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One Wish

von

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Kapitel II - Die andere Seite

Und weiter geht’s! Jetzt geht das Abenteuer für Kitai, meine Negation eines Fantasyhelden, wie ich ihn liebevoll nenne, erst richtig los. Alles in allem ein Kapitel, in dem so einiges passiert, Blut und Eingeweide inbegriffen. Und eigentlich ist es nicht Kitai, der in diesem Kapitel seinen großen Auftritt hat…

Einige Szenen waren anstrengend zu schreiben, aber jetzt bin ich doch recht glücklich damit. Jetzt lade ich es endlich hoch – zu Ehren des ersten und bislang einzigen One Wish-Cosplays, das ich dieses Jahr auf der Ani getragen habe. Ah, und was ich noch erwähnen muss: Ich LIEBE das Ende dieses Kapitels! Hell yeah! Aber auch mit allem anderen… viel Spaß. ^^
 

Kitai hatte sich oft gefragt, ob selbst seine Rationalität Grenzen hatte. Ob es Situationen gab, in denen sogar er an seinem logischen Verstand zu zweifeln beginnen und… na, beispielsweise einfach in ein hysterisches, durch und durch wahnsinniges Lachen ausbrechen würde. Als Kitai jetzt aufblickte und sah, was er eben sah, stellte er in Gedanken fest, dass genau dies eine solche Situation war, in der definitiv keine andere Reaktion als ein hysterisches, durch und durch wahnsinniges Lachen angebracht gewesen wäre. Und tatsächlich war er fassungslos, wie erstarrt, aber er war es auf eine so unspektakuläre Weise, als ob… ihn ein Wildfremder auf offener Straße grundlos beleidigt hätte. Beispielsweise. Oder als ob ein neugekauftes Elektrogerät gleich beim ersten Benutzen den Geist aufgeben hätte.

Neben Kitai stand nämlich nicht etwa ein Samurai, sondern gleich vier. Sie sahen immerhin nicht ganz so tödlich aus wie seine erste unliebsame Bekanntschaft, aber auch nicht unbedingt wie Menschen, denen man allein im Dunkeln begegnen wollte, wenn man nicht gerade eine Magnum oder einen Elektroschocker in der Hosentasche hatte. Sie waren ganz in Schwarz gekleidet, vom Hakama über den Kimono bis zum etwa knielangen Haori, ihrer offenen Uniformjacke. Im Gegensatz zu Kitai waren sie auch sehr wohl bewaffnet, zwar nicht mit Magnums und Elektroschockern, aber immerhin mit Katana und Wakizashi – langen und kurzen Samuraischwertern. Und das war auch nicht gerade beruhigend.

„Wo ist er?“, fragte… oder vielmehr schrie einer der Männer, ein grobschlächtiger Kleiderschrank mit wie zugeschwollen wirkenden Augen und einem etwas schiefen Haarknoten am Hinterkopf. Hätte man die Haare weggelassen und die Kleidung und Waffen ein wenig, na, modernisiert, hätte er problemlos als einer der Schläger durchgehen können, die manchmal vor dem Bahnhofsgebäude von Atacca Falls herumlungerten und vor denen man die Kinder in den Vororten stets besonders eindringlich warnte. Sein Blick erzählte stumm von Vorstrafenregistern und Beschaffungskriminalität. Kitai merkte, wie ihm das Lächeln auf den Lippen gefror.

„Ich… ich weiß es nicht“, murmelte er, weil ihm zu lauteren Worten der Atem fehlte, und es wunderte ihn, wie ruhig er dennoch klang. „Ich… ich bin vor ihm davongelaufen. Er wollte mich umbringen. Bitte, Sie müssen mir glauben, ich habe mit diesem Wahnsinnigen nichts zu tun!“

Was ja eigentlich sogar der Wahrheit entsprach. Kitai verstand selbst nicht, warum er sich bei diesen Worten wie ein leidlich talentierter Lügner vorkam. Dabei war Lügen doch genau genommen das Talent, das unter seinen vielen mehr oder weniger ausgeprägten Begabungen die größte, die leuchtendste, die wichtigste war. Normalerweise. Aber wenn Kitai jetzt in die dunklen, stechenden Augen der Krieger blickte, die ihn umzingelt hatten, wurde selbst er ein bisschen nervös.

„Wo ist er?“, wiederholte der Mann in Schwarz. Kitai stellte mit leisem Bedauern fest, dass sein Gegenüber seine Worte wohl nicht viel überzeugender fand als er selbst. Er atmete unauffällig tief durch und bemühte sich um einen flehenden bis verstörten Blick.

„Bitte, Sie müssen mir glauben!“, stieß er betont mühevoll hervor, während er sich im Stillen fragte, wieso um alles in der Welt er sich jetzt eigentlich noch darum bemühen musste, flehend und verstört dreinzublicken. „Ich bin auf der Flucht, er… er hätte mich fast getötet! Oh bitte, bitte, Sie müssen wir helfen!!“

Der Samurai zückte seine Waffe. Sein Katana, um genau zu sein. Offensichtlich war dieser Dämon in… so etwas ähnlichem wie Menschengestalt, dem er kurz zuvor begegnet war, nicht der Einzige, bei dem die Klinge eher locker saß.

„Beeil dich“, drängte einer der Männer im Hintergrund. „Sonst entkommt er uns wieder. Ich hab keine Lust drauf, vom Vize zum Seppuku verurteilt zu werden, nur weil er uns jetzt abhaut und sich irgendwo in den Wäldern verkriecht!“

„Halt den Mund“, grunzte der Grobschlächtige, und schon wieder fühlte Kitai sich an den Haaren gepackt und hochgerissen. Wieder wurde ihm eine Klinge an den Hals gesetzt, aber so weit war er in Gedanken noch gar nicht, er war noch gänzlich mit der bitteren Erkenntnis beschäftigt, dass er seine Haare verdammt noch mal endlich waschen musste, nach diesem Regenguss und dem Dreck im Wald und wo er doch ständig daran herumgezerrt wurde, noch dazu von brutalen Menschen mit schmutzigen Fingern. Dann aber spürte er den Stahl an seinem Hals nur umso deutlicher. Er war so scharf, dass er ihm in die Haut schnitt, dass feuchte Wärme über seine Haut lief, und dann im nächsten Augenblick war da noch mehr Wärme, viel mehr Wärme, und Kitai fiel zu Boden.

Der Samurai hatte ihn nicht losgelassen. Seine rauen Finger hielten Kitais weiße Haare nach wie vor fest umschlossen, was diesem zunächst einmal ein Rätsel war. Bis Kitai den Kopf ein bisschen hob und den Mann ansah – oder ansehen wollte, denn da war überhaupt kein Blick mehr, den er hätte erwidern können. Der Körper des Kriegers lag neben ihm im Gras, nach dem Kopf musste Kitai erst suchen, fand ihn aber relativ schnell und nur knapp anderthalb Meter von ihm entfernt, im Schatten eines Baumes liegend.

Kitai schnappte nach Luft. Langsam, ganz langsam hob er die Hand und strich sich über die Wange. Klebrige Flüssigkeit bedeckte seine Fingerspitzen, und es war keine große Überraschung, dass diese Flüssigkeit tiefrot war und eigentümlich metallisch roch. Kitai wunderte sich vielmehr, dass er diesen Geruch nicht schon viel früher erkannt hatte, wo er sich doch so tief, so unglaublich tief in sein Gedächtnis eingebrannt hatte, dass er sich sicher gewesen war, ihn niemals wieder vergessen zu können. Nicht einfach nur der Geruch von Blut, sondern der Geruch von viel, von verdammt viel Blut. Es war überall. Das Gras, in dem zuvor noch Tautropfen und die Überreste des Regengusses geglitzert hatten, war jetzt mit einem schweren dunklen Tuch bedeckt. Kitais Gesicht war blutüberströmt, ebenso seine Haare, nun auch seine Hände, und außerdem lief es ihm über das Kinn und den Hals hinab. Auf seine sowieso schon blutige Kleidung.

Und das war erst der Anfang.

Kitai stieß ein ersticktes Keuchen aus, riss sich, nun seinerseits reichlich unsanft, die Hand des Toten aus den Haaren und kam mit einem Satz auf die Beine. Taumelte zum zweiten Mal gegen denselben Baum. Presste sich gegen den Stamm, so fest er konnte, um nicht wieder daran herabzusinken. Fuhr mit den Fingerspitzen langsam, ganz langsam, aber im wahrsten Sinne des Wortes mit Nachdruck über die erstaunlich trockene Rinde, bis es nicht mehr nur fremdes Blut war, das ihm an den Händen klebte. Und nahm von all dem nichts, aber auch gar nichts wahr, weil nicht nur sein Blick, sondern seine ganze Wahrnehmung von einem ebenso grausamen wie fesselnden Schauspiel gefangen war, das sich nur wenige Meter von ihm entfernt auf der kleinen Waldlichtung ereignete.

Das Ganze dauerte kaum mehr als zwei oder drei Minuten. Zwischen die düsteren Gestalten war eine weitere getreten… oder vielmehr gesprungen, war mit einem einzigen Satz aus den Schatten gekommen, um nun ein Schlachtfest zu zelebrieren, wie es Kitai selbst im Fernsehen selten erlebt hatte. Den zweiten der Krieger erledigte der Samurai des Todes, ebenso wie den ersten, mit einem einzigen Hieb, der ihn mittendurch teilte. Die beiden Überlebenden attackierten von zwei Seiten, mit lauten, kaum mehr menschlich klingenden Kampfesschreien, doch der Fleisch gewordene Alptraum wich einem der an sich recht präzisen Hiebe mit traumwandlerischer Sicherheit aus und schnitt dem zweiten Angreifer beinahe noch mit derselben Bewegung die Kehle durch.

Der Letzte gab sich nicht so schnell geschlagen. Er täuschte einen hohen Hieb an und stach dann blitzschnell in Richtung der Körpergegend, in der bei einem gewöhnlichen Menschen das Herz gelegen hätte. Der finstere Samurai parierte und schlug seinerseits zu, aber damit hatte sein Kontrahent bereits gerechnet. Er vollführte einen Hieb direkt auf die pechschwarze Klinge und nutzte die frei gewordene Angriffsfläche für einen gezielten Stich. Und er traf. Das Schwert nahm einen Fetzen des schmutzig schwarzen Kimonos und vermutlich auch einen guten Teil der darunter liegenden Haut mit.

Das war ein Fehler.

Jetzt konnte der angreifende Samurai seine Klinge nämlich nicht mehr schnell genug zurückziehen – um genau zu sein, er bekam noch nicht einmal die Gelegenheit, es auch nur zu versuchen. Der alptraumhafte Krieger hatte den Schlag nur nachlässig pariert, eher abgelenkt, und dann augenblicklich zugestochen. Der schwarze Stahl seines Katana durchbohrte die Brust seines Gegners, und der sank augenblicklich in sich zusammen. Es war unglaublich, ging es Kitai erstaunlich klar durch das dumpfe, nicht greifbare Chaos in seinem Kopf, mit was für einer Präzision der Samurai des Todes seine Feinde ums Leben brachte. Ohne eine einzige überflüssige Bewegung.

Die schneeweiße Haut des Mannes hatte sich blutig rot gefärbt. Seine Verbände waren von Blut durchtränkt, ebenso die Strähnen seines pechschwarzen Haares, die ihm vor das Gesicht fielen. Mit einer ruckartigen Bewegung wandte er sich zu Kitai um und fixierte ihn mit seinem einen schwarzen Auge, als ob er ihn mit diesem Blick ebenso durchbohren könnte wie zuvor die chancenlosen Angreifer. In diesem Auge lag eine so tödliche Kälte, dass Kitai sie mit keinen Worten der Welt hätte beschreiben können, eine Kälte, die nichts Menschliches mehr an sich hatte.

Das war das Letzte, was der Weißhaarige sah, bevor ihm schwarz vor Augen wurde.
 

Es war gleichzeitig warm und kalt.

Diesen Eindruck hatte Kitai, als er erwachte. Woher die Wärme und die Kälte kamen, war auch gar kein großes Mysterium. Einerseits war es schon wieder Nacht geworden, andererseits flackerte, nicht weit von ihm entfernt, ein sorgsam aufgetürmtes Lagerfeuer. Seltsamerweise fand sich Kitai sofort in der Wirklichkeit zurecht, obwohl seit dem Morgen bereits einige Stunden vergangen sein mussten, in denen er durch eine Finsternis geirrt war, an die er sich weder erinnern konnte noch wollte. Er hielt sich offenbar nach wie vor im selben Wald auf, allerdings nicht mehr auf einer Lichtung, umgeben von Blut und Leichenteilen und noch viel schlimmeren Dingen, sondern… eben irgendwo anders.

Hinter ihm war ein gigantischer Baum zu Boden gestürzt, überwuchert von Moos und Pilzen, das Wurzelwerk dem Dickicht zugewandt, dicht und ausladend wie ein zottiger, verfilzter Bart Er selbst lag auf dünnem, bräunlich grünem Gras, aber dort, wo das Feuer brannte, war der Untergrund steinig. Ein ziemlich trostloser Flecken Erde. Möglicherweise hatte hier erst vor kurzem ein Sturm gewütet und all die Äste und das Blattwerk von den Bäumen gerissen, die zusammen mit dem hier und dort recht schlammigen Boden einen modrig riechenden Teppich bildeten.

Darüber hinaus war Kitai gefesselt. Um seine Handgelenke war ein dickes, festes Seil gebunden. Außerdem trug er nicht mehr seine befleckte Kleidung, sondern einen schwarzen Kimono und einen dazu passenden Hakama, die vermutlich einem der getöteten Samurai gehört hatten. Sein Gesicht fühlte sich wieder sauber an, ebenso seine Hände, obwohl seine Fingerkuppen unangenehm brannten. Von dem Samurai des Todes fehlte jede Spur. Der Weißhaarige konnte kaum glauben, dass er von all dem, was sein Entführer in den vergangenen Stunden mit ihm angestellt haben musste, nicht das Geringste bemerkt hatte und aufgewacht war.

Allerdings gab es momentan auch eine Menge wichtigerer Dinge, als sich über die jüngste Vergangenheit den Kopf zu zerbrechen, also zog Kitai die Beine an, machte einen Rundrücken und holte Schwung mit dem Oberkörper, was zwar unzweifelhaft ziemlich dämlich aussah, ihn aber letzten Endes doch in eine sitzende Position brachte. Jetzt wurde es schwieriger. Obwohl er sich noch ein wenig benommen fühlte, stemmte Kitai seine Zehen gegen den Boden und rollte sich über die Fußballen ab, bis er auf den Sohlen hockte. Sofort erfüllte ein dumpfes Dröhnen wie Watte seinen Kopf, aber auf seinen Kreislauf konnte Kitai jetzt wirklich keine Rücksicht nehmen. Er wusste nicht, wie viel Zeit ihm noch blieb. Das lodernde Feuer und einige herumliegende Habseligkeiten verrieten ihm, dass sein alptraumhafter Geiselnehmer sich nicht für immer verabschiedet hatte. Mit einem tiefen Atemzug und dem nötigen Schwung drückte Kitai die Beine durch, um sich aufzurichten.

Er kam vielleicht einen Meter weit in die Höhe, bevor er überaus unsanft wieder auf den Boden der Tatsachen, beziehungsweise des Waldes zurückgerissen wurde. Kitai wollte sich herumwerfen, sich losreißen, aber jeder Widerstand war zwecklos. Der Weißhaarige schlug hart mit der Schulter auf und blieb mehrere Herzschläge lang benommen liegen. Als er sich dann endlich mühsam auf den Rücken drehte, um hinter sich zu blicken, stieg ihm eine unangenehme Wärme in die Wangen. Es war nicht etwa menschliche Gewalt, die ihn zu Fall gebracht hatte, sondern eine ganz simple Vorrichtung, die er peinlicherweise überhaupt nicht bemerkt hatte. Das Seil, das seine Handgelenke fesselte, war nämlich außerdem um den Stamm der Baumleiche hinter ihm gebunden. Nicht sonderlich kreativ, aber wirkungsvoll. Kitai versuchte eher halbherzig, den Knoten zu lösen, obwohl er eigentlich schon auf den ersten Blick erkannte, dass das aussichtslos war. Dann ließ er sich mit einem resignierten Seufzer wieder in die Hocke sinken.

Hier hatte offensichtlich jemand vorgesorgt, und Kitai blieb jetzt wohl nichts anderes übrig, als diese Anstrengungen zu würdigen und auf ebendiesen jemand zu warten. Der Weißhaarige hatte Warten noch nie gemocht, trotzdem war er sich nicht ganz sicher, ob er sich wirklich darüber freuen sollte, dass bereits nach relativ kurzer Zeit – in keinem Fall mehr als zehn Minuten – ein leises Rascheln im Unterholz zu hören war. Nach wenigen weiteren Sekunden trat dann auch schon der Samurai des Todes aus den Schatten des Dickichts hervor. Kitai war ein weiteres Mal überrascht davon, wie geschickt und wie leise sich dieser große und durchtrainierte Mensch bewegen konnte.

Auch er musste einem der Toten die Kleidung abgenommen haben, denn er sah deutlich weniger heruntergekommen aus als bei ihrer letzten blutigen Begegnung auf der Waldlichtung. Außerdem hatte er die Verbände und sich selbst ausgiebig gewaschen. Sogar von den zahllosen Blutspuren war nicht mehr allzu viel übrig geblieben, weder auf der weißen Haut noch auf dem weißen Stoff. Sein Haar wirkte jetzt, da es nicht mehr von Blut und Schmutz verklebt und verkrustet war, fast noch ein bisschen länger und schwärzer. Kitai hatte zuvor nicht so recht darauf geachtet, aber nun konnte er unter den Bandagen und den Haaren, die die Bandagen verdecken sollten, und vor allem unter der starren, tödlichen Kälte erkennen, dass der Fremde einmal ein wirklich schönes Gesicht gehabt haben musste. Bevor… was auch immer geschehen war.

„Du bist wach“, stellte er fest, was allerdings nicht im Geringsten überrascht… was eigentlich überhaupt nicht wertend klang, sondern einfach nur wie das, was es vermutlich auch sein sollte: Eine simple Feststellung, ein lauter Gedanke. Auf jeden Fall nichts, worauf der Schwarzhaarige eine Reaktion erwartete. Er musterte Kitai nur ganz kurz, dann nahm er vor dem Lagerfeuer Platz. Der Anblick war merkwürdig, wobei Kitai nicht genau sagen konnte, weshalb. Der Fremde setzte sich in den Seiza, eine traditionelle japanische Sitzhaltung, die man von einem Samurai ja eigentlich erwarten konnte. Ganz besonders von einem, der sich offenbar gründlich im Jahrhundert geirrt hatte.

Es war nur so, dass Kitai noch nie zuvor einen so perfekten Seiza gesehen hatte. Er selbst war als Kind bei wichtigen Anlässen, bei Geschäftsessen und Ähnlichem, ab und an dazu gezwungen worden, so dazusitzen, auf den eigenen Unterschenkeln und Fersen kniend. Jetzt tat er das nur noch beim Kendô, und wenn er ganz ehrlich war, fand er diese Haltung nach wie vor nicht sonderlich bequem. Aber darum ging es auch überhaupt nicht. Kitai hatte schon wirklich viele Menschen im Seiza sitzen sehen und hatte es niemals als etwas Besonderes empfunden, aber jetzt… schon die Bewegungen, mit denen der Samurai des Todes sich hinsetzte. Die Art, wie er die Hände in den Schoß legte, wie er die Finger hielt, wie er vollkommen aufrecht dasaß, die Haltung seines Kopfes und sein Blick, das war… anders.

Kitai konnte es nicht so recht erklären, aber was er da gerade sah, passte ganz und gar nicht in das Bild, das er sich von dem düsteren Fremden bislang gemacht hatte. Natürlich, es war schon beeindruckend, wie er sich bewegte und vor allem mit welch zielgerichteter Tödlichkeit er gekämpft hatte, aber das hier… Kitai hasste pathetische Worte und Floskeln, dennoch bekam er den Gedanken nicht mehr aus dem Kopf, dass der Schwarzhaarige trotz all der Bandagen, der Wunden und der auch nicht wirklich sauberen Kleidung etwas so Würdevolles an sich hatte, wie er es noch nie zuvor bei einem Menschen gesehen hatte.

„Du musst etwas trinken“, stellte der Samurai des Todes nach einigen Augenblicken fest, von deren Verstreichen Kitai kaum Notiz genommen hatte, weil er viel zu sehr damit beschäftigt gewesen war, sein Gegenüber nicht allzu auffällig anzustarren. Dieses erhob sich wieder und zog aus seinem wohl zum großen Teil frisch erbeuteten Weggepäck einen ledernen Schlauch hervor. Dann trat er auf Kitai zu, ging neben ihm in die Knie, öffnete den dunklen Behälter und setzte ihn an die spröden Lippen des Weißhaarigen.

Dieser bemerkte das quälend trockene Brennen in seiner Kehle erst jetzt so richtig, da es gelindert wurde. Er beschloss augenblicklich, dass dies definitiv nicht der richtige Moment für falschen Stolz war, warf selbigen kurzerhand über Bord und trank mit gierigen Schlucken von dem lauwarmen Nass. Dann zwang er sich ein Lächeln auf die Lippen und blickte zu dem Samurai des Todes auf.

„Danke“, murmelte er und meinte es auch so.

„Hm“, machte der Schwarzhaarige, fügte diesem wenig aussagekräftigen Laut einen tödlichen Blick hinzu und nahm dann nach einem kurzen Moment des Zögerns neben Kitai Platz.

Es war seltsam – genau in diesem Augenblick veränderte sich etwas… oder eigentlich sogar gleich mehrere Dinge. Der Geruch von feuchtem Moos und trockenem Rauch stieg Kitai in die Nase, die nasse Kälte des Bodens und des Baumstamms drangen durch den Stoff seiner Kleidung, und plötzlich gewann die ganze Szenerie eine Realität zurück, die ihr irgendwann in den Morgenstunden abhanden gekommen war. Die Vegetation mochte sich von den Wäldern nahe Atacca Falls unterscheiden, aber im Endeffekt war das hier auch nur ein Wald und kein Holz und Blattwerk gewordener Alptraum.

Vor allem aber begriff Kitai, dass auch die schwarze Gestalt neben ihm kein Alptraumwesen, sondern schlicht und ergreifend ein Mensch war. Und zwar kein wahnsinniger Mensch. Ein Killer, zweifellos, der mit einem einzigen Fingerzucken zehn bis zwanzig Krieger in handliche kleine Stücke zerlegen konnte, aber eben kein psychopathischer Killer. Kitai hatte nach wie vor nicht den Hauch einer Ahnung, in was für einen Irrsinn er da eigentlich hineingeraten war, und natürlich lief hier irgendetwas verdammt schief, aber eben nicht im Kopf seines merkwürdigen… Kidnappers. Und genauso wenig in seinem eigenen. Es war vielleicht nicht ganz alltäglich, vom beinahe letzten Samurai in irgendeinen unbekannten Wald verschleppt zu werden, aber für ihn war es trotzdem eine Tatsache.

Aus irgendeinem Grund erschreckte Kitai diese Erkenntnis nicht. Ganz im Gegenteil. Er atmete einmal tief durch, dann setzte er sich bequemer hin. Dachte kurz nach, aber wirklich nur ganz kurz. Und sagte dann mit einem vorsichtigen Lächeln auf den Lippen:

„Sie haben mir das Leben gerettet.“

Der Schwarzhaarige wandte den Kopf gerade so weit, dass er Kitai mit seinem pechschwarzen Auge anstarren konnte.

„Soll das eine höfliche Anrede sein?“, fragte er dann nach so vielen Momenten, dass Kitai schon gar nicht mehr damit rechnete. „Das kannst du dir sparen. Ebenso deine Dankbarkeit. Ich habe nicht deinetwegen so gehandelt.“

„Na ja, diese Männer waren vielleicht nicht hinter mir her, aber sie hätten mich getötet, wenn… wenn du nicht eingegriffen hättest“, entgegnete Kitai, auch wenn er sich reichlich seltsam dabei vorkam, einen Menschen wie diesen zu duzen. Der Samurai antwortete zunächst wiederum nur mit einem durchdringenden Blick und beharrlichem Schweigen. Dann verzogen sich seine Lippen zu dem bösesten, tödlichsten Etwas, das jemals ein Lächeln hätte werden sollen.

„Ich hätte dich auch getötet“, antwortete er ganz unbeschreiblich kalt, „wenn ich dich nicht brauchen würde. Und ich hätte dich nicht gerettet, wenn ich dich nicht brauchen würde. Außerdem sind sie selber schuld. Ich habe gedacht, dass sie diesmal mehr von ihnen schicken.“

„Wer?“, fragte Kitai noch ein bisschen vorsichtiger. Der Schwarzhaarige sah erneut auf, und diesmal lag in seinem Blick etwas Lauerndes.

„Warum willst du das wissen?“

„Ich… nein, nein, ist nicht wichtig. Ich muss das gar nicht wissen. Ehrlich gesagt… würde mich viel mehr interessieren, wo genau ich hier eigentlich bin.“

„Wo genau…“ Der Samurai zog zweifelnd seine Augenbrauen zusammen… oder wenigstens das, was man davon sehen konnte, aber das feindselige Misstrauen auf seinem Gesicht wich langsam wieder der üblichen Kälte. „Ich bin mir nicht ganz sicher. Westliches Kyûryô, nehme ich an.“

„Ich… verstehe nicht ganz…“

„Was verstehst du nicht?“ Die Stimme des Samurai klang so kritisch, dass Kitai automatisch den Kopf einzog.

„Wo ist das, Kyûryô?“, erkundigte er sich zögerlich, und als der Schwarzhaarige daraufhin sogar noch ein bisschen kritischer dreinblickte, fügte er hastig hinzu: „Ich meine, in welchem Land. Sind wir hier in Japan?“

„Ja-pan?“ Der Samurai hob die Schultern. „Ist das ein Fürstentum? Schon möglich, dass wir da sind. Ich kenne die Gegend nicht gut.“

„Ein Fürstentum? Aber Japan ist…“ Kitai unterbrach sich, als der Blick des Mannes ihn wie ein eisiger Peitschenschlag streifte. Er hob die Schultern und lächelte verlegen. „Nein, das ist nur eine… kleine Stadt. Ich dachte, sie wäre hier irgendwo… in der Nähe.“

„Eine kleine Stadt?“ Der Samurai deutete ein Kopfschütteln an. „Kleine Städte kennst du, aber du weißt nicht, was das Kyûryô ist? Aber… du bist doch Silvanier?“

„Ich bin… was?“

„Silvanier!“ Jetzt lag in der Stimme des Schwarzhaarigen ein leiser Hauch von Entsetzen. „Das kann doch nicht wahr sein! Du sprichst Silvanisch. Einen Menschen mit solchen Haaren habe ich noch nie gesehen, aber sonst siehst du aus wie ein Silvanier. Willst du dich über mich lustig machen?!“ Kitai öffnete den Mund, um irgendetwas zu sagen, aber als er das wütende Blitzen im Auge des Samurai bemerkte, fehlten selbst ihm die Worte. Dann jedoch wich die kalte Wut einem Anflug von Nachdenklichkeit, und schließlich senkte der Mann seinen Blick, dass ihm die langen Strähnen seines tiefschwarzen Haares vor das Gesicht fielen. „Also ist es doch wahr“, stellte er fest, und Kitai hätte schreien können, dass es ihm verdammt noch mal keinen Spaß machte, dieser mühseligen Konversation seit knappen fünf bis zehn Minuten nicht mehr folgen zu können. Aber dann ließ er es doch bleiben, weil er erstens an seinem Leben hing und weil es ihn zweitens schon im nächsten Augenblick gar nicht mehr so besonders aufregte.

„Was?“, fragte er vorsichtig, als sich sein Gegenüber nicht von sich aus dazu herabließ, Kitai endlich auch in seine geheimnisvollen Gedankengänge einzuweihen. Der Samurai wandte daraufhin den Kopf – überraschenderweise sogar mehr als nur ein kleines bisschen – und sah Kitai zwar nach wie vor finster, aber doch nicht mehr ganz so vernichtend an wie zuvor.

„Du bist Kitai, nicht wahr?“

Dem Weißhaarigen fiel buchstäblich die Kinnlade herunter. Er hatte ja wirklich mit Vielem gerechnet – genau genommen rechnete er schon aus Prinzip mit so ziemlich Allem –, aber ganz bestimmt nicht damit, dass ein blutrünstiger Fremder aus dem vermutlichen entlegensten Flecken dieser Erde seinen Namen kannte. Von all den absurden und unfassbaren Ereignissen der vergangenen Stunden überraschte ihn dieses mit Sicherheit am meisten. Er zwang sich zu einem Nicken, einem ziemlich schwachen und kläglichen Nicken, um genau zu sein, und dann zwang er nach einigen weiteren Sekunden ebenso schwache, klägliche Worte hervor, nämlich:

„Wo-woher… ich meine… wieso…“

„Er, dessen Name Hoffnung ist, nur er kann die Lichter der Hoffnung aufs Neue entfachen“, antwortete der Schwarzhaarige, und Kitai musste tatsächlich einen Moment lang überlegen, ob er diese Worte schon einmal gehört hatte, dann, wo dies gewesen war, und letztlich, wie um alles in der Welt er ausgerechnet das jemals hatte vergessen können.

„Aber…“, stammelte er, während er im Geiste eine Vermisstenanzeige für seine Wortgewandtheit aufgab, „was… was hat das zu bedeuten? Genau das hat Kagi auch gesagt, bevor sie mich… bevor ich… ich meine, bevor ich hier… hier hergekommen bin.“

Erstaunlicherweise reagierte der Samurai nicht ungehalten, nicht zweifelnd, nicht verständnislos. Ganz im Gegenteil. Er nickte, langsam und sogar ein bisschen nachdenklich.

„Das ist wirklich ein seltsamer Zufall“, sagte er dann leise, aber doch nicht leise genug, dass es nur für ihn selbst hätte bestimmt sein können. „Chikyu no Omoikiru Kagi. Ich war gerade auf dem Weg zu ihr, und dann begegne ich ausgerechnet… dir.“

„Ich verstehe immer noch nicht, woher du meinen Namen kennst!“

„Eine alte Legende, an die ich selbst nie so ganz geglaubt habe“, antwortete der Schwarzhaarige wenig aussagekräftig. „Es würde zu lange dauern, das jetzt zu erklären.“

„Hm… also gut“, erwiderte Kitai mit einem Schulterzucken, wobei er sich bewusst die Bemerkung verkniff, dass Zeitmangel wohl gerade nicht das größte all ihrer Probleme war. „Und… wenn ich fragen darf, wie… wie heißt du eigentlich?“

Der Samurai blickte einen Moment lang wieder äußerst vernichtend drein, und Kitai fragte sich schon, ob er es jetzt mit der Distanzlosigkeit nicht doch ein wenig übertrieben hatte. Dann aber sah er genauer hin und las in dem düsteren Stirnrunzeln des Schwarzhaarigen auch ein durchaus gekonnt überspieltes Grübeln.

„Wenn du unbedingt einen Namen haben willst“, antwortete er dann nach einiger Zeit, und dabei wirkte er nicht nur finster und bedrohlich, sondern auch reichlich ausweichend, „dann nenn mich Akuma.“

„Akuma?“, wiederholte Kitai. Teufel. Der Samurai antwortete mit einem Blick, der den Weißhaarigen durchaus in Erwägung ziehen ließ, dass sich sein Gegenüber vielleicht doch mit dem richtigen Namen vorgestellt hatte.

„Ja, und jetzt schlaf“, fügte er dem hinzu. Dann gestattete er es sich, seinen Körper ein wenig zu entspannen und mit dem Rücken gegen den gefallenen Baumriesen zu sinken, das Katana gegen die Schulter gelehnt und mit beiden Händen umfasst. „Wir haben einen weiten Weg vor uns.“

„Zu Kagi, richtig?“, murmelte Kitai, und bei diesem Gedanken fühlte er eine ganz leise, undefinierbare Wärme in seinem Inneren aufsteigen. Diese Wärme machte das Unterholz, auf das er sich jetzt sinken ließ, aber leider auch nicht weniger feuchtkalt und ungemütlich, und so rollte er sich zusammen, zog die Beine an den Körper und hüllte sich in seinen schwarzen Haori wie in eine Decke. „Warum eigentlich? Wer… wer ist sie?“

„Warum? Weil es so vorherbestimmt ist.“ Der Samurai klang ein wenig genervt, aber Kitai dachte an die schönen schwarzen Augen und die schneeweiße Haut des Mädchens, das ihn auf welche Weise auch immer aus den Straßenschluchten von Atacca Falls entführt hatte, und er beschloss, das Thema doch noch nicht ganz auf sich beruhen zu lassen.

„Vorherbestimmt? Von… von dieser Legende?“

„Die Legende berichtet, dass es vorherbestimmt ist“, verbesserte Akuma. „Oder… eher die Person, die mir von der Legende erzählt hat. Deshalb gehe ich zu Kagi.“

„Hm… sagtest du nicht, du hättest nie an die Legende geglaubt?“, hakte Kitai noch einmal nach. Akuma verzog kurz, nur ganz kurz das Gesicht.

„Das macht keinen Unterschied, wenn man sowieso nichts mehr zu verlieren hat. Außerdem kann man Wahnsinn manchmal nur mit Wahnsinn bekämpfen. Und jetzt sei endlich ruhig und schlaf.“

Kitai brannten eigentlich noch viele, sehr viele Fragen auf den Lippen – aber andererseits auch schon wieder zu viele, als dass er sie noch hätte ordnen können, und so war er über das Machtwort des Samurai beinahe sogar froh. Er nickte nur, obwohl Akuma sein pechschwarzes Auge bereits geschlossen hatte und ihn deshalb sowieso nicht mehr sehen konnte. Und dann dachte er wieder an Kagi, an jeden Millimeter ihres unnatürlich makellosen Körpers; auch an seinen Entführer und die absurde Gesamtsituation, aber vor allem an Kagi, bis ihn irgendwann der Schlaf übermannte.
 

Die kommenden Tage liefen sie. Das war eigentlich alles, woran Kitai sich später erinnern konnte – an einen endlosen Marsch durch Waldland. Immer einen Fuß vor den anderen, bis es irgendwann zu einer rein mechanischen Handlung wurde. Rechts, links, rechts, links. Hier und dort über eine Wurzel steigen oder unter einem Ast hindurchducken. Immer derselbe Geruch nach Erde und feuchtem Moos, dasselbe Grün und Braun, dieselben Farne, dieselben Bäume, dasselbe Vogelzwitschern und Blätterrascheln. Irgendwann hörte Kitai einfach auf, seiner Umgebung Beachtung zu schenken. Es gab nur noch ihn und den nächsten Schritt. Stehen bleiben war keine Alternative, da Akuma stets direkt hinter ihm ging, in der einen Hand das Seil, das nach wie vor Kitais Handgelenke zusammenhielt, die andere Hand am Schwertgriff.

Erst kam der Hunger, dann kam die Kälte. Ihre knappen Vorräte teilte der Samurai des Todes mit unbarmherziger Sparsamkeit ein, aber da Kitai nach dem Laufen sowieso meist viel zu müde war, um noch lange zu Essen, schmerzte ihn diese sicherlich höchst vernünftige Grausamkeit nicht allzu sehr. Er verspürte keine Sehnsucht nach einer ausgiebigen Mahlzeit. Es war nur einfach so, dass ein unterschwelliges, aber dennoch quälendes Hungergefühl zu seinem steten Begleiter wurde. Dann und wann schlug dieses Gefühl auch in Übelkeit oder ziehende bis stechende Bauchschmerzen um, doch selbst dem schenkte Kitai keine größere Aufmerksamkeit. Das hätte ihn entschieden zu viel Kraft gekostet.

Weitaus schlimmer war der rapide Temperaturabfall. Mit jedem Meter, den sie zurücklegten, schien die Luft ein bisschen kühler zu werden, bis sie sich wie Säure in Kitais trockenen Hals fraß. Außerdem wurde der Boden immer härter, und Kitais Füße verwandelten sich in Klumpen aus bloßem Schmerz. Ein Schmerz, der durch die Kälte leider nicht gelindert wurde, ganz im Gegenteil. Jede noch so flüchtige Berührung mit den zerschundenen, gequälten, völlig überanstrengten Fußsohlen war eine Qual, und Kitai zwang sie über gefrorene Erde, die zu Fels wurde, lastete ihnen sein gesamtes Körpergewicht auf, von Morgens bis Abends und darüber hinaus.

Und dann begann es zu schneien.

Dicke, weiße Flocken fielen aus dicken, weißen Wolken auf die beiden schwarzen Gestalten hinab. Zunächst erschienen sie wie Tänzer, zart und anmutig. Dann wurden sie zu einem Vorhang und schließlich zu einer schneeweißen Wand. Der Schneefall wurde so dicht, dass Kitai kaum mehr die Hand vor den Augen erkennen konnte, geschweige denn den alptraumhaften Krieger, der ihn nach wie vor unbarmherzig weiterzerrte. Aber die gefrorene Kälte, die Kitai ins Gesicht peitschte, ließ ihn zum ersten Mal seit Tagen wenigstens wieder versuchen, aufzublicken, seine Umgebung wahrzunehmen. Es war ein schmerzhaftes Erwachen, das ihm bereitet wurde, aber vielleicht hatte er ja auch genau das gebraucht.

Was Kitai trotz des Schneesturms auf den ersten Blick erkennen konnte, war, dass er jetzt tatsächlich auf felsigem Boden ging. Auch direkt zu seiner Linken befand sich helles, blankes, fast ein wenig bläulich schimmerndes Gestein. Sie hatten den Wald verlassen. Mehr wollte er eigentlich gar nicht wissen. Vermutlich befand sich rechts von ihm ein bodenloser Abgrund, aber wozu hätte er das noch sehen sollen? Es genügte ihm, weiterhin einen Fuß vor den anderen setzen zu können, um nur nicht aus dem Rhythmus zu kommen. Rechts, links, rechts, links.

Ein kalter Wind peitschte den Schnee auf, fuhr Kitai in den Mund und trieb ein Husten über seine Lippen, das wie Feuer in seinem Hals und in den Lungen brannte. Ausgerechnet Feuer! Die Flocken bohrten sich wie Nadeln in seine Haut, in seine Augen. Seine Lippen waren längst schon taub geworden, ohne dass er es überhaupt bemerkt hatte. Kitai hatte Schnee immer ganz objektiv als etwas Schönes betrachtet, wie er vom Himmel fiel, wie er gnädig die Schandflecken der Stadt bedeckte und ihr ein Stück von ihrer Lautstärke nahm. Eine kalte, dumpfe Schönheit, die ihm vertraut war, die er von sich selbst nur allzu gut kannte, innerlich wie äußerlich. Dass Schnee etwas Bedrohliches, Unangenehmes sein konnte, hatte er nicht gewusst. Wenigstens nicht aus eigener Erfahrung. Aber als er jetzt so blind und taub gegen den Wind ankämpfte, der ihn eher rückwärts trieb als vorankommen ließ, drängte sich ihm zum ersten Mal der Gedanke auf, dass sie es vielleicht nicht schaffen würden.

Es war seltsam: Diese Worte gingen Kitai durch den Kopf, ganz plötzlich, und er begriff sofort ihre grauenhafte Tragweite. Ja, vermutlich würden sie erfrieren. Oder abstürzen. Oder von einer Lawine in den Tod gerissen werden. Verdursten wohl nicht, aber möglicherweise verhungern. Kitai hatte nicht den Hauch einer Ahnung, wo sie sich befanden. Ob eine Stadt in der Nähe war. Er glaubte nicht daran. Dieser Ort, der nur aus Fels und Wind und Kälte bestand, hatte keinen Platz für Leben. Auch nicht für seines. Er ließ ihn nicht laufen, nicht sehen, nicht hören, nicht atmen. Es war nur noch der Strick um seine Handgelenke, der ihn vorwärts zwang. Rechts, links, rechts, links, rechts. Derselbe Rhythmus, wieder und wieder. Aber dann wurde auch er vom Wind verschluckt, und Kitai stürzte.

Der Weißhaarige wollte sich abfangen, um sein Gleichgewicht kämpfen, doch seine Hände waren ja gefesselt und seine Füße hatten vor lauter Schmerz jede feste Kontur verloren. Sie taugten nicht einmal mehr zum Gehen, umso weniger aber für schnelle Manöver, die zudem noch so etwas wie Geschick oder Gespür verlangten. Kitai konnte nicht sagen, mit welchem Körperteil er zuerst aufschlug. Sein Körper war wie Eis, und der Aufprall schien ihn in tausend Stücke zu zerschlagen. Dann schleifte sein Gesicht über den gefrorenen Boden. Kitai war, als ob der Fels ihm die Haut vom Körper reißen würde. Er wollte schreien, aber er konnte nicht. Der Wind fuhr ihm erneut in die Lungen, in seinen Kopf, und während sich jeder Millimeter seines frierenden Leibes in blanken Schmerz verwandelte, zerfielen Kitais Gedanken zu Schnee.

Es wurde still.
 

Kitais Erwachen war schmerzhaft und unendlich kalt. Er hatte noch nicht einmal die Augen aufgeschlagen, als er sich schon wünschte, wieder in das süße, schwarze Nichts eintauchen zu können, in dem es weder Schnee noch Fels noch körperliche Leiden gab. Kitai konnte nicht einmal mehr Dankbarkeit dafür empfinden, dass er überhaupt wieder erwacht war. Es wollte es nicht. Er wollte Ruhe. Er wollte Schlaf. Wenn dieser Schlaf ein bisschen länger oder auch bis in alle Ewigkeiten dauern sollte, umso besser. Alles war besser als diese Realität.

Mühsam zog Kitai seine Knie an den Körper und schlang die Arme darum. Die gefesselten Hände waren dabei zugegebenermaßen höchst hinderlich, aber das Mehr an Körperwärme war Kitai diese Anstrengung allemal wert. Erst jetzt bemerkte er, wie stark er zitterte, und selbst dies war schon zuviel Bewegung für seine gequälten Muskeln. Sie bedankten sich mit Schmerz. Mit noch mehr Schmerz. Ein ersticktes Keuchen drang über Kitais erstarrte Lippen. Mehr brachte er nicht hervor. Auch seine Kleidung wärmte ihn nicht, ganz im Gegenteil. Der Schnee hatte sie durchnässt, und jetzt schien sie an seiner Haut festgefroren zu sein.

Ich will nach Hause, ging es Kitai durch den Kopf. Aber dann fiel ihm auf, dass er überhaupt nicht wusste, was für ein Zuhause das eigentlich sein sollte. Er sehnte sich nicht nach Atacca Falls, ganz bestimmt nicht, sondern nach einem Ort, den es nicht gab, und nach einem Gefühl, das er nicht kannte. Oder einfach nur nach einer Decke, einem Bett, einem warmen Tee. Er versuchte, sich das Gefühl einer Decke auf seinem frierenden Körper vorzustellen, aber es gelang ihm nicht.

Erst in diesem Moment bemerkte Kitai, dass es nicht mehr schneite.

Diese Erkenntnis brachte ihn endlich doch dazu, müde und schwerfällig seine Augenlider zu heben. Sich umzusehen. Es war nicht wirklich die Hoffnung auf Rettung, die ihn dazu antrieb, sondern vielmehr ein letztes Aufbegehren jenes urmenschlichen Gefühls namens Neugierde, das Kitai allerdings eher in Form eines sachlich nüchternen Interesses kannte. Guten Tag, sachlich nüchternes Interesse, grüßte er in Gedanken und verzog seine heftig brennenden Lippen zu einem schwachen, ironischen Lächeln. Schön, dich mal wieder zu treffen. Hab dich ein bisschen vermisst in den letzten Tagen.

Das Interesse antwortete nicht, und so begnügte sich Kitai eben damit, sich träge und schwerfällig umzusehen, in erster Linie mit Blicken und nur mit einer ganz minimalen Regung seines bleischweren Kopfes. Selbst das war schon anstrengend genug. Wenigstens wurden seine Sinne nicht auch noch überanstrengt, denn Kitai stellte schnell fest, dass die kleine Höhle, in der er lag, vollkommen uninteressant war. Blaugrauer Fels, unregelmäßig gezackt, zerklüftet von Jahren der Kälte und des Eises. An der Decke einige recht imposante Stalaktiten, wie Speere in der grauen Haut des Berges, über die transparentes, bitterkaltes Blut hinabrann. Dazwischen Eiszapfen, die mit ihrem subtilen Glitzern die Aufmerksamkeit des seltenen Besuches ganz auf sich lenken wollten. Stein und Wasser, mehr schien es in dieser Höhle nicht zu geben.

Abgesehen von ihm selbst und natürlich von Akuma. Und bei dessen Anblick wurde selbst Kitais erstarrte Brust von einem leisen Hauch des Schreckens gestreift.

Der Samurai des Todes wirkte nach wie vor alptraumhaft, allerdings nicht mehr auf dieselbe bedrohliche, unmenschliche Weise, wie er es zuvor getan hatte. Im Gegensatz zu Kitai saß er immer noch aufrecht. Sein Blick war allerdings merkwürdig starr, als ob er die ihm gegenüberliegende Wand damit durchbohren wollte. In seinem pechschwarzen Haar hingen feine Eiskristalle und seine Haut schien sogar noch ein bisschen weißer zu sein als sonst. Seine bläulichen Lippen waren so fest aufeinandergepresst, dass sie beinahe zu Strichen wurden. Trotzdem bebten sie noch ein ganz kleines bisschen, und auch der Rest von Akumas Körper zitterte ebenso wie Kitais eigener. Die Finger seiner linken Hand waren fest, sehr fest um die rechte Mittelhand geschlossen.

Natürlich. Kitai hätte beinahe den Kopf geschüttelt über seine eigene Verwunderung, aber dann fehlte ihm doch das letzte bisschen Kraft und Motivation dazu. Was hatte er denn erwartet? Sein Entführer war vielleicht groß und finster und ziemlich böse und obendrein ein passionierter Mörder, aber er blieb trotz allem ein Mensch, und Menschen froren nun einmal. Zumal, wenn sie fast mehr Verbände als Kleidung am Körper trugen. Wobei Kitai Akuma um die Verbände jetzt sogar ein kleines bisschen beneidete. Nur ganz bestimmt nicht um das, was darunter lag. Die Kälte schmerzte schon mehr als genug auf seiner eigenen Haut, und die war ja größtenteils intakt, von einigen Schürfwunden mal abgesehen.

Dann wandte Akuma ganz plötzlich seinen Kopf und starrte in Kitais Richtung. Der stellte höchst verwundert fest, dass es tatsächlich möglich war, spontan noch ein bisschen mehr zu frieren.

„Wir warten, bis der Schneesturm aufhört“, sagte der Samurai. Kitai nickte müde und fügte dann nach kurzem Überlegen und etwas längerem innerlichem Kräftesammeln tonlos und von einem trockenen Husten begleitet hinzu:

„Was ist… wenn er nicht aufhört?“

„Er muss irgendwann aufhören!“ Aus irgendeinem Grund gefiel es Kitai nicht, wie herrisch Akumas Stimme klang. Offenbar hatte er es da mit jemandem zu tun, der es gewohnt war, Befehle zu erteilen. Das Problem war nur, dass man Wind und Schnee so schlecht befehligen konnte, auch wenn man es noch so vehement versuchte.

„Aber… wir können nicht wissen, wie lange…“

Akuma brachte den Weißhaarigen mit einem einzigen Blick zum Schweigen. Gut, möglicherweise spielte auch die Tatsache mit, dass der Samurai des Todes seine Hände mittlerweile wieder voneinander gelöst und eine von ihnen am Griff seines Katana platziert hatte, aber im Ergebnis kam es ja so oder so aufs Gleiche heraus. Keine weiteren Widerworte. Kitai fehlte sowieso die Kraft dazu. Es war ihm schleierhaft, wie er jemals wieder auf die Beine kommen und dann auch noch auf eigenen Füßen stehen sollte. In seinen Gliedmaßen führten Schmerz und Taubheit eine ganz merkwürdige Koexistenz. Aber ein Blick in Richtung Höhlenausgang beruhigte Kitai wenigstens in einer Hinsicht – so bald würde er die Belastbarkeit seiner Beine nicht auf die Probe stellen müssen, denn draußen wütete der Schneesturm mit einer solchen Gewalt, dass nichts anderes zu sehen war als ein weißes Flimmern, begleitet von einem wütenden Brüllen und Toben, das Kitai allerdings kaum mehr wahrnahm.

Die folgenden Stunden verbrachte der Weißhaarige in einem merkwürdigen Trancezustand. Er ließ das kleine Fleckchen Außenwelt keine Sekunde lang aus den Augen, trotzdem hätte er später nicht sagen können, wann genau der Schneefall nun nachgelassen hatte. Auf jeden Fall war es bereits dunkel und die Nacht überraschenderweise nicht erdrückend grau, sondern von einem tiefen Blauschwarz. Vereinzelt tanzten silbrige Flocken durch die schneidend kalte Luft, die Wolkendecke musste also zerklüftet sein, denn was außer Mondlicht konnte Schnee wie Silber glitzern lassen? Durch den parabelförmigen Höhleneingang betrachtet wirkte die ganze Szenerie wie eine riesige Schneekugel. Im Hintergrund die verblüffend realistische Fotografie einer verschwommenen Berglandschaft, schneebedeckt, versunken in bläulichem Nebel. Wie von selbst bewegte Kitai seine Hände, um die Kugel zu schütteln, doch dann fiel ihm wieder ein, dass alles, was er sah, real war.

Vorsichtig bewegte Kitai seinen Kopf nach Rechts und Links. Sein Nacken bedankte sich mit einem empörten Knacken, leistete ansonsten aber erstaunlich wenig Gegenwehr. Als nächstes konzentrierte sich Kitai ganz auf seine Füße, ließ sie kreisen, streckte sie, zog sie an. Bewegte jeden einzelnen Zeh – was glücklicherweise noch möglich war – und dann jeden einzelnen Finger. Daraufhin die Hände, die Arme und schließlich die Beine. Kitai war während jeder einzelnen Sekunde seines Unterfangens bewusst, dass all das Gehampel reichlich lächerlich aussehen musste, aber es war ja außer ihm nur ein einziger Mensch in der Höhle, und der hatte die Augen geschlossen. Ob Akuma schlief, konnte Kitai nicht mit Sicherheit sagen, aber er hatte vorerst auch andere Dinge im Kopf. Noch zwei, drei tiefe Atemzüge, dann stemmte sich Kitai wenigstens wieder in eine sitzende Position.

Ein kurzer, heftiger Augenblick des Schwindels ließ ihn beinahe an seinem Unterfangen zweifeln, aber dieser Augenblick ging vorüber und dann stellte Kitai fest, dass es sowieso Angenehmeres gab, als auf eiskaltem Höhlenboden zu liegen. Außerdem fühlte er sich gleich ein bisschen wacher. Jetzt hatte er auch den Nerv dazu, seinen Entführer näher zu betrachten. Der hatte sein Auge immer noch geschlossen und atmete ruhig, was trotz seiner sitzenden Haltung doch einigermaßen nach Schlaf aussah. Eine seiner Hände lag am Schwertgriff, die andere hielt das Seil umfasst, das Kitais Hände nach wie vor fesselte. Beides waren Tatsachen, die Kitai nicht unbedingt gefielen.

Trotzdem erschien ihm der Höhlenausgang plötzlich gar nicht mehr so weit entfernt. Kitai wusste nicht, wie tief der Schlaf des finsteren Samurai war, und er ahnte in dieser Hinsicht leider nichts Gutes, dennoch schien plötzlich so ein latenter Duft von Freiheit in der Luft zu liegen. Von Freiheit und Tod, natürlich, denn nüchtern betrachtet konnte Kitai in diesem Augenblick überhaupt nichts Dümmeres machen, als ganz auf sich allein gestellt in diese wildfremde, wunderschöne Hölle aus Eis und Bergland zu fliehen, die sich jenseits ihres steinernen Zufluchtsortes ausbreitete.

Die Fakten lagen klar auf der Hand: Wer kannte sich hier (vermutlich) aus? Akuma. Wer hatte ein Schwert bei sich? Akuma. Wer konnte mit ebendiesem Schwert ganze Horden Schwerstbewaffneter binnen weniger Wimpernschläge niedermetzeln? Akuma. Aber wer würde ihn vermutlich in Kürze ebenfalls mit der schwarzen Klinge bekannt machen, wenn er ihn für was auch immer nicht mehr gebrauchen konnte? Genau, Akuma. Und da erschienen Kitai Eis und Schnee und eine winzige Chance auf Überleben doch immer noch als die bessere Alternative.

Vorsichtig, ganz, ganz vorsichtig stellte Kitai beide Fußsohlen auf den kalten Stein und stemmte sich in die Höhe. Er konnte in der Höhle nicht aufrecht stehen, aber wenn er den Eiszapfen und Tropfsteinen auswich, musste er sich nur leicht vorbeugen und konnte sich trotz der niedrigen Decke doch relativ sicher fortbewegen. Der Schwindel überkam ihn kein zweites Mal, und obwohl Kitai seine Beine immer noch nicht so richtig spürte, war sein Stand überraschend fest. Seine Füße schmerzten unglaublich und die Kälte bot in dieser Hinsicht weiterhin keine Linderung, aber daran hatte Kitai sich ja mittlerweile fast schon gewöhnt. Mein alter Freund, der Schmerz. Irgendwie hatte sich sein Leben in den vergangenen Tagen in eine höchst merkwürdige Richtung entwickelt.

Ein kalter Windhauch fuhr ächzend in die Höhle hinein. Akuma gab ein leises Geräusch von sich, und Kitai begriff, dass er schnell handeln musste. Er schloss beide Hände um das Seil, das ihn mit seinem Entführer verband, was nicht ganz einfach war, ihm aber doch erstaunlich schnell gelang. Dann duckte er sich noch ein bisschen mehr und suchte sorgsam nach einem möglichst sicheren Stand. Falls es darauf ankommen sollte, musste er sich mit einem einzigen Satz aus der Höhle retten können. Die silbrig blaue Nacht schien nach ihm zu rufen, und für einen kurzen Moment fühlte Kitai tatsächlich so etwas wie Aufregung durch seinen Körper jagen – allerdings wirklich nur für diesen einen Moment, und da hatte Kitai doch selbst bei sich ein bisschen mehr erwartet. Da dies aber ganz entschieden nicht der richtige Zeitpunkt war, um über sein merkwürdiges Gefühlsleben nachzudenken, wartete er nicht länger auf eine angemessene Angst oder zumindest Nervosität, sondern bewegte sich um wenige Millimeter nach hinten, wobei er unendlich langsam an seiner spröde gewordenen Fessel zog.

Beinahe in derselben Sekunde schlug Akuma die Augen auf.

Die Reaktion war ganz objektiv betrachtet beeindruckend – nur eine flüchtige Bewegung in dem kleinen Stück Seil, das der Samurai in seinen Fingern hielt, und schon saß er aufrecht da, lauernd und gespannt, die Situation kühl überblickend, die rechte Hand fest um den Griff seines Katana geschlossen. Subjektiv betrachtet war sie aber schlicht und ergreifend niederschmetternd und ernüchternd. Kitai hatte seine Fesseln noch nicht einmal aus dem Griff des lebendigen Alptraums befreit, geschweige denn sich selbst in die Nacht hinaus gerettet. Sofern es dort überhaupt so etwas wie Rettung gab.

Andererseits wirkte Akuma zwar absolut wachsam, kampfesbereit, aber mehr auf eine neutrale Weise. Was immer sich jetzt auf ihn stürzen mochte, würde binnen weniger Sekunden zu Hackfleisch verarbeitet werden. Aber Kitai wollte sich ja überhaupt nicht auf ihn stürzen. Die Chancen, dass der Samurai des Todes in Erwartung eines drohenden Angriffs jenes unbedeutende Seil in der linken Hand ein bisschen außer Acht ließ, standen eigentlich gar nicht so schlecht. Und dass dieser unglaublich große Mensch – Kitai schätzte ihn auf gut zwei Meter Körpergröße – sich in der Höhle sonderlich schnell fortbewegen konnte, war auch nicht sehr wahrscheinlich. Kitai hingegen stand direkt am Ausgang. Ein Sprung, nur ein einziger kräftiger Ruck am Seil, und die Freiheit hätte ihn wenigstens vorübergehend wieder.

Leider war es eine Tatsache, dass Menschen in Extremsituationen dazu neigten, binnen der wenigen Sekunden, die ihnen für eine Reaktion blieben, nicht unbedingt die bestmögliche Entscheidung zu treffen. Ob ein nahezu aussichtsloser Fluchtversuch tatsächlich diese bestmögliche Entscheidung war, darüber ließ sich trefflich streiten, aber auch ein kleines bisschen Hoffnung konnte sich bisweilen erstaunlich lange am Leben halten. Kitai aber sprang nicht, er zerrte nicht an seinen Fesseln, er stürzte sich nicht blindlings in das Eis und den Schnee hinaus, sondern vielmehr auf die eigenen Knie. Er warf sich auf den Boden, stützte sich mit beiden Armen ab und krümmte den Rücken, eine tiefe Verneigung vor der Macht der Schwerkraft. Den Blick wandte er nur ein kleines bisschen, blieb mit seinem Körper dem Ausgang zugewandt, und dann legte er so viel Erschöpfung und Müdigkeit in seine Stimme, wie das angesichts des doch recht gewaltigen Adrenalinstoßes, der durch seinen Körper jagte, eben möglich war:

„Es hat aufgehört, zu schneien.“

Mit einem heftigen Ruck wandte Akuma den Kopf in Kitais Richtung. Das pechschwarze Auge des Samurai bohrte sich wie die Klinge eines eisigen Schwertes direkt in das Gesicht des Weißhaarigen. Er weiß alles, schoss es Kitai durch den Kopf. Natürlich sieht er, was du vorgehabt hast. Jeder würde es sehen. Kitai fröstelte. Er wusste nicht, ob es innerhalb der vergangenen Sekunden tatsächlich noch ein bisschen kälter geworden war, aber er nahm das Zittern seines Körpers zum ersten Mal seit Stunden wieder bewusst wahr. Er musste die Lippen aufeinanderpressen, um nicht mit den Zähnen zu klappern. Wieso nahm Akuma seine Hand nicht endlich vom Schwertgriff? Kitai wollte doch gar nicht mehr davonlaufen. Die Idee erschien ihm mit einem Mal so absurd, dass er um ein Haar darüber gelacht hätte.

Akuma erhob sich, ganz plötzlich, und er war trotz seiner Größe und der stark geduckten Haltung mit nur zwei Schritten am Eingang, zumal diese Schritte so schnell und flüssig waren, dass Kitai jede einzelne seiner Überlegungen bezüglich etwaiger Vorteile seinerseits fast schon beschämte. Hatte er sich allen Ernstes eingebildet, dem Samurai des Todes in irgendeiner Weise überlegen zu sein? Ihm so einfach entkommen zu können? Und wieso war ihm eigentlich keine Sekunde lang in den Sinn gekommen, dass gefesselte Hände das Überleben auf rutschigen, steilen, ihm gänzlich unbekannten Gebirgspfaden auch nicht unbedingt leichter machten?

Dann erstickten all seine Gedanken in beklemmender Leere, als Akuma direkt neben ihm stand, nach wie vor bereit, sein Schwert zu ziehen. Kitai wollte noch irgendetwas sagen, aber ihm fielen keine Worte ein, mit denen er die Situation hätte besser machen können. Akuma starrte auf Kitai hinab und verzog seine bläulichen Lippen, während sich auf sein Gesicht ein Ausdruck legte, der Wut zumindest sehr ähnlich war, aber auf eine unglaublich kalte, tödliche Art und Weise.

Und im nächsten Moment war der Samurai auch schon an Kitai vorbei ins Freie getreten. Die beklemmende Anspannung wich dennoch nicht sofort aus dem Körper des Weißhaarigen. Er rechnete fest damit, dass Akuma herumfahren und ihn enthaupten oder ihm wenigstens mit dem Griff seines Schwertes ins Gesicht schlagen würde. Überraschenderweise geschah weder das eine, noch das andere. Stattdessen zog der Schwarzhaarige ruckartig an Kitais Fesseln, so heftig, dass es diesen schon wieder vornüber auf den eisigen Boden riss. Kitai wollte aufstehen, aber Akuma schleifte ihn unbarmherzig weiter. Die zahlreichen Schürfwunden im Gesicht und auf seinen Armen bekamen schmerzende Gesellschaft. Kitai stöhnte leise, und erst jetzt ließ Akuma sich dazu herab, wenigstens einen Moment lang stehen zu bleiben.

„Komm!“, stieß er in kaltem Befehlston hervor. Dann stapfte er schweigend weiter, und Kitai stolperte mit einem leisen Gefühl ernüchternder Resignation in der Brust hinter der großen schwarzen Gestalt des alptraumhaften Samurai her.
 

In den folgenden Stunden stellte Kitai fest, dass jener tranceartige Zustand, der ihn auf seiner Wanderung durch den Wald ganz nach innen gekehrt hatte, eine wunderbare Gnade gewesen war, die ihm jetzt nicht mehr vergönnt sein sollte. Das hatte mehrere Gründe: Das beruhigende, aber auf Dauer auch nicht unbedingt sehr spannende Grün des Waldes war nicht im selben Maße dazu geeignet gewesen, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, wie es das atemberaubende Panorama war, das sich nun unmittelbar zu seiner Rechten ausbreitete. Der Weg der beiden so unterschiedlichen Gestalten führte nämlich zumeist direkt am Abgrund entlang – übrigens noch ein gutes Argument für deutlich mehr Konzentration – und bot so einen Ausblick auf eine unwirklich schöne Szenerie aus einem Auf und Ab sanfter bis scharf gezackter Bergrücken, bedeckt mit Schnee, Wald und bläulich weißem Sonnenlicht. Dahinter weitere Berge, in zunehmender Verblauung sanft in Nebelschwaden verblassend.

Außerdem wurde es kälter und kälter. Kitais Atem gefror direkt vor seinem Mund zu zartweißen Wolken. Die eisige Luft war wie dauerhafte Schläge ins Gesicht, die unerbittlich wach hielten und gleichzeitig daran erinnerten, welche Stellen an Kitais Körper mehr und mehr und mehr und noch viel mehr schmerzten. Nämlich so gut wie alle. Kitai wartete und wartete darauf, dass das Laufen wieder zu einer automatisierten Handlung werden würde, aber jetzt musste er sich zu jedem Schritt zwingen. Und dazu, nicht jedes Mal laut aufzuschreien, wenn wieder eine seiner Fußsohlen den vereisten Stein berührte.

Gegen Nachmittag begann es wieder zu schneien. Allerdings hatte sich der Wind gelegt, sodass die Flocken nur sanft, fast ein bisschen träge vom Himmel hinabfielen. Auf dem blanken Fels breitete sich ein weicher weißer Teppich aus. Ganz kurz weckte das in Kitai tatsächlich so etwas Ähnliches wie Hoffnung, aber bald schon musste er feststellen, dass es sich auf dem Schnee leider auch nicht viel angenehmer gehen ließ. Zwar wurde seinen wunden Fußsohlen ein gnädiges Polster geschaffen, doch kostete es ihn nun umso mehr Kraft, die Füße wieder anzuheben. Zudem wurde der Gebirgspfad zu einer unberechenbaren Gefahr. Mehr als einmal geriet Kitai ins Stolpern, weil sich plötzlich ein Stein unter seinen Sohlen löste oder weil er schlicht und ergreifend auf ein tückisches bisschen Glatteis trat.

Doch bei aller Mühsal, die ihm das Gehen bereitete, hätte Kitai laut aufschreien können, als Akuma vor ihm plötzlich stehen blieb. Laufen mochte eine Qual, jeder einzelne Schritt blanke Folter sein, aber bloßes Stehen erschien ihm als ein Ding der Unmöglichkeit. Hastig stützte sich der Weißhaarige an der Felswand zu seiner Linken ab, als sein Kreislauf umgehend zu protestieren begann. Kitai hatte keine Ahnung, was seinen düsteren Entführer zum Anhalten bewegt hatte, aber er wollte schlicht und ergreifend weiter, wohin auch immer, denn Bewegung gab wenigstens noch ein trügerisches Versprechen auf Rettung und lenkte ein bisschen von dem Wunsch ab, einfach nur in den Schnee zu fallen und sich nie, nie, nie mehr wieder auf die per Schmerz laut um Hilfe schreienden Fußsohlen stellen zu müssen.

Dann aber sah Kitai, was Akuma schon deutlich früher bemerkt hatte, und jetzt verstand er sowohl dessen Stehenbleiben als auch die leise Spur von finsterer Beunruhigung, die sich auf sein bleiches Gesicht gelegt hatte. Von links her mündete ein schmaler Pfad zwischen zwei Bergschluchten in ihren Weg am Abgrund ein. Auf diesem Pfad waren Spuren im Schnee zu erkennen. Kitai hätte nicht sagen können, ob es sich dabei um menschliche Fußspuren handelte, da das frisch gefallene Weiß über die sowieso nicht gerade ausladende Breite des Weges vollkommen zerstört und zertrampelt war. Mit Sicherheit ließ sich nur sagen, dass irgendetwas oder irgendjemand durch diese Schlucht gekommen war.

„Waren sie das?“, fragte Kitai vorsichtig, als Akuma keine Anstalten machte, weiterzugehen. Der schwieg einige Sekunden lang und deutete dann ein Schulterzucken an.

„Ich weiß es nicht“, murmelte er, fast mehr wie zu sich selbst, „aber wenn, dann waren sie erst vor Kurzem hier. Es schneit noch nicht lange. Sie müssten noch in der Nähe sein.“

„Gehen wir trotzdem weiter? Ich meine, auf diesem Weg?“

„Dieser Weg führt ans Ziel“, stellte Akuma fest und presste kurz seine Lippen etwas fester aufeinander. Sein Auge suchte fortwährend ihre Umgebung ab. Die rechte Hand des Samurai ruhte wieder auf dem Griff seines Katana. „Hier durch die Schlucht kommen wir nur wieder in den Wald zurück. Auf einem Umweg. Davon haben wir nichts.“

„Aber… eigentlich bist du hier am Abgrund doch sogar im Vorteil“, entgegnete Kitai, und diese Worte waren tatsächlich keine leeren, leidlich beruhigenden Floskeln, wie er noch beim Sprechen bemerkte, sondern entsprachen seiner vollen Überzeugung. „Der Weg hier ist so schmal, da bringt ihnen ihre Überzahl rein gar nichts, da geht es nur darum, wer besser kämpft!“

„Hm“, machte Akuma und zog seine Augenbrauen zusammen, was ihn spontan noch ein bisschen finsterer wirken ließ. Und dann, nach einiger Zeit des Schweigens, fügte er hinzu: „Hoffen wir, dass nur sie es sind.“

„Ja, aber…“ Kitai stockte, als Akuma eine herrische Handbewegung in seine Richtung vollführte – noch dazu mit der Hand, in der er nach wie vor das Seil seiner Fesseln hielt. Dann setzte sich der Samurai wieder in Bewegung, allerdings langsamer als zuvor, mit unverändert gespannter Körperhaltung. Eine leise Nervosität kroch in Kitai hoch, gepaart mit der durchaus berechtigten Frage, was um alles in der Welt wohl noch schlimmer sein konnte als eine Horde schwerstbewaffneter Samurai, die einem überaus hartnäckig nach dem Leben trachtete.

Kitais türkisblaue Augen schweiften gerade wieder zum Horizont, der mit den Silhouetten der Berge verschmolz, als er einen Schrei hörte, der seine Frage beinahe schon beantwortete.

Kitai bezeichnete das Geräusch gedanklich in erster Linie deshalb als Schrei, weil es alarmierend, schrill und unglaublich laut war. Ansonsten hatte es mit gleich welchen menschlichen Laut nicht allzu viel gemeinsam. Ein stechender Schmerz bohrte sich in seinen Kopf. Er wollte sich die Hände vor die Ohren schlagen, aber die waren ja immer noch gefesselt. Ein weiterer Schrei, lauter als der erste, zerfetzte die eisige Stille, und Kitai geriet ins Taumeln. In seinem Nacken richteten sich sämtliche Haare auf. Dieses grauenhafte Brüllen war nicht einfach nur Lärm, Kitai konnte es in jeder Faser seines Körpers spüren, wie das Kratzen von Fingernägeln auf einer Schultafel.

Akuma begann zu rennen.

Einen leisen Aufschrei konnte Kitai bei all seiner Willenskraft nicht zurückhalten. Akuma riss ihn hinter sich her, und als seine Füße so unsanft mit dem Boden kollidierten, war dem Weißhaarigen, als würde ihm die Haut von den Sohlen gezogen werden. Oder aufplatzen. Oder in tausend eisige Fetzen explodieren. Der Schmerz war überwältigend, aber Akuma warf Kitai über die Schulter einen derart tödlichen Blick zu, dass dieser es nicht mehr wagte, auch nur irgendeinen Laut von sich zu geben. Er presste die Zähne so fest aufeinander, dass er fürchtete, sie würden ihm im Mund zersplittern, und dann folgte er stolpernd dem Samurai des Todes.

Der Pass wand sich in immer engeren Schlingen um die graublaue Haut des Berges. Kitai kam mehr und mehr ins Rutschen, stolperte am Abgrund entlang, dass ihm schwindlig wurde, und zu allem Überfluss bohrte sich erneut ein Kreischen in seine Trommelfelle. Und dann, ganz plötzlich, kam Akuma vor ihm zum Stehen. Kitai bemerkte es zunächst gar nicht, da seine Augen auf das bisschen Weg unter und vor seinen pochenden und brennenden und wie in Säure gebadeten Füßen gerichtet waren. Er konnte auch nicht mehr anhalten, sondern prallte gegen den breiten Rücken des Samurai.

Und das war sein Glück. Direkt vor ihnen endete nämlich der schmale Bergpfad abrupt. Zu Akumas Füßen tat sich zwar kein bodenloser Abgrund auf, aber immerhin ein steil abfallender Abhang, übersäht mit Geröll, das sich schon unter ihren Blicken zu lockern schien. Auch die bleiche, schimmernde Schicht, die sich über den losen Fels gelegt hatte, verhieß nichts Gutes. Kitai musste einige Male blinzeln, als er merkte, dass ihm schwindelig wurde, und auch Akuma schien die Fortsetzung ihrer sowieso schon riskanten Flucht für keine allzu gute Idee zu halten, jedenfalls lief er nicht weiter. Nicht sofort.

Stattdessen fuhr er herum und zückte noch in derselben Bewegung sein Schwert. Kitai machte einen Satz zurück, als die Klinge nur mit hauchdünnem Abstand seine Brust verfehlte. Wieder ex- oder implodierten seine Fußsohlen, doch der Ausdruck auf Akumas Gesicht war ein überzeugendes Argument, diesmal keinen Laut von sich zu geben. Das machte den Schmerz nur leider nicht weniger brutal. Das Gemälde aus Weiß, Grau und Blau, in dem Kitai gefangen war, begann vor seinen Augen zu flackern, und in seinen Ohren übertönte ein lautes Rauschen die eisige Stille. Er suchte Halt an der Felswand, taumelte glücklicherweise in die richtige Richtung und wartete darauf, dass das Schwindelgefühl vorübergehen würde.

Er wartete nicht allzu lange, bis er feststellen musste, dass es überhaupt nicht der Schwindel war, der ihm das Blut in den Ohren rauschen ließ. Das Geräusch existierte tatsächlich, und es war schlicht und ergreifend das Schlagen von Flügeln in der kalten Luft. Das Schlagen von sehr großen Flügeln. Von gigantischen Flügeln, die einen grotesken Körper trugen, einen missgestalteten Vogelleib, aus dem zwei riesenhafte Pranken hervorwuchsen, nackt, sehnig und auf abstoßende Weise verformt. Den Kopf des… Etwas konnte Kitai nicht genau erkennen, aber auch er glich einem deformierten Menschenkopf von absurder Größe, mit einem riesenhaften Mund und einem schleimig roten Auswuchs, den der Weißhaarige gar nicht näher betrachten wollte. Seine türkisblauen Augen fixierten starr das Monstrum, das sich ihnen mit beunruhigender Geschwindigkeit näherte, und irgendwo in den gefrorenen Gedanken in seinem Hinterkopf wurde die brennende Frage laut, wo um alles in der Welt er hier eigentlich gelandet war.

Dann griff das Ungetüm an. Es streckte seine klauenbewehrten Beine nach vorne, presste einen markerschütternden Schrei hervor, der Kitai beinahe den Atem nahm, und stieß zielsicher auf seine menschliche Beute herab. Kitai sah dem Ganzen zu, unfähig, das Geschehen zu begreifen oder gar darauf zu reagieren. Seine Finger streiften langsam den kalten Stein, gegen den er gesunken war, suchten nach einem kleinen bisschen Realität, das die absurde Szenerie in irgendeiner Weise akzeptabler gemacht hätte, fanden aber nichts als vereiste Felswand. Da war ein Monster wie aus einem verdammt gut gemachten Horrorfilm und es würde sie vermutlich in Kürze töten. War das möglich? Nein, war es definitiv nicht. Also wie hätte er da noch reagieren sollen?

Diese Lethargie war trotz aller Absurdität, trotz aller Unmöglichkeit sein sicheres Todesurteil. Aber glücklicherweise war da ja noch eine zweite Alptraumgestalt an seiner Seite, und die blieb nicht annähernd so untätig wie Kitai. Akuma stand am Abgrund, sein Katana fest in den Händen, das pechschwarze Auge auf den monströsen Angreifer gerichtet, regungslos wie ein dunkles, bedrohliches Standbild. Eine Wolke ekelhaften Gestankes schlug Kitai entgegen, als das geflügelte Ungetüm ihnen so nahe kam, dass der Windstoß seiner Flügelschläge ihn beinahe von den Füßen riss. Es sperrte sein geiferndes Maul weit auf, um erneut zu brüllen, und genau in diesem Augenblick schlug Akuma zu. Es sah so aus, als ob die schwarze Klinge des Schwertes das Monstrum nur streifen würde, ganz leicht, beinahe sanft, aber die Bestie wurde mit einem Kreischen zur Seite weggeschleudert. Durch die kalte Luft wirbelten blutige grauschwarze Federn. Kitai spürte eine dumpfe Übelkeit in sich aufsteigen.

Und im nächsten Moment begriff er, dass Akuma seine Fesseln losgelassen hatte.

Die Situation war fast schon wieder zum Lachen. Da war ein widerwärtiges Untier, das ihnen brüllend und stinkend nach dem Leben trachtete, da war Akuma, der mit gezücktem Schwert auf dem schmalen Grat zwischen Himmel und Erde auf einen weiteren Angriff lauerte. Und da war er selbst, wie gelähmt vor Fassungslosigkeit, gefangen in einem tödlichen, eisigen, unglaublich schmerzhaften Alptraum und – frei. Kitai wollte wenigstens die Lippen verziehen, aber sie brannten und kribbelten so sehr, dass er es doch lieber bleiben ließ.

Was aber vielleicht das Erstaunlichste an dem Ganzen war: Diesmal reagierte Kitai nicht nur schnell, sondern auch so, wie ihm das als mehr oder weniger richtig erschien. Er machte zwei vorsichtige Schritte nach vorne und schob sich mit einem Geschick, das er sich um nichts in der Welt noch zugetraut hatte, zwischen Akuma und der Felswand hindurch (und da war verdammt noch mal nicht viel Platz!). Dann rannte er los. Es war ein Lauf in den beinahe sicheren Tod, und das wusste Kitai auch. Eigentlich blieb nur noch die Frage, ob er auf dem Geröll den Halt verlieren und sich das Genick brechen, von dem geflügelten Monster zerfleischt oder von Akuma eingeholt und zu Kleinholz verarbeitet werden würde.

Trotzdem blieb Kitai nicht stehen. Der lose Schutt unter seinen tauben Fußsohlen brachte ihn ins Taumeln, aber Kitai stützte sich an der Felswand ab und bewegte sich so rasch und umsichtig wie möglich vorwärts, ohne auch nur eine Sekunde lang den Kontakt zum eisigen Stein zu verlieren. Faktisch konnte er sich daran natürlich auch nicht festhalten, aber es gab ihm eine Illusion von Sicherheit und ein gewisses Gefühl für seinen eiskalten Körper. Schon nach wenigen Metern spürte Kitai ein hässliches Stechen in seiner Bauchgegend. Er war sich nicht ganz sicher, ob es nicht schon vorher da gewesen war, aber jetzt, da er es einmal bewusst wahrgenommen hatte, fragte er sich, wie er es jemals hatte ignorieren können. Und zu allem Überfluss hörte er dann auch noch Akumas Stimme, die ihm mit einem todbringenden Klang nachrief:

„Bleib sofort stehen!“

Spontan hatte es Kitai noch ein bisschen eiliger.

„Bleib stehen!“

Ein plötzlicher Windstoß riss an Kitais Haaren und zwang ihn zum Innehalten. Das Geräusch von Schritten auf dem felsigen Untergrund brach dennoch nicht ab, und als Kitai einen kurzen Blick über die Schulter zurückwarf, sah er, dass Akuma ihm folgte. Er hielt nach wie vor sein Katana in den Händen, aber das hinderte ihn nicht daran, sich mindestens doppelt so schnell fortzubewegen wie Kitai. Der versuchte ein, zwei Sekunden lang ebenfalls, sich zu beeilen, aber sofort glitt einer seiner Füße nach hinten weg. Kitai krallte seine Fingernägel gegen einen kleinen Felsvorsprung, stemmte sich trotz aller Schmerzen mit dem anderen Fuß gegen das spitze Geröll und fand mit angehaltenem Atem, heftig pochendem Herzen und noch stärker zitterndem Körper sein Gleichgewicht wieder.

Darüber hinaus hatte ihm sein waghalsiges kleines Manöver in erster Linie eines gebracht, nämlich, dass ihm Akuma sogar noch ein bisschen näher gekommen war. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis der Samurai des Todes ihn einholen würde, zumal das Zittern in Kitais Körper für ein schnelles und sicheres Vorankommen nicht unbedingt von Vorteil war. Er kam jetzt bei fast jedem Schritt ins Straucheln, und zu allem Überfluss konnte er auch noch der Versuchung nicht widerstehen, sich ein weiteres Mal nach seinem Verfolger umzudrehen, nur um festzustellen, dass dieser kaum mehr einen Meter von ihm entfernt war. Kitai war sich sicher, dass Akuma ihn mit einem Schwerthieb problemlos erreichen und durchbohren konnte.

Dann aber wurde etwas vollkommen anderes durchbohrt, nämlich Kitais Trommelfell, als die kalte Luft erneut von einem markerschütternden Schrei zerrissen wurde. In den wenigen Minuten – zwei, höchstens drei –, in denen Kitai nichts mehr von dem grauenhaften Monster gehört oder gesehen hatte, war ihm dessen Existenz schon beinahe wieder so surreal vorgekommen, dass er gar nicht mehr daran gedacht hatte. Jetzt aber kam das Ungetüm erneut auf die beiden schwarzen Gestalten zugestürzt, den deformierten Leib blutüberströmt, einen seiner gewaltigen Flügel deutlich träger bewegend als den anderen, aber mit derselben tödlichen Zielstrebigkeit wie bei seinem ersten Angriff.

Akuma fuhr herum – oder wollte es vielmehr tun, aber auf dem rutschigen Boden brachte diese schwungvolle Bewegung selbst ihn aus dem Gleichgewicht. Die Klauen des Monsters verfehlten den Kopf des Samurai nur um Haaresbreite, doch eine der Schwingen prallte gegen seinen Körper und nahm ihm jede Chance, den Halt auf dem lockeren Geröll noch wiederzufinden. Akuma stürzte. Mit einer letzten Kraftanstrengung riss er seine Waffe hoch, vollführte einen haltlos taumelnden Schritt nach vorne und stieß der geflügelten Abartigkeit sein Katana tief in den gefiederten Körper.

Dann schlug er auf dem Geröll auf. Das Monstrum, immer noch von der pechschwarzen Klinge durchbohrt, zog er zu sich hinab, und seine dunkle Gestalt wurde nahezu vollständig unter der abstoßenden Masse aus Sehnen und blutigen Federn begraben. Die zuckende, kreischende Abartigkeit wurde von ihrem immensen Gewicht beinahe augenblicklich in die Tiefe gerissen. Akuma nahm sie mit sich. Kitai sah noch, wie eine bandagierte Hand unter den Federn heraus vergeblich nach einem Halt auf dem losen Bodenbelag suchte, wie das lange Haar des Samurai einem schwarzen Fluss oder einem Seidentuch gleich über das staubige Grau des Gesteins gezogen wurde, dann verschwanden beide, Teufel und Monster, in einer schmutzigen Wolke aus Staub und Dreck und aufgewirbeltem Schnee.

Kitai wandte sich ruckartig ab. Er konnte natürlich nicht sagen, ob Akuma die – vielleicht im wahrsten Sinne des Wortes – halsbrecherische Rutschpartie in die Tiefe überlebt hatte, aber der Anblick ließ ihm ganz schwindelig werden. Trotzdem musste er weiter. Falls das Ungetüm Freunde und Verwandte in der näheren Umgebung hatte, wollte Kitai diesen ganz bestimmt nicht begegnen. Immerhin hatte er jetzt keinen freiberuflichen Todbringer mehr an der Seite, der künftige Angreifer wahlweise mit Blicken oder mit scharfer Klinge Willkommen heißen und postwendend ins Jenseits befördern konnte. Außerdem war da immer noch die Kälte, diese furchtbare, unerträgliche, niederschmetternde Kälte, die vielleicht sogar noch ein bisschen gefährlicher war als so manches fliegende Ungeheuer.

Aber wenigstens hatte Kitai seine Freiheit wieder. Das war immerhin mehr, als er sich noch vor nicht allzu langer Zeit erhofft hatte. Ein so unschönes Ende hatte er seinem Entführer ganz bestimmt nicht gegönnt, aber ein Ende mit Schrecken war ja bekanntlich trotzdem besser als ein Schrecken ohne Ende. Kitai horchte noch einige Sekunden lang in sich hinein, suchte nach Betroffenheit, Erleichterung, Angst oder Hoffnung, aber so wirklich fündig wurde er in keiner Hinsicht. Also tastete er sich eben weiter mit gefesselten Händen und blutigen Füßen an der Felswand entlang, Schritt um Schritt, schließlich hatte er es jetzt ja nicht mehr ganz so eilig wie noch kurz zuvor.

Kitai richtete seinen Blick auf das bläulich schimmernde Gestein. Nun, da er keinen Führer mehr hatte, musste er eben zusehen, wie er allein einen Weg zu Kagi fand. Im weiteren Sinne. Im engeren Sinne galt es erst einmal, eine Stadt zu finden. Neue Kleidung, ein warmes Bett, eine Suppe und Tee. Einen guten Arzt. Kitai hatte zwar immer noch nicht den leisesten Hauch einer Ahnung, wo er sich nun eigentlich befand – auf der anderen Seite des Spiegels, in einem komatösen Alptraum, in einem bislang noch unentdeckten Paralleluniversum –, aber angesichts der Tatsache, dass die Menschen hier offenbar einen beachtlichen Teil des Tages mit Kämpfen verbrachten, konnte er sich einfach nicht vorstellen, dass es keine Ärzte gab. Der Beruf musste hier eine ganz beachtliche Einnahmequelle sein.

Erst bei diesem Gedanken fiel Kitai auf, dass er ja überhaupt kein Geld bei sich trug. Nichts zu essen, nichts zu trinken. Nur seinen schäbigen Kimono, den etwas zu großen Hakama und ein abgewetztes Seil an den Handgelenken. Damit konnte er jedenfalls kein Hotel, kein Restaurant und keinen Arzt der Welt – vermutlich auch nicht dieser Welt – bezahlen. Die bittere Erkenntnis weckte selbst in Kitai ein leises Gefühl der Beunruhigung, und für einen Moment vergaß er vollkommen, auf den Weg zu achten.

Ob es tatsächlich diese kurze Unachtsamkeit war, die ihm letztlich zum Verhängnis wurde, oder ob ihm seine zerschundenen Fußsohlen endgültig den Dienst quittierten, konnte Kitai nicht sagen. Es spielte auch keine Rolle mehr. Der Boden schien urplötzlich einfach nachzugeben, vielleicht knickte Kitai auch einfach nur der Fuß um, ohne dass er es noch bemerkte, vielleicht löste sich tatsächlich einer der zahllosen Steine, vielleicht auch mehrere, jedenfalls verlor Kitai jeglichen Halt und es riss ihm buchstäblich die Beine unter dem Körper weg. Er versuchte, sich abzufangen, aber es gelang ihm nicht, seine zusammengebundenen Arme richtig zu koordinieren. Kitai schlug hart auf der Seite auf, wollte seine Finger, seine Füße, seine Schulter… wenigstens irgendetwas fest genug in den Boden drücken, um seinem Rutschen ein Ende zu bereiten, doch alles um ihn herum war in Bewegung geraten. Wie von einem unerbittlichen Sog wurde er in die Tiefe gerissen, schlitterte schneller und schneller den immer steiler werdenden Abhang hinab. Der aufwirbelnde Staub und die Flut von Schmerz, die durch seinen Körper wogte, führten einen erbitterten Kampf darum, wer ihm nun letztlich den Atem nehmen würde.

Dann nahm die Schlitterpartie ein jähes Ende, und auf das Rutschen folgte freier Fall.
 

Ende des zweiten Kapitels



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