Gewicht gegen die Tür fallen, hob vom Boden ab und ihre Schulter traf auf das Holz.

Unter diesem Aufprall barste das Hindernis. Aya brach durch das schwere Holz hindurch, riss es auseinander und fing sich große, schwere Splitter ein. Dann landete sie in etwas weiches und stürzte zu Boden.

Kapitel 24

Für einen Moment blieb Aya untätig liegen, ihrem Schmerzen erlegen. Doch sie brachte es fertig, sich aufzurappeln. Eilig brachte sie das Weiche, dass sie zu umhüllen schien, von sich, während sie unter ihrem Leiden schwer zu schaffen hatte. Als ihre Sicht frei war, betrachtete sie einen großen Saal, reichlich geschmückt mit vielen wertvollen Gegenständen und Bildern. In der Mitte stand ein großer, langer Tisch aus hellem Holz geschnitzt, um den viele weich gepolsterte Stühle herumstanden. An den Wänden hingen Bilder und Teppiche, die alte Geschichten erzählten und auf dem Boden lag ein riesiger Teppich in blutroter Farbe ausgebreitet, der irgendein Symbol zeigte. Einen Adler, wenn Aya nicht falsch schätzte.

An der einen Seite führte eine geschlossene Doppeltüre hinaus in ein anderes Zimmer, wie Aya vermutete, und direkt daneben stand eine große, breite Treppe, die ungefähr soviel maß, wie ein Elefant.

Aya bestaunte für einen kurzen Moment das, was sie zu sehen bekam, bevor sie durch ihre eigenen Schmerzen zurück gerufen wurde. Schnell betrachtete sie ihre Schulter. Ihr Oberteil war etwas Gerissen und ein großer Splitter hatte sich in ihr Fleisch gebohrt. Allgemein wies sie sehr viele Schrammen und Wunden auf. Sie seufzte kurz und tastete nach dem Holzsplitter. Als ihre Hände das Holz zu fassen bekamen, kniff sie die Augen zusammen und presste die Zähne aufeinander, bevor sie sich von dem Fremdkörper trennte. Mit einem Ruck war er heraußen, gefolgt von einem schmerzhaften Brennen.

“Shinri”, murmelte sie, um wieder zu Kräften zu kommen. Sie musste zu ihm, so schnell es ging. Sie rappelte sich auf ihre schwachen Beine und trat hinter dem Teppich hervor, der die Tür versteckt hatte. Ein letzter Blick durch den Saal zeigte ihr, dass sie wirklich ganz alleine war.

Sofort rannte sie wieder los und auf die Treppe zu. Ihr Inneres rief danach, hinauf zu kommen. Sie schien nicht mehr weit von ihrem Ziel entfernt zu sein. Mit schnellen Schritten überquerte sie die große Treppe. Schon bald stand sie in einem weiten Flur, der genauso reichlich verziert war, wie der Saal im unteren Geschoss. Aber sie ignorierte den Schmuck und die Wertsachen, schloss ihre Augen und sammelte sich.

Sie konzentrierte sich genauso fest, wie sie es getan hatte, um Shiko zu sich zu rufen. Und wieder konnte sie Shinri spüren, tief in ihrem Herzen und nah bei sich im Haus. Als sie die Augen wieder öffnete, wusste sie ganz genau, wo sie ihn zu finden hatte. Mit schnellen, aber vorsichtigen Schritten lief sie auf eine der Türen zu. Ihr Herz verriet ihr, dass sie richtig lag, denn es füllte sich mit Freude und Erleichterung.

Noch ein letzter Blick in beide Richtungen der Gänge, um auch wirklich sicher zu gehen, alleine zu sein, dann legte sie ihre Hände auf die Klinke und öffnete die Tür. Diese war seltsamer Weise nicht versperrt, wie sie eigentlich erwartet hatte.

Eilig betrat sie den Raum, ohne erneute Prüfung und schloss hinter sich. Auf einmal war alles um sie herum in tiefes Schwarz getaucht. Sie sah nichts und ihr Atem stockte. Eines war gewiss, sie war nicht alleine. Sie spürte die Gegenwart einer anderen Person. Shinri!

Blindlings tastete sie die Wand hinter sich ab und lief zwei Schritte, bevor sie einen Lichtschalter spürte. Sie ließ sich keine weitere Sekunde des Zögerns, als ihre Finger den Schalter betätigten. Licht glomm über ihr auf und blendete sie rigoros. Ihre Augen schlossen sich automatisch. Es dauerte einige Zeit, bis sie sich an das Licht gewöhnt hatte. Blinzelnd probierte sie immer wieder, durch die Helligkeit zu spähen, bis ihr es zu guter Letzt gelang und ihr Blick an einem einzigen Punkt hängen blieb.

Mit weit aufgerissenen Augen betrachtete sie die Gestalt eines Vogels, der die Größe eines jungen Mannes hatte. Um genau zu sein, war es ein Adler, der Shiko sehr ähnlich sah. Der schwarz gefiederte Vogel lag zusammen gekrümmt auf dem kalten Boden. Seine Gelenke, wenn man das so nennen konnte, waren durch Ketten mit der Wand verbunden. Es war mehr als offensichtlich, dass er ein Gefangener war. Und für Aya konnte es nur einer sein. Shinri.

“Shinri”, flüsterte sie und trat auf ihn zu. “Was hat man dir angetan.” Sie betrachtete die eisigen Ketten. Er gab kein schönes Bild ab, als hätte er aufgegeben. Aya unterdrückte die Trauer. Sie war hier. Sie konnte ihm helfen. Dafür musste sie ihm aber erst befreien. Nur wie?

Ihre Stimme hatte Shinri aufgeweckt. Er bewegte sich langsam, wand den Kopf und blinzelte sie aus müden, schwarzen Augen an. So tiefschwarz wie die Nacht. Sie spiegelten Einsamkeit wieder. Der Anblick ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Er hatte so viele qualvolle Stunden, nein, sogar Tage, hinter sich und sie wusste nicht, wie sie ihm helfen konnte. Mit vorsichtigen Schritten trat sie auf ihn zu. Er erkannte sie nicht. Es war, als würden seine Augen in weite Fernen blicken. Sie trat ganz nah zu ihm und kniete sich nieder. Traurig sah sie ihm in die Augen.

“Shinri”, flüsterte sie seinen Namen erneut und ihre Hand strich ganz sanft über seine Federn. Es durfte nicht so enden, befahl sie sich selbst. Sie musste doch irgendetwas tun können. Ihr Blick glitt erneut zu den Fesseln. In dem Raum gab es nichts. Das einzige, dass sie sah, war ein Tisch und ein Stuhl. Ansonsten war er karg, kalt und finster.

Auf einmal rührte Shinri sich unter ihrer Hand. Er wand den Kopf, als wollte er sich von ihr lösen. Seine Augen waren geschlossen. Seine Glieder begannen sich zu bewegen. Die Flügel, die so schmerzhaft zusammen gehalten wurden, rissen an den Ketten. Er stieß einen leisen Schrei aus, dass mehr einem Ächzen gleich kam. Sein Wehren brachte nichts. Es war hoffnungslos. Dennoch riss er weiter blindlings an den Ketten. Die Federn an den Stellen, an denen er festgehalten wurde, waren bereits abgeflogen und er rieb sich die Haut auf. Blut rann über die schwarzen Federn und tauchte sie in einem schimmernden Ton.

Aya konnte nicht mehr zusehen. Ihr Herz zerbrach, während er versuchte, sich zu befreien. Hoffnungslos, flüsterte eine Stimme in ihr. Sie ging nicht von im weg. Nein, sie musste zu ihm. “Hör auf”, bat sie ihn. “Hör auf, dir selbst weh zu tun.” Sie berührte einen seiner Flügeln, um ihn zu beruhigen. Sofort wurde er still und öffnete schlagartig seine Augen. Das tiefe Schwarz blickte sie kampfbereit an, bis sich Klarheit in seiner Miene spiegelte.

Er wollte etwas sagen, aber er bekam nicht mehr, als ein Ächzen heraus. Seine Kehle war trocken und wahrscheinlich auch mehr die eines Vogels, als die eines Menschen. Aber es brauchte keine Worte. Sein Verstand war zurück. Das machte sie so glücklich. Dieses Wissen in seinen Augen, hätte sie beinahe vor Freude jubeln und weinen lassen, aber dafür war keine Zeit. Sie mussten hier weg, bevor man sie ertappte. Aber Shinri konnte nicht gehen.

“So weit vorgedrungen und doch nichts geschafft. Nicht wahr, Aya? Diese Situation ist nur eines: Hoffnungslos.” Aya fuhr herum. Sie war schnell auf den Beinen, fühlte kurz darauf aber, wie sie von der Stelle weggezogen wurde und dann war die kalte Wand hinter ihr. Taiyo-Yorus Gesicht befand sich direkt vor ihrem. Seine roten Augen leuchteten amüsiert und zornig zugleich.

“Da bin ich einen Moment nicht Zuhause, um deine Freunde willkommen zu heißen, und du dringt ungefragt in meine Privatsphäre. Du musst noch einiges lernen”, tadelte er sie. “Findest du das nicht auch unhöflich?”

Aya konnte nicht antworten, egal ob sie gewollt hätte oder nicht. Yoru hatte seine Hand um ihren Hals geschlossen und drückte sie gegen die Wand. Sie bekam nur schwer Luft. Dennoch versuchte sie, irgendwie nach ihm zu treten und legte ihre Hand um die seine, um sich aus diesem Griff zu befreien. Doch es geschah nichts, außer dass sie Taiyo-Yoru amüsierte.

Aus den Augenwinkeln heraus konnte sie den schwarzen Adler sehen. Shinri zerrte an seinen Ketten, so gut es ging, obwohl es hoffnungslos war. Seine Flügel flatterten, so weit sie mit den Fesseln kamen und die Krallen kratzten über den Boden. Er wollte protestieren, aber aus seinem Schnabel kam nicht mehr, als ein Krächzen.

Sein kleiner Bruder lachte ihn aus. “Ja, jetzt würdest du wohl gerne den großen Helden spielen. Aber dafür ist es jetzt zu spät. Nicht mehr lange und ich kann dich frei lassen, versprochen.” Er grinste gehässig zu Shinri hinüber, wand sich aber kurz darauf wieder an Aya. “Und du wirst jetzt mitkommen, damit ich dich einer kleinen Gehirnwäsche unterziehen kann.”

Seine Hand ließ ihren Hals los und sie begann zu husten und nach Luft zu schnappen. Dann versuchte sie, auf ihn los zu springen, als er ihre Hände packte und diese hinter ihren Rücken zwängte. “Nein, nein. Das lässt du schön bleiben.”

Aya riss an dem Griff, wie Shinri an seinen Ketten. Die Finger krallten sich in ihr Fleisch und ihre Arme zogen schmerzhaft, aber sie zerrte weiter. Mit all ihrem Gewicht ließ sie sich nach hinten fallen, direkt auf Taiyo-Yoru. Überrascht torkelte dieser wenige Schritte rückwärts. Sein Griff lockerte sich dabei. Aya wartete keine Sekunde ab und riss sich von ihm los. “Das kriegst du jetzt alles zurück”, fluchte sie und stürzte sich auf ihn, anstatt weg zu rennen. Sie wollte kein Feigling sein und Shinri hier zurück lassen. Egal was es sie kosten möge, sie musste ihn befreien.

Wütend holte sie mit der Faust aus und schlug Taiyo-Yoru mitten in das hübsche Gesicht, welches Shinri so ähnlich sah. Gleich darauf verpasste sie ihm einen Kinnhacken und Taiyo-Yoru wich noch einige Schritte zurück. “Na, was sagst du jetzt?”, sagte Aya erfreut, als sie erneut auf ihn zuging. Sie holte aus, aber dieses Mal verfehlte ihre Faust das Ziel. Yoru verschwand vor ihr und ihre Hand traf auf harten Stein. Der Schmerz wanderte durch ihren Arm und lähmte sie für eine kurze Zeit. Taiyo-Yoru ließ ihr aber keine Zeit, sich zu erholen. Schon stand er hinter ihr und riss ihre Hände erneut hinter ihren Rücken. Weiterer Schmerz durchzuckte sie, was ihr angesichts der Situation fast egal war. Verzweifelt holte sie mit dem Fuß aus und traf ihm direkt an das Schienbein, doch er blieb standhaft. Einzig und allein ein scharfes Einatmen verhieß ihr, dass sie ihm weh getan hatte.

Sie wollte erneut ausholen, als der Boden unter ihren Füßen verschwand. Ein Schlag von Taiyo-Yoru vermochte es, ihre Beine umzuknicken. Mit einem leisen Schrei stürzte sie zu Boden, alleine von Yoru gehalten. Ihre Arme verzogen sich und sie schrie erneut auf, vor Schmerz. Sie biss die Zähne zusammen, konzentrierte sich nur auf den Feind, als es zu spät für sie war.

Mit einem wilden Ruck wurde der Griff aufgelöst und sie purzelte nach vorne. Ein lautes Scheppern drang an ihr Ohr. Schnell stand sie auf - die Belastung ließ ihre Beine zittern - und erblickte Taiyo-Yoru, der hinter dem umgefallenen Tisch lag. Jetzt erst sah sie, dass er eine Wunde an der Brust trug, als hätten ihn ein Wolf angefallen. Auf einmal sprang jemand an ihr vorbei und auf den Feind zu. Der Tisch wurde zur Seite geschoben und ein rothaariger Mann packte Yoru am Kragen und hob ihn hoch.

“Schön, dich wieder zu sehen”, knurrte er und schleuderte den schwarzhaarigen Zoma von sich in die Gegenüberliegende Ecke, in der er zusammensackte. Der andere wand sich um und dann erblickte Aya die todverheißenden Augen, die sonst immer in einem fröhlichen dunkelgrün leuchteten. Lucio war außer sich vor Wut. Auch sah sie seine blutverschmierte Kleidung und ihr stockte der Atem.

Lucio beachtete Aya kaum und trat mit geschmeidigen, bedrohlichen Schritten auf Taiyo-Yoru zu. Er schien ganz so, als hätte er die Situation ganz unter Kontrolle. Aya war dankbar für die Hilfe, auch wenn sie der Anblick des Zomas verstörte. Schnell rannte sie zu Shinri hinüber. Sie hatte Angst, Lucios Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sie glaubte nicht, dass er sie töten würde, aber in seiner derzeitigen Verfassung war ihm gewiss nicht zum Reden zumute.

“Ich bin wieder da”, murmelte Aya, als sie vor Shinri in die Knie ging. “Aber wie befreie ich dich jetzt?” Ein erneutes Poltern war hinter ihr zu hören. Es klang, als ginge der Stuhl in die Brüche. Kurz darauf erklangen mehrere Schritte. Ein leiser Aufschrei. Aya blickte auf. In der Tür stand Ria. Sie sah die beiden Kämpfenden wie gebannt an. Ihre Augen waren vor Schreck geweitet. Schon wollte sie zu ihnen gehen, als Aya nach ihr rief. “Ria, wie kann ich Shinri befreien? Diese Fesseln haben kein Schloss”, rief sie dem anderen Mädchen zu.

Ria riss sich von dem Schauspiel los und stürzte zu Aya. Sie ging neben ihr in die Knie und betrachtete ihren Cousin mit einem besorgten Blick. Danach betrachtete sie die Fesseln.

“Verflucht”, murmelte sie und konzentrierte sich auf die aneinandergereihten Glieder, die sich durch all das Zerren nicht lösen wollten. Nach ein paar Minuten, in denen die Stille nur von den Kampfgeräuschen der beiden anderen unterbrochen wurde, blickte sie dann auf und betrachtete Aya das erste Mal genauer. Wieder regte sich Sorge in ihrem Blick. “Blut”, murmelte sie. “Wir brauchen Blut.”

Aya blinzelte verwirrt. “Blut? Aber Shinri blutet doch. Ist das nicht genug Blut?”

Ria schüttelte den Kopf. “Seines bringt nichts. Wir brauchen das, einer reinen Seele. Aya, wir brauchen dein Blut. Aber so wie du aussiehst … Kannst du welches entbehren?” Das blonde Mädchen betrachtete die Verletzungen, die schmerzhafter waren, als sie aussahen. Doch Aya spürte nichts. Die Angst lähmte ihr Schmerzempfinden. Mit ernstem Blick nickte sie. “So viel Blut, wie du brauchst. Alles, von mir aus. Hauptsache wir retten ihn.” Auch Ria nickte.

“Gib mir deinen Arm. Wir brauchen einen frischen Schnitt.” Sie zog den Ärmel Ayas Kleidung hinauf und entblößte ihren Arm. Suchend blickte sie sich um. Für einen kurzen Moment verschwand sie und Aya konnte einen Blick auf Lucio und Taiyo-Yoru werfen. Yoru war noch bei Bewusstsein und versuchte sich zu wehren. Lucio drückte ihn zu Boden, begrub ihn halb unter sich und drückte seine Kehle zu. Fänge entblößten sich, scharf und gefährlich. Lucio war in diesem Moment kein Mensch mehr. Er war ein Raubtier. Schwer schluckend sah sie, wie er seine Zähne in den Hals des anderen versenkte, als Ria in ihr Blickfeld trat.

“Schau dir das lieber nicht an”, riet sie ihr und kniete sich nieder, als Aya ihren Blick wieder Shinri zugewandt hatte. Ihr war übel und ihr ganzer Körper zitterte. Zum Glück saß sie, denn ihre Beine hätten gewiss nachgegeben.

“Es tut mir leid. Es wird jetzt schmerzhaft”, entschuldigte Ria sich und beugte sich über ihren Arm. Sie hatte sich ein Holzbein des zerstörten Stuhles geholt. Mit einer Spitze fuhr sie über ihre Haut. Ein stechender Schmerz drang durch Aya, als Ria die Haut durchbrach. Sie zuckte nicht einmal zusammen. Nach dem, was sie bisher alles eingesteckt hatte, war es nichts. Sie sah zu, wie das Blut über die helle Haut wanderte und in einem dicken Rinnsal nach unten wanderte, bis zu ihren Fingern. Ria lenkte ihre Hand über die Ketten. Die rote Flüssigkeit tropfte auf das Eisen und färbte es. Immer mehr des Lebenselixiers breitete sich auf den Fesseln aus.

Auf einmal veränderte sich das Grau und leuchtete rot auf. Ria zog Ayas Hand weg und zog sich ihre dünne Jacke aus. Schnell wickelte sie den Stoff um die Verletzung. Sie versuchte, den Blutfluss zu stillen, aber Aya war es egal. Sie bekam nicht einmal mit, was Ria tat, denn ihre Augen waren noch immer auf die Ketten gerichtet, die sich nun langsam begannen aufzulösen. Als Shinri dann befreit war, konnte sie nicht mehr an sich halten und stürzte zu ihn. Ihre Arme schlangen sich um den großen Adlerkörper. “Shinri”, seufzte sie glücklich, während sie ihre Tränen zu unterdrücken versuchte. Er war frei. Jetzt musste sie nur noch hoffen, dass er wieder der Alte wurde.

“Aya!”, zischte Ria tadelnd. Sie riss das Mädchen von dem Adler fort. “Wenn du jetzt verblutest, hilfst du Shinri in keiner Weise.” Ria drückte ihre Jacke erneut auf Ayas wunde, aber das brünette Mädchen fühlte sich keineswegs schuldig. Dafür war sie viel zu glücklich.

“Könnt ihr laufen?” Beide Mädchen blickten auf. Lucio stand vor ihnen. Sein Gesicht war blutverschmiert und sein Hemd war jetzt nur noch ein einziger, blutdurchtränkter Lappen. Ria sah ihn zornig an, während Aya schwer schlucken musste. Er sah zum fürchten aus. Lucio bemerkte natürlich ihre Blicke und sah zurück auf Taiyo-Yorus Leichnam. Schnell trat er in den Blickfeld beider, um ihnen den Anblick zu ersparen. “Tut mir leid”, murmelte er schuldbewusst. “Aber wir sollten hier weg gehen.” Er schob sich an den beiden Mädchen vorbei.

Vorsichtig hob er den Körper des Adlers auf. Shinri war schwach und in seinen Augen sah man die Dankbarkeit. “Kommt, lasst uns gehen”, hieß Lucio den beiden anderen an. Wieder trat er in ihren Blickfeld und wartete darauf, dass sie sich erhoben. Gemeinsam verließen sie das Zimmer.

Sie machten sich nicht die Mühe, dass Schloss zu verlassen. Lucio nahm das nächstbeste Gästezimmer und legte den Adler auf das Bett. Die Mädchen folgten ihm und setzten sich auf die Bettkante. “Danke”, murmelte Aya in Gedanken versunken. Ihre Augen waren nur au Shinri gerichtet und ihre Hand fuhr liebevoll über die Federn an seinem Kopf. Er sah so gar nicht aus wie Shinri und doch war er es.

“Und, wie geht’s ihm? Was haben wir verpasst?” Jackin betrat das Zimmer, gestützt von Kurai. Jackin sah nicht besser aus als Aya, aber er lächelte leise und er würde schon bald wieder auf den Beinen sein.

Sofort stand Ria auf und begann Befehle zu erteilen. „Kurai, bring ihn sofort in das Gästezimmer nebenan und du Lucio suchst bitte irgendein Verbandskasten. Schließlich bist du Arzt.“ Ohne sich zu widersetzen verschwanden die beiden Männer mitsamt Jackin.

Ria wand sich dann an Aya und legte ihre Hand beruhigend auf ihre Schulter. Die Jacke hatte sie so fest wie möglich um ihren Arm geknotet. „Ich werde zu Jack gehen. Lucio kommt gleich und kümmert sich um Shinri.“

Dankbar nickte Aya, doch entgegnete nichts. Ihr Blick war fortwährend auf Shinri gerichtet und sie strich ihm sanft über die Federn. Hoffentlich ging es ihm so schnell wie möglich wieder besser. Das Wichtigste war jetzt ihre Nähe.

Bald kam Lucio wieder herein und hatte tatsächlich einige Sachen gefunden, die hilfreich sein konnten. Er musterte Shinri, meinte dann aber, dass die Wunden nicht so schwer waren und es würde von alleine heilen. Dann begann er, Aya zu inspizieren und sorgte sofort für den Schnitt, mit dem sie Shinri befreit hatte. Aya bemerkte von alledem nichts. Sie ließ ihn walten und strich weiterhin sanft über Shinris Gefieder.

Erst als Lucio sie verließ, um nach Jackin zu sehen, rührte Aya sich wieder. Leise sprach sei seinen Namen. “Shinri … Ich habe dich so vermisst.” Er war gerettet, ging es ihr durch den Kopf und sie legte ihren Kopf auf sein Federkleid. Die Stille um sie herum war unerträglich, aber seine Nähe und das Wissen, es ging ihm gut, beruhigte sie. Der Stress der vergangenen Tage fiel von ihr. Müde schloss sie die Augen. Sie sank in einen traumlosen Schlaf, Shinri bei ihr wissend.

Epilog

Die Sonne stand weit oben am Himmel in der Welt fern den Menschen. Shinris Rettung war bereits über eine Woche her. Es war ein Donnerstag und in der Menschenwelt ging die Schule eben erst zu Ende. Ria und Jackin waren die ganze Woche nicht erschienen, denn sie wollten die anderen nicht alleine lassen. Vor allem nicht Aya.

Alle hatten geglaubt, dass mit Shinris Rettung alles besser werden würde, doch hatten sie sich getäuscht. Alleine Kurai sah noch optimistisch in die Zukunft. Nachdem Taiyo-Yoru gefallen war, hatte Lucio sich von ihnen verabschiedet. Er sah müde aus und aus seiner Haut war ein Fell gewachsen. So lange von den Menschen fern zu bleiben tat keinem Zoma gut. Die anderen hatten es verstanden. Wieso Kurai so lange aushielt, wusste keiner von ihnen, doch stand die Frage auch nicht zur Debatte, viel mehr fragten sie sich, wann Shinri endlich die Augen öffnen würde.

Bis auf die Tatsache, dass sein Federkleid gänzlich verschwunden war, hatte sich sein Zustand nur verschlechtert. Mit hohem Fieber und von Alpträumen geplagt lag er im Gästezimmer. Er öffnete weder die Augen, noch sprach er mit ihnen. Aya verließ den Platz an seiner Seite für keine Sekunde mehr. Sie war fast krank vor Sorge und Jackin glaubte, wenn sie so weiter machte, würde sie ihm in den Tod folgen. Sie aß und trank kaum mehr etwas. Manchmal dachte Jackin sich, ob es nicht besser gewesen wäre, Shinri im Schloss zu lassen. Dann ginge es immerhin Aya gut.

„Komm, iss etwas, Jack“, bat Ria ihren Freund. Sie bot ihm etwas an, aber er schüttelte nur den Kopf. Wahrscheinlich litt er von den dreien hier nach Aya am meisten. Schließlich machte er sich riesige Sorgen um Aya. Wenn Shinri wirklich starb, was würde dann aus ihr werden? Natürlich war Ria ebenfalls besorgt um Shinri und Aya, aber sie ließ sich deswegen nicht gehen und versuchte dennoch weiter zu leben.

Auf einmal hallte ein erstickter Schrei durch Kurais Haus. Ria und Jackin sprangen auf, aber Kurai blieb ruhig sitzen und aß unbekümmert weiter.

“Aya”, murmelte Jackin und rannte als erstes die Treppen hinauf, gefolgt von Ria.

“Aya!”, rief Ria, als sie die Tür erreichten. Schnell öffnete Jackin und stürzte in den Raum. Doch keine Sekunde später bleib er wie angewurzelt stehen. Ria krachte in ihn hinein. Verwirrt spähte sie an seiner Seite vorbei in das Innere des Zimmers.

Aya lag auf dem Boden. Shinri begrub sie halb unter sich, während er sie verlangend küsste. Atemlos ergab Aya sich ihm und seufzte verzückt. Sie bemerkten nicht einmal, dass jemand bei ihnen im Zimmer stand.

Wortlos drängte Jackin Ria hinaus und schloss die Tür. Als er sich umwand, war sein Gesicht knallrot. Er räusperte sich. “Ich glaube … es geht ihm gut”, meinte er und ging die Treppen hinab, zu benommen, um sich lauthals zu freuen, wie es Ria tat. Sie umarmten Jackin und lachte laut auf. Am Esstisch saß ein lächelnder Kurai, der Jackin einen wissenden Blick zuwarf. “Er ist wieder auf den Beinen?”, fragte er nach. Der blonde Junge konnte sich nun auch kein Lachen mehr verkneifen. “Nicht ganz”, scherzte er und ließ sich auf den Stuhl zurück sinken. Auf einmal überkam ihn ein Heißhunger.
 

~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~

So. Jetzt hab ich das endlich hinter mir und ihr auch.

Es tut mir wirklich wahnsinnig leid, dass ich euch so sehr damit genervt habe!!

Und ich möchte mich kathri und allen anderen entschuldigen, die meine Story gelesen haben und jetzt wieder was neues vor sich liegen haben.

Aber immerhin bin ich hier jetzt fertig.

Ich hoffe aber, es hat euch trotzdem gefallen und ihr seit mir nicht zu sehr böse ^^" immerhin hör ich jetzt auf, euch mit dieser Story zu nerven und ich werde mich davor hüten, so einen scheiß noch mal zu machen.

Hab euch echt lieb und hoffe, ihr bleibt mir trotz meiner Dummheit treu!
 

Eure Ani_07



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Kommentare zu dieser Fanfic (48)
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Von:  Annixoxoo
2015-11-17T21:25:49+00:00 17.11.2015 22:25
Wunderschöne Story!
Schade, ein Teil 2 wäre echt schön gewesen.


Lg
Von: abgemeldet
2009-03-16T17:05:01+00:00 16.03.2009 18:05
Ach ja...
wie hab ich das vermisst...
die story...
und die charaktere...
und die rechtschreibfehler...
*grins* hey war nur spaß! isn supaa kapi geworden!
Von:  Severinam
2009-02-13T11:22:39+00:00 13.02.2009 12:22
So,
du hast mich (mehr oder weniger) gebeten dir zu schreiben was verbesserungsfähig ist und das sind die sachen die mir aufgefallen sind.

"Ria und Shinri sind endlich wieder zurück gekommen"
Falsche zeitform

"Sie warf ihre Haare hinter uns zeigte sich wieder in ihrer hochnäsigen Pose."
ich glaub da mus ein "und" hin

"..., deren Miene sich in eine fragliche verwandelte."
Ich halte "fragende" für sinnvoller.

"Jackin wirkte etwas fraglich."
Vieleicht wäre "irritiert" etwas sinnvoller.

"... und jetzt gingen sie bald gemeinsam in die Stadt.
Schon bald machten sich beide auf den Weg in die Stadt."
irgendwie zu kurz hintereinander beinahe Wörtlich die selbe aussage.

"Dort setzten sie sich in ein entferntes Eck gegenüber einander an einen Tisch."
Den satzt finde ich etwas irritierend, ein komma könnte schon mal helfen allerdings finde ich das "gegenüber einander" etwas grotesk.

Übrigens: war das ende gestern auch schon da?
Ich kann mich gar nicht dran erinnern gelesen zu haben das sie ihm schon ihre gefühle gesteht.xD
Hast du da etwa noch was reingeschmuggelt?;)

Gruß
S.
Von:  Severinam
2009-02-12T09:45:37+00:00 12.02.2009 10:45
Huhu ;)
Hey ich wollte auch mal wieder etwas sagen.
Da du ja eh bald alles noch mal aktualisierst brauch ich dir ja nicht zu sagen wo es etwas harpert, oder!?

Jedebfalls ist es wirklich süss wie Aya jetzt allmählich versucht die sache selbst in die hand zu nehemen.
Allerdings glaube ich nicht an das was Lukas sagt.
Von wegen Chinri würde nicht lieben und so.
Ich denke er hat sich auch einwenig verschossen, ist aber durch dieses "du - bist - für - mich - bestimmt - sache" zusehr von seinen eigenen gefühlen abgelenkt.

Ich bin gespannt was Aya ihm jetzt wohl erzählen wird.

Gruß
S.

Von:  Sakura-Jeanne
2009-02-11T22:15:01+00:00 11.02.2009 23:15
hammer kapitel
Von:  Mayuki
2009-01-13T17:32:29+00:00 13.01.2009 18:32
*endlich mal zum lesen komm*
*___* sooo geil q...q JA sie müssen es endlich sagen was abgeht >_<
wo ich denke das sie es nich tun x_X'
nyu <3
schreib weiter so q.q *sich wiederhol*
und nochmal sry das ich jetz erst zeit zum lesen gefunden habe..
man hört voneinander ♥
vlg deine mayu
Von:  Sakura-Jeanne
2009-01-04T19:06:56+00:00 04.01.2009 20:06
hammer ksüitel
Von:  Mayuki
2008-12-21T16:27:52+00:00 21.12.2008 17:27
MAAN Q__Q
MEEEHR x__x
q.q
das toll...
einfach nich in worte zu fassen...
.__. man da hätte ruhig noch ein 'bisschen' mehr passiern können... *hust*
Nyuuu bin schon gespannt was im nächsten Kapi passiert...
würde mich nich wundern wenn die sich wieda in die Wolle kriegen qq
Naja schön weiter schreiben xD
machst du gut :o *pat* *keks geb*
Wünsch dir auch schon mal vorzeitig ein schönes Weinachtsfest falls man sich nicht mehr schreibt ^^

vlg deine Mayu *wink*
Von:  Sakura-Jeanne
2008-12-20T21:34:46+00:00 20.12.2008 22:34
hammer kapitel

freue mich wenn es weiter geht
Von:  Mayuki
2008-12-08T16:34:34+00:00 08.12.2008 17:34
Bhaaaa Q___Q der Lukas is ja doof!
xDD Aber grade solche Menschen bringen ein bisschen Spannug in die Geschichte *-* also isses doch iwie gut..
Nya das Kapi is wie immer hamma toll x3
Mach weiter so
und in meinem Kopf sind wieder mal Fragen über Fragen q.q!
hdl <33 vlg deine Mayu


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