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Illusion of Time/Gaia

von

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Illusion of Time
 

Die Bewohner Südkaps, einer kleinen aber äußerst wohlhabenden Hafenstadt, waren ein merkwürdiges Völkchen. Nichts war ihnen wichtiger als ihre Ruhe. Im ganzen Königreich brüsteten sie sich mit der Stille und dem Frieden ihrer Heimat. Und in der Tat - nichts an dieser perfekten Szenerie wirkte fehl am Platz, alles war ruhig, alles hatte seinen Platz und nicht einmal die streunenden Tiere konnten die Harmonie stören. Ein vollkommenes Bild der Idylle. Bis jetzt.

Letztendlich jedoch war der Augenblick gekommen, den die friedliebenden Bewohner Südkaps am meisten fürchteten - das Klingeln der Schulglocke. Das Unheil verkündende Geräusch war gerade verhallt, schon wurden die Türen der Schule aufgerissen, um der erstaunlich gewaltigen Masse an Schülern endlich Zugang ins Freie zu gewähren. Kaum war der Strom versiegt, trat auch einer der schlimmsten Störenfriede ins Tageslicht und streckte sich erst einmal ausgiebig. Gut gelaunt sah er sich um. Der Himmel war blau, das Meer ruhig; es versprach noch ein herrlicher Tag zu werden, wenn auch nicht mehr allzu viel davon übrig geblieben war.

Will hatte erst vor wenigen Tagen seinen vierzehnten Geburtstag gefeiert, und seine gute Laune deswegen schien kein Ende nehmen zu wollen - sehr zum Leidwesen der Stadtbewohner. Will war seit dem Tag, da das Schicksal ihn vor genau einem Jahr nach Südkap geführt hatte, nichts als ein Unruhestifter gewesen. Er jagte Katzen, scheuchte die Hühner auf und einmal hatte er sich sogar erdreistet - es war mittlerweile streng verboten, darüber zu sprechen - den Blumengarten der Frau des Bürgermeisters in dem Versuch zu ruinieren, deren Katze zu bestatten - lebendig.

Er hatte nur wenige Hobbys. Das eine war Flöte spielen. Zu seinem sechsten Geburtstag hatte er von seinem Vater eine Flöte bekommen, die er seitdem Tag und Nacht bei sich trug. Das andere war - springen. Ja, Will liebte es zu springen. Er sprang weiter und höher als jeder andere in der Stadt, was so ziemlich das Einzige war, worauf er stolz sein konnte. Nicht selten erschreckte er arme alte Frauen, indem er von meterhohen Häusern einfach auf die Straße sprang, nur um den Rausch der Geschwindigkeit zu genießen. Als drittes Hobby spielte er - wie gesagt - Streiche.

Einzig und allein Wills Vergangenheit hatte ihn bislang vor einem Ausschluss aus der Gemeinde bewahrt. Als er in Südkap angekommen war, war er kaum noch am Leben gewesen. Er hatte wirre Geschichten von seinem Vater und einem Abenteuer erzählt, das sie angeblich gemeinsam bestritten hatten. Am Eingang zum Turm von Babel seien sie getrennt worden, gerade als sie gedacht hatten, es sei vorüber. Will hatte es geschafft, sich zu seinen einzigen lebenden Verwandten hierher nach Südkap durchzuschlagen - seinen Großeltern. Sein Vater jedoch war seitdem verschollen… Will schien sich nicht daran zu stören. Ganz im Gegenteil, er hatte stets fest an die Wiederkehr seines geliebten Vaters geglaubt, und diese geduldig erwartet. Eines Tages würde er losziehen und seinen Vater finden.

Heute allerdings hatte er andere Pläne. Er würde sich und der Stadt eine kleine Pause gönnen und sich mit seinen Freunden an ihrem geheimen ‘Stützpunkt’ treffen.

Drei Stufen auf einmal nehmend rannte er die Treppen zum Hafen hinunter, vorbei an den Schiffen und Fischständen (ohne den missbilligenden Blicken feilschender Frauen besondere Beachtung zu schenken), immer weiter den Steg entlang, bis er schließlich vor seiner guten alten Seehöhle stand. Sie war nicht größer als fünf Quadratmeter, doch seit jeher diente sie Will und seinen Freunden als Zufluchtsstätte und Aufenthaltsort nach der Schule; für die kleine Gruppe war sie so etwas wie ihr zweites Zuhause.

Als Will die Höhle betrat, begrüßten ihn zwei seiner guten Freunde mit einem freundlichen Grinsen. Zu mehr war keine Zeit, schließlich waren sie gerade in eine erbarmungslose Partie ‘Fang-den-Fischer’ vertieft. Offenkundig war Seth am Gewinnen - wer auch sonst? Die bebrillte Intelligenzbestie mit dem spitzen Gesicht und den violetten Haaren war den Freunden in allem haushoch überlegen, was in irgendeiner Weise den Verstand beanspruchte; und in allem hoffnungslos, was auch nur ein Mindestmaß an körperlicher Aktivität benötigte. Der Junge, der ihm gegenübersaß, hieß Lance. Er war genauso alt wie Will, was die beiden des Öfteren zu spielerischen Machtkämpfchen veranlasste. Selbst sein Haar ähnelte dem von Will (er behauptete stur, Will habe seine Frisur kopiert).

Gerade als Will nach dem letzten im Bunde fragen wollte, kam dieser in die Höhle gestolpert. Erik war das Nesthäkchen der Gruppe. Mit seinen 11 Jahren war er nicht nur der Jüngste, sondern auch der Ängstlichste und Zurückhaltendste der Jugendlichen. (Auch wenn die anderen in letzter Zeit eifrig an ihm gearbeitet hatten: Vor ein paar Tagen hatte er - mit ein klein wenig Unterstützung - doch tatsächlich mit einem echten Mädchen gesprochen!)

Sein hübsches, eigentlich braun gebranntes Gesicht war nun aschfahl.

»Hey, Leute!«, begann er außer Atem. »Ihr erratet nie, was ich gerade gehört hab. Die Prinzessin soll abgehauen sein! Der König lässt überall nach ihr suchen; man vermutet sie sogar hier in Südkap!«

Sollte er von seinen Freunden eine ähnliche Reaktion erwartet haben, wie von sich selbst, so wurde er recht schnell von Lance enttäuscht.

»Das ist alles?! Du bist hier hereingeplatzt, als ob wir angegriffen würden. Sag mal, bist du in die Prinzessin verknallt oder was?«

Erik war bei diesen Worten knallrot geworden. »Ähm - natürlich nicht, aber vielleicht kommen die Soldaten ja hierher, um sie zu suchen. Wenn die hier auftauchen, kriegen wir einen Mordsärger. Wir dürfen hier eigentlich nicht spielen!« Als er erkannte, dass die anderen wohl doch nicht mehr vor Schreck im Kreis springen würden, gab er auf und setzte sich beleidigt auf seinen Platz. »Wir sollten trotzdem aufpassen…«

Lance schien die Geduld zu verlieren. »Egal jetzt. Mach schon, Will, setz dich hin, damit wir endlich anfangen können!«

»Wartet mal!«, warf Erik ein. »Ich möchte Wills telekinetische Kräfte sehen! - Hat er sie dir noch nicht gezeigt?«, fügte er an Lance gewandt hinzu, denn dieser hatte ihn mit fragendem Blick angestarrt. »Er bewegt Dinge, ohne sie zu berühren!«

Will schwieg. Es stimmte, er hatte diese Gabe, und er hatte versucht, sie geheim zu halten. Er hatte nicht die geringste Ahnung, weshalb er diese Dinge konnte, und er wollte den Stadtbewohnern nicht noch einen Grund geben, ihn wie ein Monster zu behandeln. Vor Erik jedoch - so schien es - konnte man einfach nichts geheim halten. Er hatte es doch tatsächlich zustande gebracht, Will genau zu dem Zeitpunkt einen Besuch abzustatten, in dem dieser gerade seine neu entdeckten Talente ausprobierte.

»Na los, Will!«, drängte Erik.

»Ja, Will, das will ich sehen!« Lance war nun Feuer und Flamme. Er hatte eine Vorliebe für Übernatürliches und Unbekanntes.

Schließlich gab Will nach und positionierte sich drei Meter vor einem lockeren Felsbrocken, der etwa das Gewicht von Erik hatte, und konzentrierte seinen Geist auf ihn. Während sich sein komplettes Wesen auf das Gestein fokussierte, wurde alles andere ausgeblendet. Nun gab es nur noch ihn und das Objekt, das er zu bewegen wünschte. Ein paar Sekunden lang stellte er sich vor, wie der Fels auf ihn zukam; dann mobilisierte er etwas in sich und übertrug es auf den Felsen. Lance und Seth staunten nicht schlecht, als der er sich tatsächlich auf Will zu bewegte.

»Wow…«, flüsterte Lance. Nun war er nicht mehr zu halten. Er nahm vier Karten und legte sie vor sich auf den Tisch. »Okay, Will. Welche ist das Karo-As?«

Nachdem Will zehnmal hintereinander ohne Schwierigkeiten das Karo-As gezogen hatte, pfiff Lance anerkennend.

Selbst Erik, der nun wirklich reichlich Gelegenheit gehabt hatte, Wills Fähigkeiten zu bestaunen, stotterte nur immer wieder »Unglaublich… Einfach unglaublich…« vor sich hin. »Hey, sag mal, Seth - das ist doch so eine Art Psycho-Kraft, oder?«

Seth fühlte sich sogleich bei seinem Ehrgeiz gepackt. Er räusperte sich kurz. »Es muss sich hierbei tatsächlich um eine Art psychische Kraft handeln. Die meisten Leute haben fünf Sinne: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen. Ich vermute, bei Wills Kräften handelt es sich um einen sechsten Sinn. Es gibt eine Menge ungemein interessanter Literatur, die sich mit genau diesem Thema befasst…«

Lance´ Gesicht brachte ihn zum Schweigen, denn es schrie förmlich das Wort ‘Langweilig!’. Er kratzte sich resigniert am Kopf.

»Aber, Leute -«, sagte Will mit besorgtem Blick. »Kein Wort! Zu niemandem, klar?«

Die anderen nickten eifrig.

»Wie auch immer, Psycho-Krims-Krams hin oder her, im Kartenspielen schlägt mich trotzdem keiner«, rief Lance und mischte die Karten neu.

Das war eine eindeutige Herausforderung, die Will keinesfalls ausschlagen durfte.
 

Als Will die Seehöhle endlich verließ, war es bereits dunkel. Seine Freunde hatten ihn noch stundenlang mit Fragen über seine Kräfte gelöchert, bis es ihm schließlich zu viel geworden war und er sich genervt verabschiedet hatte. Außerdem erwartete Oma Lola ihn zu Hause mit einer ihrer leckeren Pasteten.

Nun, er wurde erwartet, doch seiner Oma Lola sah das Wesen eigentlich nicht ähnlich. Er musste dreimal hinsehen, bevor er sich sicher war, seinen Augen trauen zu können. In seinem Wohnzimmer lief ein kleines Ferkel herum.

»Ähmm - Oma? Opa?«

Er hörte Schritte auf der Treppe, doch wieder gehörten sie nicht zu der Frau, die jetzt gefälligst eine Pastete zu servieren hatte; aber immerhin zu einem Menschen. Zu einem Mädchen, um genau zu sein. Einem ausgesprochen hübschen Mädchen. Sie trug ein bodenlanges, rosafarbenes Kleid, das schon einmal nicht gerade von armer Herkunft zeugte, und auch ihr schwarzes, schulterlanges Haar war mit einem kostbaren Haarreif geschmückt. Doch das Erstaunlichste an ihr waren ihre Augen - dieses Mädchen hatte die größten, wunderschönsten Augen, die er je gesehen hatte.

»Aber Hamlet!«, begann sie tadelnd. »Du sollst doch keine Fremden angrunzen!« Sie wandte sich an Will, ohne jedoch ihren Ton großartig zu ändern. »Ist das dein Haus?«

Will musste ein paar Mal schlucken, bevor er seine Stimme wieder fand. »Ähmm - es gehört meinen Großeltern.« Er räusperte sich noch einmal, dann bemerkte er, wie sie ihn musterte.

»Dann musst du Will sein. Du siehst ein bisschen schäbig aus…«

»Es gibt wichtigere Dinge«, antwortete er, nicht wissend, ob er beleidigt oder einfach nur genervt reagieren sollte. Wer war dieses Mädchen? Und was hatte sie in seinem Haus verloren?

Sie wechselte blitzschnell das Thema. »Was ist eigentlich mit deinen Eltern?« Als er nicht sofort antwortete, ging sie an ihm vorbei und betrachtete eine alte Schwarz-Weiß-Fotografie. »Sind das deine Eltern?«

Will nickte. »Mein Vater war Forscher. Er -«

»Ich weiß«, unterbrach sie ihn. »Olman, der Forscher. Man sagt, er sei verschollen.«

»Eines Tages wird er zurückkommen…«, antwortete Will mit belegter Stimme.

Hamlet wählte diesen Augenblick, um ein beeindruckend lautes Grunzen zum Besten zu geben.

»Denkst du oft an deinen Vater? Es muss sehr schwer für dich sein. Ich fühle mit dir… Magst du eigentlich Musik?«

Diese Sprunghaftigkeit begann, Will auf die Nerven zu gehen. »Ja, schon. Meine Großmutter Lola ist eine begnadete Sängerin.«

»Ich habe sie oben singen gehört. Sie hat eine bezaubernde Stimme!«

Ah, Oma Lola war also doch hier! Er ließ das mysteriöse Mädchen einfach stehen und stieg die Wendeltreppe hinauf nach oben. Und dort stand sie, die Frau, die ihm noch eine Pastete schuldig war!

»Um Himmels Willen, Will!« Sie wirkte erschrocken. »Ist es schon so spät? Entschuldige, Spätzchen, wenn ich singe, verliere ich jegliches Zeitgefühl… Ich fürchte, du wirst noch etwas auf das Essen warten müssen.«

Will nickte missmutig; sein Großvater lächelte nur.

»Nimm´s ihr nicht übel«, sagte er vergnügt. »So wie heute habe ich sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr singen gehört! Weißt du, früher war sie eine große Sängerin. Ihre Stimme hat mich verzaubert; aus diesem Grund habe ich mich in sie verliebt.«

Oma Lola kicherte verlegen. »Ach, Liebling, das ist schon so lange her. Schau nicht so, Will ( - denn Will hatte über diese Information tatsächlich seine Pastete vergessen und seine alte Großmutter unverwandt angestarrt - ), ich war auch mal jung. Einmal habe ich sogar -«

Doch weiter kam sie nicht, denn in diesem Moment hallte ein schriller Schrei durch das Haus.

»Das kam von dem Mädchen!«, rief Großvater alarmiert und rannte los, dicht gefolgt von seiner Frau und seinem Enkel. Unten angekommen blieben alle drei wie angewurzelt stehen. Im Raum standen zwei Soldaten des Königs und drängten das Mädchen in eine Ecke.

»Kara!«, stieß der eine hervor. »Wir haben Euch überall gesucht!«

»Ich kenne dich nicht! Verschwinde!«, schrie sie ihn an.

»Aber Kara!« Seine Stimme nahm nun einen weichen, bettelnden Ton an. »Wenn ich Euch nicht zurückbringe, werde ich um einen Kopf kürzer gemacht!«

»Was kümmert es mich, ob du deinen Kopf verlierst?«

»Prinzessin!«

An diesem Punkt machte etwas klick in Wills Kopf. Prinzessin?

»Glaubt Ihr, wir hätten nichts Besseres zu tun, als Euch hinterher zu jagen?! Ich muss Euch zurückbringen. Befehl des Königs.«

Gesagt, getan. Er griff nach der Prinzessin und zog sie an den Haaren nach draußen. Doch vorher rief sie ihm noch etwas zu.

»Will, es tut mir Leid! Ich bin Kara, die Tochter des Königs! Es kommt mir so vor, als würden wir uns schon lange kennen! Als wären wir gute Freunde!«

Damit verschwand sie endgültig. Will und seine Großeltern starrten ihnen nach - unfähig, sich zu bewegen. Oma Lola schien vollkommen in Gedanken verloren zu sein.

»Edwards Schloss…«, flüsterte sie. »Darunter… befindet sich eine große Unterführung.« Sie sah Will an. »Dein Großvater hat sie gebaut.«

Das brachte Will zurück ins Gespräch. »Opa? Ehrlich?«

Großvater wandte sich um. Direkter Augenkontakt schien im plötzlich peinlich zu sein. »Ich war früher Architekt. Unter dem Schloss ist ein Gefängnis. Es ist wie ein Labyrinth gebaut, um jede Flucht unmöglich zu machen. Ich bin nicht stolz darauf, etwas geschaffen zu haben, worin Menschen für immer verschwinden…«

Oma Lola sah ihren Mann einen Augenblick lang mitfühlend an. Dann setzte sie ein aufmunterndes Lächeln auf und sagte: »Genug geredet. Zeit zum Essen.«

Die Worte, auf die Will den ganzen Tag gewartet hatte, und die die merkwürdige Begegnung mit der Prinzessin schnell in den Hintergrund drängten.

2

Der nächste Morgen verlief auch nicht viel gewöhnlicher als der vorhergegangene Tag. Schon die Nacht hatte ihm einen überaus unruhigen Schlaf - und noch unruhigere Träume - gebracht. Träume von Kara…

Nachdem er sein Bett gemacht und sich im Spiegel für einigermaßen vorzeigbar befunden hatte, ging er zum Frühstück nach unten. Dort erwarteten seine Großeltern ihn bereits. Oma Lola begrüßte ihn wie immer mit einem »Guten Morgen, Will!«, doch ihr Lächeln wirkte aufgesetzt und ihr Ton verhieß nichts Gutes. »Dieser Brief ist heute für dich angekommen.«

Stirnrunzelnd nahm er den Brief entgegen; das königliche Siegel, mit dem er verschlossen war, sagte mehr, als er brauchte. Der Inhalt des Briefes war allerdings sehr knapp gehalten - untypisch für den König.
 

'Bringe Olmans Ring zum Schloss!

König Edward V.'
 

»Das kann nichts Gutes bedeuten«, meinte Oma Lola besorgt. »Wir wissen leider nicht, von welchem Ring der König spricht. Das musst du ihm mitteilen.«

»Aber… heute? Wo ich endlich mal einen freien Tag habe?«

»Der König höchstpersönlich hat es dir befohlen. Möchtest du vielleicht auch von ein paar Soldaten abgeholt werden?« Sie deutete sein Schweigen als Einwilligung. »Und Will, bevor du aufbrichst… Ich verrate dir einen kleinen Zauber, der dir vielleicht helfen könnte… Ich habe das seltsame Gefühl, dass du ihn brauchen wirst... Erinnere dich daran, wenn alles aussichtslos scheint.«

Dann begann sie, eine wunderschöne Melodie zu summen, die Will noch nie zuvor gehört hatte; und doch kam sie ihm seltsam vertraut vor. Obwohl Oma Lola sich nicht einmal eines Instruments bediente, erfüllte der Zauber der Melodie den ganzen Raum. Als sie viel zu früh endete, hielt Will seine Augen noch einige Sekunden lang geschlossen.

Dann umarmte Oma Lola ihn noch einmal. »Versuche, zum Abendessen zurück zu sein, in Ordnung?«

»Klar, Oma«, erwiderte er, noch etwas neben der Spur. Er ließ Oma Lola los, nickte seinem Großvater ein »Bis dann« zu und machte sich auf den Weg.

Das Schloss des Königs bot immer einen atemberaubenden Anblick, ganz besonders zur Mittagszeit, wenn die Sonne direkt über ihm stand. Mit all seinen Türmen, Zinnen und den meterdicken Mauern hatte es Will, der sein Leben lang in kleinen Hütten gehaust hatte, schon immer gereizt, nur ein einziges Mal einen Blick hineinzuwerfen. Der Brief mit dem Siegel des Königs erfüllte ihm endlich diesen lang gehegten Wunsch: Er konnte sich frei in diesem gigantischen Bollwerk bewegen und alles nach Herzenslust erkunden.

Aber die Gedanken, die ihn auch schon auf der kurzen Reise hierher gequält hatten, (welche er im Übrigen innerhalb weniger Stunden zu Fuß zurückgelegt hatte) ließen ihn auch jetzt nicht los. Was hatte Kara bei ihm gewollt? Welchen Ring meinte der König? War es purer Zufall, dass der Befehl König Edwards nur einen Tag nach Karas Besuch angekommen war?

Mit diesen Fragen im Kopf hob er zum x-ten Mal den Brief, um ihn einem Soldaten zu zeigen, der ihn den Zugang zum letzten Turm verweigern wollte, den er noch nicht erkundet hatte.

»Ein Gast des Königs? Verzeiht mir. Willkommen im Schloss.«

Er machte Will Platz, dieser erklomm die gut einhundert Stufen und lief dann immer geradeaus, bis er erneut vor einer verschlossenen Tür und einer Wache stand.

»Dies sind die Gemächer der Prinzessin«, hob sie mit strengem Ton an. »Kein Fremder darf hinein.«

In diesem Zimmer also lebte Kara? Noch bevor er mit dem Soldaten zu streiten beginnen konnte, kam eine Stimme durch die Tür.

»Wer ist da? Ein Gast?«

»Nur ein Straßenjunge, Prinzessin.«

Straßenjunge? »Kara! Ich bin´s - Will!«

»Will?«, rief sie freudig. Und an den Soldaten: »Lass ihn hinein!«

»Nein, Prinzessin, ich habe meine Befehle!«

»Du lässt ihn hinein, oder ich verrate jedem im Schloss deinen Spitznamen.«

Der Soldat schluckte sichtlich. »Oh - ähmm - Natürlich. Tretet ein, Herr!«

Bevor er gehorchte, nahm Will sich noch Zeit für ein schadenfrohes Grinsen. Diese Kara hatte es faustdick hinter den Ohren.

»Will, was machst du hier?«, fragte sie ihn, als er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Er wollte gerade antworten, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken, als er den Blick durch Karas … Zimmer? … schweifen ließ. Ein gewaltiger, frisch gedeckter Tisch, ein Bett, groß genug für drei, vier Kleiderschränke und ein kostbare Teppich, der den gesamten Boden bedeckte, machten schnell klar, dass hier eine waschechte Prinzessin lebte.

»Will?«

»Wa-? Oh, ´tschuldigung. Ähm - ich soll den Ring meines Vaters bringen. Aber -«

»Wie bitte?!«, unterbrach sie ihn erhitzt. »Unfassbar! Einfach unfassbar! Immer muss mein Vater anderen Menschen etwas wegnehmen!« Sie seufzte. »Ich habe genug davon. Deswegen wollte ich gestern auch weglaufen. Tja, und jetzt darf ich mein Zimmer nicht mehr verlassen.« Will überlegte gerade, wie schlimm es wohl sein konnte, ein Leben hier drin zu führen, als sie wütend fortfuhr. »In letzter Zeit geschehen eigenartige Dinge im Schloss. Meine Mutter hat neulich einen Kopfgeldjäger angeheuert. Ich ahne Fürchterliches…«

In diesem Moment kam die Wache durch die Tür. »Er muss jetzt gehen, Prinzessin!«

Will freute sich schon auf eine freche Antwort vonseiten Kara, die den nervigen Soldaten für ein paar weitere Minuten mundtot machen würden; doch stattdessen blickte sie ihn besorgt an und flüsterte auf ihn ein. »Ich habe Angst, Will. Meine Eltern sind nicht mehr so wie früher. Bitte hilf mir! Bitte nimm mich mit! Ich bitte dich…!«

»Prinzessin!«

»Will, bitte komm zurück!«

Dann packte die Wache ihn an der Schulter, und bevor er ein weiteres Wort sagen konnte, zog sie ihn den ganzen Weg bis ins Erdgeschoss hinunter. »Komm ihr nicht mehr zu nahe!«, rief sie ihm noch drohend zu, bevor sie wieder nach oben verschwand.

Will massierte stöhnend seine schmerzende Schulter. Was hatte denn das jetzt wieder zu bedeuten? Diese Kara wurde ihm immer unheimlicher. Jedenfalls hatte er mittlerweile endgültig genug von diesem Schloss und ging daher schnurstracks zum Thronsaal (so schnurstracks, wie es ihm mit seinem begrenzten Wissen über die Architektur des Schlosses möglich war). Er wollte das alles nur noch ganz schnell hinter sich bringen und nach Hause zurückkehren.

Die Soldaten beäugten ihn misstrauisch, als er an ihnen vorbei zum König marschierte. Alles sah genauso aus, wie er es sich immer vorgestellt hatte. Besonders der König selbst entsprach so genau dem typischen Bild eines Monarchen, dass es schon an Lächerlichkeit grenzte. Fettleibig, geschmückt mit allerlei Gewändern und Schmuck und mit einer Art, die mit jeder Bewegung Arroganz und Freude am Herrschen ausdrückte.

Will kniete vor ihm nieder. »Mein König, ich bin auf Euren Befehl gekommen.«

»Dann bist du Will? Hast dir ja ganz schön Zeit gelassen.« Der König musterte ihn gelangweilt; Will glaubte sogar ein wenig Abscheu in seinen Augen erkennen zu können. »Du siehst so … so schäbig aus.«

Will konnte nicht anders, als die Augen zu verdrehen. Dieser Fettsack war definitiv mit Kara verwandt.

»Nun denn, hast du den Kristall-Ring dabei?«

Plötzlich machte sich Nervosität in Wills Magen breit. »Also - ahm - nein, mein König. Leider wusste ich nicht -«

»WAS? Du wagst es, mit solch einer Nachricht zu mir zu kommen?« Der König war außer sich. »WACHEN! Werft diesen unverschämten Lümmel in den Kerker!«

»Was? Nein!«, rief Will verzweifelt. »Das könnt Ihr nicht tun!« Das war leider ein Irrtum, wie er wenige Augenblicke später bemerkte, als zwei kräftige Soldaten ihn packten und in Richtung Keller zerrten. Trotz seiner verzweifelten Hilfeschreie und seinem Gekreische fand er sich wenig später in einer der Zellen wieder. Als der Soldat ihn einschloss, konnte er sich ein spöttisches Kichern nicht verkneifen. Nachdem sie sich entfernt hatten, ließ Will sich mit ungläubigem Blick zu Boden plumpsen. Was hatte er nur getan? Sie hatten ihn einfach so in den Kerker geworfen. Wie sollte es jetzt weitergehen? Und was war mit seinen Großeltern? Sie würden vor Sorge umkommen… Nein, das konnte er nicht zulassen. Er musste sich zusammenreißen! Es musste einen Weg geben, zu entkommen! Er sah sich in seiner Zelle um. In die Wände waren zahhlose kleine Striche eingeritzt, die wortlos von tausenden Stunden der Qual berichteten. Welche Schmerzen mussten diese Wände miterlebt haben…? Er konnte nicht glauben, dass sein eigener Großvater beim Bau von etwas so Schrecklichem mitgewirkt haben sollte.

Stunden später steckte plötzlich ein Soldat seinen Kopf durch ein Loch in der Decke und grinste hämisch. »Hey, Rotznase! Hier hast du etwas zu essen. Sollst ja auch nicht leben wie ein Hund.« Er lachte laut, offensichtlich sehr stolz auf sich, und warf ein schimmliges Stück Brot in die Zelle.

Einen Moment lang rang Will mit seinem Ekel und seinem Stolz, doch dann siegte der Hunger. Schon nach wenigen Bissen musste er sich stark zusammennehmen, um sich nicht auf der Stelle zu übergeben. Wo war er da nur wieder hineingeraten?

Der Tag verging quälend langsam. Wie musste es erst den armen Seelen ergehen, die jahrelang hier eingesperrt waren? Er musste unbedingt einen Fluchtweg finden, doch ihm fielen die Augen zu. Irgendwie musste er hier heraus… Irgendwie… Irgend…wie…
 

>Will!<, flüsterte eine körperlose Stimme. >Will!<

Will öffnete verschlafen die Augen. Hatte da jemand mit ihm gesprochen? Er sah sich um. Nein, unmöglich, er war allein. Er wollte schon weiterschlafen, als er es plötzlich ganz deutlich hörte. >Will! Ich bin es - dein Vater!<

Mit einem Schlag war Will hellwach. Er sprang auf und warf panisch den Kopf hin und her. »Vater? Vater, wo bist du?«

>Du bist sehr groß geworden, mein Sohn…<

Jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Es war tatsächlich Wills Vater, der mit ihm sprach. Und nicht nur das - die Stimme kam aus Wills Flöte!

>Schmecken Lolas Pasteten immer noch so gut?< Diesmal schwang ein deutlicher Hauch Belustigung mit.

Will konnte nicht fassen, dass sich sein tot geglaubter Vater - der gerade durch ein hölzernes Blasinstrument zu ihm sprach - mit ihm über Pasteten unterhalten wollte. »Vater! Wo bist du?«

>Dafür ist es noch zu früh. Hör zu, ich muss dich um einen Gefallen bitten.<

»Natürlich! Was soll ich tun?«

>Nur du allein kannst mich retten… Die Katastrophe ist nahe - die dunkle Kraft des Kometen beeinflusst bereits unsere Welt.«

»Katastrophe? Komet? Wovon sprichst du?«

>Will… Du musst die großen Ruinen der Welt aufsuchen. Dort findest du sechs mystische Statuen. Nur damit kann unser Planet gerettet werden! Die Macht des Bösen wird immer größer.< Will bemerkte eine Veränderung an der Stimme. Sie wurde irgendwie leiser, und klang weiter entfernt. >Will - du musst dich beeilen! Reise zu den Inka-Ruinen!<

Damit verschwand die Stimme.

»Hey, Vater! Warte mal! Was soll das alles heißen?«

Doch die Flöte schwieg. Will schüttelte sich und kam sich plötzlich unheimlich dämlich vor. Das musste ein Traum gewesen sein. Er sollte vor dem Schlafengehen eben kein schimmliges Brot mehr essen…

Er hatte kaum Zeit, sich zu erholen. Plötzlich ertönte ein lautes Grunzen, das Will gut kannte. Und tatsächlich - vor der Zellentür stand Karas Ferkel Hamlet.

»Hamlet! Was machst -« Er unterbrach sich. An Hamlets Halsband war ein Brief angebunden. Mit zittrigen Fingern nahm er den Brief und öffnete ihn. Als erstes fiel ihm ein Schlüssel in die Hand. Dann las er:
 

'Ich habe erfahren, dass sie dich eingesperrt haben. Ich kann nicht fassen, was mein Vater tut. Höre, was ich dir zu sagen habe.

Auch ich bin gefangen - in einem Käfig aus Gold. Aber heute Nacht werde ich das Schloss für immer verlassen. Du wirst ebenfalls frei sein.

Kara'
 

Will betrachtete den Schlüssel. Kara… Ob der Schlüssel wirklich der richtige war? Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden. Er steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte und - die Tür sprang auf. Sein Herz machte einen Hüpfer. Er war frei!

Als er Hamlet zum Dank streicheln wollte, stellte er fest, dass das Ferkel längst verschwunden war. Gut, er wusste, was er zu tun hatte.

Kaum hatte er den Kerker hinter sich gelassen, stand er in einer steinernen Röhre, in deren Mitte ein Strom schmutzigen Wassers floss. Ein paar Meter entfernt führte eine rostige Leiter weiter nach oben. Großvater hatte wohl etwas übertrieben - das hier war kein Labyrinth; es war die Kanalisation.

3

Nachdem Will stundenlang nach Gutdünken irgendwelchen Wegen gefolgt war, die wie der Pfad nach draußen ausgesehen hatten, musste er sich eingestehen, dass ihn dies alles doch unangenehm an eine Art bizarren Irrgarten erinnerte. Wie eine Pflanze, die immer in Richtung Sonne wächst, versuchte er dem Licht zu folgen, um dieser stinkenden Kloake zu entkommen. Irgendwann kam er schließlich doch in einen Raum, der recht viel versprechend aussah. Er war wie ein Hufeisen aufgebaut; in der Mitte befand sich eine gepanzerte Tür und an den beiden Enden war je ein Schalter angebracht. Will wandte sich nach links und betätigte den ersten Schalter. Nichts geschah. Auch der andere schien völlig nutzlos zu sein. Entweder war die Schaltung defekt oder beide Schalter mussten gleichzeitig gedrückt werden.

Gerade als Will sich fragte, was eine derartige Vorrichtung in der Kanalisation zu suchen hatte, und ob er besser wieder umkehren sollte, vernahm er erneut eine seltsame Stimme.

»Begib dich zum Schalter auf der rechten Seite.« Anders als noch vor wenigen Stunden kam diese Stimme keineswegs aus seinem Kopf, dennoch konnte er nicht ausmachen, wer da zu ihm sprach.

»Wer ist da?«, fragte er vorsichtig. Als niemand antwortete, entschied er, zu gehorchen. »Und jetzt?«

Die Stimme antwortete: »Die Pforte wird sich erst öffnen, wenn beide Schalter gleichzeitig betätigt werden« ( - »Ach, wirklich?«, dachte Will sarkastisch - ) »Mach dich bereit. Ich zähle bis drei. Eins - zwei - drei!«

Will drückte mit aller Kraft und hielt den Atem an. Und tatsächlich - diesmal ertönte ein ohrenbetäubendes Kratzgeräusch, und das eiserne Flügeltor teilte sich. Er wollte nachsehen, wer sich um den anderen Schalter gekümmert hatte, doch wer auch immer ihm gerade geholfen hatte, er war wieder verschwunden. Dafür hatte Will nicht mehr als ein Achselzucken übrig. Körperlose Stimmen, die ihm aus der Patsche halfen? Warum nicht? Solange er hier herauskam…

Als er sich nach wenigen Sekunden an das grelle Tageslicht gewöhnt hatte, machte er ein paar Schritte nach draußen, wo eine kleine Treppe zurück nach oben führte. Süße Freiheit! … Oder auch nicht.

Von allen Ausgängen, die diese Kanalisation zweifellos hatte, hatte er ausgerechnet den auswählen müssen, der in den Hinterhof des Schlosses führte. Er wanderte ein wenig darin herum. Das Herz des Jungen sank, und dann sogar noch tiefer, als er die zwei Soldaten erkannte, die ihn bemerkt hatten und auf ihn zeigten. Einer von ihnen nickte dem anderen zu, dann zog er seine Armbrust.

Panisch blickte Will sich um; nirgendwo ein Ausgang. Diesmal konnte er sich nicht durch Wendigkeit und Glück retten. Es gab kein Entkommen. Er hörte ein Zischen, als der abgeschossene Bolzen die Luft teilte und auf ihn zuraste. Er hatte kaum noch Zeit, instinktiv seinen Kopf der tödlichen Gefahr zuzuwenden, geschweige denn auszuweichen. Das Einzige, das er jetzt noh tun konnte, war auf den jähen Schmerz zu warten - doch der blieb aus. Sein Körper bewegte sich nicht, und doch sah er alles klar vor sich; so als würde es in Zeitlupe geschehen. Nur sein Herz schlug noch für ein paar Augenblicke in einem der Situation entsprechenden Tempo; dann wurde es auch langsamer, und mit ihm die Welt. Mit jedem Schlag schien sie schneller zu gefrieren, bis letztendlich alles stillstand.

Will schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, befand er sich in einem dunklen Raum, der so unendlich wie das Universum und doch so begrenzt wie ein Fingerhut wirkte. Um ihn herum starben Sterne und wurden neugeboren; schwarze Löcher sogen begierig das Leben aus den umliegenden Himmelskörpern, während aus einem Klumpen Gestein ein wundervolles Paradies mit Abermillionen von Lebewesen wurde. Für Will, der in seinem Leben kaum etwas von Astronomie gehört (oder verstanden) hatte, war die Schönheit dieses Spektakels mehr als er beschreiben konnte. Direkt vor ihm stand eine Statue der Göttin Gaia - der Geist der Erde, Mutter Natur höchstselbst. Als er sich ihr wie in Trance näherte, begann sie mit einem Mal zu sprechen.

»Ich bin Gaia. Die Quelle allen Lebens und Beschützerin der Erde. Höre, Will: Dein momentanes Äußeres ist nicht dein wahres - es ist lediglich eine Maske. Doch für die Aufgaben, die noch vor dir liegen, ist es nicht geeignet. Erkenne, wer du wirklich bist!« Bei diesen Worten erschien neben ihr eine weitere Statue. Sie zeigte einen edlen Ritter mit einem breiten Schwert in den Händen; scheinbar begierig, in den Kampf zu ziehen. Will hätte schwören können, einen schwachen Herzschlag aus ihrer Richtung hören zu können. Und da hörte er zum ersten Mal diese eindringliche Stimme, die direkt aus seinem Inneren zu kommen schien.

>Will… So lange schon warte ich auf dich. Mein Name ist Freedan, der Dunkle Ritter. Lass mich dir bei deiner Suche helfen.<

Will befand sich mittlerweile in einem Zustand, der mit dem Wort ‘Verwirrung’ nicht mehr zu beschreiben war. “Aber… ich… Hä???”

>Mit der Zeit wirst du begreifen, was ich bin…<

Und da begann Wills Körper, sich zu verändern. Für ein paar Sekunden erstrahlte er in einem außerirdischen, schwarzen Licht. Die Statuen neben ihm schienen zu schrumpfen, doch dann erkannte Will, dass er wuchs! Seine Haare wurde länger, bis sie über seine Schultern fielen, und gerade als seine immer größer werdenden Muskeln drohten, seine Kleidung endgültig zu zerreißen, verschwanden auch diese kurzerhand, um einer edlen Rüstung Platz zu machen, die absolut nichts mit den halb verrosteten Blechbüchsen der königlichen Garde gemein hatte. Sie erstrahlte silbern und machte den Eindruck, als könne sie jedem Material trotzen, dass die Erde zu bieten hatte. Als die Verwandlung abgeschlossen war, war der junge Will verschwunden. An seiner Stelle stand nun Freedan, der Dunkle Ritter.
 

Schon als er an diesem Morgen aufgestanden war, hatte der alte Gerbrandt gewusst, dass dies der schlimmste Tag seines Lebens werden würde. Dass seine Frau ihn nach zehn Jahren Ehe verlassen hatte, konnte er noch verschmerzen; schließlich hatte er noch immer sein Bier. Und ihre Rotzbälger konnte sie ruhig auch mitnehmen. Die hatten ihm ohnehin nur die Haare vom Kopf gefressen. Nun, als sein treuer Hund von der Kutsche des treulosen Weibs zerquetscht wurde (völlig unabsichtlich natürlich), kam ihm zum ersten Mal der Gedanke, er wäre wohl besser im Bett geblieben. Als er dann seinen Dienst im Schloss begnn und erfuhr, dass er die Nachtwache am Südtor würde übernehmen müssen - und das auch noch mit diesem Idioten Hagen -, war der Tag für ihn endgültig gelaufen. Womit nur hatte er das verdient? Der Dienst im Schloss war nie ein Vergnügen, jedenfalls nicht, wenn man sich nicht gerne langweilte, aber das Südtor…? Am Nordtor kamen wenigstens hin und wieder einmal ein paar Gaukler vorbei, oder Händler. Die hatten immer etwas Interessantes dabei. Aber nein, er musste natürlich die wichtigste Aufgabe des Königreichs zugeteilt bekommen: diesen stinkenden Hof zu bewachen, der außer Pferdeäpfeln und Hundekot kaum mehr zu bieten hatte als ein paar in die Jahre gekommene Huren. Und Hagen… Im ganzen Schloss war er bekannt für sein geistiges Niveau. Ob er denn so beliebt sei, hatte die Wirtin von Gerbrandts Lieblingstaverne ihn einst gefragt, als er ihr von ihm erzählt hatte. Beliebt! Na ja, Hagens Name war tatsächlich in aller Munde; die einen nannten ihn ‘Idiot‘, die anderen ‘Trottel‘, doch alle meinten dasselbe - ‘Schwachkopf‘. Und mit diesem Hirnakrobaten würde er nun die ganze Nacht verbringen dürfen.

Endgültig zu viel wurde es ihm, als dann auch noch so eine elende Rotznase ihren schmutzigen Kopf aus dem Tor zur Kanalisation steckte. Der König hatte jedem ausdrücklich untersagt, sich dort unten aufzuhalten. Nicht etwa, weil er um die Sicherheit seines Volkes besorgt war - o nein. Es hatte viel mehr etwas mit der Tatsache zu tun, dass sich ganz in der Nähe nicht nur das Gefängnis, sondern auch die Schatzkammer befand. Gerbrandt hatte Befehl, jeden zu töten, der diesem Verbot zuwiderhandelte. Er grinste. Dieses eine Mal würde er nur zu gerne gehorchen, und sei es nur, um seine schlechte Laune an jemandem auszulassen.

»Hey, Hagen! Schau mal, was wir da haben!«, rief er seinem Kollegen zu.

Dieser wandte sich um, grinste dümmlich und fuhr mit einem Finger über seine Kehle. Gerbrandt nickte, bespannte seine Armbrust (endlich durfte er sie einmal benutzen!), zielte kurz und schoss.

Er staunte nicht schlecht, als statt des Jungens plötzlich ein stattlicher Ritter in voller Montur seinen Bolzen erwartete und ihn mühelos mit einem Schwert abwehrte, neben dem Gerbrandts eigenes wie ein Zahnstocher aussah. Noch während Gerbrandt und Hagen die Münder aufklappten, rannte der Unbekannte in übermenschlichem Tempo auf sie zu und hob sein Schwert.
 

>Nein!<, schrie Will. Doch es war bereits zu spät. Freedan hatte längst die Kontrolle über ihren gemeinsamen Körper übernommen und Wills Geist überrumpelt. Will konnte nur hilflos zusehen, wie Freedan auf die Soldaten zu sprang und einem von ihnen glatt den Kopf abschlug. Der andere schlug mit seinem eigenen Schwert zu, doch der Dunkle Ritter parierte den Hieb beinahe verächtlich und rammte ihm das Metall tief in die Brust. Der Soldat brach mit einem leisen Stöhnen zusammen.

>Was sollte das?<, brüllte Will.

>Es war notwendig. Sie wollten uns töten<, antwortete Freedan ungerührt.

>Das gibt dir noch lange nicht das Recht, dasselbe mit ihnen zu tun!< Will war außer sich. >Vielleicht hatten sie Familie!<

>Still jetzt! Wir müssen fliehen.<

Will hatte bereits eine bissige Antwort parat, doch irgendetwas in der Stimme seines Partners ließ ihn verstummen. Dieser kleine innere Disput zwischen ihnen hatte außerhalb nicht einmal eine Sekunde gedauert; noch bevor der Körper des unglücklichen Soldaten auf dem Boden aufschlug, war Freedan wieder in Bewegung. Will konnte alles nur beobachten, dennoch spürte auch er die Anstrengung. Die Gestalt Freedans anzunehmen kostete ihn eine gewaltige Kraft. Er würde sie nicht mehr lange aufrechterhalten können.

Freedan entdeckte eine kleine Tür, die zurück ins Innere des Schlosses führte. Wills Erinnerungen nach zu urteilen, befand sich ein Mädchen namens Kara dort drin, und er würde sie zunächst befreien müssen. Er trat die Tür auf und stand in einem gewaltigen Lagerraum. Gerade wollte er den Weg nach oben suchen, als er plötzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die Knie sank. Wills Energie war bereits aufgebraucht; er konnte nicht länger in dieser Form bleiben. Also schloss er die Augen, entspannte sich, und bevor Will sich versah, hatte er seinen Körper und die völlige Kontrolle darüber wieder. Dennoch spürte er weiterhin die Präsenz des Dunklen Ritters in sich. Er besah sich seine Hände; ja, das war eindeutig sein Körper.

Als er den Blick hob, fiel er vor Schreck beinahe um. Ihm gegenüber stand ein ungewöhnlich aussehendes Mädchen mit einer Aura, die förmlich nach Magie roch. Sie hatte ein rundes, freundliches Gesicht und das kurze, blaue Haar, das wild auf ihrem Haupt spross, passte in etwa genauso gut zu ihrem himmelblauen Rock, wie es sich mit der knallgelben Bluse biss.

»Ich habe dich beobachtet«, sagte sie. »Wie ich selbst, kannst auch du deine Gestalt ändern. Nützlich, oder?«

Will erkannte ihre Stimme sofort: Sie war es, die ihm bei den Schaltern geholfen hatte.

»Ich bin Lilly aus Itory.«

Jetzt war er wirklich erstaunt. Er hatte bereits von dem kleinen Dorf Itory gehört, doch bisher war von ihm stets als Legende die Rede gewesen. Angeblich stammten die Bewohner von uralten Pflanzengöttern ab und hatten daher die Fähigkeit, die Natur zu beeinflussen. Den Geschichten zufolge hatten sie ihr Dorf außerdem mit einem Zauber belegt, der es für alle anderen Menschen unauffindbar machte.

»Sag mal«, sprach sie weiter, »heute Nacht, in deiner Zelle… Da hast du im Schlaf eine Melodie vor dich hergesummt, die nur in Itory bekannt ist. Woher kennst du sie?«

Will musste erst einmal überlegen, welche Melodie sie meinen könnte. »Ähm - meine… meine Großmutter hat sie mir beigebracht. Sie sagt, sie hilft, wenn man besorgt oder traurig ist.«

»Deine Großmutter? Du meinst… Lola ist deine Großmutter?«

»Ja!«, rief Will mit einer Mischung aus Überraschung und Freude. »Du kennst sie?«

»Allerdings. Sie bat mich, dir zu helfen, als sie einmal für mich gekocht hat.« Sie verzog das Gesicht. »Sag mal, wegen ihrer Pasteten… Sind die Dinger nicht das Widerlichste, das du je gegessen hast?«

»Das Wider- Hey, hast du sie noch al-«

»Psst!«, zischte sie plötzlich. »Entschuldige, Will, ich werde gerufen. Wir sehen uns wieder.« Daraufhin drehte sich ihr Körper mit einer unglaublichen Geschwindigkeit und sie verwandelte sich in eine einzelne weiße Rose. »Bis später«, rief sie ihm noch zu, bevor sie durch die Tür nach draußen verschwand.

Will sah ihr einige Sekunden lang nach. Er hatte das Bedürfnis, sich auf eine der Kisten niederzulassen und erst einmal alles zu verarbeiten, was gerade geschehen war, doch er wusste, dafür war nun keine Zeit. Er musste so schnell wie möglich hier verschwinden. Die Verwirrung und Erschöpfung auf seinem Gesicht wichen einer wilden Entschlossenheit. Er wusste, wo sich Karas Zimmer befand.
 

Bei Nacht war das Schloss wie verwandelt. Anders als Will erwartet hatte begegnete er nicht einer einzigen Wache, während er sich vorsichtiger als es nötig gewesen wäre zum Zimmer der Prinzessin stahl. Selbst der sonst so diensteifrige Wachtposten vor ihrer Tür war mittlerweile in einen tiefen Schlaf gefallen.

Will klopfte behutsam an die Tür, dann trat er ein. Kara erwartete ihn bereits.

»Ich wusste, dass du kommen würdest! Vielen Dank!«, flüsterte sie dankbar lächelnd. »Wie bist du hier rein gekommen?«

»Dein Leibwächter pennt da draußen«, bemerkte Will mit einem Nicken in Richtung Tür.

Kara kicherte verhalten. »O Mann! Der macht seinem Spitznamen alle Ehre… ‘Alte Schnarchnase’ nennen sie ihn. Der schläft sogar im Stehen ein! Aber sag mal, hat alles geklappt?«

»Du meinst mit dem Schlüssel? Ja, dein kleines Ferkel kam und -«

»Ich habe es ‘Hamlet’ getauft. Süß, nicht wahr?«, meinte sie strahlend. »Er ist sehr schlau! Manchmal glaube ich, er ist kein normales Schwein…«

»Ja ja, kann sein. Aber wir müssen jetzt weg hier.«

»Aber Hamlet ist noch nicht zurück! Wir müssen auf ihn warten!«

»Wir haben keine Zeit.« Will versuchte sich vorzustellen, wie man ein Tier lieben konnte, und sagte: »Hier wird es ihm viel besser ergehen. Ehrlich, wir sind zu Hause nicht darauf vorbereitet, Schweine zu halten. Und wenn wir noch länger hier bleiben, werden wir erwischt!«

Kara zögerte kurz, dann schien sie zu einer Einsicht gelangt zu sein. »Du hast Recht. Geh voran!«

Und so führte Will seine neue Gefährtin nach draußen, vorbei an ‘Alte Schnarchnase’ und den Turm hinunter. Auf ihrem weiteren Weg merkte man Kara an, dass ihr in diesen Mauern keine große Gefahr drohte. Während er vor jeder Ecke innehielt und einen verstohlenen Blick in den nächsten Gang warf, während er jeder hie und da patrouillierenden Wache geschickt aus dem Weg ging und sehr darauf bedacht war, nicht das kleinste Geräusch zu machen, stolzierte die junge Prinzessin achtlos hinter ihm her, und trotz ihrer grazilen Art und ihres zierlichen Körpers erschien Will jeder ihrer Schritte wie ein Trampeln, dass eigentlich das halbe Schloss hätte aufwecken müssen.

Als sie am Keller vorbeikamen, meldete sie sich wieder zu Wort.

»Oh, warte mal! Wir haben eine lange Reise vor uns; wir sollten etwas Proviant mitnehmen.«

Will starrte sie verständnislos an. Konnte sie mit ‘lange Reise’ wirklich die paar Kilometer nach Südkap meinen? Dennoch musst er zugeben, dass auch er nach seiner kurzen Gefangenschaft einen Bärenhunger hatte. Wenige Minuten und einen kleinen Abstecher im Keller später hatten beide die Taschen voller Nahrung, und endlich konnten sie das Schloss mit Hilfe einer Leiter und der hilfreichen Unaufmerksamkeit der Wachen verlassen.

4

Das Haus, in dem Will lebte, gehörte erst seit wenigen Jahren der Familie. Dennoch war es immer Oma Lolas ganzer Stolz gewesen, weswegen sie es stets in bester Ordnung gehalten hatte.

Um so geschockter war Will, als er nach der Reise hierher keine überglücklichen Großeltern, sondern ein völlig in Stücke gehauenes Wohnzimmer vorfand. Er sah sich ungläubig um, sah etwas und bückte sich, um es aufzuheben. Als Kara sich ihm mit langsamen Schritten näherte, erkannte sie das Foto seiner Eltern; vom Rahmen waren nur noch Splitter übrig.

Sie legte ihm behutsam eine Hand auf die Schulter. “Will…”

“Was ist hier passiert?”, fragte er leise. “Wo sind meine Großeltern?”

“Vielleicht sind sie oben!”, erschrak Kara und lief los, um nachzusehen.

Will konnte sich nicht rühren, sondern sah sich jedes zerbrochene Möbelstück einzeln an. Welcher Mistkerl - welcher verfluchte Bastard! - war hierfür verantwortlich?

“Will!”, rief Kara von oben und riss Will aus seinen Gedanken. “Will, komm schnell!”

Er eilte nach oben und sah, wie Kara entsetzt auf etwas an der Wand zeigte. Als Will es sich genauer besah, erkannte er das Zeichen des berüchtigtsten Kopfgeldjägers des ganzen Reiches. Das Zeichen des Mannes, um den sich mehr Mythen rankten als um das gesamte Königshaus; der als ’Das Böse’ schlechthin und für seine unvergleichliche Skrupellosigkeit bekannt war - das Zeichen des Schakals.

“Will, sieh nur, sieh nur! Der Schakal! Der Schakal war hier!!”, schrie Kara hysterisch. Sie schien der Ohnmacht nahe, während Will dem Gekritzel nicht mehr als ein zorniges Knurren abgewinnen konnte. Der Schakal…

Plötzlich fiel Kara etwas ein, was ihr offenbar noch mehr Angst machte. “Will…”, begann sie mit zittriger Stimme. “Erinnerst du dich, dass ich dir erzählt habe, meine Mutter hätte einen Kopfgeldjäger angeheuert?”

Will riss den Kopf so schnell herum, dass er sich einen Muskel im Nacken zerrte. “Deine Mutter?“ fragte er, während er sich den schmerzenden Nacken rieb. Er hatte Mühe, seine Stimme ruhig zu halten. “Du meinst, deine Mutter hat meine Großeltern … entführen lassen?”, fragte er nach kurzem Zögern, denn er wollte nicht daran denken, was der Schakal sonst noch mit ihnen gemacht haben könnte.

“Ich… ich…”, stammelte Kara.

Eine durch das offene Fenster fliegende Rose ersparte es Kara, eine Antwort geben zu müssen. Will kannte sie. Sie machte vor den beiden Halt und verwandelte sich in das geheimnisvolle Mädchen aus Itory.

“Habt keine Angst, ihr beiden.”

“Du bist doch -”, setzte Will an, doch Kara unterbrach ihn.

“Wer bist du?”, fragte sie, nun wieder in ihrem gewohnt gebieterischen Ton. Will fragte sich kurz, ob sie überhaupt bemerkt hatte, dass Lilly gerade einer Blume entwachsen war.

“Ich bin Lilly, eine Freundin von Will. Hat er dir nicht von mir erzählt?”

Bevor Kara die angriffslustige Antwort aussprechen konnte, die ihr auf der Zunge lag, ging Will dazwischen. “Lilly, weißt du, was geschehen ist?”

“Keine Sorge, deine Großeltern sind beide in Sicherheit”, versicherte sie ihm. “Sie sind in meinem Dorf.”

Will seufzte erleichtert, aber Kara, die scheinbar noch immer kein Vertrauen zu diesem sonderbaren Mädchen gefasst hatte, fragte: “Dein Dorf?”

“Ja”, erwiderte Lilly gut gelaunt. “Itory.”

“Itory?!”, keuchte Kara. “Itory??”

Lilly kümmerte sich nicht um Karas ungläubige Reaktion. “Kommst du, Will?”

Will schreckte hoch, als sein Name fiel. “Ich - ja, klar.”

“Halt mal!”, mischte Karas sich erneut ein. “Ich will auch mit!”

“Nein!”, sagte Lilly bestimmt. “Das ist viel zu gefährlich für eine kleine Prinzessin.”

“Mein Vater ist der König! Ich tue, was ich will!”

“Hast du dein geliebtes Schloss eigentlich jemals verlassen?”

“Nein, darum will ich mich euch ja auch anschließen!”

“Weißt du überhaupt, was in der Welt vor sich geht? Will möchte bestimmt auch nicht, dass du mitkommst, oder, Will?”

“Red doch keinen Blödsinn! Will ist mein Freund! Oder nicht, Will?”

Beide Mädchen starrten den armen Jungen nun fordernd an. “Ich - ähm - doch, natürlich bist du das, aber -”

“Na also!”, sagte Kara triumphierend. “Komm, Will, gib mir deine Hand!”

“Meine Güte…”, grummelte Lilly, und zusammen machten sie sich auf den Weg zum unauffindbaren Dorf Itory.
 

“Nein!”

Der angsterfüllte Schrei hallte noch durch die Bäume, als Will schweißgebadet aus seinem Traum hochschreckte. Es dauerte eine Weile, bis er sich orientiert hatte. Richtig, er befand sich in diesem dichten Wald, für den sie sich entschieden hatten. Der Gedanke dabei war gewesen, dass sie hier sicher niemandem begegnen würden, der die Prinzessin womöglich noch erkannt hätte. Um das noch immer prasselnde Lagerfeuer herum, das ihnen Wärme spenden und wilde Tiere fernhalten sollte, lagen Kara, Lilly und er - die Mädchen schliefen tief und fest. Er hingegen konnte schon seit dem Tag ihrer Abreise nicht mehr richtig schlafen. Im Traum verfolgten ihn die Bilder der Soldaten, die Freedan so einfach gefällt hatte - das Blut, der leere Blick, das leise Ächzen aus der geöffneten Luftröhre des älteren… Noch nie zuvor hatte er solch schreckliche Dinge gesehen. Und doch hatte er das ungute Gefühl, dass dies erst der Anfang war; dass noch weit Grausameres auf ihn wartete…

Karas leises Murmeln riss ihn aus seinen Gedanken. Offenbar war sie gerade damit beschäftigt, einen Haufen Gefangener zum Tode zu verurteilen. Er lächelte; dieses Mädchen hatte etwas ganz Besonderes an sich. Sie konnte so lieb sein, wenn sie wollte, und dann wieder war sie das typische verzogene Prinzesschen.

Nun ja, laut Lilly würden sie in einigen Tagen in Itory ankommen und dann würden sich ihre Wege vielleicht ohnehin trennen. Er starrte ins lodernde Feuer. Vielleicht sollte er jetzt versuchen, noch ein wenig zu schlafen. Sie hatten noch einen langen Weg vor sich und die Nacht selbst würde wohl auch noch anstrengend genug werden…
 

Nach vier Tagen kam die Gruppe zu einem großen Hügel, wo Lilly zu Wills großer Erleichterung: “Wir sind da!”, rief. Kara zeigte sich etwas skeptischer.

“Wir sind wo? Ich seh hier weit und breit kein einziges Haus.”

Lilly grinste spöttisch. “Natürlich nicht. Deine Augen sind so verweichlicht wie der Rest deines Körpers. Will hingegen - nein, lass mich ausreden! Will, sag mir, was du siehst. Na los!”, forderte sie amüsiert.

“Ähm -” Will hatte keinen Schimmer, was sie meinte. “Ich - um ehrlich zu sein…”

“Oh…” Lillys Lächeln erstarb. “Oh - na gut. Also - kein Problem. Ähm - okay, richtig. Nimm deine Flöte, Will, und spiel die Melodie.”

Diesmal wusste Will sofort, welche Melodie gemeint war; trotzdem konnte er sich nicht vorstellen, wozu das gut sein sollte. Mittlerweile hatte er allerdings gelernt, Lilly einfach zu vertrauen. Also holte er seine gute alte Flöte hervor und begann zu spielen - obwohl er die genauen Noten nicht kannte, wussten seine Finger automatisch, was sie zu tun hatten.

Der Wind verteilte die sanften Noten über den ganzen Hügel, bis sie sich zu manifestieren und Gebäude zu bilden schienen. Und kaum hatte er die letzte Note gen Himmel geschickt, stand er inmitten eines winzigen Dorfes. Staunend sahen Kara und Will sich um.

Was Itory an Größe fehlte, machte es zweifellos an Schönheit wieder wett. Es herrschte eine erfrischende Briese, die einem die schönsten Dinge ins Ohr zu flüstern schien; die Gebäude waren mit den verschiedensten Blüten geschmückt und ein klarer Fluss plätscherte friedlich durch das Dorf.

“Na, was sagt ihr?” Lilly machte keinen Hehl aus ihrem Stolz. Sie sah aus, als hätte sie Itory eigenhändig erbaut.

Kara und Will sagten gar nichts. Der Anblick hatte ihnen längst die Sprache verschlagen. Ihr Schweigen enttäuschte Lilly offensichtlich.

“Na schön, was soll´s. Kommt mit, ich zeige euch mein Haus.”

“Das wurde auch Zeit!”, maulte Kara, die ihre Stimme wieder gefunden hatte. “Meine Füße tun vielleicht weh…”

Lilly führte die beiden an Häusern vorbei, die wie winzige Holzhütten wirkten, aber auch an enormen Bauten, die Will - hätte er nicht gewusst, wo er war - für riesige Bäume gehalten hätte. Selbst im berüchtigten Dorf Itory gab es wohl so etwas wie eine Hierarchie. Zu seiner Enttäuschung machte Lilly vor einem der eher kleineren Hütten Halt, aus deren Garten er aber zwei ihm wohl bekannte Stimmen vernahm.

Als er um die Ecke sprintete, sah er, dass er sich nicht getäuscht hatte - Oma Lola und ihr Irrgärten bauender Gatte saßen sorglos auf einer Bank und genossen den Wind, der mit ihrem spärlichen Haar spielte.

“Oma! Opa!”, rief Will glücklich und rannte los, um beide zu umarmen. Sie rissen die Köpfe herum und öffneten erleichtert lächelnd die Arme.

“Will! Den Göttern sei Dank, du lebst!” Oma Lola schien den Tränen nahe. “Oh, Schatz, du musst dir Sorgen gemacht haben.”

“Und ob, Oma! Was ist passiert?”

Sie holte tief Luft. “Nachdem du die ganze Nacht weg warst, haben wir angefangen, uns ernsthaft um dich zu sorgen. Also sind wir aufgebrochen, um dich zu suchen. Kaum hatten wir die Tür verschlossen, da kam dieser Schakal an und verwüstete das ganze Haus. Wie es aussieht, haben sie diesen Kristall-Ring gesucht. Dein Großvater und ich konnten unbemerkt fliehen, doch wir wussten nicht, wohin. Itory war die einzige Möglichkeit.”

“Aber - wie seid ihr so schnell hierher gekommen?” Jeder Meter des tagelangen Fußmarsches war Will noch in guter Erinnerung.

“Wir hatten das Glück, einem freundlichen Kutscher zu begegnen, der nur ein paar Kröten dafür verlangt hat, uns mitzunehmen”, antwortete Großvater für sie.

Da fiel Will etwas ein. “Und ihr konntet das Dorf sehen? Und - woher wusstet ihr, wo es liegt?”

“Das ist eine lange Geschichte -”, begann Oma Lola, doch Lilly unterbrach sie.

“Für die wir jetzt keine Zeit haben. Entschuldige, Lola.”

Die alte Frau lächelt verständnisvoll. “Ach, immer diese Jugend. Keine Geduld mehr. Na ja… Ich danke dir jedenfalls, dass du Will hergebracht und auf ihn Acht gegeben hast. Aber…” - und jetzt fiel ihr Blick zum ersten Mal auf Kara - “ich wusste nicht, dass du auch die Prinzessin mitbringen würdest.”

Lilly schnaubte vielsagend. “Niemand hat sie gebeten, mitzukommen.”

Kara starrte sie wütend an, wollte jedoch in Gegenwart von Wills Großeltern keinen Streit vom Zaun brechen.

Oma Lola lachte. “Na na. Immerhin hat sie Will um Hilfe gebeten, oder nicht? So, und jetzt kommt ins Haus, ich mache euch etwas zu essen.”

Die Kinder waren einverstanden, aber bevor Will sich den anderen anschließen konnte, hielt Großvater ihn fest.

“Warte noch”, sagte er ernst. “Der Dorfälteste möchte dich sprechen. Er wartet schon seit Tagen regungslos auf der Blumenwiese da oben. - Ja, ich weiß, aber er ist kein gewöhnlicher Mensch. Geh zu ihm!”

“Okay, wie du meinst.” Will wollte einfach nur etwas in den Magen bekommen. Wenn das bedeutete, dass er zuvor mit einem Spinner reden musste, der tagelang in Blumen hockte - was soll´s? Also begann der den steilen Aufstieg zum obersten Punkt des Hügels. Dort angekommen sah er - nichts. Nur Blumen. Überraschung! Er wollte schon umkehren, als er etwas hinter sich hörte.

“Ich habe auf dich gewartet, Will.”

Erschrocken wirbelte Will herum, doch niemand war zu sehen. Er schlug mit der Hand gegen den Kopf und stöhnte. “Nicht schon wieder so eine Stimme…!”

“Hier bin ich!”, kam die Stimme zurück, diesmal leicht verärgert.

“Hä? Wo denn?”

Da stand plötzlich etwas auf, dass er für einen Haufen Blumen gehalten hatte. Der Greis, der ihm nun hustend gegenüberstand, war tatsächlich mit allerlei Blüten und Gras übersät. Das Zeug schien direkt auf ihm zu wachsen!

“Du erinnerst mich an deinen Vater, mein Junge. Es kommt mir vor, als wäre er erst gestern in dieses Dorf gekommen.”

“Mein Vater?”

“In der Tat. Deine Mutter Shira war das einzige Kind deiner Großeltern Lola und Bill. Sie war wunderschön… Du hast ihre Augen. Dein Vater verliebte sich in sie und ging mit ihr fort. Weißt du, alle Angehörigen des Itory-Stammes verfügen über besondere spirituelle Käfte - deine Mutter aber war die Mächtigste, die dieser Stamm je hervorgebracht hat. Schon als Kind hat sie die Barriere geschaffen, die unser Dorf vor fremden Augen bewahrt. Doch dein Vater hat sie ohne Mühen passiert - auch er verfügte über außergewöhnliche Macht. Hat er dich geschickt?”

“Er - ich glaube, er hat Kontakt mit mir aufgenommen. Er sagte irgendetwas von einem Kometen -”

“Ah ja.” Der Mann nickte zufrieden. “Damit erfüllt sich die Prophezeiung deiner Mutter. Wirst du deinen Weg fortsetzen? Wirst du dein Schicksal erfüllen?”

“Schicksal? Ich weiß ja nicht einmal - mein Vater meinte, ich soll zu den Inka-Ruinen -”

“Gut. Will - als Beweis meines Vertrauens und der Freundschaft unseres Dorfes soll unsere goldene Inka-Statue nun dir gehören. Insgesamt gibt es zwei. Zusammen stellen sie den Schlüssel zum uralten Vermächtnis der Inkas dar. Hier hast du die erste -” Damit holte er aus dem Nichts eine goldene Statue hervor und überreichte sie Will. “Höre die Legende, die man sich hier erzählt: Platziere die Statue auf dem Larai-Riff unter den Ruinen. Genau dort, wo der Odem der Götter sie verschont. Der Wind im Tal wird dich zum legendären Goldschiff führen.”

“Äh - was? ‘Odem der Götter’? Was soll das denn heißen? Und wieso jetzt ‘Goldschiff’, ich dachte, es ginge um diese sechs Statuen?”

Der Alte ignorierte Wills Geplapper. “Man sagt, das Mondvolk ist im Besitz der zweiten Statue. Lilly soll dich dorthin geleiten. Doch hüte dich!”

Will - er hatte das kostbare Kleinod gerade in seinem Rucksack verstaut - wollte schon nachfragen, winkte dann aber ab und machte sich wortlos auf den Rückweg. ‘Spinner…’, dachte er.
 

“Lilly! Lilly!”

“Oh, Will, wo warst du denn?”

Will wollte dem Mädchen gerade erzählen, was der merkwürdige Blumenreis gesagt hatte, doch der vollgeladene Teller auf dem Tisch zog binnen einer Sekunde seine volle Aufmerksamkeit auf sich. Noch bevor Lilly ihm einen “Guten Appetit” wünschen konnte, war die Hälfte des köstlichen Bratens bereits verschwunden.

“Also,Will, was wolltest du denn?”, fragte sie freundlich, als er seine dritte Portion verdrückt hatte.

“Wasch?”

“Schluck erst mal.”

“’Tschuldigung. Also…” Er erzählte Lilly von seiner Begegnung.

“Das Mondvolk?”, fragte sie schließlich.

“Jep.”

Lilly dachte kurz nach. “Ja, ich habe schon von ihnen gehört. Es sollen Schattenwesen sein, die auf einer Bergspitze hier ganz in der Nähe hausen. Wollen wir gleich hingehen?”

“Tja, ich schätze, das muss ich wohl, hm? Bringen wir es hinter uns.”

Kara, die überraschenderweise die ganze Zeit über nur zugehört hatte, konnte jetzt nicht mehr still bleiben. “Dann lasst uns aufbrechen. Ich kann es kaum erwarten, dieses Mohnvolk zu sehen.”

“Es heißt ‘Mondvolk’, Kara - und nein, du kommst nicht mit!”, sagte Lilly mit Nachdruck. “Das ist viel zu gefährlich. Du würdest Will nur im Weg stehen, also warte hier!”

Diesmal fand Will den Mut, ebenfalls seine Meinung zu sagen. “Sie hat Recht, Kara. Es wäre wirklich besser, wenn du -”

“Ihr seid so gemein! Das sage ich Lola!”, rief sie aufgebracht und stolzierte den Garten.

“Jetzt ist sie beleidigt”, seufzte Will.

“Die beste Medizin für so eine verwöhnte Göre”, erwiderte Lilly kühl. “Na dann - der Bergpfad wird schwer zu bewältigen sein, aber wenn wir unser Bestes geben…”
 

Und das taten sie. Nur wenige Stunden später erreichten sie erschöpft aber erleichtert die Heimat des Mondvolks.

“Wir sind am Ziel”, bemerkte Lilly.

Kaum waren die Worte ausgesprochen, antwortete ein düsteres Flüstern: “Was ist euer Begehr?”

“Wer spricht da?”, fragte Will - nicht halb so mutig wie er klang.

“Leiber aus Luft… schwefeliger Duft…”

“Wer - Was bist du?”

“Ich bin der Führer des Schattenvolkes, das ihr als ‘Mondvolk’ bezeichnet.”

Wie auf Kommando erschienen um die beiden herum mit einem Mal ein gutes Dutzend schemenhafter Gestalten. Einst mochten sie menschenähnlich ausgesehen haben, doch nun waren es in der Tat nur noch Schatten ihrer selbst - durchsichtige Wesen, leichter als Luft.

Will schluckte schwer. “Ich - ich bin gekommen, um mehr über diesen Kometen zu erfahren. Was geschieht mit unserer Welt?”

“Wo immer es Licht gibt, gibt es auch Dunkel - je heller das Licht, desto dunkler der Schatten. Wir wurden einst vom heiligen Licht geblendet, und nun verbringen wir unser tristes Leben in einer Welt gänzlich ohne Licht… Der Komet ist der Bringer der Zerstörung, dessen Licht alles verändert hat. Er ist das Überbleibsel eines längst vergangenes Krieges.

Alle achthundert Jahre nähert sich der Komet unserer Welt. Diesmal geschieht es schon zum vierten Mal. Je mehr Licht du siehst, desto größer ist die Macht der Dunkelheit. Keiner weiß, welch Schrecken er diesmal gebähren wird…”

“Gibt es keinen Weg, ihn aufzuhalten?”, fragte Will, obwohl er fürchtete, die Antwort bereits zu kennen.

“Es gibt keinen! Ihr Menschen seid zu schwach, ihm zu trotzen. Akzeptiert euer Schicksal!”

“Das reicht jetzt!”, rief Will wütend. Er war nicht der Typ, der solch ein Schicksal einfach so hinnahm. “Ich wurde zu euch geschickt, um die zweite goldene Inka-Statue zu holen -”

Der Geist schien nicht zuzuhören. “Zu lange schon sind wir Zeugen von Zerstörung… Auch den Untergang des Inka-Reiches erlebten wir mit. Die Statue liegt in der Höhle dort hinten. Wenn du willst, gehört sie dir.”

“Na also. Danke schön”

Will hatte es sehr eilig, hier wegzukommen. Er bedeutete Lilly, auf ihn zu warten und betrat die Höhle, von dem der Führer gesprochen hatte. Das Erste, was er sah, verschlug ihm schon den Atem. Auf einem Podest in der Mitte der Höhle ruhte die zweite Statue, doch zwischen ihm und dem Kleinod krabbelten etwa zehn wurmartige Ungeheuer herum, die nicht nur seine Größe, sondern auch rassiermesserscharfe Zähne besaßen.

“Ach du -”, flüsterte er, doch der Angriff des Monsters, das ihm am nächsten war, zwang ihn zu einem gewagten Hechsprung.

“Diese Kreaturen wurden vom Licht des Kometen berührt”, erklärte ein anderer Schatten plötzlich, der ihm wohl gefolgt war. “Es hat sie zu willenlosen Bestien gemacht, die nichts als Hass und Zerstörungswut empfinden können. Beweise, dass du würdig bist, und erlöse sie von ihrem grauenvollen Dasein.”

Gerade als Will fragen wollte, wie zur Hölle er etwas gegen diese Dinger ausricten sollte, kam ihm ein Gedanke. Es war Zeit für seinen stummen Begleiter. Er richtete seine Stimme nach innen.

Okay, Kumpel. Du bist dran. Du tötest doch so gerne, als los!

Wieder erleuchtete das seltsame Licht die Umgebung und zeigte, dass Freedan einwilligte. Und schon war der Dunkle Ritter in Bewegung und teilte mit seinem Schwert mächtig aus. Mit jedem Schritt schickte er eine der Kreaturen zur Hölle - und so stand er wenige Sekunden später in einem Mischmasch aus Gehirnmasse, Innereien und Blut. Unglücklicherweise scherte Freedan sich nicht um Wills Magen, sondern wechselte einfach wieder die Gestalt und überließ es seinem Meister, durch diese Schweinerei zu waten und die Statue zu holen.
 

Als Will wieder ans Tageslicht trat, erwartete Lilly ihn schon ungeduldig.

“Und?”, drängte sie.

Will grinste zur Antwort und zeigte ihr den zweiten Teil des “Schlüssels”.

“Oh Will! Du bist phantastisch! Okay, lass uns sofort aufbrechen. Na zu den Inka-Ruinen!”, fügte sie hinzu, als er verblüfft dreinsah.

“Jetzt? Kann ich mich nicht mal ausruhen?”

“Keine Zeit für so was. Komm schon!”

Will seufzte resigniert. “Gut, gut.” Er sah sich kurz um, als ihm etwas auffiel. “Wo sind eigentlich diese Schattendinger hin?”

“Die sind ganz plötzlich verschwunden, als du in der Höhle warst”, entgegnete sie. “Ich schwöre, ich habe nur einen Moment nicht aufgepasst…”

“Ist ja auch egal. Wir haben, was wir wollten. - Ich höre meinen Vater rufen.” Er schaute weg, um ihren plötzlich besorgten Blick nicht begegnen zu müssen. “Ich möchte nicht gegen Dämonen oder Kometen kämpfen … aber um meinen Vater zu finden würde ich alles tun.”

Lilly nickty noch einmal mitfühlend. “Ich verstehe. Dann lass uns aufbrechen.”

“Ja! Also - wo sind diese Ruinen?”

Lilly grinste nur. “Das Larai-Riff!”

5

Von den so genannten Ruinen war nichts mehr zu erkennen. Abgesehen von den rar verteilten, etwa zwei Meter großen Steinköpfen also war weit und breit nichts als eine weiteren Blumenwiese zu erkennen. Nichts in dieser Gegend ähnelte dem, was Will sich vorgestellt hatte.

»Das sollen die antiken Inka-Ruinen sein?«, fragte er verwirrt.

»Nein«, antwortete Lilly, »das da hinten ist nur der Eingang. Im Laufe der Jahrhunderte muss das alles hier einfach darüber gewachsen sein. Vielleicht wurden sie auch absichtlich zugeschüttet. Wer weiß.« Sie machte ein paar Schritte und betrachtete einen der Felsenköpfe. »Hier soll die Lösung des Rätsels verborgen sein. Eine uralte Legende, weißt du? Meine Mutter hat sie mir erzählt, als ich noch ein Kind war…«

Diese Bemerkung erinnerte Will daran, dass sie im Dorf weder Lillys Mutter, noch ihrem Vater begegnet waren. Waren ihre Eltern womöglich…?

»Nach dem Großen Krieg beschlossen die Inkas, das Land zu verlassen, um neue Welten zu finden. Und so bauten sie ein riesiges Schiff und beluden es mit all ihren Reichtümern. Doch nirgendwo in den alten Überlieferungen wird erwähnt, dass das Schiff auch tatsächlich ausgelaufen ist… Wie auch immer - es scheint von großer Bedeutung für deine Mission sein.«
 

Plötzlich hörte Will Schritte hinter sich und konnte das rosafarbene Kleid schon aus den Augenwinkeln sehen, bevor er sich ganz umgedreht hatte. Kara musste ihnen hierher gefolgt sein.

»Ich kann nicht glauben, dass du mich wirklich zurückgelassen hast!«, fuhr sie ihn an.

»Was machst du denn hier?«, rief Lilly, nicht minder zornig. »Hab ich dir nicht gesagt, dass das viel zu gefährlich für dich ist?«

»Ich - ich hatte Angst um Will…« Plötzlich war Kara ungewohnt kleinlaut. »Was wenn ich ihn nicht wieder gesehen hätte…?«

Will wurde rot und wandte sich hastig ab, um scheinbar äußerst interessiert die winzigen Runen zu inspizieren, die in einen der Steinköpfe eingeritzt waren.

»Na ja…« Lilly wusste offenbar nicht, was sie antworten sollte. »Mein Gott, so etwas Stures… Was machen wir jetzt mit ihr, Will?«

Der Angesprochene überlegte kurz und sagte dann: »Am besten bleibst du hier bei ihr und passt auf sie auf.« Er sah Karas Blick und räusperte sich. »Tut mir Leid, Kara, aber ich kann nicht zulassen, dass du dich in solche Gefahr begibst. Gott weiß, was da drin auf uns lauert.«

Kara schien widersprechen zu wollen, und auch Lilly sah nicht sehr begeistert aus - aber Will hatte seine Entscheidung getroffen. Nach kurzem hin und her gehorchten die beiden widerwillig und setzten sich.

»Aber mach schnell…«, hörte Will Lilly noch maulen, bevor er die Mädchen zurückließ und sich auf den Weg machte, das Larai-Riff zu erkunden. Kaum hatte er den letzten der steinernen Gesichter aus dem Blick verloren, befand er sich in einem Talkessel, durch den ein - wie er fand - menschenunwürdiger Wind pfiff. Er hatte Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten, als er sich weiterkämpfte - mit geschlossenen Augen allerdings, sodass er beinahe einem sehr steilen Abhang hinuntergefallen wäre. Glücklicherweise konnte er sich gerade noch an den Wurzeln eines toten Baumes festhalten; und dann sah er sie: zwei Vorsprünge, direkt an der Klippe, etwa zehn Meter unter ihm. Beide waren gleichgroß, gleichbreit und das Merkwürdigste: an beiden war so etwas wie eine Vorrichtung angebracht, die offenbar für die beiden Statuen gedacht war.

Will konnte sein Glück kaum fassen, als er sein Seil hervorkramte und vorsichtig den Abstieg begann. Am ersten Vorsprung angekommen, bemerkte er sofort die plötzliche Windstille, und die ersten Worte des Rätsels kamen ihm in den Sinn.

Dort, wo der Odem der Götter sie verschont…

Damit musste der Wind gemeint sein! Innerhalb weniger Sekunden hatte er herausgefunden, welche Statue an welchem Pult angebracht werden musste und die wenigen Meter zwischen den Vorsprüngen waren kein Problem für den geübten Springer. Kaum hatte er auch das zweite Kleinod befestigt, hörte er ein ohrenbetäubendes Kratzen, Quietschen und Poltern. Dann war wieder alles still. Er vermutete schon, was geschehen war, während er wieder nach oben kletterte. Und tatsächlich - eine kleine Öffnung im Boden hatte sich aufgetan, die ihn tiefer in den Berg führte.

»Ha!«, machte er triumphierend und kletterte die uralte Leiter hinab, dann stand er in völliger Dunkelheit. Die Stille drückte auf seine Ohren, während er versuchte, irgendetwas auszumachen, aber es war sinnlos. Er konnte nicht einmal die Hand vor Augen erkennen. Er zog schon in Betracht, einfach weiterzulaufen, entschied sich jedoch dafür, im Dorf um ein paar Fackeln zu bitten. Verärgert wollte er sich auf den Weg nach oben machen, doch dann stellte er mit Schrecken fest, dass die Öffnung sich wieder geschlossen hatte.

»Oh nein -«

Er trommelte gegen die Wand und schrie so laut er konnte nach Hilfe, aber niemand antwortete. Ruhig bleiben, dachte er sich. Keine Panik… Mit diesem Vorsatz war es endgültig vorbei, als er ein beunruhigendes Grollen hörte, dass zwar organisch klang, andererseits aber niemals von einem lebenden Wesen stammen konnte! In heller Panik riss er die Augen auf und starre in die Dunkelheit. Dann - mit einem Mal - wurden plötzlich überall Fackeln wie durch Geisterhand entzündet und zum ersten Mal konnten seine Augen die Umgebung erfassen. Er befand sich in einem simplen, quadratischen Raum, der kaum größer war als seine Seehöhle. In der Mitte klaffte ein gewaltiges Loch, das direkt zur Hölle zu führen schien. Und dann sah er es - das Wesen, das ebenfalls der Hölle entsprungen sein musste. Es war so gewaltig, dass nur sein hässlicher, schuppiger Kopf und die klauenartigen Hände durch die Öfnung im Boden passten. Die grünen, bösartigen Augen verengten sich zu Schlitzen, als sie den erstarrten Jungen erfassten. Dann war ein übernatürliches Brüllen zu hören und ohne Vorwarnung schossen scharfe Klauen auf ihn zu.

Gerade noch rechtzeitig erkannte Will, was geschah, und sprang zur Seite. Dort, wo er eben noch gestanden hatte, zerfetzten die langen Krallen die Luft und hinterließen tiefe Kratzer im Steinboden.

>Was ist das denn?<, schrie Will in Gedanken.

>Auch dieses arme Geschöpf war einst dem Kometen ausgesetzt<, antwortete Freedan plötzlich, und wie immer, wenn die beiden sprachen, schien die Zeit stillzustehen. »Viel länger und intensiver jedoch als die Kreaturen, die du kennst.«

>So, wie das Ding aussieht, muss es mal auf dem Kometen übernachtet haben!!<

Freedan erkannte, dass Will kurz davor stand, vor Angst wahnsinnig zu werden, und ergriff die Initiative. >Ich werde mich darum kümmern.<

Will willigte nur zu gerne ein, und so galt der nächste Angriff des Monsters dem Dunklen Ritter, der schon souveräner damit umzugehen wusste. Ohne zu zögern hob er sein Schwert, sprang zurück und schlug der Hand 3 Finger ab. Das folgende Heulen verstärkte sich noch, als Freedan dem Ungetüm sofort darauf ins Gesicht sprang und sein Schwert tief in einem Auge versenkte. Dann zog er sich zurück, um dem giftigen Atem und dem Racheschlag mit der unverletzten Klaue zu entgehen, der stattdessen das andere Auge der Bestie traf. Allzu intelligent konnte das Wesen nicht sein, vermutete Freedan, während er das Spiel minutenlang fortfuhr - angriff, kleinere und größere Verletzugen verursachte und gerade rechtzeitig auswich, um das Monster dazu zu verleiten, sich selbst zu schaden. Schließlich - der Kopf der Kreatur war inzwischen blutverschmiert und übersät mit Rissen und Verletzungen - schrie sie noch einmal, dass die Wände zitterten, und zog sich in die Tiefe zurück.

Schwer atmend sank auch der Ritter auf die Knie. Will hatte kaum noch Kraft übrig. Freedan wusste, dass er seinen Zweck erfüllt hatte und ließ seinen Geist wieder in die Dunkelheit sinken - und wieder lag Will dort, auf dem staubigen, völlig zerkratzten und zerstörten Boden und rang um Atem. Er weigerte sich darüber nachzudenken, was gerade passiert war, oder ob das große Tor hinter ihm schon vorher dagesewesen war - stattdessen richtete er sich auf und schleppte sich auf zitternden Beinen in den dahinterliegenden Gang. Er war am Ende seiner Kräfte; er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten und wusste, dass er jeden Moment ihn Ohnmacht fallen würde. Am Ende des Ganges war wiederum ein Loch im Boden, das aber irgendwie nicht bedrohlich wirkte. Er ließ sich einfach fallen und sein letzter Gedanke, bevor ihm schwarz vor Augen wurde, war, dass dies wohl sein Ende sein würde…

6

>>Der König! Seht nur, der König ist zurückgekehrt!«

»Unmöglich…«

»Endlich ist er wieder da!«

»Aber er sieht so jung aus…! Was ist geschehen?«

Will nahm das Stimmengewirr nur verschwommen war, während er langsam die Augen öffnete. Er lag auf dem Rücken, umringt von ein paar sehr merkwürdig gekleideten Menschen, die auf ihn deuteten und erführchtig murmelten. Stöhnend stand er auf - sofort musste er sich die Augen zuhalten, denn alles um ihn herum blendete ihn so merkwürdig. Fast als sei alles - aus Gold?! Sekunden später wurde ihm bewusst, wie Recht er hatte. Ihm war schleierhaft, wie er hierher gekommen war, aber offensichtlich befand er sich auf einem großen Schiff, das vom Bug bis zum Mast aus Gold gemacht war. So weit das Auge reichte, sah er nichts als Wasser. Sie mussten mitten auf dem Ozean sein.

»Wo - wo bin ich?«, flüsterte er ängstlich.

Einer der Männer machte einen Schritt auf ihn zu und sagte: »Mein König! Wir sind so froh, dass Ihr am Leben seid!« Er sprach eindeutig eine andere Sprache; Will konnte die ungewohnten Laute hören, aber gleichzeitig hörte er die Bedeutung ganz genau heraus, so als flüsterte eine zweite Stimme sie ihm zu.

»Warum nennst du mich König?« Nun bemerkte Will, dass auch er in dieser seltsamen Sprache antwortete. »Wie bin ich hierher gekommen?«

Er spürte erneut, wie Panik in ihm aufstieg. Ohne eine Antwort abzuwarten stürmte Will an der Gruppe Männer vorbei und rannte unter Deck. Er stand unter Schock und wollte einfach nur weg. Unten befanden sich eine Menge Kisten und viele, viele Betten. Auch ein paar Menschen saßen hier herum und starrten ihn mit leeren Blicken an. »Mein König…«, flüsterten einige, aber er beachtete sie nicht. Ein paar Räume weiter fand er einen festlich geschmückten Saal vor. Nur eine einzige Frau saß an dem gewaltigen Tisch. Ihren Klamotten nach zu urteilen musste sie so etwas wie eine Königin sein. Sie blickte nicht auf, als er sich ihr näherte, und auch von der Gruppe weiblicher Bediensteter, die alle auf sie einredeten, nahm sie keine Notiz.

Als sie ihn sahen, rissen sie die Augen auf und fielen über ihn her.

»Mein König!!« war alles, was er heraushören konnte.

»Ich bin nicht -«

»Königin, seht nur! Euer Gemahl ist zurückgekehrt! Er ist wieder hier!«

Die Königin hob den Blick und betrachtete Will mit den traurigsten Augen, die er je gesehen hatte. »Das ist nicht mein Gemahl…«, wisperte sie kaum hörbar. Dann stand sie auf und machte einige unsichere Schritte auf ihn zu. »Ich weiß nicht, weshalb du hier bist, oder wer du bist. Doch du bist hier fehl am Platz.« Sie kramte in ihrem Gewand herum und holte eine Statue heraus - diesmal aus schlichtem Holz - die seiner Inka-Statuen nicht unähnlich war, jedoch ungleich mehr magische Kraft ausstrahlte.

»Hier…«, flüsterte sie Königin noch einmal und drückte sie ihm in die Hand. »Und nun geh… GEH!«, schrie sie plötzlich und ihr schriller Ton erschreckte Will. Er beeilte sich, an den ungläubig blickenden Dienern vorbei wieder an Deck zu kommen, um diesem unheimlichen Weibsbild zu entkommen. Dort standen noch immer die Männer, die ihn begrüßt hatten. Offenbar hatten sie hier auf ihn gewartet.

»Ich verstehe das alles nicht -«, seufzte er und setzte sich auf eine Kiste.

Die Männer zögerten. Sie schienen auf eine Anweisung oder eine Erklärung zu warten.

»Ähm«, machte Will, »Los jetzt! Zurück an die Arbeit!«

Schnell gehorchten sie und jeder nahm seine Arbeit wieder auf. Nur ein Mann war wie angewurzelt stehen geblieben und musterte Will. »Du bist nicht der König«, bemerkte er.

»Tatsächlich?«, erwiderte Will sarkastisch. »Ich weiß nicht mal, was ich hier soll!« Er zuckte mit den Schultern. »Wo fahren wir überhaupt hin?«

Der Mann ließ sich Zeit, bevor er antwortete. »Das wissen wir selbst nicht. Wir wollten einfach nur weg von unserem Land. Nach einer solch langen Zeit der Dunkelheit tut es jedenfalls gut, wieder die Sonne zu sehen. Wie konnten diese Tyrannan unsere wundervolle Heimat nur so zurichten?«

Will erinnerte sich, dass Lilly etwas von einem Krieg erzählt hatte, der die Welt an den Rand der Vernichtung gebracht hatte. War dies möglicherweise die Vergangenheit?

Sein Gesprächspartner schien sich in seinen Gedanken verloren zu haben, und so richtete Will sich auf und ließ ihn einfach zurück. Die letzten Stunden hatten ihn so ausgelaugt, dass die billigen Betten weiter unten lockten.

Ein hübsches Mädchen mit schmutzigen, blonden Haaren hatte gerade eines der Betten fertig vorbereitet, also schob er sich mit einem gemurmelten »Danke« an ihr vorbei und ließ sich auf das Bett fallen.

»Aber mein König!«, erschrak das Mädchen. »Dieses Bett ist Eurer nicht würdig!«

»Nimm du meins. Ist mir egal.« Und ohne das Gestammel der Dienerin weiter zu beachten, schloss er die Augen und machte es sich bequem. Ihm war bewusst, dass er sich in der Vergangenheit befand, auf einem Schiff, das aus Gold bestand und trotzdem schwamm, und für einen antiken Inka-König gehalten wurde. Aber so absurd die Situation auch war - er hatte in zu kurzer Zeit zu viel mitgemacht, um sich nun ernsthaft zu sorgen. Womöglich geschah das alles ja nicht wirklich.

Mit diesen Gedanken übermannte ihn schließlich der Schlaf und führte ihn in einen merkwürdigen Traum…
 

Er stand in seinem Zimmer, in Oma Lolas Haus. Alles wirkte verschwommen und unwirklich, als er die Treppe nach unten nahm und dort jemanden stehen sah. Die Person hatte ihm den Rücken gekehrt, aber ihr blaues Kleid und ihre wunderschönen, seidenen Haare ließen keinen Zweifel daran aufkommen, dass es sich um eine Frau handeln musste.

Sie stand vor dem großen Küchenschrank und betrachtete das Foto von Wills Eltern. Dann drehte sie sich langsam um - und Will erkannte seine Mutter.

»Ma- Mama!!«, rief er ungläubig.

»Will…«, erwiderte Shira. Ihre Stimme klang sehr weit weg. »Schau zum Himmel und bewundere den Kometen. Nach all den Jahrhunderten nähert er sich unserem Planeten wieder - und wird schließlich aufs Neue verschwinden. Manche halten ihn für einen göttlichen Stern, ein Zeichen - andere sprechen von der Apokalypse. Was glaubst du, mein Sohn?«

»Ich - ich weiß es nicht, Mama.«

»Lass uns hoffen, dass uns das Schicksal hold ist… Will. Ich werde immer über dich wachen. Gib nicht auf…«

»Mama!« Tränen rannen Will übers Gesicht, als er Shira umarmen wollte, doch vorher verblasste sie - und mit ihr der Rest der Welt…
 

»Will! Hey - Will!«

Diese Stimme… Lilly? Will öffnete die Augen und sah seine blauhaarige Freunden, die ihn besorgt ansah. »Ist alles klar mit dir?«

Will rieb sich die Augen. Er lag noch immer in diesem einfach gehaltenen Bett auf dem Inka-Schiff, doch das Schiff selbst war kaum wieder zu erkennen. Es sah aus, als sei es seit Jahrhunderten nicht mehr betreten worden. Schmutz, Staub und Spinnenweben waren noch die harmlosesten Dinge, die er sah.

»Was ist denn hier passiert?«

Aber Lilly beachtete seine Frage nicht, sondern umarmte ihn stürmisch. »Oh Will! Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht! Du warst plötzlich weg. Der Dorfälteste sagte uns, wo zu finden sein würdest - er sagte, du würdest allein auf dem Meer treiben!«

»Das hättest du sehen sollen, Mann! Der Alte hat uns einfach in ein paar Pollen verwandelt und hergeschickt!« Jetzt erst bemerkte Will, dass auch sein alter Freund Lance hier war. »Mannomann, Will… Was machst du denn für einen Blödsinn?«

»Lance!«, rief Will überrascht. »Und was machst du hier?«

»Hast nicht mit mir gerechnet, eh?« Lance grinste überheblich. »Du weißt doch, wie gut Seth im Spuren lesen ist. Glaubst du wirklich, wir würden dich so ein Abenteuer ohne uns erleben lassen?«

»Aber wie seid ihr nach Itory gekommen? Es ist unsichtbar!«

Lance zuckte nur mit den Schultern. »Wir haben deine Freundin hier aus dem Nichts auftauchen sehen und haben sie gezw- äh, gebeten, uns ihr Dorf zu zeigen.« Er lachte kurz, als er Lillys Gesichtsausdruck sah. »Ich bin echt enttäuscht, Will. Ich hätte nie gedacht, dass du uns zurücklassen würdest - wo wir doch Freund sind und so. Na ja, was soll´s… Die anderen sind auch alle da - komm!«

Er führte Will aufs Deck, wo dieser erneut den Blick von einer Ecke zur anderen schießen ließ. Es war ein ganz normales Schiff aus Holz, heruntergekommen und schmutzig - wenn auch funktionstüchtig. Am Mast standen Seth und Erik und sahen ihn erleichtert an.

»Da bist du ja«, sagte Seth. Will konnte sich nicht erinnern, sich schon jemals so sehr über den Anblick eines Menschen gefreut zu haben.

»Ihr seid alle da! Gott sei Dank.«

»WILL!!«, schrie plötzlich jemand hinter ihm. Er drehte sich um und erkannte gerade noch Kara, bevor sie sich ihm um den Hals warf. »Will, ich hatte solche Angst um dich!«, schluchzte sie.

»Ist schon gut. Hey, hör auf zu weinen…« Es war ihm peinlich, wie seine Freunde ihn angrinsten.

Seth wartete, bis Kara sich wieder gefasst hatte, bevor er sie fragte: »Hast du unten nachgesehen, Kara?«

»Ähm - ja. Scheinbar waren ganz unten die Kajüten der Königin und ihrer engsten Dienerinnen. Diesen Ring hier habe ich in einer Schublade gefunden.«

Seth nickte. »Schön. Das muss eines der Relikte sein, die auf das Schiff gebracht worden sind. Vielleicht sogar das wertvollste.«

Kara sah den Ring gebannt an. »Ja, er ist wunderschön, nicht wahr? Ich werde ihn behalten!«

Lilly starrte sie wütend an. »Spinnst du?«, fauchte sie. »Denk an den Fluch!«

Wie aufs Stichwort ging da ein gewaltiges Rucken durch das ganze Schiff, das die Gruppe von den Füßen fegte.

»Wa- Was war das denn?«, rief Erik.

Und wieder. Und noch einmal. Irgendetwas rammte das Schiff. Will hielt sich am Mast fest und presste Kara an sich, während seine Freunde hin und hergeschleudert wurden. Dann brach das Schiff mitten entzwei und Seth fiel ins Wasser.

»Seth!!«, brüllten alle anderen gemeinsam, die es irgendwie geschafft hatten, sich festzuhalten. Dann schossen gewaltige Tentakel aus dem Wasser, umklammerten das, was vom Schiff übrig geblieben war und brachen es in immer kleinere Teile. Das Letzte, was Will mitbekam, war, wie sie alle gegenseitig ihre Namen riefen - dann verfiel er, wie schon so oft an diesem Tag, der Dunkelheit…

7

Meeresrauschen. Eine leichte Briese, die das Gesicht kitzelte. Sanfte Sonnenstrahlen, gerade grell genug, um das Bedürfnis zu wecken, die Augen zu öffnen. Und die Wärme eines Mädchens. Kara…

»Ah, du bist aufgewacht«, sagte sie sanft.

»Huh?«, machte Will. Er setzte sich auf und schüttelte den Kopf.

Ein weiterer Blick genügte, um die Situation zu erkennen: Sie trieben auf einem winzigen Bruchstück des Schiffes, immer noch mitten auf dem Ozean. Kara sah grauenhaft aus. Ihr Kleid war patschnass, schmutzig und unrettbar zerrissen. Ganz abgesehen von ihrem Gesicht und ihrem Haar. Will vermutete, dass er selbst auch nicht viel besser aussah.

»Das ist alles so schrecklich«, sagte sie verzweifelt. »Wir scheinen die einzigen Überlebenden zu sein… Bist du wenigstens in Ordnung?«

»Ich fühl mich furchtbar«, erwiderte er wahrheitsgemäß.

»Kein Wunder. Du warst ziemlich lange bewusstlos. Du solltest dich noch ein wenig ausruhen.«

Will bemerkte, dass ihre Schuhe verloren gegangen waren und sie ihre Füße nun im Wasser gleiten ließ. Es musste eiskalt sein; er fragte sich, wie lange sie schon so da saß.

»Ich habe schon davon gehört, wie es ist, Schiffbruch zu erleiden«, flüsterte sie mit brüchiger Stimme. »Aber in Wirklichkeit ist es noch viel, viel fataler…« Sie bemerkte seinen besorgten Blick und lächelte schwach. »Tut mir Leid… Wir sollten nicht daran denken; lass uns einfach diese Idylle genießen.«

Und so vergingen die Stunden. Kara starrte schweigend aufs Meer hinaus, während Will die restlichen Vorräte einteilte, die er noch in seinem Rucksack bei sich trug. Zwar lenkte ihn der Fund der hölzernen Windstatue weit unten in der Tasche ein wenig ab (es war also doch kein Traum gewesen?!), doch die ernüchternde Erkenntnis, dass die Nahrung noch allerhöchstens ein paar Tage reichen würde, brachte ihn recht schnell auf den Boden der Tatsachen zurück.

Genau genommen erwies sich diese Schätzung sogar noch als sehr optimistisch, als er bereits gegen Ende des vierten Tages nur noch ein paar Kekse übrig hatte. Trinkwasser hatten sie noch genügend, doch ohne Nahrung würde ihnen das auch nicht viel helfen. Er hatte wohl keine andere Wahl: Er musste fischen.

In diesen Gewässern gab es die merkwürdigsten Fische; einige Arten schwammen in riesigen Schwärmen durch das Meer und sprangen dabei regelmäßig an die Luft. Glücklicherweise erkannte Will nach einigen fruchtlosen Versuchen, sie mit der Hand zu packen, dass ihm seine Kräfte hier sicher von großem Nutzen sein würden.

Lilly und die anderen hatten Kara offenbar über alles aufgeklärt, und so war sie nicht sonderlich überrascht, als der erste Fisch wie durch Zauberhand in Wills Griff flog - wohl aber wütend.

»Was machst du da? Das arme Tier!« Und damit schlug sie es ihm aus der Hand und funkelte ihn an.

»Was denn?«, fragte Will verdutzt. »Wir haben nichts mehr zu essen!«

»Das gibt uns nicht das Recht, sie zu töten!«

»Also willst du uns lieber verhungern lassen?«, antwortete Will hitzig.

Sie zögerte nur eine Sekunde, bevor sie antwortete. »Ich könnte es einfach nicht ertragen, ein anderes Geschöpf zu töten. Roher Fisch ist sowieso nicht gut für meinen Teint.«

Will verkniff sich gerade noch im letzten Moment eine spöttische Bemerkung über ihren ‘Teint’( Sie waren Schiffbrüchige, um Himmels Willen!).

»Du kannst ihn ja essen, wenn du unbedingt willst. Ich rühr ihn jedenfalls nicht an!« Dann wandte sie sich um und würdigte ihn keines Blickes mehr.

Will seufzte nur. Er wusste, dass es lediglich eine Frage der Zeit war, bis Kara ihre Tierliebe vergessen würde; doch bis dahin nichts zu essen, konnte gefährlich für sie werden.

Den Rest des Tages sprachen die beiden nicht mehr miteinander, und auch die Nacht über versuchten sie - trotz der Kälte - so weit wie möglich voneinander entfernt zu liegen.

Am siebenten Tag krochen sie auf dem Zahnfleisch. Beide stöhnten vor Magenkrämpfen. Will hatte bisher - aus Rücksicht auf ihre Freundschaft - darauf verzichtet, einen der Fische ohne Karas Erlaubnis zu fangen; aber nun war ihm eins klar geworden: Sollten sie jetzt nichts essen, würden sie zweifellos sterben.

Also machte er sich am Rand ihres kleinen Floßes bereit und wartete - er wurde nicht enttäuscht. Schon sprang ein kleiner Fisch fröhlich aus dem Wasser, nur um aus heiterem Himmel von Wills Magie angezogen und mit dessen Flöte erschlagen zu werden. Diesen Vorgang wiederholte Will einige Male, bis er einen ansehnlichen Haufen zusammen hatte. Aus Mangel an Feuer (und Ekel, eine Woche ohne Essen) machte er sich sofort daran, einen rohen Fisch nach dem anderen zu verspeisen. Kara hatte ihm noch immer den Rücken zugewandt, doch ab und an glaubte er, einen verstohlenen Blick von ihr zu bemerken. Schließlich legte er ein paar Gräten weg und sagte:

»Jetzt hab dich nicht so, Kara. Du musst etwas essen.«

Das Mädchen sah erst ihn, dann den noch immer recht stattlichen Haufen unsicher an. In ihrem Inneren schien sie mit ihrem Gewissen zu ringen, doch schließlich gewann der Überlebenstrieb die Oberhand und sie griff wortlos nach einem der farbenfrohen Meeresbewohner. Dann nach dem nächsten. Und noch einem. Will beobachtete, wie sie ungeniert ihre Zähne in dem Fleisch versenkte, große Stücke abriss und Sehnen und Muskeln freilegte; das Blut floss aus ihren Mundwinkeln. Und doch konnte er einen Moment lang nicht anders, als sie unbeschreiblich hübsch zu finden.

Nachdem sie den größten Hunger gestillt hatte, sah sie ihm direkt in die Augen.

»Bitte entschuldige mein Benehmen… Aber weißt du, ich bin in einem Schloss aufgewachsen, in dem ich nur rufen musste, und schon brachte man mir alles, was ich verlangte. Ich bin nicht an den Gedanken gewöhnt, dass andere Lebewesen dafür sterben müssen. Aber ich schätze, so ist das Leben nun mal, oder?«

»Ja«, nickte Will. »So ist das Leben nun mal…«
 

In den folgenden Tagen geschah nichts Außergewöhnliches. Sie überlebten, indem sie weiterhin Fische fingen und vertrieben sich die Zeit mit Spielchen und Schätzungen, wie lange sie wohl noch so würden ausharren müssen, und ob die anderen wohl noch am Leben waren. Falls nicht, so dachte Will, würde er sich niemals verzeihen können.

Eines nachts - sie waren schon seit beinahe zwei Wochen unterwegs - konnten beide nicht schlafen, und so bewunderten sie die Sterne, die ihnen vom Firmament aus zuleuchteten.

»Wunderschön…«, flüsterte Kara. »Wie gerne würde ich sie berühren… Wie gerne würde ich dich berühren…!« Das Letzte hatte nur gemurmelt.

»Wie bitte?«, fragte Will.

»Ach nichts…«

Will lächlte sie an. »Wenn ich könnte, würde ich dir einen schenken.«

In diesem Moment zog Kara ernsthaft in Betracht, ob man die im Laufe des Tages gefangenen Fische nicht vielleicht auf ihrem Gesicht braten könnte. Sie seufzte glücklich und deutete auf einen bestimmten Stern.

»Siehst du diesen roten Stern dort, im Sternbild des Cygnus?«, fragte sie.

»Ja… Unglaublich, er sieht aus als stünde er in Flammen.« In seiner Ehrfurcht vor der Schönheit über (und neben) ihm war er sich kaum bewusst, dass er einen Arm um sie legte - ganz im Gegensatz zu Kara, deren Gesicht nun - falls überhaupt möglich - ein noch tieferes Rot annahm.

»Weißt du, wie wir diesen Abend unvergesslich machen könnten?«, fragte sie scheu.

Mir würde schon etwas einfallen, dachte Will.

»Lass uns beide einen Wunsch aussprechen. Der Stern wird ihn uns erfüllen.«

Will willigte sanft lächelnd ein und schloss die Augen. Und während er in Gedanken seinen Wunsch äußerte, fühlte er, wie Kara ein wenig näher rückte…
 

Als sich ihre dritte Woche auf hoher See ihrem Ende zuneigte, musste Will sich eingestehen, dass er Kara immer besser leiden konnte. Ihre anfängliche Arroganz war - dank ihrer gemeinsam Erfahrung - vollständig gewichen. Sie hatte sich definitiv verändert, war viel natürlicher und freundlicher geworden. Bei dem Gedanken an sie musste er feststellen, wie sehr sie sein Blut in Wallung brachte…

Sie saßen Seite an Seite, starrten aufs Meer hinaus und genossen die Gegenwart des anderen, planschten mit den Füßen im Wasser herum. Die untergehende Sonne tauchte die Szene in einen rot-goldenen Glanz. Einzig und allein das flaue Übelkeitsgefühl, das sich den ganzen Tag über schon langsam in Wills Magen ausgebreitet hatte, vermochte die Perfektion ein wenig zu trüben.

»Früher liebte ich es, die Sonne untergehen zu sehen«, sagte Kara, den Kopf an Wills Schulter gelehnt. »Es war so schön, wie sie das Schloss anstrahlte. - Heute hasse ich diese Momente! Wenn die Sonne verschwindet, kommt die Dunkelheit… Jedes Mal fürchte ich, die Sonne nie wieder zu sehen.« Sie hob den Blick, um seinen zu treffen. »Aber seit du an meiner Seite bist, sehe ich sie jeden Morgen wieder. Du machst selbst Situationen wie diese erträglich…«

Will lauschte schweigend ihren Worten und lächelte in sich hinein. Er empfand das gleiche, war allerdings noch nie sonderlich gut mit Worten gewesen. Wenn ihm nur nicht so schlecht wäre…

»Weißt du, Will«, fuhr sie fort, die Stimme zu einem kaum hörbaren Flüstern gesenkt, »als ich damals in euer Haus geflüchtet bin und ich dich zum ersten Mal sah, da wusste ich sofort - das war Schicksal.« Sie richtete sich langsam auf und ihr Gesicht näherte sich seinem. Wills Herz begann, schmerzhaft zu pochen. Würde er wissen, was zu tun war? Würde es ihr gefallen? Würde sie ihn womöglich auslachen? Und wieso zum Teufel musste ihm ausgerechnet jetzt so schlecht werden?

Als die Welt sich verdunkelte, dachte er zunächst, er würde die Augen schließen; doch dann wurde ihm klar, dass die Übelkeit aus seinem Magen geschwappt war und seinen ganzen Körper überflutet hatte. Sie drohte ihn zu überwältigen.

Nein, nicht jetzt!, dachte er verzweifelt. Ihre Lippen waren nur noch Zentimeter voneinander entfernt, als sein Körper nachgab. Das Letzte, was er wahrnahm, war, wie Kara erschrocken seinen Namen und etwas wie »Lass mich nicht allein!« rief - und dann nichts mehr.

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Die nächsten Kapitel folgen erst, wenn ich ein paar nette Kommentare bekommen hab... hehe ;-)



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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  TARA!!
2007-02-26T19:47:42+00:00 26.02.2007 20:47
Du hast nenn klasse schreibstil !!! und ich will weiter lesen jetzt!!!! schreib gaaaaaaaannnzzz schnell weiter bitte!


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