Zum Inhalt der Seite

Less than 24 days.

...ich sitz im Bunker und kann nicht raus.
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Kapitel 7 - Urfassung

Wie in Ekstase tanzt Mary durch den Raum. Sie dreht sich, sie wendet sich, sie verrenkt ihren dünnen und ausgemergelten Körper in nahezu sämtliche Richtungen. Ich starre sie an, bis ich gar nicht mehr registriere, dass es sich dort um einen Menschen handelt, der vor mir auf und ab tanzt. Ihr Haar besteht mittlerweile nur noch aus einzelnen Strähnen, ganz ähnlich wie bei mir. Es schwingt hin und her und unterstreicht die Tatsache, dass Mary nicht zu wissen scheint, was sie dort gerade tut. Sie weiß es, dessen bin ich mir sicher, aber sie zeigt es gerade nicht. Denn sie ist, ausnahmsweise, einmal gut drauf. Es fehlt nur noch, dass sie mir laut lachend um den Hals fällt, mit einer Bierflasche in der Hand. Ich muss schmunzeln.
 

Wir haben Wasser. Immer noch.
 

Hätten wir jetzt noch das laute Gegröle einer Punkrockband im Hintergrund, ein, zwei Kästen Bier, ein Openairfestival oder etwas Vergleichbares, wäre alles perfekt. Wir haben nichts davon, wir hatten es auch nie, aber der Gedanke daran ist schon verlockend und aktuell verhältnismäßig entspannte Lage befähigt mich dazu, mir alles so lebhaft vorzustellen, dass ich die Musik schon beinahe hören kann. Ich kann es riechen, das Bier, das Fett der Pommesbuden und die Kotze derjenigen, die nicht einschätzen konnten, ob sie das letzte Bier nun vertragen oder nicht.

Inzwischen sind wir seid knapp elf Tagen hier oben, seid elf Tagen ohne Dusche, Essen und Musik. Seid elf Tagen ohne gesellschaftlichen Beistand und Zivilisation. Seid elf Tagen vergessen. Ich pfeife leise vor mich hin und überlege angestrengt, ob die Polizei wohl noch immer nach uns sucht. Sie waren nicht mehr hier oben seid neulich. Also können sie lange suchen.

Diese eklatante Fahrlässigkeit macht mich wütend. Man hätte die Luke nach hier oben einfach bemerken müssen, dessen bin ich mir sicher. Die feinen Risse, welche die Säge damals hinterließ, als Alexander alles perfektionierte… man muss sehen, dass dort eine Luke ist, denn zwischen Decke und Luke befinden sich immer noch feine Rillen! Es geht mir nicht aus dem Kopf, wie ein Pulk von Menschen so dermaßen dumm sein kann. Denken doch sowieso nur an ihr Geld.

Bis auf Zukunft scheint es auch keinen zu interessieren, was mit uns geschieht. Immer, wenn ich aus dem Fenster sehe, gehen die Leute in ihrer verstrahlten Umgebung ihrem ätzenden Treiben nach, ohne sich zu beschweren. Keiner hebt einmal den Kopf, schaut zu uns hinauf und brüllt: „Hey, da oben sind Kinder! Holt sie heraus!“

Seid dem großen Atomkrieg vor knapp… ich weiß gerade nicht mehr auswendig, wann er war. Seid dem ist hier jedenfalls alles verstrahlt. Die ganze Erde… ist verstrahlt, bis auf einige wenige Flecken, die problemlos für die Landwirtschaft genutzt werden können. Die Bevölkerung jedenfalls ist drastisch geschrumpft, und wirklich sie wächst auch nicht wirklich. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei knapp fünfunddreißig Jahren, was daran liegt, dass man sein ganzes Leben lang radioaktiv belastet ist. Irgendwann sind die Gene hinüber. Man stirbt. Krankenversicherung? Ein paar vielleicht, aber die meisten aus der normalen Bevölkerung, wie wir zum Beispiel, haben keine. Sozialhilfe? Es kommt, wie es will. Bleibt die Zahlung aus, kann man nicht klagen, weil man sich den Anwalt nicht leisten kann. Und den Prozess. Alles privatisiert seid damals.

Sie haben seid Kriegsende alles privatisiert, was dazu geführt hat, dass einige große Wirtschaftsriesen massig Geld haben und wir am Hungertuch knabbern. Die Polizei ist korrupt und handelt, wie es ihr in den Sinn kommt. Oder wie Humbert, der größte aller Wirtschaftsbosse, der eigentliche Weltherrscher, wenn ihr mich fragt, es befielt. Natürlich muss Humbert das alles irgendwie organisiert bekommen, deshalb gibt es die Kriminalpolizei und dergleichen noch. Aber er trifft ohnehin nur die großen Entscheidungen. Für die bezirkseigenen sind andere Leute zuständig. Es ist der Grund, warum keine Revolution der Welt etwas dagegen ausrichten könnte. Zu viel Nachschub. Und wo sich die ganz großen Tiere aufhalten, dass weiß ohnehin keiner. Wirklich keiner.

Das England, aus dem ich komme, existiert als solches nicht mehr, ebenso wie Japan. Wir sind keine eigenen Staaten mehr, wir sind Bezirke. Einige Bezirke, wie zum Beispiel kleine Staaten, Estland, Lettland und dergleichen, wurden regional zu einem großen Bezirk zusammengefasst. So besteht der englische Bezirk mittlerweile aus dem guten alten England, aber auch Wales und Irland gehören dazu.

Mittlerweile bin ich froh, nicht mehr in England zu sein, denn die Glaubenskriege dort haben beinahe die Ausmaße eines Bürgerkrieges angenommen. Kein Tag, der ohne Nachrichten von dort drüben verläuft. Viele Tote. Viele Schicksale.

Abgeordnete Humberts, hochgerechnet an der Einwohnerzahl und der Größe eines Bezirks, leiten dort alles. Regeln die Polizei, den sozialen Bereich, einfach alles. So kann es durchaus vorkommen, dass zwischen den einzelnen Bezirken große Lücken und Unterschiede klaffen. Verbrichst du in einem anderen Bezirk Dinge, die hier nicht einmal unter Strafe stehen, kann es sein, dass du dort zum Tode verurteilt wirst.

Deine Existenz ist hier nicht mehr gesichert.

Jeder kämpft hier nur noch um sein eigenes Überleben, und wer da nicht mithalten kann, weil er zu jung oder zu schwach ist, der hat einfach Pech gehabt. So unterbevölkert, wie die Welt teilweise ist, ist diese natürliche Selektion etwas, was man eigentlich beseitigen sollte, wenn man über ein funktionierendes Hirn verfügt. Humbert tut dies scheinbar nicht, und auch keiner seiner Berater oder Abgeordneten. Und dennoch bereitet es mir Bauchschmerzen, wenn ich daran denke, in ihre alten, knochigen Finger zu geraten. Ehrlich gesagt fühle ich mich sogar noch ziemlich lebendig.

Will man in unserem Bezirk überleben, geht man in den Untergrund. Und ich werde das auch tun, so wie viele andere, kleine und schwache Joshua Millers vor mir. Das steht fest, seid ich dreizehn Jahre alt bin, denn es ist das Sicherste. Dort herrscht Loyalität, hat man sich erst einmal hochgearbeitet. Hat man die Bullen auf der Pelle, erkauft man sich ihr Schweigen. Es funktioniert. Ansonsten legt man sie um. Drogendealerei, Prostitution, Perversionen. Man kann alles ausleben, sich etwas aufbauen, ganz wie bei Monopoly. Im Untergrund gibt es das, was überall auf der Welt, egal in welchem Bezirk man lebt, mit dem Tode geahndet wird.

Resistance, eine Unterart der Musikgenres. Natürlich mit vielen Unterarten.

Keine klassische Musik, Gott bewahre. Kritische Musik, Texte, die sich gegen das Regime wenden.

Harte Beats, schnelle Rhythmen, raue Stimmen, viel Gebrüll, gepaart mit sanften Gesangseinlagen.

Ein Sänger, zwei Gitarristen, ein Bassist, ein Schlagzeug. Standartbesetzung. Überwiegend einfache Akkorde, doch anspruchsvolle Texte und oftmals auf musikalische Klangtiefe.

Eine äußerst linke Einstellung. Eine klare Botschaft. Freiheit. Und sie äußert sich auf jedem, heimlich veranstalteten Konzert.

Im Takt der Musik auf und Ab springen und die anderen in einem großen Kreis gegeneinander schubsen. Ich denke, welche Art von Musik ich meine, ist jedem klar.

Ich lebe für Resistance. Die Tatsache, dass ich Klavier gelernt habe, war wohl der Anfang.

Aber seid ich mich mit Mary draußen rumtreibe, seid wir Freunde aus der Szene, aus dem Untergrund haben… Es war schlicht und ergreifend eine Sache der Zeit, bis wir an Resistance kamen. Natürlich hatte ich anfangs Schiss, denn wer will schon von Humberts Leuten aufgegriffen und getötet werden, manchmal sogar ohne richtigen Prozess?

Nach mehr oder weniger einem Monat hatte sich diese Angst dann gelegt. Unter einer losen Diele in unserer Wohnung verstecke ich die Tapes, höre in jeder freien Minute. Die Texte auf Englisch, denn auch wenn die Staaten aufgelöst wurden, ist Englisch weiterhin die Weltsprache. Keine Sprache spricht so deutlich wie die meine. Mir kommt es gerade in den Sinn, dass ich die lose Diele eventuell leer räumen sollte, wenn ich hier raus bin, weil ich sonst ein verdammtes Problem mit den Nachmietern bekommen könnte. Oder mit dem Vermieter. Oder mit Humbert.

Man sagt nicht mehr „der Staat“. Man sagt „Humbert“.

Wie gerne wäre ich einmal auf eines dieser verbotenen Konzert gegangen, hätte mich betrunken und wäre in der Menge rumgesprungen, bis ich überall am Körper blaue Flecken gehabt hätte. Dann hätte ich einmal ein wenig Spaß in meinem verkorksten Leben, hätte Freunde – die Resistance-Szene ist ohnehin die einzige, in der man noch wahre Freunde findet.

Vielleicht… kann ich das endlich einmal tun, wenn ich hier wieder raus bin. Als Gegner des Systems.
 

Zukunft hat einfach den Wasserhahn aufgedreht und siehe da, er funktionierte wieder. Er ist kein Engel, wahrscheinlich ist er ein Geist oder so etwas ähnliches, was erklären würde, warum er so einfach verschwindet, wenn die anderen etwas mitbekommen könnten. Allerdings sprach er davon, dass er meine Zukunft sei. Du Zukunft kann nicht tot sein und hier herumgeistern und genau das macht alles so unheimlich.

Ich weiß nicht, was genau er ist, und um ehrlich zu sein will ich es auch gar nicht wissen. Es reicht, wenn er mir einfach hilft, hier in diesem Raum zu überleben. Auch, wenn er sich seid ein paar Tagen nicht mehr hat blicken lassen und ich keine Ahnung habe, ob er wiederkommt. Muss er überhaupt noch etwas tun, damit wir überleben? Laut ihm sterbe ich hier oben nicht. Trotzdem hätte ich hier oben gerne einen psychischen Beistand, der dafür sorgt, dass ich hier nicht durchdrehe. Momentan, so scheint es mir, stehe ich nämlich kurz davor.

Und irgendwie hat dieser Junge auch Ausstrahlung. Er sieht aus wie ich, wahrscheinlich hat er das durchschnittliche Lebensalter von fünfunddreißig gerade erreicht gehabt, als er gestorben ist. Wenn es denn ein Geist ist, keine Ahnung. Aber ich bin mir sehr sicher, dass ihm Resistance ein Begriff ist.

Einen imaginären Plattenspieler im Hinterkopf rufe ich mir Beethovens Mondscheinsonate ins Gedächtnis und betrachte unser Verließ, während ich den lieblichen klängen eines wohltemperierten Klaviers lausche. Als ich noch jünger war, hatte ich vor diesem Stück immer Angst. Es war mir zu düster, zu unheimlich. Geheimnisvoll. Wenn ich die Mondscheinsonate hörte, dachte ich an jemanden, der nachts allein im Wald umherirrt, von allen verlassen und vergessen, zum Scheitern verurteilt. Oder ich hatte ein blutiges Messer auf einem Boden vor Augen. Dabei muss ich betonen, dass ich zu diesem Zeitpunkt höchstwahrscheinlich gerade erst acht Jahre alt war. Aber wenn man sich meine Vergangenheit einmal betrachtet… meine Gedanken waren seid jeher duster und verlassen. Anders als die meiner Klassenkameraden, welche an meiner superanspruchsvollen Schule, auf der ich leider gelandet bin, welche so realitätsfern waren. Verhätschelte kleine Oberschichtenkinder, dazwischen ich, der verstrahlte Bengel aus dem Wohnblock, dessen Vater säuft und dessen Mutter gegen Bezahlung mit anderen Männern schläft. Sie haben niemals erfahren, welchen Tätigkeiten meine Eltern nachgingen, doch meine Herkunft, die unterste Unterschicht, konnte ich nicht verbergen. Man merkte es mir an, an der Art, wie ich mich kleidete, an meiner Art mich zu bewegen, an dem Slang, den ich sprach. Ich bin ein durchaus vulgärer Mensch – aber doch in der Lage, mich präzise und gewählt auszudrücken. Das habe ich dort gelernt. Und verdammt noch mal, ich bin intelligent, intelligenter als viele andere Personen in meiner näheren Umgebung, vielleicht sogar über dem Durchschnitt. Sonst wäre ich niemals auf dieser Schule gelandet. Ich gehörte zu den Besten in der Klasse, hatte den Eignungstest für die Schule mühelos ausgefüllt.

Meine Klasse hasste mich, weil ich anders war und ich wünschte ihnen den Tod.

Wenn ich mich hier so umsehe, Emily, welche sich inzwischen erholt hat und mit ihrer Puppe spielt, Lucy, welche, die Haare tief im Gesicht, über ihrer Bibel gebeugt sitzt und Mary, die tanzt, mittlerweile etwas langsamer, fast wie in Trance, die Arme erhoben, damit man jeden einzelnen Knochen in ihren zu dünnen Gliedern sehen kann, muss ich schmunzeln. Alle versuchen sie, zu vergessen, was um sie herum geschieht und meine liebe Cousine ist das Paradebeispiel dafür. Sie hat sogar ihre Augen geschlossen, grenzt alles aus ihrem Leben aus und scheint überhaupt nicht mehr mitzubekommen, was eigentlich um sie herum geschieht. Mary, die immer so perfekt und führsorglich tut, wenn wir bei unseren Geschwistern sind, welche immer versucht, sich bei unseren Geschwistern in den Vordergrund zu drängen und mich zur Seite zu schieben, kurz vor einem Nervenzusammenbruch.

Sie geht mir mit ihrem Gehabe auf die Nerven.

Neben ihr, auf der Matratze, liegen Stricknadeln, richtig dicke mit fast einem Zentimeter Durchmesser. Dabei rote, eigentlich purpurfarbene Wolle. Sie lag, zusammen mit dem ganzen anderen Krempel, in den Kisten, die wir, von Langeweile gebeutelt, die letzten Tage durchstöbert haben. Das heißt, sie haben sie die letzten Tage durchstöbert. Ich saß lieber hier am Fenster und habe die Leute draußen beobachtet. Die Stadt, wie sie wacht, die ganze Zeit. Wartet. Auf was, weiß keiner. Aber sie tut es.

Man vergisst so den Hunger, der sich in unseren Eingeweiden breit gemacht hat. Nach elf Tagen ohne Nahrung spürt man ihn ohnehin kaum mehr, lediglich ein leeres Grummeln im Bereich des Magens, welches zwar stört, aber ansonsten nicht weiter unbequem ist. Manchmal, wenn man aufsteht oder sich sonst irgendwie übermäßig bewegt, kann es sein, dass es einem schwindelig wird, aber ansonsten ist alles wie immer. Wenn das Verhungern ist, ist es angenehm. Bis jetzt jedenfalls.

Als Mary so weit ihre Verrenkungen vollführt hat, dass sie neben mir steht, greife ich nach den Nadeln und stoße ihr diese in die Seite. Sofort reißt sie die Augen auf, zuckt zusammen und gibt einen leisen Schmerzenslaut von sich.

„Bist du noch ganz dicht?!“, zischt sie mich an, schiebt die Hand unter ihren dunkelroten Kapuzenpullover und reibt sich die Seite, welche höchstwahrscheinlich gerade dabei ist, genauso rot anzulaufen wie ihr Oberteil. Ein dickes Grinsen zaubert sich auf meine Wangen und strahlt sie an.

„Du nervst“, weise ich sie dann, rüder als beabsichtigt, zurecht und werfe die Nadeln zurück auf unseren Schlafplatz, wo sie liegen bleiben, als seien sie eiskalt zurück gelassen worden. Genau so wie wir.

„Setz dich hin und tu was produktives, anstatt hier sinnlos durch die Gegend zu zappeln. Du wirkst, als wärst du nicht mehr ganz dicht.“

Ich lasse meinen Kopf, in dem seid zwei Tagen ein triefender, schmieriger Nebel sein Dasein fristet, frustriert gegen die Scheibe donnern und verhaare so. Die schlecht isolierte Plexiglasscheibe fühlt sich gut an auf meiner ausgemergelten, blassen Haut. Während ich dort also liege, ruhig und endlich einmal wieder einigermaßen entspannt, sammelt sich Mary zu einem Gegenschlag. Er sitzt.

„Als wäre ich nicht mehr ganz dicht! Das sagt der Richtige. Im Gegensatz zu dir pumpt bei mir immer noch Blut durch die Adern, Joshua Miller, also erzähl mir gefälligst nicht, was ich zu tun oder zu lassen habe!“

„Das tut es bei mir auch!“, fahre ich sie an und schiebe bei diesen Worten den Ärmel meines Pullovers höher, dass man die verkrustete Wunde sehen kann. Sie wirft mir einen angewiderten Blick zu und ich weiß genau, dass sie wieder tief in ihrem Innersten denkt, dass ich dabei bin, die Nerven zu verlieren. Das ich durchdrehe und ihr und den Zwillingen gefährlich werden könne. Ich schüttele den Kopf, stehe auf und ziehe meinen Rollkragenpullover, welcher inzwischen bestialisch stinkt, richtig und verkünde ihr knurrend, dass ich jetzt ins Badezimmer gehen werde. Um ihn zu waschen? Pustekuchen, wir brauchen die Flüssigkeit.

„Schön, geh ruhig“, erwidert sie spitz und klingt wie ein trotziges Mädchen, welches sich gleich schmollend in eine Ecke hocken wird. Es ist beruhigend irgendwie. Ausnahmsweise klingt sie einmal wie die Dreizehnjährige, die sie eigentlich sein sollte.

„Ja, tu ich.“

Und dann ist Ruhe.

Schon immer habe ich zu den Leuten gehört, die in einer Diskussion oder in einer Konversation das letzte Wort haben müssen. Dabei höre ich mich nicht einmal gerne reden. Also doch, eigentlich schon, aber ich stehe nicht sonderlich gerne im Mittelpunkt großer Massen. Viel eher gebe ich mich damit zufrieden, den passenden Kommentar zur passenden Zeit ins Gespräch zu werfen und mir somit die ungeteilte Aufmerksamkeit der umstehenden Personen zu sichern. Intelligente Kommentare, gespickt mit angelesenem Wissen. Hatte nicht oft die Gelegenheit dazu, weil ich mit den Vollidioten aus meiner Klasse nicht sonderlich klarkam, aber wenn ich eine sah, nutzte ich sie.

Hab mich damit nicht sonderlich beliebt gemacht.

„Habt ihr euch gestritten?“

Als hätte man mich am Boden festgeklebt, bleibe ich vor der Badezimmertür stehen und drehe mich um.

Emily sitzt dort mit ihrer Puppe, blickt auf vom Spiel und sieht mich mit ihren durchdringenden Augen an. Mir läuft es kalt den Rücken hinunter, so, dass ich mich schütteln muss und mir wird heiß. Ein schwaches, verstreutes Lächeln huscht über meine Lippen und ich schüttele den Kopf.

„Nein, wir haben uns nicht gestritten“, antworte ich ihr leise, mit einer ungewohnt leise und hoch klingenden Stimme und knie mich zu ihr auf den kalten Boden. Sie sitzt dort im Schneidersitz, versinkt in meinem alten Pulli und sieht darin, jetzt, wo sie knapp sechs Kilogramm leichter ist als früher, noch kleiner darin aus. Eigentlich sieht man nur noch meinen Pullover – meine kleine Schwester ist darin schon vor langem verloren gegangen.

„Wie viel hast du gewogen, als wir in den Raum sind? Auf dem Zettel standen sechsunddreißig Kilogramm, meine ich. Hat Mary dich gefragt gehabt?“, frage ich sie und schenke ihr ein Lächeln. Sie ist so wunderschön. Doch sie schüttelt mit dem Kopf.

„Dreiunddreißig“, gibt sie zurück und streicht sich das Haar hinter die Ohren. „Ich hab dreiunddreißig Kilogramm gewogen, sechsunddreißig waren’s vor zwei Wochen.“

Ich nicke schwach, sage ihr, dass das kein Grund zur Sorge sei und verabschiede mich ins Bad.
 

Jetzt, wo wir uns schon seid so langer Zeit auf der Pelle hängen, kommt es öfters am Tag zu kleineren Reibereien. Es ist verständlich, dass man sich nicht immer der gleichen Meinung sein kann, und wenn man sich dann auch noch vierundzwanzig Stunden am Tag die Gesellschaft von lediglich drei anderen Personen erlaubt, so kann es schon mal vorkommen, dass man etwas genervt ist. Vor allem unter diesen besonders lebensfreundlichen Umständen, der Routine, jeden Tag vor sich hinvegetieren zu müssen. Unsere Nerven liegen blank. Unsere Hirne auch und mittlerweile sind wir so gelangweilt, dass wir schon anfangen zu stricken. Siehe Mary.

Die Dunkelheit des Badezimmers hüllt mich angenehm ein. Die beißende Kälte registriere ich schon beinahe nicht mehr, man härtet ab. Sie ist einfach selbstverständlich geworden, und das ist gut so, denn selbst wenn man wollte, könnte man doch nichts daran ändern.

Schweigend und mit unterschwelliger Wut im Brustkorb drehe ich den Wasserhahn auf und spüre das Wasser, welches mir über die Hände rinnt und mit eisigen Nadeln in die Finger piekt. Ich forme eine Schale und schleudere mir das Wasser ins Gesicht.

Man fühlt sich müde und ausgelaugt, wenn der Körper keine Nährstoffe bekommt und man seid Tagen die gleiche Luft atmet. Die Augen werden ganz Schwer und die Stellen, an denen die Tränendrüsen sitzen, fühlen sich matt und taub an. Jetzt geht es wieder.

Habe ich mich gerade eventuell falsch verhalten?, frage ich mich und lehne meine Stirn gegen den Spiegel, welcher über dem Waschbecken angebracht ist, warte darauf, dass sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen. Ich lausche. Alles ist ruhig, man hört nur das gelegentliche leise Fiepen der Mäuse, welche hier oben auf dem Dachboden rumstromern, aber das ist auch alles.

Ich habe mich nicht falsch verhalten, warum auch? Wenn Mary sich nicht immer so verdammt störrisch aufführen würde, wenn es um so unwichtige kleine Dinge geht, hätten wir uns jetzt nicht angefaucht. Wenn Mary mir doch glauben würde, was Zukunft angeht… ich denke, sie glaubt, er existiert nur in meinem Kopf. Aber das kann nicht sein, dafür ist zu viel geschehen.

Er hat mich verletzt, er hat den Wasserhahn aufgedreht – er muss ihn ebenfalls zugedreht haben, denn er stand ja die ganze Zeit offen und…

„Er muss ihn zugedreht haben? Joshua Miller, ich bitte dich!“

Erschrocken springe ich drei Meter in die Luft und zwei Meter vom Spiegel weg, beginne zu Zittern, halte mich an der Wand fest und schiele aus den Augenwinkeln hinüber. Da ist nichts. Der Spiegel spiegelt einfach, das ist alles. Gruselig.

Ein paar Sekunden verharre ich so, bis ich mir sicher sein kann, dass nichts unerwartetes mehr auf mich zukommt, dann gehe ich wieder, ganz langsam, zurück zu meinem Ausgangspunkt. Kneife meine Augen zusammen, als ich den Blick wieder in den Spiegel richte.

Mein Ebenbild, nichts weiter. Das bin ich. Und ich sehe furchtbar aus, die Augen und Wangen eingefallen, das Haar strähnig, das Gesicht so matt. Die Dunkelheit verstärkt diesen Effekt bloß und ehe ich mich versehe, hat sich das Haar meines Gegenübers schlohweiß gefärbt.

Mir bleibt die Luft weg und mein Herz setzt ein paar Schläge lang aus.

Das Zimmer um mich herum verschwindet, nichts als tiefe, elende Finsternis bleibt um mich herum zurück. Ich und der Spiegel. Der Spiegel und ich. Ich und mein Spiegelbild.

Wir sehen uns an, Sekunden verstreichen, die mir wie Stunden erscheinen. Mein Atem haucht sanft gegen den Spiegel. Er beschlägt und gleichzeitig wird mir warm ums Herz, dabei prasselt es mit brutaler Leidenschaft gegen meinen Brustkorb.

Mein Gegenüber sieht mich an - und pustet sich eine der weißen Strähnen aus dem Gesicht. Seine Augen fixieren mich, studieren mich, zucken hin und her, doch ich kann genau fühlen, dass sich meine keinen Millimeter bewegen. Die Farbe schlägt um. Das stahlgrau wird blutrot und beginnt zu pulsieren. Mir wird schwindelig und ich bekomme keine Luft mehr. Panisch fixiere ich das, was sich dort, direkt vor meiner Nasenspitze, abspielt.

Ich war immer eine Person der Wissenschaft. Ich konnte nur glauben, was man berechnen konnte. Was man sehen konnte.

Das hier, vor mir, kann ich sehen. Aber kein Physiker der Welt könnte mir dazu die passenden Zahlen liefern. Keiner könnte sagen, warum ich gerade das sehe, was ich sehe.

„Na?“, funkelt mich mein Spiegelbild an und entblößt eine in der Dunkelheit silbern anmutende Zahnreihe für ein breites, boshaftes Grinsen. Es ist blutrünstig, sieht mir gar nicht ähnlich. Die Person dort im Spiegel, das bin nicht ich. Zukunft auch nicht.

Wer…?

„Meine Güte, du siehst aus, als hättest du gerade einen Geist gesehen, Josh.“

Ein Vergnügter Tonfall. Keine Sorgen, dafür sadistische Eiseskälte.

Das wahre Böse, welches sich tief in jedem Menschen versteckt hält, offenbart sich mir in einem Spiegel in einem verlausten Drecksloch über unserer Wohnung.

„Zukunft?“, kommt es mir tonlos über die Lippen. Das Spiegelbild lacht.

„Nein.“

Er legt den Kopf schief und betrachtet mich mit einer arroganten Überheblichkeit. Ja, er weiß genau, was hier vor sich geht und er genießt seinen Vorteil. Er genießt es, dass er mich zappeln lassen kann, ohne einen genauen Grund zu nennen, wer er ist, was er hier sucht, was er von mir will.

Die Badezimmertür schlägt neben mir zu. Ich zucke zusammen, schaue nach rechts, betrachte die Türklinke und drehe meinen Kopf wieder nach vorne.

Ich bin mir sicher, dass sich deutliche Angst in meinem Gesicht abzeichnet, jedenfalls kann er sie sehen.

„Oh Gott…“, flüstere ich leise und sehe ihn bittend an, würde am liebsten meine Arme ausstrecken, um mich an ihn zu klammern, um Schutz zu haben. Klarheit. Seid fast zwei Wochen reißt man mir den Boden unter den Füßen weg, immer wieder, und doch ich falle nicht. Stumm schreiend hänge ich in der Luft.

„Was geschieht mit mir?“, wispere ich leise und greife mir ungläubig an den Hals, als ich das kurze Kratzen in meiner trockenen Kehle bemerke.

Wieder hat meine Stimme diesen hohen, hohlen und unnatürlichen Klang angenommen. Ich huste, doch nichts verändert sich. Es fühlt sich an wie immer.

„Och, nichts weiter“, antwortet er und schüttelt den Kopf, dass die Haare aufgelockert werden und wieder in sein bleiches Gesicht fallen. Er sieht gesund aus. Gut genährt.

„Du wirst lediglich verrückt, das ist alles.“

Verdutzt schiebt sich mein Kopf etwas zurück, dann nicke ich und fange an zu Lachen. Noch immer ist die Wut auf Mary in meinem Brustkorb, sie ist dort, schwarz und haarig, zuckend. Wie ein kleines Tier, welches die Aggressionen der Menschen frisst und wunderbar gedeiht. Ich dünge es, jeden Tag, und irgendwann wird es mächtiger sein als ich. Dann wird es mich fressen.

„Erzähl mir keinen Unsinn!“, herrsche ich mein Gegenüber an und beuge mich wieder nach vorne.

„Ich bin sachlich, ich bin nüchtern. Nieder mit der verdammten Religion, klar? Verstehst du meinen Lebensstil? Ich glaube nur an das, was mir die Wissenschaft beweisen kann. Ich bin sehr wohl in der Lage, zu unterscheiden, was echt ist und was…“

„…Phantasie ist?“, ergänzt er mich und hat wieder dieses arrogante Glitzern im Blick.

„Ja!“

Lauter, als ich es eigentlich vorgehabt hatte, brülle ich ihm dieses Wort entgegen, stolpere ein paar Schritte zurück und bleibe an der Kiste hängen. Blind tastet meine Hand hinein und bleibt an einem alten Briefbeschwerer aus Metall hängen, nachdem sie sich durch unzählige Bücher und Magazine der vergangenen zwei Jahrzehnte gewühlt hat. Ich schließe die Faust darum und ziehe sie heraus.

„Natürlich weißt du das“, kommt es zurück und füttert mein haariges Tierchen, welches sich geifernd nach der frischen Nahrung ausstreckt.

„Deshalb beschäftigst du dich mit Personen, die außer dir keiner sehen kann, riechen, hören, schmecken kann.

Du unterhältst dich mit einem Spiegel?

Du schließt die Tür und erinnerst dich nicht daran?“

Ein hohes und schrilles Lachen klingt durch den Raum. Es geht durch Mark und Bein. Und es ist nicht meines.

„Das war ich nicht. Du hast doch wohl selbst gesehen, dass sie zugeschlagen wurde“, erwidere ich kühl und setze meine düsterste Miene auf. Auch, wenn mir dieser Kerl es die ganze Zeit weismachen will - blöd bin ich nicht.

„Von wem?“

„Von… ich weiß es nicht! Du hast es doch auch gesehen, da war niemand.“

„Joshua, das warst du selbst.“

Er seufzt leise und blickt mich mitleidig an, ehe er weiterspricht.

„Ich mein es bloß gut mit dir. Hör mir zu. Du drehst durch, du verlierst die Nerven, was in deiner Situation eigentlich kein Wunder ist. Bleib einfach hier, bleib von deinen Geschwistern fort, bevor dir oder jemand anderem noch etwas schreckliches geschieht. Du stellst eine Gefährdung für das allgemeine Wohl dar.“

„Nein.“

Stille.

„Josh?“

„Was denn?“

„Warum redest du mit etwas, von dem du eigentlich weißt, dass es nicht existiert?“

„Weil…“

Ich breche ab und betrachte ihn verwirrt. Warum eigentlich?

Weil mein Kopf sagt, er sei da. Weil meine Ohren sagen, er sei da, meine Augen sagen, er sei da. Meine Sinne sagen mir, dass dort etwas ist und wie es ein lebendes Wesen nun einmal tut, reagiere ich darauf.

Das ist Instinkt, nichts weiter.

„Josh, ich bitte dich, hast du schon einmal jemanden gesehen, der sich ernsthaft mit seinem Spiegelbild unterhalten hat? Und überhaupt…“

„Shut up!“

Mit der gesamten Kraft, die ich aufbringen kann, schleudere ich den schweren Briefbeschwerer an die Wand gegenüber. Er trifft den Spiegel, welcher augenblicklich und mit lautem Klirren in tausend Einzelteile zerspringt. Sie alle prasseln auf den Boden und ich hebe den Arm schützend vor mein Gesicht, damit meine Augen keine Splitter abbekommen. Dann falle ich auf die Knie, beuge mich nach vorn und vergrabe mein Gesicht in den Armen. Meine Nasenspitze berührt den schmutzigen Boden, doch das ist mir egal. Ich zittere, mir ist zum Heulen zumute.

Und plötzlich rinnt eine Träne über meine Wange, welche ich rüde fortwische. Nein, ich kann nicht weinen. Das ziert sich nicht für einen Mann, ich muss stark sein. Ich muss meine Familie beschützen, meine Schwestern, meine Cousine. Ich bin doch das Einzige, was sie noch haben.

Er will mir mit meiner Heulerei nur zeigen, dass ich verwirrt bin. Das ich keine Ahnung habe, was genau um mich herum geschieht. Dieser Mann im Spiegel, er aussieht wie ich.

„Joshua?“

Die Tür wird neben mir aufgeschoben, Licht fällt auf mich. Es ist Mary, die in der Tür steht und erst, als sie sich im Badezimmer umsieht, wird ihr das Ausmaß der Verwüstung bewusst. Mir auch.

Der Ganze Boden ist voll von winzig kleinen Splittern und großen Scherben. Der Putz, welcher ohnehin schon grau, fleckig und marode war ist teilweise abgebröckelt und liegt auf dem Boden, entblößt den Anblick auf das backsteinfarbene Mauerwerk. Dazwischen ich, verstaubt und dreckig. Mein ehemals schwarzer Pullover wirkt grau.

Mary sieht verängstigt aus, hat die Augenbrauen hochgezogen und blickt mich an.

Blanke Angst spiegelt sich in ihnen, während sie flügge hin und her hüpfen, mich letztendlich fixieren und nicht mehr außer acht lassen. Vorsicht… dieser Mann könnte jeden Moment durchdrehen, halten Sie sich fern.

„Joshua, mit wem hast du geredet?“, fragt sie leise und verschreckt. Zehn zu eins – sie hat nur mich reden, schreien, fluchen und brüllen gehört. Dieser Kerl im Spiegel – der war schön leise, kein Wunder, dass ihn niemand vernommen hat. Dabei war er da. Er war da.

Mit dieser plötzlichen Einsamkeit keimt meine Wut wieder auf. Wie ein Kanonenfeuer entlädt sie sich auf meine Cousine, ganz rücksichtslos, nicht begreifend, dass sie zwei Jahre jünger als ich und ein Mädchen ist.

„Verpiss dich, Mary. Du bist das Letzte, was mir jetzt gefehlt hat!“, fahre ich sie an, hebe den Kopf aus den Armen und verharre wie ein Tier, welches seinen Jäger sieht.

„Mit wem… oh Gott, Joshua, du hast mit dir selbst geredet!“

Sie lacht kurz und ungläubig, fährt sich mit den schlanken Fingern durch das blonde Haar, als würde sie nun endlich erkennen, dass hier etwas nicht stimmt. Ich rede mit mir selbst? Erzähl keinen Blödsinn. Ganz verbittert fährt sie fort. Sie wirkt viel älter.

„Ja, mit wem auch sonst. Außer uns ist keiner hier, mit wem solltest du sonst geredet haben. Aber der Spiegel… musstest du das tun? Sieben Jahre Unglück, du kennst das doch und – oh mein Gott Joshua, was zur Hölle ist mit dir los? Mit wem hast du geredet? Mit WAS hast du geredet?“

„Reg dich nicht auf“, gebe ich zurück und muss kurz darauf von der staubigen Luft husten. Mein Tonfall ist gereizt und genervt, meine Nerven, die eigentlich aus zentimeterdicken Drahtseilen bestehen, reißen nacheinander. Sie geht mir mit ihrer Fragerei auf die Nerven. Kann sie mich nicht einfach in Ruhe lassen, bis sich die Situation wieder beruhigt hat?

“Glaubst doch eh nicht an Gott, was macht da ein Spiegel mehr oder weniger?“

Als hätte jemand einen unsichtbaren Schalter in meiner Cousine umgelegt, wird sie fuchsteufelswild und springt ein Stück auf mich zu. Sie hat die Hände zu Fäusten geballt und fuchtelt mit ihnen vor mir rum, ehe sie sich abwendet und weiterspricht. Die Haare fallen in ihr Gesicht.

„Ich soll mich nicht aufregen? Ich soll mich nicht aufregen?“

Sie klingt beinahe so hysterisch wie Rachel, wie sie dort vor mir steht. Ich bringe mich auf die Beine, denke nicht einmal daran, meine Kleidung abzuklopfen, die ist ohnehin hinüber. Meine Wut kocht über. Sie versteht mich nicht, was macht sie mich dumm an? Sie hat doch keine Ahnung, was zur Zeit in mir vorgeht. Was ich durchmache ist tausend mal schlimmer, als das, was sie durchstehen muss. Es ist einfach so verdammt unlogisch.

Ich packe sie am Arm und ziehe sie zu mir, unsanfter, als beabsichtigt und funkele sie mit meinen stahlgrauen Augen – jedenfalls hoffe ich, dass sie das noch sind – an.

„Du verstehst rein gar nichts“, fauche ich und plötzlich sieht sie mich an wie jemanden, den sie noch niemals zuvor im Leben gesehen hat. Sie streckt sich von mir weg, beugt den Rücken nach hinten durch und beginnt wie ein Tier im Käfig, gegen meine Umklammerung anzukämpfen. Emanze halt, durch und durch.

“Joshua, lass mich los. Josh… Joshua, du tust mir weh!“

Augenblicklich löse ich meine Finger und leise schnaufend wende ich mich von ihr ab. Muss mich erst einmal wieder unter Kontrolle kriegen. Während ich mir die Ärmel abklopfe, schnappe ich nach der staubigen Luft, muss immer wieder husten und beginne allmählich, zu hyperventilieren. All dieser Stress! Ich habe die Kontrolle über mich verloren – rot sieht man die Stellen, an denen ich sie gegriffen habe. Sie huscht direkt ein paar Schritte zurück, presst die Arme an die Brust, an den viel zu großen Pullover, bleibt stehen, als ihr Rücken die Tür berührt. Sie beginnt mittlerweile schon, an den Beinen abzunehmen. Geht das überhaupt? Ich dachte immer, da seien nur Muskeln und Sehnen. Jedenfalls kann man durch ihre zerrissenen roten und schwarzen Seidenstrumpfhosen hindurch sehen, dass der Schaft ihrer schwarzen Springerstiefel zu groß ist. Ihre Beine füllen sie nicht mehr ganz aus, deshalb schlabbern sie. Und so wie ich sie kenne hat sie sich auch nicht die Mühe gemacht, die Schuhe eventuell noch einmal neu zu schnüren. Das ist Mary einfach gelegentlich. Stinkfaul.

„Ich warne dich, Joshua, wenn du Emily und Lucy auch nur einmal anrührst, dann…“

„Reg dich nicht auf! Ich werde sie nicht anrühren, versteh es endlich mal – du hörst dich mittlerweile beinahe genauso hysterisch an wie Rachel!“

Das hat gesessen.

Angewidert wandert ihr Blick an mir herunter und dann wieder nach oben. Hass, blanker Hass funkelt in ihren Augen auf. Unverstehen. Sie mag mich, und eigentlich kommen wir total gut miteinander aus, aber gerade hat sie Angst vor mir.

Sie hat wirklich Angst vor mir.

Es ist wie ein Nadelstich in der Brust.

“Du bist doch verrückt“, flüstert sie bitter, dreht sich herum und verlässt ohne ein weiteres Wort den Raum. Die Tür lässt sie offen.
 

Es ist bitter, wie allein man sich fühlen kann, obwohl man mit drei – vier, fünf? – anderen Menschen zusammen in einem Raum lebt. Wenn man wieder deutlich spüren muss, wie anders man doch ist. Wie einen die anderen verstohlen von der Seite mustern, wenn man nicht damit rechnet, weil sie befürchten, man könne eine Bedrohung für sie darstellen.

Ich brauche erst einmal ein paar Minuten, die ich unbewegt auf dem Platz stehe, auf dem ich stand, als Mary hinaus ging, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. So wirklich will es mir nicht gelingen, doch es wird besser.

Letztendlich bücke ich mich und hebe eine der größeren Scherben vom Boden auf. Puste den Staub hinunter und blicke mich an, kritisch. Wird sich mein Abbild wieder zu dieser hässlichen Fratze modifizieren?

Als sich nichts tut, betrachte ich wieder meinen Haaransatz. Als ich damals im Badezimmer war, ist es mir schon aufgefallen, aber nun ist es eklatant. Nur meine Cousine und die Zwillinge scheinen es noch nicht bemerkt zu haben. Es entlockt mir ein leises Seufzen, mein Haar so zu sehen – immerhin liebe ich meine schwarzen Haare und die Art und Weise, wie ich sie trage. Wenn man kein Geld hat, sind die natürlichen Dinge diejenigen, die einem am liebsten sind.

Vorsichtig lasse ich den Glassplitter in meine Hosentasche gleiten, schiebe meine Hand hinterher und stehe hier rum. Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, was ich tun soll, weil ich nicht die geringste Lust habe, noch einmal in den Kisten herumzustöbern – wir haben das Interessanteste ohnehin schon rausgefischt – geschweige denn, hier aufzuräumen. Aber zu den anderen will ich auch nicht.

Mir graut es vor ihren Blicken, wenn ich das Zimmer betrete, wenn sie mich mustern werden, und das werden sie bestimmt, mit diesem unterschwelligen, abfälligen Ausdruck in den Augen, der mir ganz deutlich sagt, dass ich dort momentan nicht erwünscht bin.
 

Die Wunde, die mir Zukunft zugefügt hat, sitzt an der gleichen Stelle wie der Strichcode, über den mein Vater verfügte. Er bekam ihn, als ich ungefähr elf Jahre alt war, und dann war er ein halbes Jahr von Zuhause fort. Mittlerweile kann ich mir denken, wo er war. Nur Straftäter bekommen solche Strichcodes in den linken Unterarm eintätowiert, darunter eine Kennziffer und das Kennzeichen ihres Bezirks. In seinem Fall war es ein großes „J“, sorgsam in schwarz in seine Haut gebracht. Ich werde es niemals vergessen und wahrscheinlich werde ich nun immer daran denken müssen, wenn ich mir meinen Arm ansehe. Die Wunde wird zwar verheilen, dennoch wird eine Narbe zurückbleiben, denn ich habe schon immer zur Narbenbildung geneigt. Schwaches Bindegewebe.

Die Strichcodes erfüllen einen einfachen Zweck: Identifikation und Stigmatisierung in unserer Gesellschaft. Wenn man von der Polizei gestoppt wird, weil man zu schnell fährt, in eine Schlägerei verwickelt wird oder einfach bloß verdächtig aussieht, zücken sie ihren Scanner und checken deinen Arm. Sie wissen direkt, wer du bist, wo du wohnst, mit wem du verheiratet bist oder warum du diesen Code hast. Und versuch bloß nicht, den Code mit einem Messer unkenntlich zu machen. Du unterschreibst damit lediglich dein eigenes Todesurteil.

Aktuell spielt die Regierung, sprich Humbert damit, der gesamte Menschheit solch einen Strichcode in den Unterarm zu verpassen. Damit wäre die Überwachung vollkommen und die Privatsphäre vollkommen ausgelöscht. Ich glaube jedoch nicht, dass es so kommen wird. Jedenfalls noch nicht, denn selbst, wenn wir viel ertragen, wird der Tag kommen, an dem das Maß voll sein wird. Und dann gehen wir auf die Barrikaden.

Spätestens, wenn Humbert, der alte Fettsack, abkratzt, wird es soweit sein. Dann wird die Schlacht um die vollkommene Macht beginnen und die Assistenten und die Bezirksabgeordneten werden sich gegenseitig an die Gurgel gehen. Zwar mag ich erst fünfzehn Jahre alt sein – dennoch bin ich mit bewusst, wozu Menschen fähig sein können. Ich habe die schlechten Seiten der Menschheit gesehen, beinahe jeden Tag. Zuhause, in der Schule, auf dem Schulweg, in meiner Freizeit. Die Gesellschaft ist so verdorben wie sonst noch nie – die Zwanzigerjahre wahren bis jetzt die beste Zeit der Menschheit, wenn man mich fragt. In der Zeit war die Toleranz einfach am größten, man war ausgelassen, man hat gefeiert, man hat gelebt – zugegen, nur, wenn man es sich leisten konnte. Seid dem Atomkrieg sind wir sozial wieder im achtzehnten Jahrhundert angekommen. Es fehlt lediglich, dass sie wieder ein Dreiständesystem einführen, um ihr totalitäres Regime zu perfektionieren.

Sollen sie doch. Viel ändern wird sich sowieso nicht.

Der Resistance wird weiterleben. Und wir mit ihm, selbst wenn wir dafür umgebracht werden sollten. Sobald ein kleiner Funke Hoffnung vorhanden ist, durchströmt er uns alle und ist nicht mehr unterzukriegen. Schon gar nicht von Humbert, der sich seine Macht nicht einmal ehrlich aufgebaut, sondern von seinem Vater geerbt hat. Er war es nämlich, der nach dem Krieg groß rauskam.

Und überschnappte.
 

„Seht den großen Meister an und schaut her, was ich hier habe!“

Es ist der dreiundzwanzigste September 1984 und ich stehe in dem Zimmer, welches ich mir zusammen mit meinen Geschwistern und meiner burschikosen Cousine Mary teile. Mary sitzt an Schulaufgaben, Lucy und Emily jedoch, neunjährig, hocken in ihren beinahe bodenlangen Röcken auf dem Boden und spiele mit zwei Stoffpuppen. Jetzt jedoch ist ihr Interesse bezüglich dieses Spiels verschwunden, sie mustern mich.

Die Arme habe ich hinter dem Rücken, halte eine Schachtel Pralinen fest in der Hand. Ich zittere noch immer ein wenig, weil ich so schnell laufen musste und angestrengt bin, aber als ich den Behälter vorzeige, huscht Augenblicklich Kinderfreude über die jungen Gesichter.

Mit einem leisen Aufschrei sind meine Geschwister aufgesprungen und bei mir, rupfen mir die ungeöffnete Schachtel importierter Edelpralinen aus der Hand – es gibt Tatsächlich Leute in diesem Land, die sich solch einen Luxus leisten können – und reißen die Verpackung auf, heben den Deckel herunter und starren auf die verschiedenen Pralinensorten. So etwas haben sie noch nie gesehen in ihrem kurzen Leben. Ich muss lächeln, streiche Emily mit einer Hand vorsichtig über das Haar und erwidere ihr Strahlen mit einem Augenzwinkern. Meine kleine Schwester – sie ist etwas ganz besonderes.

Mary hingegen, das blonde Haar zu einem Zopf gebunden, lässt ihren Bleistift sinken und starrt mich überrascht und leicht misstrauisch an. Sie freut sich über die Pralinen, das ist mir glasklar, aber sie weiß auch, was dahinter steckt.

„Joshua?“, fragt sie leise und streicht sich mit ihren Händen über den karierten Rock. Er stammt von einer Schuluniform für Hochschüler. Nicht, dass wir jemals eine Schuluniform für Hochschüler besessen hätten. Aber Mary ist geschickt. Inzwischen ist der Rock nur noch knielang, darunter trägt sie schwarze Stiefel, zerrissene Strumpfhosen, einen Pullover mit breitem, kreisförmigen Ausschnitt.

Alexander interessiert es nicht, wie sie rumläuft, er hasst sie. Nur Rachel regt sich manchmal auf. Aber momentan schläft sie.

Sie steht auf, nimmt den Zwillingen die Schachtel aus der Hand und betrachtet das Herstellerlogo.

„Die hast du aus dem Delikatessengeschäft aus der Innenstadt, nicht?“, fragt sie und blickt mich aus den blauen Augen an. Sie ist heute wieder so ruhig, so unentschlossen und melancholisch, dass ich sie nicht fragen brauche, um zu wissen, was Alexander heute wieder mit ihr angestellt hat. Dieser ekelhafte Kerl, der nur an sich und seinen Alkohol denkt.

Ein schwaches Nicken kommt von mir und ich lege kurz einen Arm um sie, ziehe sie an mich und verpasse ihr eine Schwache Kopfnuss.

„Musste schnell laufen, um die Dinger heil nach Hause zu bekommen.“

„Elender Dieb“, ist ihre Antwort, mit einem sarkastischen Unterton. Sie gibt die Pralinen zurück an die Zwillinge, welche sich direkt darüber hermachen. So etwas gibt es im Hause Miller selten. Sehr selten.

„Als ob du besser währest!“

Ich kneife sie in die Seite, sie lacht und springt zur Seite, verschränkt die Arme und schüttelt den Kopf, als sei es zwecklos, mich zu belehren. Für ein paar Sekunden ist es wieder da – das Funkeln in ihren Augen. Als sie sich zurück an den Schreibtisch setzt, erlischt es wieder. Lediglich das Häufchen Elend sitzt dort, die kleine, missbrauchte Cousine, welche eigentlich gar nichts dafür kann, dass sie hier bei uns ist.

Ich wüsste nicht, wie mein Leben aussähe, wenn ihre Eltern noch leben würden. Wahrscheinlich würde sie ein nettes braves Mädchen im englischen Bezirk sein, zu einer Privatschule gehen und eine einigermaßen anständige Ausbildung genießen. Reich sein. Arrogant sein?

Es ist gut, dass sie hier ist, schießt es mir durch den Kopf, denn sie ist die Einzige, die mir hier einigermaßen halt gibt.

Mein Blick schweift umher in dem kleinen Zimmer. Der Kleiderschrank ist gefüllt, der Bücherregal auch. Selbst ein paar Puppen liegen achtlos verstreut auf dem Boden, was nicht heißt, dass Emily und Lucy sie schlecht behandeln. Sie sind vernarrt in sie. Und nicht eine davon ist ehrlich erworben worden.

Mary und ich klauen, seid ich denken kann. Hiervon etwas, davon etwas. Mittlerweile wissen wir, was die Konsequenzen sind, wenn sie uns erwischen, aber uns interessiert das nicht die Bohne. In der Hinsicht sind wir egoistisch und sagen: Wir haben nichts zu verlieren! Haben wir auch nicht. Lediglich die Zwillinge würden ein zweites paar Eltern verlieren, uns nämlich.

„Lasst uns aber etwas übrig“, lache ich, wenn ich die Kleinen so ansehe, die über der Packung hängen – sie hat zwei Schichten Pralinen – kauen und nicken. Mary und ich können es heute Abend nicht gebrauchen, wenn die beiden kotzend über der Toilettenschüssel hängen und wir uns kümmern müssen, denn wir wollen heute Nacht wieder raus in die Gosse, uns herumtreiben, ein bisschen Ärger machen, uns ablenken.
 

„JOSHUA!“
 

Binnen Sekundenbruchteilen verfliegt die aufgelockerte und heitere Stimmung in unserem kleinen Zimmer. Man kann förmlich sehen, wie den Zwillingen die Schokolade im Munde stecken bleibt. Mary bricht die Spitze ihres Bleistiftes ab, sie zuckt zusammen und hebt den Kopf, blickt verschreckt zur Tür. In mir verkrampft sich alles. Ängstlich erwidere ich den Blickkontakt meiner Cousine. Schweigen.

Alexander brüllt noch einmal.

„Geh schon!“, flüstert Mary in einem eindringlichen Ton und scheucht mich mit der Gestik ihrer Hände zur Tür hinaus. Ich brauche einige Momente, um mich zu fangen. Wenn Alexander so ruft, heißt es meistens nichts Gutes. Ich will nicht zu Alexander. Wenn er einfach kommen und mich holen würde, wäre es nur halb so schlimm. Aber so… so muss ich selbst in das Zimmer meines Vaters gehen, wohlwissend, dass es sehr schmerzhaft werden wird.

„Geh, Josh, sonst kommt er noch rein! Hau ab!“

Erneut nicke ich schwach. Wenn er hier reinkäme und sehen würde, wie verkorkst seine Kinder doch wären. Das sie Diebe wären – er würde uns das Zimmer kurz und klein schlagen.

Meine Beine sind tonnenschwer, als ich sie zur Tür bewege, die Hand auf die Klinke lege und sie hinunterdrücke. Ein letzter Blick über die Schulter.

„Bis nachher.“

Dann bin ich draußen und mache mich auf den Weg in unser Wohnzimmer. Eigentlich sind es lediglich zehn Meter, die man über den Flur zurücklegen muss, doch diesmal kommt mir diese Strecke elendig lang vor. Mir ist nicht genau klar, was jetzt kommt, aber es ist nicht gut, das weiß ich.

Es ist nicht gut.

Es ist, als würde man freiwillig zu einem hungrigen Tiger in den Käfig steigen. Tiger – gibt es überhaupt noch welche?

„Alexander?“

Das Wohnzimmer liegt in einem matten Dunkel, dabei ist es Herbst und früher Nachmittag. Man hat die dreckigen Vorhänge zugezogen, das Zimmer ist in einen bläulichen Schein gehüllt und sieht nicht ganz so verdreckt aus wie sonst. Unsicher stehe ich in der Tür, trete von einem Bein aufs andere.

„Dad“, korrigiert er mich, ohne aufzublicken. Sein Tonfall ist beinahe nüchtern, das Zimmer wirkt bei genauerer Betrachtung beinahe aufgeräumt. Zwei leere Flaschen stehen unter dem Wohnzimmertisch, doch dieser ist bis auf einige kleine Ausnahmen leergeräumt. Kein Aschenbecher, keine Gläser, nur eine Rolle Küchenpapier und ein kleines Plättchen, verborgen in einem Umschlag aus Papier. Winzig, nur einige Zentimeter groß. Ich kenne diese Art der Verpackung und augenblicklich wird meine Kehle von einem unsichtbaren Seil abgeschnürt. Ich ringe nach Luft, taumele ein wenig und stolpere ins Zimmer hinein. Bloß einen Schritt, doch er genügt, um meinen Vater zum Reden zu bringen.

„Mach die Tür zu“, weißt er mich an. „Schließ ab. Gib mir den Schlüssel.“

Ich möchte die Tür aufreißen und raus aus diesem Zimmer. Stattdessen tue ich genau das, was er mir befohlen hat. Als ich mit zittrigen Fingern den Schlüssel im Schloss herumdrehe, komme ich mir vor wie ein Tier in der Falle. Es gibt kein Entrinnen mehr und wie in einem verzweifelten Suizidversuch überreiche ich meinem Vater den Schlüssel, meine einzige Möglichkeit hinaus in die Freiheit. Er schiebt ihn unbeachtet in die Hosentasche, nickt mir zu und bedeutet mir, mein Hemd auszuziehen.

Schlagartig schnellen meine Augenbrauen in die Höhe.

Ich soll was? Adrenalin pulsiert in meinen Adern, treibt mir den Schweiß auf die Stirn und macht mich ruhelos. Meine dünnen Ärmchen habe ich verschränkt und an die Brust gedrückt, das mittellange schwarze Haar fällt mir ins Gesicht und verleit mir einen Tunnelblick. Nein, er unterstützt ihn bloß, ich habe ihn schon.

Wie ein verängstigtes Kaninchen stehe ich vor meinem Vater, betrachte sein Haar, welches er ungefähr so trägt wie ich, seine stahlgrauen Augen, die, im Gegensatz zu sonst, eine merkwürdige Ruhe ausstrahlen. Er scheint wirklich einmal halbwegs nüchtern zu sein, oh mein Gott. Den Dreitagebart hat er trotzdem behalten.

„Oh Joshua“, seufzt er mit seiner rauen Raucherstimme und hebt die Hand. Eine friedliche Geste.

„Du weißt doch, dass ich dich lieb habe. Komm schon, zieh dein Hemd aus und setz dich zu mir auf die Couch.“

Es kommt so aufrichtig rüber. Er wirkt so… verletzlich in diesem Moment, wie er mich anschaut, mit diesen großen Augen, dem schwarzen Haar. Es ist nicht ganz so glatt wie meins, leicht gelockt, aber man kann es nicht leugnen – ich bin ihm wie aus dem Gesicht geschnitten.

Eine schwarze Couch in Lederoptik.

Irritiert mustere ich weiterhin meinen Vater, weiß meine Chance jedoch bald zu nutzen und tue, was er sagt. Wer weiß, wie er wieder werden wird, wenn ich mein Hemd anlasse und versuche, zu türmen. Wenn ich einfach das tue, was ich tief in meinem Inneren am liebsten tun will.

Ich will es mir gar nicht ausmalen, beginne schließlich, mit meinen knochigen, schlanken Fingern die perlmuttfarbenen Knöpfe zu öffnen, lasse es auf den Boden fallen und tigere zu meinem Vater, wo ich mich neben ihm auf die Couch niederlasse und voll innerer Ungeduld auf das Kommende warte.

Meine Jeanshose sitzt mir auf Hüfte und auch der Gürtel kann nicht verhindern, dass sie hin und wieder einfach etwas rutscht. Ich ziehe sie also mit zwei Fingern bewusst wieder hoch, als ich mich hinsetze. Das klassische Benehmen eines leicht verstörten Teenagers mit einem BMI von 17.

Ohne großartig zu zögern greift mein Vater nach meinen Schultern, welche er ohne Probleme mit seinen Händen umschließen kann und dreht mich zur Seite. Mein Rücken zeigt nun zu ihm. Ich kann ihn nicht sehen, ich weiß nicht, was nun mit mir geschehen wird.

Zu guter letzt beginne ich auch noch zu zittern. Ich habe Angst, mir ist kalt. Ich will hier weg. Und mein Herz schlägt mir bis zum Hals.

Ein paar Sekunden lang geschieht gar nichts.

Lediglich die Kälte zaubert mir eine Gänsehaut auf die Arme. Und hinter mir kramt jemand. Ich kann genau hören, wie der Papierumschlag geöffnet und das, was sich darin befindet, herausgeholt wird.

Dann spüre ich es, als würde mir jemand mit einer siedendheißen Nadel über den Rücken fahren. Er bringt mir einen knapp 3 Zentimeter langen Schnitt im oberen Bereich meines Rückens bei.

Als ich zusammenzucke und einen Laut des Schmerzes von mir gebe, reißt er ein paar der Papiertücher von der Rolle, greift meinen Arm, dreht ihn mir auf den Rücken und stopft mir die Tücher in den Mund. Dann, als ich mich nicht mehr wehren kann, fährt er weiter fort mit seinem schmutzigen Werk. Natürlich nicht, ohne mit weiterhin zu versichern, wie gern er mich doch hat. Wie schön ich sein kann. Wie unverstanden er ist, ich einmal sein werde. Und das ich ihm hierfür einmal dankbar sein werde, da Schmerz aus Liebe entsteht. Oder war es anders herum?

Vierundzwanzig Schnitte fügt er mir zu, tiefe Schnitte, lange Schnitte. Es fühlt sich an, als würde er etwas schreiben, doch in Wirklichkeit fühle ich nach dem fünften Schnitt nur noch ein dumpfes Pochen in meinen Schultern. Etwas warmes, nasses rinnt meinen Rücken hinab, zaubert mir eine erneute Gänsehaut auf meine Unterarme und meine Brust. Dann reißt jemand neue Tücher von der Küchenpapierrolle, tupft mir das Nasse vom Rücken, was mich die Zähne noch einmal zusammenbeißen lässt, denn es brennt.

Stille.

Jemand steht auf, entriegelt die Tür, verlässt den Raum.

Und wieder bin ich allein. Allein mit meinem geschundenen Rücken, meinen Gefühlen und meinen Tränen, die genau in diesem Moment zu laufen beginnen. Als hätte jemand auf einen unsichtbaren Knopf in meiner Seele gedrückt.

Schluchzend schwanke ich zurück zu unserem Zimmer, klopfe an, schiebe meinen Kopf hinein und frage Mary, ob es ihr vielleicht möglich wäre, mir zu helfen. Sie ist es, die mir die Wunden verarztet und meine Tränen trocknet. Die Zwillinge werden niemals etwas davon erfahren.
 

„’Freedom’ hat er in meinen Rücken geschrieben“, flüstere ich leise und tonlos und schaue wieder hinaus zu Stadt. Es ist Nacht, meine Geschwister und Mary schlafen inzwischen. Kaum waren sie eingeschlafen, bin ich aus dem Badezimmer herausgehuscht und habe meinen Stammplatz am Fenster wieder eingenommen. Die meisten Menschen mögen mittlerweile schlafen, doch das rege Treiben in der Stadt hat noch immer nicht abgenommen. Jetzt ist der Untergrund dran, präsent zu sein. Drogendealerei, Menschenhandel, Prostitution, Geldfälscherei, Glücksspiel… ich könnte meine Liste ewig so weiterführen.

„Ich weiß“, gibt Zukunft zurück. Er steht hinter mir, hat die Hände in den Hosentaschen vergraben und betrachtet mit mir das Schauspiel. Es scheint ihn genauso zu faszinieren wie mich. Faszinierend.

Ich weiß gar nicht, wann er hier aufgetaucht ist, plötzlich stand er einfach neben mir und sah mir zu, beobachtete mich. Inzwischen ist das beinahe zwei Stunden her.

Ich war derjenige, der gerade eben das Schweigen gebrochen hat.

„Hast du schon einmal darüber nachgedacht, dass Alexander eventuell zu den wenigen Menschen hier gehört, die einigermaßen klar im Kopf sind… oder waren?“

Ein sarkastisches, leises Lachen huscht beinahe lautlos über meine Lippen und verhallt in der Dunkelheit.

„Er hat ‚Freedom’ in meinen Rücken geritzt. Mit einer Rasierklinge. Die Narben sind bis heute nicht verblasst und es ist schon zwei Jahre her. Glaub mir… wenn einer nicht normal war, dann war er es.“

Schweigend streiche ich mir eine der schwarzen Strähnen aus dem Gesicht, klemme sie mir hinters Ohr und lehne die Stirn gegen die Scheibe. Angenehm kühl schmiegt sie sich an meine Haut. Soll er doch reden, es interessiert mich nicht. Meine Meinung über Alexander hat sich über die Jahre gefestigt und wird sich höchstwahrscheinlich auch niemals ändern.

Er ist einfach zu egoistisch, als das man Gefallen an ihm finden könnte. Ich frage mich bis heute, wie meine Mutter es konnte – noch dazu, wo er um so vieles älter war als sie.

„Schau’s dir an, Joshua…“, flüstert Zukunft, geht einen Schritt nach vorne und stützt sich mit einer Hand an der Scheibe ab, während er hinaussieht. Ein beeindruckender junger Mann mit breiten Schultern und Ausstrahlung. Er wird viel durchgemacht haben, denke ich mir, so dünn, wie er aussieht.

„Die Menschen waren seid Anbeginn der Zeit Meister darin, sich selbst zu zerstören. Schau dir die ganzen Kriege an. Schau dir den letzten Weltkrieg an. Schau dir einfach diese Stadt hier an.“

Er schnippt mit den Fingern, und binnen weniger Sekunden erleuchtet die ganze Stadt in einem hellen grün.

„Man sieht die Spuren heute noch – und die Menschen sterben noch immer daran.

Joshua, du wirst genauso enden wie dein Vater, allein, weil dein Denken anders ist als das der Gesellschaft.

Du bist anders.“

Aus den Augenwinkeln wirft er mir einen Blick zu, der mich erschaudern lässt. Trotzdem bleibt meine Antwort ein einfaches „Pah.“

Ich würde nicht wie mein Vater werden.

Niemals.

+++++++++++++++++++++

Wegen diesem Kapitel hab ich durchgemacht.... ich bin jetzt 24 Stunden auf den Beinen, hab nur noch einmal grob drübergelesen etc pp... jedenfalls... nunja... ich mag Zukunft, aber das wisst ihr schon XD

Joshua gefällt mir in diesem Part auch sehr gut.

Wird er nun wahnsinnig? Wird ers nicht? Und was zum Teufel ist eigentlich mit seinen Haaren los?

Tja, wer weiß.... man liest sich ^^



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (4)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Chaos
2007-05-28T23:13:50+00:00 29.05.2007 01:13
wow diese Geschichte hat mich schwer beeindruckt. Ich hatte mich mal im Autoren zirkel so umgeschuat wie die anderen so schreiben udn bin so zu deiner Geschichte bekomen. Das war am fühen arbend, mitlerweile ist es ein uhr ind er nacht dun ich aheb sie fertig gelesen. Ich konnte einfach nicht aufhören so gut egshciben war sie. Ich bin sher gespannt wies weitergeht.
Von:  Chopperina
2007-05-22T14:24:46+00:00 22.05.2007 16:24
Hallo.
Ich bin durch Zufall auf diese Geschichte gestoßen und dachte mir: Ja, klingt ja ganz interessant.

Als ich sie dann gelesen hatte war ich beeindruckt. Wow, dein Schreibstil ist sehr beeindruckend. Das ist das krasseste, was ich je gelesen habe.

Die einzelnen Figuren sind sehr schön dargestellt und... Oh man, ich weiß gar nicht was ich schreiben soll. XD

Du musst dich echt gut mit dem Thema auseinandergesetzt haben, als du diese Geschichte geschrieben hast. Sie ist einfach nur beeindruckend.

Hm... ich merke schon, ich bin kein großer Kommi-schreiber. Tut mir leid. Ich bin aufjedenfall sehr überwältigt.
Von: abgemeldet
2007-04-05T19:58:02+00:00 05.04.2007 21:58
Beeindruckend.
Ich kann mich immer nur wiederholen. Ich bewundere dich wirklich dafür, was du hier zauberst. Ich dachte immer ich kann gut schreiben, aber wenn ich mir das so durchlese - Kap für Kap - verblasst diese Anschauung immer mehr.
Du hast echt saumäßig viel Talent. Das ist schon gar nicht mehr war du Schreibgöttin du. >_<
Nee, aber echt jetzt.
Ich dachte erst 'Verdammt, soviele Wörter' und dann war ich so schnell fertig, dass ich dachte es seien nur 3000 oder so gewesen.
So schreibst du.... man vergisst völlig die zeit, weil man so verdammt konzentriert auf das ist, was passiert, weil man mitfiebert, sich hineinversetzt, mitdenkt und sich alles mögliche ausmalt, vorstellt...
Das ist so faszinierend, dass es beinahe schon wieder beängstigend ist.
Joa.... aber mal zum Kap an sich.

Am besten fand ich wirklich diese reflexion - dieses Gespräch zwischen Josh und Zukunft, wie er es nennt. Wirklich krass dieser Dialog über das Verrückt sein, wie Josh es immer weiter abstreitet, aber doch mittendrin steckt im Wahnsinn. Das ist wirklich krass und ich finde es verdammt geil, wie du es darstellst, weil ich ganz genau weiß, dass ich eben das wohl nie könnte.
ich würds echt gern von dir lernen, aber jedes Mal wenn ichs versuch, verblasst es wieder, wenn ich ein nächstes kap von dir les, weil du es halt wirklich beherrschst.
Wenn du dafür keinen Verlag findest, ann gründ ich einen und verlegs dir sogar kostenlos, weil ich mir voll sicher bin, dass dieses Werk das zeug zu nem Bestseller hsat.
Oh man~
ich hab schon soviel gelesen, aber das hier ist echt.... boah~
*sprachlos desu*
*kommie ankuck*
Also naja~ ich bin symbolisch sprachlos.
Neeee... wirklich toll~ Gut fand ich auch diese wirtschaftlichen Dinge. Wie du erklärt hast, was Phase ist, was Josh unter einem Staat versteht, einfach die geschichte von damals reflektierst. Finde ich gut, vor allem, weil ich als ehemaliger geschichtsleistungskursler nix dran auszusetzen habe~
Mach weiter so~
ich bin gespannt und weiterhin dein größer Fan~
das geht gar nicht anders^^
Also bis bald~

jenki
Von:  Kaylean
2007-04-04T12:10:05+00:00 04.04.2007 14:10
Ich kann nichts anderes schreiben als: Grandios!

Die Story schreitet weiter voran, es wird mehr erzählt, mehr verdeutlich.
Die Sache mit seinen Haaren und seinen Augen beginnt sich also endlich Stück für Stück aufzuklären. Ich kann Josh verstehn, wenn meine Haare plötzlich anfangen würden... ich würd abdrehn XD'
Mh, gehen wir mal etwas reihenfolgenmässiger an dieses Kapitel. Ich mag den Anfang, auch diese Spannung zwischen Mary und Joshua, die sich über das gesamte Kapitel hindurchziehen. Du hast völlig recht (das kennen wir ja auch irgendwoher XD) man kann den selben bzw. die selben Menschen nicht 24 Stunden am Tag ertragen und das ist nunmal so ôô haben wir ja oft genug erlebt XD'
Das Zwischenspiel von Emily und Josh trifft meinen Nerv natürlich wieder vollkommen, du weißt ja, wie sehr ich diesen Teil von BBS mag. 3 Kilogram leichter war die Kleine also, an sich ja nichts so dramatisches, mal abgesehen davon mit 11 Jahren nur 33 zu wiegen, schon wirklich nicht viel ist... aber 3 Kilo bedeuten auch fast eine Woche weniger erwartete Lebenszeit.
Ganz groß und wichtig in diesem Teil natürlich Josuhas Besuch im Badezimmer, wo er mit dem Spiegel redete und ihn schließlich zertrümmert. Der Spiegel scheint ein Teil seiner Persönlichkeit zu sein, der verstanden hat, dass Josh langsam aber sicher verrückt wird. Aber man merkt nicht, wenn man abdreht. Man merkt es nicht selbst.
Du streust auch sehr gut ein, was mit Josh Haaren passiert (wobei man wirklich sorgfältig mitlesen und mitdenken muss, da du es wunderbar einfach so nebenbei fallen lässt und es doch total wichtig ist und Josh selbst regelrecht aus der Bahn wirft.) und natürlich die Augen.
Wie Mary dann hineinkommt: Grandios, diese Szene **~ die beiden, welche sich eigentlich so gut verstehn~
Und dann das Zwischenspiel in der Vergangenheit, wie er seinen Schwestern die Pralinen gibt. Ich konnte ihre strahlenden Augen regelrecht vor mir sehen, wie sie sich glücklich schätzen und sich einfach nur freuten. Wie du Marys Aussehen beschreibst, mit dem Rock, den Springern (auch sehr schön, wo du erzählst, sie nimmt auch an den Beinen ab), das ist eben Mary wie sie ist. *Mary knuff*
Aber vorallem auch wie du Marys Verhalten beschreibst, nachdem Alex sie missbraucht hat, wie Josh das ganze wahrnimmt und als der Ruf von Alexander kam, ist auch mir fast das Herz stehen geblieben.
Die Idee, Josh bezeichnet ihn und Mary als Elternersatz für die Zwillinge ist auch sehr passend.

Dann natürlich die - wie ich finde, und du wohl auch - wichtig Szene in der Alexander sich an Josh Haut zu schaffen macht. Bei der Szene lief mir ein Schauder über den Rücken, gut beschrieben.
Auch wie er nur Mary ruft um sich danach verarzten zu lassen. Die Zwillinge würden es nicht erfahren **~ So kleine Sachen, finde ich sagen viel aus. Er will die Zwillinge einfach behüten, genauso wie Mary das will, während sie und Josh stehlen und sich im Untergrund herumtreiben, eben auch um den Zwillingen teilweise das zu bieten. Und der Untergrund für Josh und Mary, damit sie nicht verrückt werden.

Und dann ist da natürlich die letzte Szene, in der Zukunft wieder einen Auftritt hat. "Freedom" auf dem Rücken von Josh... die Narben nicht verblasst~ und wie Josh seine Zukunft betrachtet, was er von ihm hält, von ihm denkt... sehr vielsagend irgendwie schon oo
Die Szene ist an sich einfach nur großartig.

lg
Ina


Zurück