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Als ich lächelte

von

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Prolog

Ein Licht?

Woher kommt es?

Ich kann es sehen, doch komme ich nicht an es heran.

Was ist das für eine Wärme, die mich plötzlich durchströmt?

Ein Gefühl der Erleichterung und Glückseligkeit fließt plötzlich durch meinen Körper hindurch.
 

So etwas habe ich noch nie erlebt, ich kenne es nicht. Dieses Licht dort zieht mich wie durch ein unsichtbares Band zu sich heran, doch ich versuche mich zu wehren. Irgendetwas sagt mir, dass ich ihm nicht folgen soll. Noch nicht.

Doch was ist das?

Ich sehe plötzlich statt dem Licht Bilder aus dem Leben eines jungen Mannes, die sich vor meinen Augen abspielen. Ich sehe genauer hin und stutze auf einmal. Der Mann auf dem Bild - bin ich. Aber wieso sehe ich mich auf einmal selbst? Ist das hier vielleicht ein Traum, aus dem ich nur erwachen kann, indem ich mir in den Arm kneife? Dem sei so getan, doch es tut sich nichts. Noch immer betrachte ich mich selbst, nicht wie durch einen Spiegel; ich sehe hunderte, nein, tausende von Bildern vor mir. Eine Szene nach der anderen spielt sich ab. Man sieht andere Umgebungen, andere Menschen und unterschiedliche Jahreszeiten, doch eines darauf ändert sich nicht- ich. Kein anderer Gesichtsausdruck, keine andere Haltung, keine neuen Kleider.
 

So langsam fange ich an zu verstehen.
 

Ich betrachte die nächste Szene sehr genau und Erinnerungen schießen mir durch den Kopf. Wie blinde Schlangen kriechen sie orientierungslos durch mein Gedächtnis und wollen nicht zur Ruhe kommen. Ich schließe die Augen und atme tief ein und aus. Da ist es wieder: das Gefühl des Glücks und Wohlbefindens. Als ich die Augen wieder öffne, sehe ich vor mir das Bild eines regnerischen Tages, auf dem Menschen mit Regenschirmen in den Händen zügig voranschreiten oder andere, die keinen Schutz haben, versuchen, so schnell wie möglich davor zu flüchten. Nur ich stehe ungerührt da- ohne Regenschirm und ohne Kappe, ja nicht einmal eine Jacke habe ich an- und betrachte das Geschehen um mich herum.

In diesem Moment stocke ich, denn die wirren Erinnerungen scheinen endlich an einen Punkt angekommen zu sein, an dem sie eine feste Form annehmen und mir erlauben, sie ein weiteres mal zu ,,erleben”. Doch hat es eine spezielle Bedeutung, dass mir gerade bei diesem Bild jene Gedanken wieder hochkommen?

Vielleicht, weil ich diesem Tag eine besondere Ehre zuschreibe und ich mir geschworen habe, ihn nie zu vergessen. Vielleicht, weil dieser Tag, regenerisch wie er war, mein Leben wie mit morgendlichem Sonnenlicht bestrahlte? Vielleicht, weil dieser Tag mein Leben veränderte...

Erwachsen werden

Ich war nie ein besonders großer Denker gewesen. Die anderen Kinder hatten mich deswegen früher oft ausgelacht. Wenn ich gefragt wurde, wieviel eins und eins gab, so antwortete ich oft elf, ohne vorher darüber nachgedacht zu haben. Doch das interessierte mich nicht. Was ging es mich an, was andere Menschen durch ihre Erfindungen und hochkomplizierten Formeln in der Welt zustande brachten? Wozu brauchte ich das? Ich verstand weder ihre Theorien noch wollte ich sie verstehen und so lebte ich nach meinem eigenen Prinzip: Nur auf mich allein angewiesen.
 

Zugegeben, ich habe noch nie eine Schule von innen gesehen. Ich wuchs in einem Waisenhaus auf und erhielt dort Unterricht im Rechnen, Lesen und Schreiben. Mehr gab es nicht. Jeder Tag glich dem anderen; jeden Tag stand ich auf, wusch mein Gesicht, ging zum Frühstück, dann musste ich lesen, zwei volle Stunden lang immerzu lesen und lesen und wenn ich damit fertig war, mußte ich schreiben und schreiben und schreiben. Ich glaube, ich habe in meinem Leben bereits einen tausendseitigen Roman vollgeschrieben. Als ich das ewige Schreiben beendete hatte, bekam ich Rechenaufgaben, bei denen ich nie die richtige Lösung hatte, so leicht sie auch waren. Ich war eben kein großer Denker.
 

Über meine Eltern wusste ich nicht viel. Man hatte mir immerzu gesagt, dass mein Vater von einem Zug erfasst worden war und meine Mutter als schwere Alkoholikerin mich nicht mehr versorgen konnte, woraufhin sie mich hierher gebracht hatte. Ob sie noch lebte, hatte ich nie herausgefunden und auch nie versucht herauszufinden, denn wer möchte schon eine Person wiederfinden, die ihr Kind gegen ein verfluchtes und elendes Leben eintauscht? Vielleicht war es nur eine Lüge, vielleicht hatten mir die Betreuerinnen diese Geschichte nur eingebläut, damit sie, wenn sie um so brutaler klingt, mich endlich zum Schweigen brachte. Denn ich erinnere mich, dass ich ab meinem fünften Lebensjahr angefangen hatte, nach ihnen zu fragen und dies tagtäglich tat; ununterbrochen. Wie lästig ich nur gewesen sein muss. Wahrscheinlich hatten sie mir wirklich ein Märchen erzählt- damit ich endlich schwieg.
 

Und ich schwieg tatsächlich.
 

Als sie mir endlich eine Antwort auf meine unzähligen Fragen gaben, schloss ich meinen Mund und öffnete ihn seitdem fast nie wieder; nur wenn ich musste. Aber da ich kaum etwas musste, blieb ich die meiste Zeit stumm. Das war auch der Grund, weshalb ich keine Freunde hatte und weshalb mich die anderen immer zu meiden versuchten. Doch es war mir egal. Ich dachte- wie so oft- einfach nicht darüber nach und verbrachte den Rest des Tages immer an einem nahegelegenen See. Und wie die Erziehungsmaßnahmen mich schon geprägt hatten, hatte ich immerzu ein Buch dabei und las. Las stundenlang vor mich hin, manchmal drei, manchmal vier, manchmal nickte ich sogar zwischendurch ein, so lang ging es.
 

Auf diese Art und Weise verbrachte ich mein Leben- bis ich achtzehn Jahre alt wurde. Denn dann wurde mir plötzlich gesagt, dass ich ab sofort erwachsen und auf mich selbst angewiesen sei. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, was für ein ungutes Gefühl mich in diesem Moment durchströmte und ich laut: ,,Nein!” sagte. Das war das erste mal, dass ich etwas verweigerte. Das erste mal in meinem Leben. Die Direktorin blickte mich mit ihren Glubschaugen an und spitzte die ohnehin schon schmalen Lippen.

,,Was hast du gesagt?”

Ein weiterer Strom der Nervosität floß durch mich hindurch und versickerte in dem staubigen Teppichboden, der sich unter meinen Füßen befand. Innerlich schien ich zu verbrennen; ich wollte nicht weg. Auch wenn mir diese monotonen und immer gleichen Tage schon zum Hals raushingen, auch wenn mich niemand liebte und akzeptierte, auch wenn ich schon zu alt war- dies war der einzige Ort, an dem ich mich in gewisser Hinsicht sicher fühlte, den ich als mein Zuhause bezeichnete, unabhängig davon, dass ich immer allein war.

Und doch schwieg ich. Erneut.

Nichts hatte sich verändert, seit dem Tag, an dem sie mir von meinen Eltern erzählt hatten. Merkten sie das denn nicht oder wollten sie es nicht bemerken? Sahen sie nicht, dass ich noch nicht erwachsen war?

Mit ausdruckslosen Augen blickte ich die Direktorin an, mein Gesicht war wie versteinert. Eine gewisse Spannung lag plötzlich in der Luft und mit jeder Sekunde schien sie an Stärke zuzunehmen. Mein Atem wurde schwerer und lauter, die Laute um mich herum hörte ich nicht mehr. Alles schien sich zu drehen: Die Gegenstände, der Raum, ja selbst die Zeit und nur sie und ich standen still und starrten uns an.

Das war er also. Der Moment der Entscheidung- der Moment des Eintritts in das neue Leben. Nun war ich also erwachsen, wie sie sagten.
 

Am selben Tag noch wurde ich von Beamten abgeholt, die mich in ein Wohnheim brachten, in dem ich vorerst untergebracht war, so lange bis ich mir das Geld für eine eigene Wohnung zusammengespart hatte, welches ich mir als Gerüstbauer in einem heruntergekommenen Bauunternehmen verdiente.

An eines erinnere ich mich jedoch noch sehr genau: An dem Tag, als ich in das Wohnheim kam, regnete es. Vielleicht weinte jemand um mich und um mein Schicksal. Aber wer sollte dies schon tun? Denn es gab ja niemanden, der um mich weinen konnte.

Begegnung mit dem Schicksal

An eines erinnere ich mich jedoch noch sehr genau: An dem Tag, als ich in das Wohnheim kam, regnete es. Vielleicht weinte jemand um mich und um mein Schicksal. Aber wer sollte dies schon tun? Denn es gab ja niemanden, der um mich weinen konnte.
 

Und nun stand ich hier.

Und es regnete.

Wie an jenem Tag, als eine Veränderung in mein Leben getreten war.
 

Die dicken Tropfen prallten an mir ab und rannen an meinem Körper hinunter, bis zum Boden unter mir, an dem sie sich schließlich zu einem fließenden Strom verbanden und davonschwammen. Ich beobachtete dieses immer wiederkehrende Schauspiel und merkte dabei nicht, dass ich mittlerweile der einzige war, der sich auf der Straße befand. Meine Haare klebten an meinem Gesicht wie ein Seestern an einem Felsen und meine Schuhe hatten sich längst in Boote verwandelt, dessen Passagiere meine durchnässten Füße waren. Ich senkte langsam den Kopf und hob ihn wieder an. Dann tat ich es wieder. Und wieder. Immer wieder und immer schneller. Nein! Dies war tatsächlich keine Illusion. Ich befand mich im Hier und Jetzt, es regnete wie an jenem Tag und ich war erwachsen. Ja, ich war bereits erwachsen, doch das konnte doch nicht alles sein. Dieser Regen mußte eine andere Bedeutung haben. In der Stadt K., in der ich lebte, regnete es zwar sehr oft und sehr stark, doch an diesem Tag war er besonders gerüstet und verwandelte Straßen in Flüße, trockenes Laub in schwimmende Fische und Häuser in gewaltige Felsen. Ich betrachtete die Szene um mich herum und sah, wie sich alles veränderte. Es war wie an jenem Tag, als sich alles angefangen hatte um mich zu drehen, um mich in einen neuen Lebensabschnitt zu führen. Sollte das jetzt etwa genauso werden? Doch was kam nach dem Erwachsensein? Etwa das Alter? Nein! Alt werden wollte ich nicht, noch nicht. Das Schicksal sollte mich kein zweites Mal einholen.
 

Also fing ich an zu rennen. Ich hatte nicht besonders darüber nachgedacht, aber wann tat ich dies auch? Es war doch reine Zeitverschwendung über Dinge zunächst nachzudenken und sie dann erst in die Tat umzusetzen. Ich hatte kein Ziel vor Augen und ließ mich von meinen Beinen dorthin tragen, wo ich sicher sein würde, wo mich das Schicksal nicht heimsuchen konnte. Ich kniff die Augen fest zusammen und rannte weiter. Um mich herum war bis auf das plätschernde Geräusch meiner am überschwemmten Boden aufkommenden Schuhe nichts zu hören.

Es war beängstigend, diese Stille und der Druck, die mich umgaben und zu erdrücken schienen. Ich fühlte mich wie in einem endlos tiefen, schwarzen Meer, welches mich hinunter in die Tiefe ziehen und dort elendig verenden lassen wollte. Erschrocken darüber öffnete ich meine Augen wieder und blickte um mich. Die Umgebung hatte sich tatsächlich verdunkelt, jedoch sah ich noch genug, um zu erkennen, dass sich vor mir ein sehr hohes und mächtiges Gebäude befand, das, je näher man ihm kam, immer mehr Licht von sich gab und die Dunkelheit vertrieb. Ich blickte gen Himmel und entdeckte das ferne Kreuz, welches die Spitze des höchsten Turmes bildete.

Innerlich fing ich schon an zu lachen und meinen Triumph zu feiern, denn nun würde ich das Schicksal endlich überwinden und als Sieger aus unserem ewigen Kampf emporsteigen. Ich rannte also weiter, die steinernen Treppen hinauf und Richtung Eingansportal. Meinen Kopf hatte ich, ebenso wie den Blick, starr nach vorne gerichtet, denn ich hatte nun ein Ziel gefunden, vielleicht das einzige, das ich jemals haben würde, doch ich musste es erreichen. Nie wieder wollte ich den Schmerz des Verlustes fühlen, nie wieder zwanghaft die nächste Stufe des Lebens erreichen. Dies würde ich tun, wenn ich es fühlte, wenn ich bereit dazu wäre. Mit vollem Herzen und klarem Kopf und nicht, wann es vorgeschrieben war, dies zu tun. Das Gesetz besagt, dass man mit achtzehn Jahren erwachsen ist, doch was ist mit denjenigen, die sich einfach noch nicht bereit dafür fühlen, die vielleicht einen Teil ihrer Jugend verpasst haben und diese noch nachholen wollen? Sind diese etwa dazu verdammt, mit der ewigen Schuld zu leben, nichts aus seinem jugendlichen Lebensabschnitt gemacht zu haben? Was ist, wenn sie es nicht konnten, wenn sie durch jemand anders aufgehalten wurden? Mit achtzehn erwachsen. Das ist doch alles nur Gerede! Das haben wieder irgendwelche großen Politiker behauptet, doch indes haben sie nichts Weiteres getan, als ihre Meinung zu präsentieren, da ihrer Ansicht nach Menschen in diesem Alter bereits in der Lage waren der Volljährigkeit bemächtigt zu sein. Die Denker eben! Die hatten für alles einen Grund.
 

Zwar war ich keiner davon, doch hatte auch ich nun einen Grund etwas zu tun, was ich vorher noch nie getan hatte: Ich ging in die Kirche. Mit der ganzen Kraft, die in meinem Körper steckte, steuerte ich weiterhin auf das Portal zu. Was ich nicht ahnen konnte, war die Tatsache, dass die mächtig eichene Tür in diesem Moment bereits von innen geöffnet wurde, womit ich, immer noch übermäßig schnell rennend, direkt in das heilige Gebäude schoss. Meine nicht gerade unsanften Schritte hallten laut von den Wänden wider, doch war es ein Glück, dass bis auf den Pfarrer, der das Portal geöffnet hatte, niemand zu sehen war. Es dauerte ein wenig, bis ich endlich zum Stehen kam und als keine stampfenden Geräusche mehr zu hören waren, stand ich reglos da und betrachtete das, was sich vor meinen Augen bot, mit großem Erstaunen. Ich war vorher noch nie in einer Kirche gewesen. Im Waisenhaus waren wir sonntags immer in der kleinen Schulkapelle gewesen, aber das war nicht im Geringsten vergleichbar mit dem, was ich in diesem Moment zu sehen bekam.
 

Zu meiner Linken befand sich die Statue einer Frau, die ein Kind im Arm hielt. Auch wenn ich kaum etwas darüber wusste, so hallte in meinem Kopf der Name ,,Maria" wider, während ich sie betrachtete. Ich hatte es mal auf der Schulmesse mitbekommen, als man uns das Leben des Jesus Christus erzählte.

Etwa ein Dutzend Treppenstufen führten zu einem Tisch hinauf, auf dem einige Pflanzen standen und der mit einem weißen Tuch bedeckt war. Mein Blick wanderte an den weißen Wänden entlang, die hier und da durch einige mit Säulen ausgeschmückten Bogen unterbrochen war. Wohin jedoch der Durchgang führte, konnte ich nicht erkennen. Stattdessen wurde meine Aufmerksamkeit von dem Kreuz angezogen, an welchem ein dürrer Mann mit geschlossenen Augen hing und das unter dem höchsten aller Bogen plaziert war. Ich hielt meinen Kopf dabei gerade und wagte nicht einmal zu blinzeln, so als ob ich erwartete, dass der Mann sich bewegte. Natürlich tat er es nicht und innerlich lachte ich über mich selbst und meine Naivität, doch ich konnte einfach nicht wegsehen. War das etwa die Kraft Gottes, die mich hier festhielt? Für einen Moment bekam ich tatsächlich Zweifel. Eigentlich glaubte ich nicht an Gott und die Religion war für mich einfach nur ein Begriff. Sonst nichts. Häufig bekam ich mit, wie die Menschen erzählten, dass sie jeden Abend zu Gott beteten und ihm ihre Dankbarkeit und Ehre zusprachen; was sie sich von ihm wünschten und erhofften. Sie steckten all ihren Glauben in etwas, das es vielleicht gar nicht gab- vielleicht... Oft war die Rede von einem ,,Leben nach dem Tod" und dass man entweder in den ,,Himmel" oder in die ,,Hölle" kam. Aber das war wieder eines der Dinge, über das man sich zu viel Gedanken machen musste, um letztendlich zu einem Schluss zu gelangen. Wahrscheinlich gab es gar keinen Schluss. Man musste ewig darüber nachdenken- und das war es, was mich davon abhielt, es überhaupt zu tun.

Mein Blick war indes noch nicht von dem Gekreuzigten gewichen. Noch immer schaute ich mit großen Augen zu ihm hinauf und wurde merkwürdigerweise ein wenig traurig dabei. Ich kannte die Geschichte. Man hatte sie uns ja im Waisenahaus erzählt. Doch ich hatte noch nie ein Bild von ihm gesehen, noch hatte man uns je eines gezeigt. Am Kreuz in der Kappelle war er nicht gehangen, war ihnen vielleicht zu teuer gewesen. Aber nun sah ich ihn. Das statuenähnliche Abbild des Jesus Christus befand sich direkt vor meinen Augen und gab ein mysteriöses Leuchten von sich.
 

„Bist du auch gekommen, um eine Beichte abzulegen, mein Sohn?“, hörte ich auf einmal jemanden hinter mir sagen. Sofort wandte ich mich um und erblickte den alten weißhaarigen Pfarrer in seinem weißen Gewand, das am Saum und den Ärmeln rot gefärbt und mit goldenen Knöpfen verziert war.

Auch gekommen? Das hieß dann wohl, dass ich nicht alleine mit ihm hier war und ich mit meinen lauten Schritten vorher vielleicht doch jemanden beim Beten gestört hatte.

Ich blickte betreten zu Boden.

„Du brauchst dich nicht zu schämen, mein Sohn. Die Beichte dient dazu, deine Seele von deinen Sünden zu befreien, indem Gott dir vergibt. Also- ’’

„Aber Pater, ich dachte, ich sei zuerst dran.“, ertönte plötzlich eine weitere Stimme von links her.

Ich stutze kurz auf, bevor ich den Kopf wandte, denn es war eindeutig nicht die Stimme eines Mannes, weder die eines kleinen Jungens. Doch was ich nun zu sehen bekam, ließ mich noch mehr aufsutzen- nicht aus Schock oder Ekel, sondern vor Erstaunen. Das erste, was mir auffiel, war das fuchsrote, lange, wellige Haar, die zartroten Lippen und die smaragdgrünen, leuchtenden Augen, die auf den Alten gerichtet waren und einen etwas enttäuschten Ausdruck aufwiesen.
 

So etwas hatte ich vorher noch nie gesehen. Diese edle und selbstbewusste Haltung, die Leichtigkeit im Schritt- sie schien eher zu schweben als zu gehen- die süßliche Stimme, die ich eben zu hören bekommen hatte: sie war einfach das schönste Wesen, das ich jemals gesehen hatte. So schön, dass ich schon fast glaubte, sie sei wirklich ein Wesen, denn so etwas Schönes konnte nicht von dieser Welt sein. Wahrscheinlich bemerkte sie meinen Blick, denn sie verlangsamte ihren Gang und stellte sich dann vor mich. Ich blickte auf sie herab. Sie war genau einen Kopf kleiner als ich und musste somit ihren Kopf anheben, um mich ansehen zu können. Unsere Blicke trafen sich un mit jeder Sekunde schien mein Herz ein wenig schneller zu schlagen, je länger wir uns ansahen. Was war das auf einmal? Ich hatte so etwas noch nie gespürt. Vielen Frauen war ich bisher begegnet, doch bei keiner hatte mein Herz gedroht, beinahe zu zerspringen. Und wieso stieg in mir solch eine Hitze auf? Mein Gesicht glich bestimmt dem roten Saum des Pfarrer-Gewandes- und ich wandt den Blick schließlich ab und richtete ihn wieder zu Boden.

Es war ihr nicht entgangen.

„Oh, Entschuldigung, habe ich Sie etwa überrumpelt?“

„N-nein“, stotterte ich leise.

„Wissen Sie, ich komme nämlich jede Woche hierher und bete. Danach führe ich immer ein sehr langes Gespräch mit dem Pfarrer und somit auch mit Gott, damit...“, sie hielt kurz inne und besann sich, so als ob sie daran zweifelte, wirklich das zu sagen, was sie eigentlich beabsichtigt hatte. „Ich bin übrigens Elena.“, fügte sie schließlich noch lächelnd hinzu und streckte mir ihre Hand entgegen. Mit leichtem Zögern tat ich es ihr gleich und drückte meine schweißnasse Hand gegen ihre. Doch ich sagte nichts. Ich sagte nicht, dass ich nie in die Kirche kam, nie betete, nie mit dem Geistlichen redete, dass ich nicht einmal religiös war und meinen Namen auch nicht. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass, wenn ich ihr tatsächlich sagen würde, wie ich hieß, ich sie belöge. Denn im Grunde genommen wusste ich selbst nicht, ob das mein richtiger Name war. Der Name, den mir meine Eltern gegeben hatten. Das einzige, was ich wusste, war, dass man mich im Waisenhaus so genannt hatte.

Ein Schweigen breitete sich plötzlich zwischen uns aus, was sowohl ihr als auch mir unangenehm war, wir jedoch beide nicht wussten, was wir als nächstes tun sollten. Im Grunde genommen war ich ja dran, etwas zu sagen, doch ich konnte nicht. Ich konnte es einfach nicht.
 

Unsere Rettung war letztendlich der alte Pfarrer, der die Situation verfolgt und begriffen hatte.

„Ich denke, es ist nun an der Zeit unser Gespräch einzuleiten, mein Kind“, sagte er freundlich zu Elena gewandt und legte seine rechte Hand auf ihre Schulter.

„Ja, das denke ich auch“, antwortete sie, den Blick immernoch starr auf mich gerichtet.

Ich fühlte mich sehr unwohl dabei und steckte die Hände in die Hosentaschen.

„Aber es wäre nicht schlimm, wenn wir etwas später anfingen, denn ich komme ja nächste Woche wieder hierher, Pater.“ Auf die letzten Worte legte sie eine besondere Betonung und ein Lächeln umspielte erneut ihre Lippen. „War nett, Sie kennenzulernen“, fügte sie daraufhin hinzu und wandte sich schließlich um, dem Pfarrer in Richtung einer kleinen Tür folgend.

Ich starrte den beiden noch hinterher, bis sie durch die Tür verschwunden waren, die Hände noch immer in den Hosentaschen.
 

Nun war ich wieder allein. Zurückgelassen- jedoch mit einem Gefühl, als tanzten hunderttausend Ameisen in meinem ganzen Körper. Dieser Augenblick- so kurz er auch gewesen sein mag- war einfach unglaublich gewesen. Noch immer schwebten ihre grünen Augen in meinem Kopf herum; und auch ihren Händedruck konnte ich noch spüren. Der zarte süßliche Duft, der sie umgab, lag noch immer in der Luft und ich sah noch immer ihre roten Lippen.

Nur sehr langsam machte ich mich auf zu gehen, stieg die wenigen Treppenstufen hinab, auf die ich gestiegen war und ging in Richtung Portal. Elenas wallendes Haar schien dabei die ganze Zeit vor mir zu flattern und verschwand erst wieder, nachdem ich die große linke Türhälfte geöffnet hatte und in die trübe Straße blickte.
 

Der Regen hatte bereits aufgehört. Eigenartig. War dies etwa erst geschehen, als ich mit Elena geredet hatte? Vielleicht war das ein Zeichen. Ein Zeichen dafür, dass ich es mir gelungen war, meinem Schicksal zu entkommen. Ich dachte ein weiteres Mal an ihre letzten Worte: „...nächste Woche ohnehin wieder...“

Vielleicht sollte ich auch wieder hierher kommen. Dann würde ich sie erneut treffen. Elena... Ihr Blick kam mir ein weiteres Mal in den Sinn – erwartungsvoll und ein wenig neugierig war er gewesen. Und das Lächeln erst! Ein Traum.

Zum ersten Mal in meinem Leben kam mir der Gedanke, dass es vielleicht doch jemanden auf dieser Welt gab, den ich interessierte...

Das Gefühl namens Liebe

Innerhalb der nächsten Wochen stellte ich fest, dass meine Vermutung bestätigt wurde. Ich war tatsächlich eine Woche später erneut in die Kirche gegangen und traf sie dort. Sie und den alten Pfarrer, so als ob es derselbe Tag gewesen wäre. Und so ging es weiter. Woche für Woche, Monat für Monat. Der Gang zur Kirche entwickelte sich bei mir zur Gewohnheit; was ich vorher nie von mir erwartet hätte, vertiefte sich umso mehr, je öfter ich das Gotteshaus besuchte. Sogar mit dem Beten hatte ich angefangen. Zwar fühlte ich mich noch ein wenig unbeholfen und komisch dabei, zu jemandem zu beten, an den ich immer noch nicht so recht glauben wollte, doch fühlte ich mich danach immer erleichtert und von meinem Herzen schien immer ein großer Stein weggenommen worden zu sein. Es war nicht einfach zu beschreiben, dieses Gefühl, doch es fühlte sich wunderbar an. Wunderbar, weil sie dabei immer in meiner Nähe war und mir beibrachte, wie man sich religiös zu verhalten hatte. Einer der Hauptgründe, weshalb ich überhaupt dazu bereit war, in die Welt der Religion einzutreten, war überaupt sie. Ich wusste, dass, wenn ich es tat, ich ihre Nähe als Belohnung erhielt.
 

Aber von wem?
 

So kam es, dass ich anfing, über gewisse Dinge nachzudenken. Ja, ich war auf dem besten Wege, ein Denker zu werden. Zwar kein großer, aber immerhin einer, der sich mit alltäglichen Gegebenheiten auseinandersetzte, sich fragte, weshalb etwas wirklich so war, wie es war und versuchte, sich mit eigener Vorstellungskraft Anworten darauf zu geben.
 

Mein Leben fing an, sich zu ändern. Und auch der Regen ergoss sich nicht mehr regelmäßig über die Stadt, im Gegenteil- fast jeden Tag schien nun die Sonne. Es hätte nicht besser sein können, denn somit kam auch ich fast jeden Tag mit Elena nach draußen, um mit ihr entweder durch den Stadtpark oder am Fluss entlang zu spazieren. Es war ihre Idee gewesen, meine Nummer zu nehmen und mich täglich anzurufen; mich zu fragen, was ich denn vorhatte- wenn ich mal nicht arbeiten ging- und immer neue Einfälle bekam. Mal liefen wir einfach nur durch die Stadt, mal aßen wir gemeinsam eine Pizza und einmal gingen wir sogar reiten. Sie kannte den Besitzer eines Pferdehofes und durfte somit seine Tiere nutzen, wann immer sie es wollte. Es war ein ungewohnt komisches Gefühl auf dem Rücken eines Pferdes zu sitzen und die Umgebung aus einer anderen Höhenlage zu betrachten und zugegebenerweise hatte ich anfangs auch ein wenig Angst, doch Elena nahm sie mir, indem sie sich hinter mich setzte, ihre Arme um meinen Bauch schlang und die Zügel ergriff. Die hunderttausend Ameisen fingen bei der Berührung wieder an zu krabbeln und erzeugten eine Gänsehaut, die von meinem Kopf bis in den Fuß wanderte. Glücklicherweise bemerkte sie das nicht und ließ stattdessen das Pferd langsam losschreiten. Dabei lächelte sie.
 

Sie lächelte eigentlich immer. Von dem Augenblick an, in dem ich ihr die Tür meines Zimmers im Wohnheim öffnete, bis zu dem Zeitpunkt, bei dem sie sich umarmend von mir verabschiedete, strahlte sie.

Sie verabschiedete sich jedesmal um 21.00 Uhr, weil sie dann zur Arbeit ging. Sie hatte mir erzählt, dass sie als Krankenschwester im Krankenhaus tätig war und immer Nachtdienst hatte. Das passte auch zu ihr: Ein Beruf, bei dem man Menschen half; den lebenden Beweis für ihre Taten stellte ich dar.

Ich kam jedoch nie dazu, mich dafür bei ihr zu bedanken. Für die Zeit, die sie für mich opferte, für die Dinge, die sie mir beigebrachte hatte- zu denen unter anderem das Beten und das Reiten zählten- und für ihre Nähe, die ich am allermeisten schätzte. Dank ihr hatte sich mein eintöniges Leben verändert- sie hatte mich verändert- und dafür liebte ich sie. Es dauerte eine Weile, bis mir dies bewusst wurde, da ich solch ein Gefühl vorher nie verspürt hatte. Man hatte mir nie beigebracht zu lieben, doch je mehr Zeit ich mit ihr und ihren Lebensgeschichten verbrachte, je mehr ich selbst darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass man dieses Gefühl Liebe nannte.

Natürlich wollte ich es ihr unverzüglich sagen, sobald ich selbst herausgefunden hatte, was die feurige Hitze in meinem Körper, das sanfte Kribbeln und die schwitzenden Hände zu bedeuten hatten. Doch dies musste auf besondere Art und Weise geschehen. Ich wusste nur noch nicht, auf welche...

Das Rieseln des Regens

Es war schließlich an einem Mittwoch, an dem mir eine Idee kam. Die Sonne versteckte sich hiner den dichten Wolken, die mit ihren abwechselnden grau-weiß Tönen ein bevorstehendes Unwetter andeuteten. Ich war gerade dabei, meine Arbeitskleidung abzulegen, als ich hörte, wie etwas aus der Hosentasche fiel. Ich blickte auf den Boden und entdeckte einen kleinen Eisenring, den ich beim Zusammenschrauben vergessen haben musste, und hob ihn auf. Er glitzerte mir entgegen, während ich ihn von allen Seiten betrachtete und dabei überlegte, wo ich ihn wohl vergessen haben musste festzumachen. Plötzlich hatte ich es. Nicht den Einfall, wo er mir entfallen war, sondern die Idee, wie ich Elena sagen sollte, was ich für sie empfand. „Ein Ring“, murmelte ich und blickte durch ihn hindurch.
 

Nur wenige Stunden später schaute ich weiterhin durch, doch dabei handelte es sich um einen Ring, den ich mittlerweile in einem Kaufhaus gekauft hatte. Es war ein sehr schöner Ring: schmal mit Silber überzogen; obendrauf blitzte ein diamantenähnlicher Stein. Ich konnte es kaum erwarten, ihn ihr zu geben. Er würde ihr bestimmt gefallen.
 

Als ich Elena an diesem Nachmittag die Tür öffnete, war jedoch etwas anders. Nicht nur, dass sie später als sonst gekommen war, sondern auch ihr Gesichtsausdruck war nicht mehr mit einem Lächeln verziert, er war ernst und düster geworden und selbst ihre Augen hatten nicht mehr dieses besondere Leuchten. Sie sah sehr blass aus.

„Geht es dir nicht gut?“, fragte ich sie vorsichtig und strich ihr sanft über den Rücken. Sie antwortete nicht, entwand sich meiner Geste und schritt auf mein Bett zu, auf dem sie sich dann niederließ. Mit ausdruckslosen Augen starrte sie vor sich hin und schwieg. Ich ging langsam auf sie zu und setzte mich neben sie. Draußen war bereits der niederprasselnde Regen zu hören, der immer wieder von lautem Donnern unterbrochen wurde.
 

„Ich...habe...keinen...Job mehr“, sagte sie plötzlich nach etlichen Minuten des Schweigens. Sofort drehte ich meinen Kopf zu ihr.

„Du meinst...im Krankenhaus? Sie haben dir einfach so gekündigt? Aber wieso?“

Sie wandte ihr blasses Gesicht dem meinen zu und schien den Tränen nahe zu sein. Ihre Stimme zitterte, als sie antwortete: „Wieso? Weil ich vielleicht nicht gut genug war, weil sie vielleicht eine bessere für den Posten gefunden haben, weil die Kunden vielleicht nicht mehr mit mir zufrieden waren?!“

Kunden? Wieso sprach sie auf einmal von Kunden? Sie war doch Krankenschwester, da gab es Patienten, aber doch keine Kunden. Ich schaute sie verwirrt an. Wahrscheinlich hatte sie es selbst bemerkt, da sie im nächsten Moment ihre Hände auf den Mund schlug und die müden Augen weit aufriss. Ein erneutes Schweigen trat zwischen uns und dauerte länger als das vorherige. Viel länger.

„Ach, was soll’s. Früher oder später kommt es ohnehin ans Licht...“, murmelte sie, mehr zu sich selbst als mir zugewandt. Dabei verfiel ihre Stimme in einen völlig neuen Unterton; etwas Bissiges und leicht Zorniges war aus ihr herauszuhören. So kannte ich Elena nicht. Wie kam es, dass sie sich in so kurzer Zeit so verändert haben konnte? War es nur der verlorenen Arbeit wegen?

„Elena, was-?“, fing ich an und legte meine Hand auf ihre Schulter.

„Fass mich ja nicht an!“, zischte sie auf einmal und schlug sie unsanft wieder weg. „Ich dulde es nicht, von jemandem berührt zu werden, der mein Leben zerstört hat!“ Ihre Augen funkelten mich böse an und zum ersten Mal spürte ich etwas aus ihr heraus, das mir bisher unvorstellbar erschienen war: Hass. Mein Leben zerstört hallte es wiederholte Male in meinem Kopf wider und mit jeder Wiederholung wurde ich mit einem weiteren Messerstich durchbohrt. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch ich brachte keinen Ton heraus.

„Ja, da glotzte, was?! Und rate mal, wer dieser jemand ist? Wie konnte ich nur so blöd sein und mich auf dich einlassen? Wieso musste ich dich damals überhaupt in der Kirche ansprechen? Es war wahrscheinlich das Mitleid, das ich empfand, als ich dich gesehen hatte; wie du dich so heruntergekommen und elend dort hingestellt hattest. So als hätte Gott dich mir geschickt, um mich von meinen sündigen Taten loszureißen. Meine Sünden, die ich jede Nacht, zu jeder Stunde, manchmal länger, manchmal kürzer, mit den unterschiedlichsten Männern beging und die ich mir jedesmal von der Seele beichtete. Aber ich war zufrieden mit meinem Leben gewesen und dachte, alles richtig zu machen. Doch wie es schien, war es Gott nicht gewesen und so hatte er dich mir geschickt! Seit ich mit dir zusammen war, konnte ich mich nicht mehr auf meine Arbeit konzentrieren. Ich war nicht mehr bei der Sache, meine Gedanken schweiften immer ab und immerzu waren sie bei dir. Und das war der Grund, weshalb ich gefeuert wurde, weshalb ich nun orientierungslos durch die Gegend irre, mit keinen Aussichten auf eine weitere Zukunft. Doch eines ist mir klar: Dass ich den Tag verfluche, an dem ich dich zum ersten Mal sah!“

Laut keuchend drehte sie ihren Kopf weg und starrte wütend vor sich hin. Sie hatte sehr laut geschrien und mit jedem Wort hatte sie einen Teil mehr in mir außer Kraft gesetzt, sodass ich am Ende wie eine einfache leblose Hülle dasaß. Ich spürte und hörte nichts mehr und auch meine Arme und Beine waren wie durch einen elektrischen Schock ausgeschaltet worden. Ich bemerkte nicht einmal, wie sie aufstand und mit laut zuschlagender Tür aus meinem Zimmer schritt.
 

In meinen Augen herrschte totale Leere und in meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken nahezu. Ich? Schuld daran, dass ihr Leben nun zerstört war? Aber warum? Was hatte ich nur verbrochen? Ich dachte, es sei alles in Ordnung gewesen. Ich dachte, ich machte alles richtig. Wir sahen uns, redeten, vergaßen die Zeit; dann ging sie zur Arbeit und-.

Ihre Arbeit.

Weshalb hatte sie mir nicht gesagt, dass sie eine Prostetuierte war? Dass sie jede Nacht mit wer weiß wievielen Männern schlief und erst am frühen Morgen nach Hause kam. Wieso hatte sie mich angelogen, indem sie mir sagte, dass sie eine Krankenschwester sei? War das etwa der Beweis dafür, dass sie mir nicht vertraute? Dass auch sie eine der Personen war, die ich nicht interessierte.

Ich fülte mich schlecht. Schlecht und elendig. Ich hatte alles Erdenkliche auf mich genommen, um ihr zu gefallen, um sie in meiner Nähe zu haben und nun steltte sich heraus, dass ich dadurch nichts erreicht hatte, bis auf die Tatsache, dass ich ihre Zukunft zerstört hatte. Dafür wollte ich mich entschuldigen. Ich wollte sie nie wieder so zornig sehen, nie wieder schreien hören. Doch zunächst musste ich mich bei ihr entschuldigen. Ich musste ihr sagen, dass ich nie vorgehabt hatte, in ihr Leben einzugreifen.
 

Ich erlangte plötzlich das Gefühl für meinen Körper zurück und regte mich. Dabei fiel mir der Ring aus der Hosentasche. Der Ring! Ich hatte doch vorgehabt, ihn ihr zu geben und nun hatte ich es wieder vergessen. Ein wenig verärgert über mich selbst hob ich den Ring vom Boden und mich langsam selbst aus meiner Position und ging zu meinem Schreibtisch rüber, auf dem ein Blatt Papier und ein ärmlich aussehender Bleistift lagen. Ursprünglich hatte ich vorgehabt, damit einen Hassbrief an mein Waisenhaus zu schreiben. Das war bereits fünf Jahre her. Doch als ich das leer weiße Blatt betrachtete, griff meine Hand wie von selbst nach dem Stift und schrieb:
 

Ich hatte nie vorgehabt, dich traurig zu machen. Mein Wunsch war es, dich glücklich zu sehen und dein Lächeln immer in meiner Nähe zu haben. Um dir das zu beweisen, habe ich dir diesen Ring gekauft. Ich wollte dir damit sagen, dass ich dich liebe und dir meine Dankbarkeit zeigen.

Doch nun habe ich begriffen, dass ich dir nur Leid und Schmerz gebracht habe. Du musst jedoch wissen, dass ich das nie gewollt habe.
 

Es tut mir leid!
 

Es waren nicht sonderlich viele Worte, die ich aus dem Unterbewusstsein heraus verfasst hatte, doch ich fand bei nochmaligem Lesen alle wesentlichen Dinge erwähnt. Mehr gab es nicht zu sagen. Den Ring legte ich obendrauf und faltete den Brief schließlich zusammen. Dann wandt ich mich um und ging in Richtung Tür, denn vielleicht konnte ich Elena noch erwischen, als auf einmal ein sehr lautes Donnern hinter mir ertönte. Ich blieb sofort stehen.
 

„Seit ich mit dir zusammen war, konnte ich mich nicht mehr auf meine Arbeit konzentrieren. Ich war nicht mehr bei der Sache, meine Gedanken schweiften immer ab und immerzu waren sie bei dir. Und das war der Grund, weshalb ich gefeuert wurde, weshalb ich nun orientierungslos durch die Gegend irre, mit keinen Aussichten auf eine weitere Zukunft. Doch eines ist mir klar: Dass ich den Tag verfluche, an dem ich dich zum ersten Mal sah!“
 

Elenas Worte waren mit dem Donnern gekommen und drangen unverzüglich in meinen Kopf. Wieder spürte ich Tausende von Stichen von Tausenden von Messern in meinem Herzen. Wieder war ich nicht in der Lage, mich zu bewegen, zu hören oder zu etwas zu sehen. Ein sanft klingender Ton war es, der mich aus meiner erneuten Trance holte. Ich lauschte aufmerksam und entdeckte, dass er vom Fenster her gekommen war. Von draußen also. Mit leisen Schritten lief ich darauf zu und öffnete es. Es war das Rieseln des Regens. Ein wunderbarer Ton, der mit seiner Zärtlichkeit sogar das gröllende Donnern vertrieben hatte. Ich streckte meinen Arm aus, so als ob ich die Melodie einfangen wollte, die meine Ohren beseelte.
 

„Kannst du mich aus meiner Trauer holen?“, rief ich. Es kam keine Antwort.

„Kannst du mich aus meiner Trauer holen?!“, wiederholte ich ein wenig lauter. Wieder kam nichts zurück.

„Kannst du mein Leben verändern?“

„Jaah, dein Leben verändern...“, rauschte es plötzlich. Ich wollte mein Leben ändern, doch zunächst einmal musste ich herausfinden, durch wen dies geschehen sollte. Ich streckte meinen Arm noch weiter aus- irgendwann würde schon jemand danach greifen, das wusste ich. Ich spürte auf einmal eine gewisse Leichtigkeit in mir. Alle meine Sorgen waren mit einem Schlag verschwunden, ich musste nur noch näher an den mysteriösen Ton herankommen, dann wäre alles anders. Dann wäre mein Leben verändert.

Und ich kam ihm auch näher, das spürte ich.

Der Weg zum Licht

Ein Licht?

Woher kommt es?

Wieso sehe ich denn auf einmal ein Licht vor mir?

Das angenehme Gefühl der Erleichterung und Glückseligkeit fließt noch immer durch meinen Körper hindurch.

Aber wo bin ich hier nur gelandet? Ich wollte doch nur den sanften Ton erreichen, der meine Sorgen vertreiben konnte.
 

Was ist das?
 

Ich sehe das Bild eines jungen Mannes vor mir, der blutüberströmt am Boden liegt. Eine Menschenmasse hat sich um ihn herum gebildet und neben ihm kniet eine junge hübsche Frau und weint. Ich sehe ein wenig näher hin und stutze auf: das fuchsrote Haar, die helle Haut, die zartroten Lippen. Ich kenne diese Frau! Irgendetwas sagt mir, dass sie eine besondere Rolle in meinem Leben spielt. Ich betrachte nochmal den reglosen Mann und spüre plötzlich, wie mir die Luft wegbleibt. Denn der Mann auf dem Boden bin ich! Aber das ist doch nicht möglich. Wie kann ich dort sein, wenn ich hier bin? Und wie kann ich dort überhaupt tot sein, wenn ich doch lebe?
 

Oder lebe ich etwa nicht mehr?
 

Ich kann hören, wie die Frau etwas vor sich hinschluchzt und höre aufmerksam hin.

„Warum? Warum nur? Warum ausgerechnet du? Wieso musstest du in mein Leben treten? War es Gottes Absicht? Solltest du die Rettung aus meinem verzweifelten Leben sein? Ja, das solltest du! Ich habe es nun begriffen. Du warst nicht dazu da, um mein Leben zu zerstören, sondern um es zu retten und das hast du getan. Hörst du? Du hast mein Leben gerettet! Und warum? Weil ich mich in dich verliebt hatte. Ich liebe dich, hörst du es? Ich liebe dich! Also bitte, bitte, bleib bei mir. Denn du bist das einzige Richtige für mich, derjenige, der mir den rechten Weg weist und mich darauf begleitet. Los! Komm wieder zurück! Ich möchte dich nämlich auch retten!“
 

Elena! Das ist zweifellos meine Elena. Doch was sagt sie da? Ich hätte sie gerettet? Hatte sie nicht irgendwann einmal gesagt, dass ich sie ins Elend gebracht hatte? Es kommt mir jedoch so vor, als sei dies schon hunderte von Jahren her. Erwartungsvoll blicke ich mich an und warte darauf, was als nächstes geschieht. Doch es passiert nichts. Noch immer liege ich reglos am Boden und habe die Augen geschlossen. Meine linke Hand ist zu einer Faust zusammengeballt. Elena schluchzt indes weiter und wiederholt immer wieder dieselben Worte: „Ich will dich auch retten, so wie du mich gerettet hast.“

Mich retten? Aber Elena, du musst mich doch nicht retten, denn das hast du bereits getan. Du bist in mein Leben getreten, hast mir beigebracht, wie man betet, reitet und in den Tag hineinlebt. Du hast mir gezeigt, wie vielfältig es sein kann und wieviel Spaß man dabei haben kann. Und dafür danke ich dir.

„Ich liebe dich, ich liebe dich!“, höre ich sie rufen.

Du liebst mich? Wirklich? Ich habe gedacht, dass du mich verabscheust, dass du den Tag verflucht hast, als wir uns trafen, dass du dir gewünscht hättest, mich nie mehr wieder zu sehen. Aber steckte hinter alldem etwa die eigentliche Tatsache, dass du mich liebst? So wie ich dich liebe?

Ich weiß, dass ich mir geschworen habe, dich nie mehr traurig sehen zu wollen und dieses Versprechen will ich unter keinen Umständen brechen.
 

Willst du zu ihr zurückkehren?
 

Was ist das auf einmal? Wessen Stimme kann ich da hören?
 

Wenn du dir selbst noch einmal die Möglichkeit verschaffen willst, sie glücklich zu machen, so kehre zu ihr zurück. Du hast nun die freie Wahl.
 

Ich blicke verwirrt um mich, doch kann ich bis auf das Bild und das Licht hinter mir nichts erkennen. Die Worte gehen mir dennoch ein weiteres Mal durch den Kopf. Eigentlich kann ich tatsächlich zu ihr zurück und dort anknöpfen, wo unser Leben unterbrochen worden ist, nämlich dem Zeitpunkt, an dem sie aus dem Zimmer lief und ich ihr hinterhergehen wollte. Ich strecke meinen Arm zu dem Bild hin und bin kurz davor es zu erreichen, als ich wieder stocke. Ich bekomme Zweifel. Was ist, wenn ich zurückkomme, aber unser Leben nicht so fortgesetzt wird, wie ich es mir wünsche? Was wäre wohl, wenn wir einander doch nicht verziehen und wir uns stattdessen auf ewig hassten? Weder sie noch ich könnte damit leben.

Ich atme tief durch und sehe sie an.
 

„Elena! Du weißt nicht, wie dankbar ich dir bin. Nicht nur für die unzähligen Tage, die ich gemeinsam mit dir erleben durfte, sondern auch für deine Liebe und deine Aussage, ich sei deine Rettung gewesen. Du sollst wissen, dass du auch meine warst und ehe wir uns nicht mehr sehen, sollst du den Beweis dafür bekommen, denn du hast mir etwas sehr Wichtiges beigebracht. Etwas, dass ich selbst in deiner Umgebung niemals zu tun gewagt habe, dich aber immer dafür bewunderte...“
 

Ich weiß, dass sie mich nicht hören kann und ich zu mir selbst spreche, doch ich behalte meinen liegenden Körper die ganze Zeit im Auge, weil doch eine gewisse Bindung zwischen ihr und mir besteht. Als ich den letzten Satz ausgesprochen habe, sehe ich in mein steinernes Gesicht. Wie in Zeitlupe scheint der nächste Moment zu vergehen, doch es ist der Moment der Wahrheit. Elena muss wissen, dass ich ihr dankbar für alles bin. Das bin ich ihr schuldig. Langsam, aber deutlich erkennbar, breitet sich ein Lächeln auf meinem mit Blut überströmten Gesicht aus. Ausgehend von der Mitte aus, zieht es sich bis zu den Mundwinkeln hin und verharrt dann in dieser Position.

Elena ist dies nicht entgangen. Natürlich nicht- ihr entgeht nämlich nichts, zumindest das, was mich betrifft. Erstaunt, jedoch glücklich zugleich lächelt auch sie und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht.
 

Nun ist der Zeitpunkt gekommen, an dem ich wirklich sagen kann, dass ich glücklich bin. Was ist das Glück? Kann man es allgemein definieren? Manche Menschen machen viel Geld und teure Gegenstände glücklich, andere freuen sich über jede noch so einfache Kleinigkeit und einige sind froh, wenn sie nicht allein sein müssen. Ich selbst bin nun auch zufrieden. Auch wenn ich lustigerweise gerade festellen muss, dass ich mich doch zu einem großen Denker entwickelt habe. Doch das musste passieren. Es war warscheinlich so vorgesehen; vorgesehen von Gott. Langsam wende ich meinen Blick von dem Bild ab und sehe wieder zu dem Licht.
 

„Ich weiß nun, wo ich hingehöre und ich weiß, dass es ihn wirklich gibt...“
 

Bevor ich jedoch darauf zugehe, fällt mir noch ein, dass ich vergessen habe, Elena meinen Ring zu geben. Ich darf diesen Ring nicht schon wieder vergessen. Letztes Mal hat das nämlich Unglück gebracht. Doch meine Bedenken sind unnötig. Ich weiß nämlich, dass sie den Brief und den Ring darin finden wird, denn ihr entgeht nichts, was mich betrifft. Mit vollem Herzen und leichtem Schritt mache ich mich schließlich auf- ich folge dem Weg zum Licht hin...

Dass sich meine linke Faust in diesem Moment von selbst öffnet und den Brief freigibt, bekomme ich nicht mehr mit. Doch wenn ich es gesehen hätte, wüsste ich, wer dies geschehen ließ.



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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  AndySixx
2008-06-19T13:39:03+00:00 19.06.2008 15:39
;-; das erste kapitel find ich schon voll schlimm..
ich liebe menschen die Dramatik oder Taruer oder sowas ins ihre Fanfics bringen..den ich bin meiner meinung nach nicht besonders gut darin XD
*knuddel*


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