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Show me Love

von

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Die Welt zerbricht

Als Hyde aufwachte, hörte er die Stimme seines Vaters, aber das konnte nicht sein, sein Vater war ja ausgezogen. Vor vier Monaten und zwölf Tagen, das waren genau Einhundertvierunddreissig von den elenden, düsteren Tagen, wo sein Leben nicht mehr das war, welches es einmal gewesen war. Er richtete sich auf, schüttelte die Haare aus dem Gesicht und lauschte. Jetzt redete seine Mutter, wie immer, wenn sie aufgeregt war, klang ihre Stimme schrill und etwas gehetzt. Er konnte sich anstrengen, wie er wollte, mit horchen, er verstand nicht, was seine Mutter sagte. Als sein Vater wieder erklang, erkannte es der junge Mann nur an dem ruhigen und sanften Tonfall, sein Vater hatte immer ruhig und sanft gesprochen, auch in den allerschlimmsten Augenblicken.

Vielleicht träume ich noch, dachte er. Natürlich habe ich das geträumt, man konnte auch im Wachsein träumen, das war ja bekannt. Besonderes in der Schule, wenn es langweilig war.
 

Hyde liess sich wieder fallen, legte sich das Kissen auf das Gesicht und schloss die Augen. Er überlegte, welcher Tag heute war. Mittwoch. Mittwochs hatten sie immer erst zur Dritten, seit Sport ausfiel. Dieses Fach war praktisch im ganzen letzen Halbjahr ausgefallen, weil die Sportlehrerin ein Baby bekommen hatte und es offenbar keinen Ersatzlehrer gab. Seine Mutter regte sich schrecklich darüber auf, dass immer mehr Stunden ausfielen. Doch Hyde war ganz zufrieden so, Freistunden waren in jedem Fall besser als langweiliger Unterricht. Und mittwochs konnte man ausschlafen, das war einfach das Beste. Der Schwarzhaarige überlegte, was er heute anziehen sollte, er war froh, dass an seiner Schule keine Uniformpflicht mehr galt und sie anziehen konnten, was sie wollten. Gerade fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, den Trockner einzuschalten, nun war sein Lieblings-T-Shirt noch nass. Am liebsten hätte er laut geflucht.
 

„Hyde? Bist du schon wach?“
 

Jemand zog sanft das Kissen von seinem Gesicht, auf einmal war es hinter den Lidern ganz hell. Da dieser jemand die Deckenlampe angeknipst hatte, blinzelte der junge Mann hilflos. Er drückte die Augen noch einmal fest zu, um sie dann wieder zu öffnen. Er sah seinen Vater ganz deutlich vor sich, keine fünf Zentimeter von seinem Gesicht entfernt. Die Haare kurz geschnitten, auf der Nase eine randlose Brille, braune, warme Augen, die lachen konnten, genau wie der Mund. Als sein Vater noch bei ihnen lebte, hatten sie viel gelacht. Seit dem er aber weg war, gab es nicht mehr viel zu lachen.

„Vater?“, flüsterte Hyde, er konnte es nicht fassen, er war sich nicht sicher, ob er wachte oder träumte, „ Bist du es wirklich?“

„Ganz sicher.“
 

Nun konnte er auch das Rasierwasser riechen, es war immer noch dasselbe. Früher hatte das ganze Bad morgens nach diesem Duft gerochen. Es war die Marke, die seine Mutter so liebte. Jeden Geburtstag hatte er einen neuen Flakon bekommen. Französisch und teuer. Hyde hätte schwören können, dass er ein anderes benutzte, seit er mit seiner neuen Frau zusammenlebte. Aber er hatte sich geirrt, ob das ein gutes Zeichen war?

Er konnte nicht anderes, er musste seinen Vater einfach umarmen. Er schlang seine Arme um seinen Hals, atmete den vertrauten Duft noch einmal tief ein, ehe er ihn aus der stürmischen Umarmung entliess.
 

„Ich bin es wirklich, mein Junge. Hat dir deine Mutter denn nichts erzählt?“
 

Hyde zog die Knie an die Brust und schaute seinen Vater an. Erst jetzt sah er, dass er ziemlich feierlich aussah; dunkler Anzug, Weste, weisses Hemd, Krawatte, schwarze Socken und Schuhe.
 

„Müsst ihr auf eine Beerdigung oder so was?“
 

Sein Vater schüttelte den Kopf, er lächelte, aber nicht richtig, wie Hyde fand. Er sah unsicher und ein bisschen verlegen aus. Sein Herz hämmerte kräftig in seiner Brust. Auf einmal keimte eine klitzekleine Hoffung in ihm auf, ganz klein wie ein Samenkorn, das ein winziges Keimblatt heraus treibt. Sie hatten das einmal in Bio beobachtet und der Lehrer hatte gesagt: Das ist das Prinzip von Hoffnung. Er hatte es damals nicht verstanden, was er meinte, aber später hatte ihm jemand erzählt, dass die Frau des Biolehrers schwer krank war und er immer noch hoffte, man würde ein Medikament gegen ihre Krankheit finden…
 

Was hoffte Hyde? Er wagte es nicht einmal den Gedanken zu Ende zu denken, mit riesengrossen Augen, atemlos, blickte er seinen Vater an.

Dieser räusperte sich: „Heute ist doch der Tag…“, sagte er rau und legte seine Hände gegeneinander, mit den Fingerspitzen, wie er immer machte, wenn er besonders verlegen war.

„Was für ein Tag?“, fragte der junge Mann, sein Herz schlug sosehr, dass es an den Rippen richtig wehtat. Er hatte oft Herzschmerzen und alle möglichen Schmerzen. Seit vier Monaten und zwölf Tagen, seit sein Vater nicht nach der Geschäftsreise nach Hause gekommen war.
 

Eine kurze Nachricht auf dem Anrufbeantworter war alles gewesen, was er an diesem Tag von seinem Vater gehört hatte. Er hatte miterlebt, wie seine Mutter weinend in das gemeinsame Schlafzimmer gerannt war und ihn einsam und alleine zurückgelassen hatte. Nicht wissend was denn nun geschehen war… Er hatte nicht verstehen können, wie sein Vater einfach von zu Hause wegblieb. Doch als dieser am nächsten Tag seine Sachen abgeholt und ihm von der anderen Frau erzählt hatte, hatte Hyde nur allzu gut verstandnen. Sein Vater hatte seine Mutter eingetauscht… Und er konnte ihm irgendwie nicht böse sein, andererseits war da aber ein lodernder Zorn in ihm.

Doch nun sass sein Vater an seinem Bett und lächelte traurig. Die ganze Situation war einfach falsch. Er wagte es dennoch nicht seinem Vater in die Augen zu blicken, aus Angst er könnte darin lesen, dass er nicht nur seine Frau sondern in erster Linie seinen Sohn im Stich liess.

Noch einmal fragte der Schwarzhaarige nach, was denn für ein Tag war, sein Vater seufzte tief. Er stand wortlos auf und ging zum Fenster, liess das Rollo hochschnappen, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und schaute in den Hof hinunter.
 

Hyde wusste, was er sah, seit der Zeit, in der er sie verlassen hatte, hatte sich auf dem Hof nichts verändert. Nur das es Winter geworden war, aber ein Winter ohne Schnee. Keine Blätter mehr an den Bäumen, keine Blumen mehr auf den Beeten, alles braun, matschig und nass. Hyde hasste den Winder. Seit sein Vater nicht mehr bei ihnen lebte, glaubte Hyde, dass es immer Winter bleiben würde. Grau und kalt.
 

Er hatte seiner Mutter nie seine Gefühle offenbart, mit ihr sprach er ohnehin nur das nötigste, aus Angst etwas Falsches zu sagen. Fast alles war falsch gewesen, was Hyde in den letzten Wochen gesagt hatte. Wenn er lachte, rief seine Mutter empört, wie kannst du nur lachen, wenn wir solchen Kummer haben? Wenn er weinte, sagte seine Mutter streng: Hör auf mit diesem Selbstmitleid, das bringt gar nichts. Wenn er aber stattdessen einfach nichts sagte und beharrlich schwieg, platzte seiner Mutter der Kragen bei dem langen Schweigen und sie schrie Hyde aus heiterem Himmel an: Was bist du? Eine Salzsäule? Eine Schaufensterpuppe?
 

Dann blickte er sie immer mit grossen Augen an und sagte ruhig „Ja“, stand auf und verliess das Zimmer, aber er knallte nicht mit den Türen. Das hatte er noch nie getan, nein, er zog seine Zimmertüre immer behutsam hinter sich zu, machte kein Geräusch. Er wusste, dass seine Mutter das noch schlimmer fand, wenn er die Tür hinter sich zugeschlagen hätte, mit einem lauten Knall, dass das Geschirr in den Schränken zitterte, dann hätte seine Mutter einen Grund gehabt ihn an zu schreien. Doch er lieferte ihr niemals einen Grund.
 

Es war so still in ihrer Wohnung, dass Hyde manchmal dachte, dass es so sein musste, wenn man tot war. Ganz still, nur Gedanken, die im Raum herumfliegen wie unsichtbare Feen oder Geister, manche böse, manche gut.
 

Und jetzt, an einem ganz normalen Mittwoch, war sein Vater auf einmal zurückgekehrt, in seinem schönen Anzug, mit geputzten Schuhen und der Krawatte, die Hyde ihm geschenkt hatte. Sie zeigte die Wüste mit Kamelen. Hyde liebte die Kamele, weil sie weiche Füsse hatten und Hunderte von Kilometern durch die Sahara gehen konnten, ohne Wasser zu sich zunehmen. Er liebte sie, weil sie traurige Augen mit langen Wimpern hatten und vor allem, weil sie in der Wüste lebten. Hyde wollte später auch mal in der Wüste sein zu Hause finden. Weg von allem hier, der Grossstadt, in der er kaum atmen konnte. In der er sich erdrückt und noch kleiner vorkam, als er selbst schon war. Er wollte die weitläufigen Dünen und den Sand sehen, der sich Kilometerweit erstreckte... Er wollte die Ruhe geniessen, die zweifellos in der Wüste herrschte.
 

„Vater?“ Hyde setzte seine blossen Füsse auf den Boden, er spielte mit seinen Zehen, damit sie wieder warm wurden.

„Ja?“ Er drehte sich nicht um, blickte immer noch aus dem Fenster.

„Warum sagst du mir nicht endlich, was für ein Tag heute ist?!“ Er stand auf und stellte sich hinter seinen Vater, schob seine Hand in die seine, so als wäre er noch ein kleiner Junge. Doch irgendwie brauchte er diesen Halt nun, egal wie kindisch es war. Nun blickten beide aus dem grosszügigen Fenster in den Hof.

Sein Vater atmete tief aus. „Hyde, mein Sohn…“, dann schwieg er wieder und der Schwarzhaarige erkannte, wie schwer es ihm fiel, über das zu sprechen. Der kleine Japaner konnte es spüren, weil er ihn so sehr liebte, weil er ihn so gut kannte. Er konnte spüren, wenn ihn etwas quälte. So wie damals, als diese neue Frau aufgetaucht war, in die sich sein Vater verliebt hatte. Wie ein Blitz hat es eingeschlagen, hatte er damals zu Hyde gesagt.
 

Damals hatte Hyde zu seinem Vater gesagt, dass Gewitter vorbei ziehen, sein Vater hatte damals gesagt, dass es gut möglich war, dass es vorbei ginge. Und der junge Mann hatte gebetet, dass dieses Gewitter schnell vorbei zog, doch nun dauerte es schon über vier Monate.

Doch vielleicht hatte sich sein geliebter Dad entscheiden und würde heute zu ihnen zurückkehren.
 


 

„Vater.“

„Ja?“

„Sag endlich etwas!“
 

Sein Vater drehte sich ganz langsam zu ihm um, wie in den Filmen, dort drehten sich Leute auch immer in Zeitlupe um, wenn es um etwas wichtiges ging, und schauten dem anderen lange in die Augen, bevor sie den Mund endlich aufmachten. So als hätten sie Angst vor dem ersten Wort und dem, das danach folgte. Immer sah man diese Furcht den Menschen an, ausnahmslos, ob klein oder gross, ob alt oder jung. Und dem anderen, der zuhören musste, schnürte es die Kehle zu, weil er nicht wusste, was er sagen sollte.
 

„Wir frühstücken zusammen und dann fahren wir los.“
 

Er wollte die Hände von Hyde in die seinen nehmen, doch dieser schlug sie von sich.
 

„Wohin fahrt ihr?!!!“, schrie Hyde und jeder wusste, wenn er das tat, war es für ihn genug. Er war immer ein stiller, wohlerzogener, junger Mann und wenn er so aus seiner Haut fuhr, war etwas nicht mehr in Ordnung.
 

„Wir haben doch diesen Termin, weißt du das denn nicht?“

„Nein! Ich weiss es nicht! Nichts!!!“, schrie er immer noch ausser sich.

„Wir haben einen Termin auf dem Gericht“, sein Vater blickte auf Hydes zerwühltes Bett, liess seinen Blick über den Schrank, den Schreibtisch gleiten, als suche er etwas, an dem die Augen sich festhalten konnten.

„Vor dem Scheidungsrichter. Heute werden wir geschieden.“
 

Hyde erstarrte, die Kälte kam von den Füssen und kroch die Beine hoch, seine Wirbelsäule, den Bauch, den Nacken. Alles eiskalt. Der Schmerz in seinem Kopf, wie ein Dröhnen, das plötzlich aus dem Nichts kam, nahm jede Sekunde zu…
 

„Scheidungsrichter“, wisperte er leise.

„Ja, hat deine Mutter denn nichts gesagt, Haido?“
 

Der junge Mann schüttelte hilflos den Kopf, sodass ihm die Haare strähnchenweise ins Gesicht fielen.
 

„Das finde ich merkwürdig“, meinte sein Vater, „Warum hat sie dir nichts gesagt?“

„Das weiss ich doch nicht“, meinte er patzig, „Du hast es mir ja auch nicht gesagt!“ Er wollte seinen Vater schlagen, in den Bauch boxen, wollte ihm wehtun, irgendetwas in seinen Händen zerquetschen, oder etwas zu Bruch schlagen. Aber er konnte es nicht, er stand nur da, als wäre er aus Stein. Er warf sich herum und flüchtete in sein Bett, zog die Decke über den Kopf, krümmte sich, machte sich ganz klein.
 

Sein Vater kam, streichelte ihn durch die Decke, sprach auf ihn ein, doch Hyde hörte ihm nicht zu, da war dieser Lärm in seinem Kopf. Er wollte nicht hören, was sein Vater sagte, wollte gar nichts hören, er presste die Hände gegen seine Ohren, rollte sich noch fester zusammen. Er war ein kleiner Junge, eiskalt von den Zehen bis zu dem Kopf, ein junger Mann von siebzehn Jahren, der den Tag damit begann, indem wer heulend im Bett lag.
 

Als Hyde eine halbe Stunde später aus dem Bad kam, roch es in der Wohnung nach frisch gemachtem Kaffee. Ausserdem kitzelte der Duft frischgebackener Brötchen Hyde in der Nase, er blieb mit geschlossenen Augen stehen, es war einfach zu komisch.

So hatte es früher morgens immerzu gerochen, wenn er aus dem Bad kam. Seine Eltern waren immer vor ihm aufgestanden, sein Vater war Chefarzt und musste immer schon um halb acht in der Klinik sein. Hyde hatte es immer geliebt mit seinen Eltern zu essen, es war ein Stück heile Welt, die er in den rauen, beinahe kalten Kosmos mitnehmen konnte. Das alles verband Hyde mit seinem Leben. Erst als sein Vater auf einmal nicht mehr da war, als es nicht mehr nötig war, Brötchen aufzubacken und sich gemeinsam an einen Tisch zu setzen, hatte er bemerkt, wie schön diese Stunde am Morgen doch gewesen war. Vorallem da sein Vater immer gut gelaunt war. Selbst wenn er früher verschlafen und etwas brummig an den Tisch kam, hatte es sein Vater immer wieder geschafft ihn aufzumuntern, doch seit er weg war, wurde nicht mehr so oft, ja eigentlich gar nicht mehr gelacht in diesem Haushalt. Es gab niemanden mehr, der die neuen Witze, die man gehört hatte, mit einem teilte.

Keine spannenden Diskussionen mehr. Niemanden, der Hyde verstohlen ein paar Yen zusteckte, für eine gute Note oder eine hervorragende Arbeit in der Schule. Seine Mutter hatte immer etwas dagegen gehabt, dass man gute Leistungen gleich mit Geld honorierte.

Sie hatte immer gesagt, dass Hyde viel zu sehr verwöhnt wurde, immer wieder verglich sie ihren Sohn mit den anderen Kindern. Es hatte ihn nie gross interessiert, er war Hyde, nicht jemand anderes sein Sohn.
 

Doch inzwischen hatte es Hyde gelernt mit weniger Taschengeld zu Recht zu kommen, das war nicht das Problem. Er hätte sogar liebend gerne auf sein ganzes Taschengeld verzichtet, wenn dafür nur seine Eltern wieder zusammengelebt hätten. So wie früher eben, dafür hätte er einfach alles getan.
 

„Hyde, bist du fertig?!“
 

Das war seine Mutter, er blieb im Gang stehen und blickte auf seine nackten Füsse hinunter.
 

„Gleich.“

„Wir warten schon die ganze Zeit auf dich, willst du denn nicht mit uns frühstücken?!“
 

Hyde ging langsam den Flur hinunter. Sie wohnten in einer alten Häusersiedlung, seine Eltern wollten schon immer umziehen, doch er dachte sich nun, würde seine Mutter wohl hier bleiben. Das Parkett war vom häufigen Saubermachen schon ganz stumpf und matt. Dennoch wirkte die Wohnung freundlich und gepflegt. Die alten, traditionellen Schiebetüren hatte seine Mutter gerade frisch mit Papier bespannt. Langsam schob er diese auf, seine Eltern sassen auf den gleichen Plätzen, auf denen sie jahrelang beim Essen sassen.

„Hallo“, sagte Hyde, weil ihm sonst nichts einfiel.

„Die Brötchen sind noch ganz warm“, meinte seine Mutter, „Die magst du doch so gerne.“
 

Der Kleine wollte sagen, dass er sich gar nicht mehr daran erinnerte, wie frischgebackene Brötchen schmeckten. Er wollte sagen, warum gibt es wieder Brötchen? Nur weil Vater aufgetaucht ist?! Er wollte sagen, dass er wirklich dumm fand, dass sie ihm Frühstück servierte und nachher mit ihm ins Gericht ging, um sich scheiden zu lassen.

Doch er blieb stumm, setzte sich mit hängenden Schultern auf seinen Stuhl, den er sicher schon seit ein paar Jahren besass. Niemand sass sonst hier, wenn die Familie gemeinsam ass. Es war der Stuhl, mit dem er den besten Blick auf das gerahmte Bild hatte, das gegenüber an der Wand hing, es zeigte eine Wüstenlandschaft, voller Dünen, ohne Tiere oder Sträucher, nur feiner gelber Sand.

Vielleicht hatte sich Hyde in die Wüste verliebt, weil er bei jedem Essen dieses Bild betrachten konnte.
 

Seine Mutter war ganz blass, sie hatte sich zwar geschminkt, doch die Schminke war auch blass. Sie trug das blaue Kostüm, das sie immer anzog, wenn es einen offiziellen Anlass gab. Dazu eine Seidenbluse und goldenen Schmuck. Hyde fand, dass seine Mutter in allen Sachen besser aussah als in diesem Kostüm. Aber er hatte es ihr niemals gesagt.

Sie trank grünen Tee und die Tasse, die sie zum Mund führte, zitterte, der junge Mann sah auch, dass ihre Wimpern bebten. Er sah, dass der Lippenstift verschmiert war. Das passierte immer, wenn seine Mutter nervös war.

Doch sein Vater zitterte nicht, er hatte die Beine nicht ausgestreckt wie sonst, dass Hyde mit den Zehen an seine Schuhe stiess. Er hatte die Knie zusammengestellt genau wie die Füsse. Wie ein Gast, nicht wie jemand, der sich zu Hause fühlte.
 

„Soll ich Musik anmachen?“, fragte Hyde, als die drückende Stille für ihn unerträglich wurde.

„Heute nicht…“ Sein Vater zwinkerte ihm zu, aber es war ein trauriges Zwinkern. Er schob ihm den Korb mit den Brötchen zu.

„Komm, iss was.“

„Ich habe keinen Hunger.“

„Aber du musst etwas essen!“, sagte seine Mutter.
 

Hyde blickte seine Mutter trotzig an. „Warum?“
 

Darauf wussten beide keine Antwort, früher hatten sie immer gesagt: „Damit du gross und stark wirst.“ Doch nun war er beinahe erwachsen… Er war 1.68 gross, wog fünfzig Kilo. Er hatte zwar immer noch die stille Hoffnung noch ein Stück zu wachsen, doch es sah leider nicht danach aus. Er sass am Tisch und hatte seinen Kopf gesenkt, sein mittellanges, pechschwarzes Haar fiel ihm in geordneten Strähnchen ins Gesicht. Vor ihm stand eine Tasse, doch es war kein Tee in ihr, doch er wollte nicht aufstehen, um sich welchen zu holen. Er dachte sich, dass er welchen trinken würde, wenn sie gegangen waren.

Aber sie gingen nicht, sie sassen einfach nur stumm da. Hydes Mutter rührte ununterbrochen in ihrer Teetasse und sein Vater zerrupfte ein Brötchen, ohne sich auch nur einen Bissen in den Mund zustecken. Er lächelte ihn an, das spürte er, doch er hob nicht den Kopf, um seinen Vater auch anzulächeln. Denn es gab weder etwas zu lächeln noch etwas zu sagen.
 

„Dein Vater hat es dir also gesagt“, meinte seine Mutter schliesslich, nachdem sie mit der Serviette die Lippen getrocknet hatte. „Dann weißt du es ja.“

Hyde nickte.

„Um zehn Uhr ist der Termin“, sprach sie weiter, „Wir wissen nicht genau, wie lange es dauert, danach gehen dein Vater und ich vielleicht noch eine Kleinigkeit essen.“
 

Hyde fand das Gespräch vollkommen pervers und absurd. Erst lassen sie sich scheiden, dann gehen sie essen, dachte er, merken die gar nicht, wie lächerlich das alles ist?
 

„Wenn du willst, kannst du ja zu uns stossen“, meinte nun sein Vater, „Wir könnten uns jetzt schon verabreden.“

Der junge Mann räusperte sich, „Ich hab lange Schule.“

„Dann kommst du eben später dazu“, sagte seine Mutter, „Und isst Sushi.“

„Ich hab aber keine Lust!“
 

Seine Mutter seufzte. „So ist er immer in der letzen Zeit“, meinte sie. Das galt aber nicht mehr Hyde sondern seinem Vater „Hat zu nichts Lust, egal was ich ihm vorschlage, er hat zu nichts Lust!“

Sie seufzte noch einmal. „Ehrlich Hyde, du machst es mir nicht leicht, aber vielleicht kann dich dein Vater ja überzeugen.“
 

Sie stand auf, beim Hinausgehen legte sie kurz ihre Hand auf die Schultern ihres Sohnes. Diese Hand war kalt, so kalt wie Eis und zitterte. Meine arme Mutter, dachte Hyde. Als sie verschwunden war, hörte man die Badezimmertüre, die langsam zugeschoben wurde und dann ein Geräusch, das klang wie ein Aufschluchzen, ein Hilfeschrei. Hyde kannte dieses Geräusch nur zu gut. Seine Mutter hatte in den letzen Monaten sehr oft so geweint, immer dann, wenn sie meinte, dass er schlief oder es nicht mitbekam. Vielleicht war es ihr auch egal, ob er es hörte oder nicht.
 

„Ist alles in Ordnung mit dir? Ich muss mir deinetwegen doch keine Sorgen machen, oder?“, meinte sein Vater nun leise, währendem er seinen Sohn aufmerksam musterte, er schob seinen Stuhl näher an die Tischecke, näher zu dem Stuhl, auf dem sein Sohn sass. „Sieh mich einmal an!“
 

Hyde hob den Blick flüchtig, streifte das Gesicht seines Vaters, um dann wieder seine leere Tasse zu mustern.
 

„Dass deine Mutter…und ich…uns scheiden lassen“, meinte sein Vater wispernd, „hat wirklich nichts mit dir zu tun.“ Er machte eine Pause. Wartete wohl darauf, dass Hyde etwas sagen würde, doch dieser machte keinen Mucks. „Das weißt du doch, oder? Das hab ich dir Hundertmal gesagt.“

„Ich hab nicht mitgezählt“, sagte er.
 

Sein Vater fing an zu lachen, doch dieses Lachen blieb ihm im Halse stecken, als Hyde den Blick hob und ihn musterte, natürlich hatte er bemerkt, dass sein Vater nur künstlich gelacht hatte.
 

„So ist es Recht, nur den Humor nicht verlieren. Weißt du noch, wie wir früher immer gelacht haben? Ab deiner ausgeprägten, sarkastischen Ader?“
 

Hyde wusste es, doch er würde den Teufel tun seinen Vater zu bestätigen. Er blickte ihn nur weiterhin todernst an.
 

„Wie ging er noch, dein Lieblingswitz?“, kam es etwas unsicher über die Lippen des Arztes.
 

Hyde schob den Stuhl zurück. „Ich muss los.“
 

Doch sein Vater hielt ihn fest, zwang ihn dazu ihn anzusehen. „Du bist sauer auf mich, stimmt’s?“

Hyde holte tief Luft, „Ich weiss es nicht“

„Du kannst es mir ruhig sagen, ich werd nicht böse auf dich sein, wirklich…“

„Ich hab keine Lust.“
 

Der Klammergriff seines Vaters wurde fester, es tat ihm schon beinahe weh, er sah, wie sich die Haut langsam rötlich färbte. Sein Vater war aufgeregt und angespannt, das fühlte er. Er machte sich Sorgen und das alles ging ihm wahrscheinlich auch auf die Nerven. Sein Vater liebte die Harmonie. So lange er bei ihnen gewohnt hatte, war er es immer, der für gute Stimmung, für Harmonie und Frieden gesorgt hatte. Seine Mutter hätte gerne einmal einen Streit vom Zaun gebrochen „Sich Luft machen“ hatte sie das genannt. Doch sein Vater war anderes, er hielt Zankereien nicht aus. Er wollte, dass alle immer freundlich und respektvoll zu einander waren. Und trotzdem hatte er sie verlassen und dieses ganze Chaos hier angerichtet.
 

„Komm sag es mir.“

„Das ist doch bescheuert.“

„Nein, das ist es nicht! Es ist in Ordnung, du bist sauer auf mich oder auf deine Mutter. Und du hast allen Grund dazu. Genau so wie es vielerlei Gründe gibt, warum wir uns scheiden lassen…“

„Ich will sie nicht wissen“, fiel ihm Hyde ins Wort. „Lass mich los, ich muss in die Schule, heute schreiben wir einen Vokabeltest.“

„Das macht doch nichts, den kann man nachholen.“
 

Hyde riss sich los… Sein Vater liess ihn gehen, auch wenn er ihm in den Gang folgte, ihn dabei beobachtete, wie er seine Strassenschuhe anzog.
 

„Und was habt ihr über mich beschlossen?“

„Was?“

„Na, bei wem soll ich bleiben?“

„Natürlich kannst du bei deiner Mutter bleiben.“

„Ach… Damit ich dich und deine neue Frau nicht störe?! Damit sie nicht sieht, was für eine Familie sie kaputt gemacht hat? Damit sie nicht sieht, dass du einen Sohn hast?!“
 

Erschrocken hielt Hyde die Hand vor seine Lippen, doch es war endlich mal alles draussen, was er sich tief ins Herz gefressen hatte.
 

„Hyde, kommst du denn nicht mit deiner Mutter klar? Du störst mich doch nicht... Ich…“

„Ich will es nicht wissen!“, schrie der kleine Japaner, schlug die Eingangtüre hinter sich zu und rannte die Treppen, die sich endlos vor ihm erstreckten, hinunter. Nein, er wollte keine Erklärungen mehr hören, er wollte nichts mehr hören… Er verliess das Haus ohne sich auch nur einmal umzusehen und rannte zur nächsten U-Bahnstation.



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Kommentare zu diesem Kapitel (7)

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Von:  -Niji-
2007-10-21T18:01:24+00:00 21.10.2007 20:01
Hallu °0°

also ich hab mir jetzt das erste kapi durchgelesen und finde deinen schreibstil echt toll ^^
ich bin schon gespannt wie die erste begegnung zwischen Gackt und Hyde wird :3
aber sowas ist echt hart... ._. armer Hyde das mit seiner Familie *seufz*
aber ich bin echt gespannt was noch so alles kommt ^____^v
Von: abgemeldet
2007-09-19T13:01:19+00:00 19.09.2007 15:01
Es ist schon seltsam und irgendwie auch kras...
Diese Gefühle wie sie Hyde nun hat, man könnte meinen dass du das auch durchgemacht hast.
Da ich weiss dass dies nicht so ist, bewundere ich die Art und Weise wie du dich in Gefühle von Anderen hineinversetzen kannst.
Und eine weitere Kunst ist, dies so weiter zu geben, dass auch ich mich als Leser genau so wie Hyde fühle, und es nachvollziehen kann, auch wenn ich nie selbst Ähnliches erlebt habe.

Was ich den schönsten Abschnitt des Kapitels finde, ist die Erklärung wieso Hyde Kamele und die Wüste liebt. Diese tolle Wortmalerei, ich liebe wie du auf solche ideen kommst!
Und wie du solche Sachen mit deinen Worten beschreibst (Die schönen, langen Wimpern), einfach herrlich...

Zu Hibisskuss Komentar noch kurz: Es gibt auch in Japan einige wenige Schulen ohne Uniform. Also auch das durchdacht und realistisch...
Wirklich cool, *daumehoch*
*grinsel*
Von:  Kimiko02
2007-09-18T18:19:03+00:00 18.09.2007 20:19
Ich bin auch sprachlos ... ich könnte sowas niemals schreiben!! Und das obwohl meine Eltern sich auch bald scheiden lassen ^^;;
Aber ich habe da kein Problem mit, wohne ja schon seit 2 Jahren nicht mehr zu Hause ^^;;
Jedenfalls hast du das mal wieder wirklich sehr gefühlvoll geschrieben, man kann sich so gut reinversetzen, es nachvollziehen, die Story nimmt einen einfach mit ... und dein Schreibstil ist wirklich wunder wunderschön, ich kann es nur immer wieder sagen *_*
Freue mich schon auf den nächsten Teil, in dem ja dann Gackt vielleicht seinen ersten Auftritt hat *_*
Von:  Olivia
2007-09-18T17:54:35+00:00 18.09.2007 19:54
Holy Shit...

Also ich bin echt platt.

Was mir sehr, sehr gut gefällt ist dein Schreibstil. Der ist wirklich...wow. Er ist richtig schön flüssig, keine Wiederholungen, leicht, sehr gut verständlich, ... Also ein ganz großes Lob von mir! Du hast Hydes Gefühle teilweiße auch so schön kindlich (im positiven Sinne) beschrieben...so, wie man es wirklich fühlt. Ich glaub ich bin noch nie so sehr in die Handlung einer Fanfic rein gekrochen, wie in die.

Ich finde es auch gut, das du ein fast schon normales, alltägliches Thema gewählt hast, das zwar sehr viele Menschen erleben, woran man aber trotzdem zerbrechen kann. Aber gleichzeitig find ich das Thema auch sehr schwer. Immerhin musst du hier die Spannung aufrecht erhalten und ich stell mir das nicht gerade einfach vor.

Ich bin schon richtig gespannt auf dasn nächste Kapitel. Ich hoffe, das es so toll wird. ^^

See ya

Hana.
Von:  Terra-gamy
2007-09-18T17:51:15+00:00 18.09.2007 19:51
Du beschreibst einge Teile des Kapitels sehr schön bildlich z.B. Hoffnung^^
Von:  Tatsu-addict
2007-09-18T17:50:37+00:00 18.09.2007 19:50
ich danke dir für das wunderschöne erste kapi!
*knuddel*

ich bin total baff...
die gefühle von hyde sind so real dargestellt.
ich freue mich schon auf die fortsetzung!

ach und eh ich es vergesse: danke für die liebe widmung!

hab dich lieb
<3

Von: abgemeldet
2007-09-18T17:27:36+00:00 18.09.2007 19:27
Ave!

Jaa, alles noch brühfrisch serviert. Eine sehr nette Abwechslung, finde ich, etwas zu lesen, wo Hyde und Gackt unter 20 sind und vor allem finde ich interessant, wie du die Sicht eines Siebzehnjährigen siehst und bin gespannt, wie du das uns noch weiter zeigen wirst. hihi

Bis jetzt war alles sehr glaubhaft und vor allem die Reaktionen von Hyde haben mein Herz erwärmt. Wie er sich unter die Decke verkriecht, wie er seine Hand in die seines Vaters schiebt und besonders seine riesengrossen Augen. Süüüß. *seufz*

Wie seine Eltern handeln ist typisch japanisch (soweit ich weiß) Das hast du sehr gut rübergebracht. Mit dem Stundenausfall und ohne Uniform weiß ich nicht, ob es in Japan so üblich sein kann. Jedenfalls hätt ich auch gern Sportausfall! (das musste jetzt mal raus)

Jaa, ich freu mich schon tierisch auf die Fortsetzung und auf jeden Fall auf Gackt! *GG*

*knuddel*


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