Epilog
Hana-Bi
Ein roter Feuerball stieg in den Himmel auf. Hiroshi ging zur Schule.
Ein Tag wie jeder andere.
Auf der Straße gab es nur ein Thema: Das Ende des Krieges, der Untergang der japanischen Flotte, das Versagen der Nation, bedingungslose Kapitulation von Japanern und Deutschen. Seit drei Wochen immer das selbe. Dieser bescheuerte, langweilige Krieg! Zum Glück war diese Stadt bisher weitestgehend von den Wirren der Politik verschont geblieben. Er würde nie zur Armee gehen, alles Wahnsinn.
Stattdessen schritt er in Richtung Schule, immer nach Westen. Heute war nichts los, erste Stunde Geschichte, langweilig. Hiroshi saß ganz hinten und kaute auf seinem Stift herum. Der erste Weltkrieg, vor allem im 20. Jahrhundert sehr interessant.
Goldenes Licht eines warmen, spätfrühjährlichen Sonnentages strömte ins Klassenzimmer. Hiroshi ließ sich vom Kirschbaum vor der Schule ablenken, glotzte gelangweilt aus dem Fenster.
Direkt vor ihm saß Tomoko. Mal wieder schrieb sie einen Zettel. Nicht für die Schule und auch nicht für ihn. Er war an Ken adressiert, der Traum aller Schulmädchen, in Gestalt des besten Baseballspielers der Schule. Was soll’s, Pech in der Liebe, Glück im... Hiroshi putzte demonstrativ seine Brille.
Ein Tag wie jeder andere.
Ein Flugzeug flog hoch über der Stadt dahin. In der Sonne funkelte es wie ein ferner Stern. Wohl ein stiller Triumphzug der Amis, lachhaft.
Die Sonne stand allmählich hoch am Himmel, es ging gegen Mittag. Herr Egawa kritzelte mathematische Formeln an die Tafel. Urplötzlich wurde das Kratzen der Kreide durch einen ohrenbetäubenden Knall beendet, so schnell, so laut, dass niemand ihn wahrnahm, bis es zu spät war. Hiroshi wurde schwarz vor Augen. Er lag auf seiner Schlafmatte, es war noch dunkel um ihn. Noch Stunden bis Sonnenaufgang. Noch Zeit zum Schlafen.
Ein roter Feuerball stieg in den Himmel auf, ein Tag wie jeder andere. Hiroshi ging zur Schule, immer nach Westen. Er hörte die Stimmen der Leute auf der Straße, kaute auf seinem Stift herum, hatte Geschichte.
Es war still. Nur das Gekritzel der Kreide ertönte im Klassenzimmer.
Langsam wurde es warm. Wieder schrieb Tomoko. Ein Traum? Diesmal nicht. Es war ein Tag wie jeder andere, nichts besonderes. Ein Flugzeug zog seine Runden. „Nein!” Ohne es zu merken hatte er geschrien, nicht nur innerlich, das erste Mal auch nach außen hin, geschrien um Hilfe. Verständnislos blickte man ihn an. Hiroshi atmete schwer. Schweißperlen rannen in dünnen Bächen über seine Stirn. “Ist dir nicht gut, Hiroshi?”
Er wusste keine Antwort. Doch ehe er richtig nachdachte, war es zu spät: „Wir werden alle sterben!” Alle lachten. „Ruhe bitte!”, mahnte Herr Egawa. Wir sind noch nicht...
Plötzlich war es still. Ein gleißendes Licht unterbrach den Lehrer. Es war kein warmes goldenes Licht. Es war grell und jeder, der es sah, erblindete. Hiroshi sah nicht hin, er rannte auf die Tür zu.
Erst kam das Licht, dann kam der Lärm und mit gewaltigen Getose brach eine ganze Welt zusammen. Hiroshi war auf dem Gang, nahm nichts mehr wahr. Er rannte instinktiv, hatte das erste Mal ein Ziel vor Augen. Um ihn herum fiel das Leben auseinander. Ein Pilz lag über der Stadt. Die Welt war umrandet von Flammenzungen und um den Schüler brach die Hölle aus. Es war heiß, kochend heiß. Die Luft war erfüllt von Schreien und beißendem Rauch. Vertraute Gesichter geisterten vorbei, in Angst versetzt.
Es war kein Tag wie jeder andere, nicht mehr. Hiroshi rannte. Er war allein. Er rannte durch ein flammendes Inferno. Es roch nach verbranntem Fleisch. Je weiter er kam, desto einsamer wurde er. Seine Kleidung fing Feuer, brannte. Vor ihm lag eine schmale Öffnung, dort wo einst eine Tür war. Hiroshi zwängte sich hindurch. Hatte er es geschafft? Ihm wurde schwarz vor Augen. Es war die verpestete Luft, die er einatmen musste. Es war die Leere, es waren die Trümmer vor seinen Augen. Es war das Geschrei und das feurige Inferno in seiner Reichweite. Doch das Flugzeug war weg.
M.P.
Wassertrüdingen, den 18. Mai 2004