Fragen und Fehler
Es wird Zeit für ein paar sachliche Indizien und Verhöre....oder?
5. Fragen und Fehler
Sesshoumaru erhob sich: „Wo ist Aiko?“
Sakura unterdrückte gerade noch ihre Bemerkung, ob er sie für allwissend halte: „Ich bedauere, Lord Sesshoumaru…“
Aber sie schob die Tür für ihn auf, folgte ihm.
Auf dem Hof erkundigte er sich beim ersten Heiler, den er sah. Der verneigte sich bis fast zum Boden:
„Dort, in dem ersten Haus der Kranken, edler Herr. Verzeiht, Lord Sesshoumaru. Soweit ich weiß, kümmern sich nach wie vor Neigi-san und Okagawa-san um sie.“
Sakura entdeckte mit gewissem Entsetzen die beiden Schülerinnen, die so für den Hundeprinzen schwärmten. Sie standen mit anderen beisammen, kicherten verschämt, als sie ihn sahen. Sie konnte nicht verstehen, was sie redeten, aber sie nahm an, dass Sesshoumaru das sehr gut hören konnte. Was dachten sich nur diese dummen Gänse? Wollten sie Selbstmord begehen?
Unwillkürlich warf sie einen Blick auf den Prinzen, als er weiterging. Und sie erkannte, dass sich seine Finger für einen Augenblick versteiften, ehe er die Hand entspannte. Was konnte sie nur tun, um diese Schülerinnen zu überzeugen, diese lebensgefährliche Schwärmerei sein zu lassen?
Ihr vorheriger Versuch hatte ja nichts gefruchtet, ihr nur den Vorwurf eingetragen, eifersüchtig zu sein.
„Bitte, verzeiht ihre Dummheit…“ brachte sie heraus: „Sie…sie hatten noch nie mit Dämonen zu tun...“
„Sakura.“
Sie nahm es als Warnung, nichts mehr sagen zu sollen, und senkte den Kopf.
Sesshoumaru war zufrieden, dass wenigstens ein Menschenmädchen Vernunft zeigte. Die Bemerkungen der Schülerinnen über ihn waren zwar vermutlich als Kompliment gemeint gewesen, aber allein die Tatsache, dass sie es wagten, sich über ihn zu unterhalten, war ärgerlich. Andererseits wäre sein verehrter Vater sicher nicht mit einem Blutbad in einer Heilerschule einverstanden. Er sollte zusehen, dass er das Attentat auf Aiko aufklärte. Umso rascher kam er hier wieder weg.
In einem abgetrennten Raum lag Aiko. Die beiden dämonischen Heiler saßen neben ihr, blickten aber auf. Als sie den Besucher erkannten, verneigten sie sich.
„Nun?“ fragte der Hundeprinz.
„Sie ist noch nicht erwacht, Lord Sesshoumaru“, berichtete Neigi: „Aber es dürfte sich bereits um heilenden Schlaf handeln. Der Stich scheint ihr Herz nur knapp verfehlt zu haben.“
„Wurde der Angriff von vorn geführt?“
„Ja, Lord Sesshoumaru“, sagte Okagawa: „Der Einstich verläuft schräg nach oben links, zwischen zwei Rippen hindurch.“
„Darf ich eine Vermutung äußern?“ fragte Neigi.
„Ich höre.“
„Entweder der Angreifer hatte Glück, genau zwischen die Rippen zu treffen, oder aber er hatte Erfahrung. Eine dritte Möglichkeit wäre, dass er genügend Zeit hatte, abzutasten. Aber dies glaube ich nicht, da Hinako und auch die anderen ja recht schnell bei ihr waren.“
Und was sollte ihm diese Vermutung helfen?
Sesshoumaru betrachtete die Verletzte. Warum war sie aus der Halle gegangen? Warum hatte jemand sie attackiert?
Warum…nein. Wie.
War sie nur ein zufälliges Opfer? Falsche Zeit und falscher Ort? Hatte jemand im Gedränge einfach den erstbesten Menschen angegriffen? War sie bereits mit einem Messer in der Brust hinausgelaufen? Das klang zwar eigenartig, aber Menschen taten seltsame Dinge, zumal, wenn sie unter Schock standen. Oder hatte sie aus irgendeinem Grund die Halle verlassen und war ihrem Angreifer draußen begegnet? „Wo ist das Messer?“
„Hier, Lord Sesshoumaru.“ Neigi wies darauf: „Es war Hinakos Geruch daran, der von Aiko und dann von vielen anderen, die es wohl in der Hand hatten. Die Klinge roch nach Melone.“
Dann hatte Sakura Recht und das Messer stammte von der Speisentafel. Also sank die Wahrscheinlichkeit, dass es ein Fremder gewesen war. Nur die Kagematos hatten die Halle vor Aiko verlassen. Und der Sohn war aufgebracht gewesen. Hatte Aiko aus irgendeinem Grund ihnen folgen wollen? Aber warum hätte ein Landadeliger oder dessen Sohn ein Messer mitnehmen sollen, draußen auf sie warten sollen?
Immerhin hatte der Knecht ausgesagt, dass sie gut fünf Minuten vor den Schreien weggetragen worden waren. Irgendetwas hatte er übersehen, da war er sicher. An irgendeiner Stelle hatte er den entscheidenden Hinweis nicht beachtet. Aber welchen?
„Sakura.“
Sie sah ein wenig auf.
„Geh zu Nakata. Ich will die Kagematos sprechen.“
„Ja, Lord Sesshoumaru.“ Sie ging, nicht, ohne sich zu fragen, warum er so gar nichts über Menschen wissen wollte oder wusste. Der Oberste Heiler der Schule konnte doch keinen vornehmen Herrn herbefehlen. Andererseits würden die Kagematos wohl kommen, wenn sie wussten, was passiert war – und wer sie sprechen wollte.
Sie behielt Recht. Zwei Stunden später begleitete Naohiro Nakata zwei sichtlich nervöse Männer zu dem Hundeprinzen: „Darf ich Euch den ehrenwerten Kakeru Kagemato und seinen Sohn vorstellen, Lord Sesshoumaru?“
Damit zog er sich zurück.
Vater und Sohn verneigten sich ein wenig, ließen sich nieder, ehe der Ältere sagte: „Ich hörte, was geschehen ist, Lord Sesshoumaru, und dass Ihr die Ermittlungen leitet. Darf ich fragen, wie wir Euch behilflich sein können? Wir...wir haben den Vorfall nicht mitbekommen, da wir bereits gegangen waren.“
„In der Tat. Ihr beide wart die Einzigen, die vor Aiko aus der Halle gingen.“
„Ich verstehe.“
„Warum? Ich hörte, Euer Sohn war zornig?“
Herr Kagemato sah unwillkürlich zu seinem Sprössling, ehe er einen raschen Blick in das Gesicht des Dämons vor ihm warf. Was er dort sah, ließ ihn sagen: „Ich bitte Euch, mir zu glauben, dass weder er noch ich einen Angriff auf die Tochter des Obersten Heilers ausführten. Wir hatten zu diesem Zeitpunkt das Schulgelände bereits verlassen, ja, hörten nicht einmal mehr den Aufruhr. Unsere Sänftenträger können es Euch bestätigen, Lord Sesshoumaru.“
„Verzeiht, Vater, Ihr braucht mich nicht zu schützen. Es stimmt, dass wir nichts getan haben. Also haben wir auch nichts zu befürchten, nicht wahr, Lord Sesshoumaru?“ Der Sohn atmete durch, ehe er fortfuhr: „Ich war in der Tat aufgebracht. Wir…wir sind häufiger Gast hier, Herr Nakata und seine Tochter Aiko waren auch schon unsere Gäste. Und ich…ich hatte mich der Hoffnung hingegeben, dass Herr Nakata meiner Werbung um seine Tochter stattgeben würde. Als nun die überraschende Verlobung bekannt gegeben wurde, war ich …enttäuscht.“
„Und zornig auf Naohiro Nakata.“ Also war Kalikos Hoffnung, ihn heiraten zu können, auch zerronnen?
Wie kompliziert sich das Menschen machten.
„Ja. In der Tat. Er hatte nie zuvor zu erkennen gegeben….Nun gut. Ich gebe zu, dass Prinz Hiro Otori reicher ist, die bessere Partie ist. Aber darum wollte ich gehen. Ich hätte allerdings niemals Aiko etwas angetan. Ich...ich liebe sie.“
„Kennt Ihr eine Schülerin namens Kaliko?“
„Ja, sie ist Aikos Freundin. Einige Male war sie mit ihr bei uns. Ich habe das ausgenutzt, um ein wenig über Aiko zu erfahren…“ Der Junge sah auf: „Was ist mit ihr?“
„Ich frage“, kam es sofort eisig: „Und einen Schüler namens Daigoku?“
„Nein, ich bedauere, Lord Sesshoumaru.“
„Dann könnt Ihr gehen.“
Beide Kagematos verneigten sich ein wenig, deutlich erleichtert, ehe sie den Raum verließen. Sakura schloss die Tür hinter ihnen und sah zu dem Dämonenprinzen. Er war aufgestanden, zum Fenster gegangen, und sie wusste aus Erfahrung, dass er nachdachte.
So tat sie es auch. Das war ja hier ein Gefühlswirrwarr. Hatte denn keiner mit einem anderen geredet und seine Liebe gestanden?
Aiko hatte sich in Daigoku verliebt, der in Kaliko, wobei er annahm, dass sie ihn auch liebte. Aber sie hatte sich in den jungen Kagemato verguckt, der wiederum in Aiko. Das einzig Erstaunliche war, dass es nicht noch mehr Zwischenfälle gegeben hatte. Aber wer hatte Aiko angegriffen?
Das Messer stammte von der Tafel, hatte jeder nehmen können. Prinz Otori, nachdem er erfahren hatte, dass Aiko bereits ihren Seitensprung mit Daigoku plante? Aber woher hätte er es erfahren sollen? Daigoku selbst hatte ja nichts davon geahnt? Oder hatte dieser aus dem Ruder gelaufene Liebesreigen gar nichts mit dem Angriff zu tun? War Aiko attackiert worden, weil sie die Tochter des Obersten Heilers war? Lag da der Grund?
Sie ertappte sich dabei, schon wieder nach dem Warum zu suchen, statt nach dem Wie. Aber sie hatte keine Ahnung, wie man das Wie herausfinden konnte. Wenn der Angriff bereits in der Halle stattgefunden hatte, hätte es doch Augenzeugen geben müssen? Oder war der Täter sehr nahe bei Aiko gestanden, zu nahe, als das jemand das Messer hätte sehen können? Nun, sie selbst hatte auch nichts bemerkt.
Das war alles sehr rätselhaft.
Sesshoumaru blickte nachdenklich aus dem Fenster, überlegte sich die Möglichkeiten, wie der Angriff durchgeführt werden konnte. Und eigentlich gab es nur sehr wenige Wege, die logisch waren.
Er entdeckte auf dem Hof wieder einige Schülerinnen, die sich anscheinend anschleichen wollten. Sie hatten Zettel in der Hand. Sakura hatte doch erwähnt, dass sie Briefe an ihn schreiben wollten, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Sollten sie es etwa wagen, ihm diese durch das Fenstergitter in sein Zimmer stecken zu wollen? Wussten sie denn gar nichts über Dämonen? Oder auch nur über das Benehmen einem Prinzen gegenüber?
Soviel zur Logik. Vielleicht sollte er doch den Irrsinn dieser Mädchen mit einbeziehen. Er drehte sich um, ließ sich an der Wand nieder. Sakura musste ihn angesehen haben, denn sie blickte sehr eilig zu Boden. So sagte er: „Die Schülerinnen.“
„Verzeiht, was meint Ihr, Lord Sesshoumaru?“ Sie wagte es, seine Rüstung zu betrachten.
„Sieh.“
Verwirrt bemerkte sie, dass er den Kopf drehte. Im nächsten Moment kannte sie den Grund. Kichernde Mädchen steckten kleine Papiere durch das Fenstergitter, ehe sie eilig davon stoben. „Danke“, sagte sie.
Er wusste, was sie meinte: „Der Tod wäre eine zu harte Strafe für bodenlose Dummheit. In diesem Fall. – Sammele das ein.“
„Ja, Lord Sesshoumaru.“ Sie krabbelte hinüber. Aufzustehen, während er saß, wäre sicher ein schmerzhafter Fehler. So sammelte sie die Briefchen mit den roten Herzen ein. Selbst für ihre menschliche Nase rochen sie nach verschiedenen Parfümen. Für ihn musste es fast unerträglich sein: „Darf ich gehen und sie verbrennen?“
„Ja.“ Immerhin wusste sie, was er wollte. Angenehm. „Geh zu Prinz Otori. Ich will wissen, warum Aiko die Halle verließ.“
„Ja, Lord Sesshoumaru.“ Er schien sicher zu sein, dass dieser einer Heilerschülerin Auskunft geben würde. Nun gut, sonst hätte er schließlich eine Unterhaltung mit einem Dämon.
„Oh, das weiß ich auch nicht“, sagte Hiro Otori. „Wir standen beisammen, die Gäste gratulierten, nun, wie es sich gehört, bei einer solchen Gelegenheit. Ich sprach mit jemand, bedankte mich, und auf einmal war sie weg. Ich drehte mich um, um sie zu suchen, aber da kamen auch von draußen schon Schreie um Hilfe. Wie alle anderen ging ich dann hinaus. – Lord Sesshoumaru fragt viel. Ich habe den Verdacht, dass er solche Fälle schon öfter aufgeklärt hat. Stimmt das?“
Sakura verneigte sich: „Vergebt, edler Prinz. Lord Sesshoumaru schätzt es nicht, wenn über ihn geredet wird.“
„Schon gut. Ich will dich keiner Strafe aussetzen, Sakura. So war doch dein Name?“ Der Prinz nickte ein wenig. „Aber warum Aiko die Halle verließ…das frage ich mich auch schon dauernd. Wäre sie bei mir geblieben, wäre ihr nichts passiert.“
„Natürlich“, erwiderte Sakura wohlerzogen: „Darf ich mich zurückziehen?“
„Geh nur, ehe dein Herr ungeduldig wird.“ Er dachte kurz daran, wie wohl ein Dämon solch ein junges, hübsches Mädchen bestrafen würde. Ihr Leben in einem Dämonenschloss mochte nicht sehr einfach sein.
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Das nächste Kapitel bringt die Auflösung des Knotens.
Bye
hotep