Wunder
Man stelle sich die Frage: „Gibt es Wunder, oder ist Warten darauf vergeblich?“
Wunder, so denkt man vermutlich, sind Dinge, die etwas furchtbar besonderes sind. Etwas, das man nur selten erleben kann, falls es sie wirklich gibt.
So ging ich lange durch mein Leben und fragte mich, gibt es Wunder, oder werde ich wahnsinnig, wenn ich darauf warte, auf eines hoffe. Gibt es Wunder, oder gibt es nur das, was man sich selbst verdankt.
Monate verstrichen, auch, wenn ich noch nicht alt war, wurde ich immer älter über dieser Frage, und immer wieder stellte ich sie mir. Zu einer Antwort kam ich nicht, mein Blickwinkel war zu beschränkt. Ein Wunder fand ich nicht.
Mit der Zeit machten mich diese Gedanken mehr und mehr unglücklich, denn ich kam weder vorwärts, noch zurück, fand keine neuen Antworten, konnte mich auf keine neuen Fragen einlassen, denn die Frage über die Existenz von Wundern dominierte meine Gedanken. Dem Wahnsinn nahe traf ich eines Tages auf eine Person, die all meine Zweifel in den Wind zerstreute.
Ich fragte ihn, wie ich jeden Menschen fragte, mit meinen großen, treu blickenden Augen „Gibt es Wunder, oder ist Warten darauf vergeblich?“.
Und zu meiner Überraschung lächelte er und gab mir die Antwort: „Wunder gibt es, man muss nur die Augen öffnen und für sie bereit sein...“
War ich bereit für Wunder? Hatte ich die Augen geöffnet, meine großen fragenden Augen geöffnet? Ich erwiderte: „Meinst du wirklich, es gibt sie – Wunder?“
Er sagte nichts, drehte sich um und ging. Und ich begann, nachzudenken. Bisher hatte ich mir nur darüber Gedanken gemacht, ob es Wunder gibt, jedoch nicht darüber, was ein Wunder eigentlich sein mag.
Denn, was eigentlich ist ein Wunder? Für manche Menschen ist ein Wunder schon etwas, was sie nicht verdient haben. Ich erinnerte mich zurück an meine Schulzeit, die noch nicht allzu lang zurück lag. Ich erinnerte mich, wie ich in der zwölften Klasse daran zweifelte, das Abitur zu bestehen, oder auch nur zum Abitur zugelassen zu werden. Ich hatte Zweifel, überhaupt die zwölfte Klasse zu bestehen, denn es schien mir, als ob ich unendlich viele Ausfälle hätte haben müssen.
Als ich das Zeugnis in meinen Händen hielt, glich es einem Wunder. Ich hatte die zwölfte Klasse mit bravour bestanden.
Genauso erging es mir in der 13. Klasse. Erneut ein Wunder. Erneut schien es mir, als hätte ich dieses Zeugnis nicht verdient, andererseits hatte ich tatsächlich so sehr dafür gearbeitet. Es machte mich glücklich, ich konnte Lächeln, mich an diesem Wunder erfreuen.
Glück. Glück kann Wunder sein.
Für manche jedoch ist ein Wunder unerreichbar, weil sie zu hohe Anforderungen daran stellen. Wer ein Wunder nur in der absoluten Veränderung des Lebens sieht, wird kein Wunder finden, denn Veränderungen gehen langsam vonstatten.
Deshalb ist für manche Menschen auch Glück unerreichbar. Nur, wenn man sich über die kleinen Dinge freut und wundert, kann man glücklich werden und jeden Tag Wunder erleben, nicht wahr?
An diesem Tag wurde mir klar, der Blickwinkel bestimmt Wunder, bestimmt Glück.
Wenn man nichts als gegeben sieht, steht man jeden Tag vor einem kleinen Wunder. Wenn ich beginne, all diese Wunder, die ich jeden Tag erlebe, nicht als selbstverständlich zu sehen, die Welt mit Kinderaugen sehe, dann ist es ein Wunder, dass ich jeden Morgen neben dem Menschen aufwache, den ich liebe. Dann ist es ein Wunder, dass ich diesen Menschen liebe, dass er mich liebt, dass wir den Tag glücklick miteinander verbringen können. Dann ist es ein Wunder, dass ich lebe, dass ich der Mensch bin, der ich bin. Es ist ein Wunder, dass mir all diese Möglichkeiten offen liegen, die ich mir selbst geschaffen habe, ich verdanke mir dieses Wunder. Noch mehr Wunder sind vielleicht die Möglichkeiten, die mir andere Menschen eröffnet haben, die mir Wunder geschenkt haben. All dies Leben ist Wunder.
Das Wunder des Lebens liegt verborgen in unseren Herzen.
Und jeden Tag kann man mit diesem Wunder ein neues Glück finden.