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Die Bekenntnisse des Meisters

Niedergeschrieben von John H. Watson, M.D.
von

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Zu diesem Zeitpunkt konnte ich einfach nicht mehr, und das in mehr als nur einer Beziehung. Der Schnee der uns bisher nur gedroht hatte, erfüllte rachsüchtig besagtes Versprechen. Ein dichter weißer Sturm segelte in einem bitteren Nordwind herbei und meine Augen wurden vor Nässe geblendet. Augenblicklich gefror das Blut in meinen Venen. Als ich den Kragen meines Mantels ein wenig fester um meinen Nacken zog, wurde mein ganzes Wesen von einem heftigen Schauer überzogen.
 

„Doktor?” Eine Stimme in meiner Nähe, die ich als die des Inspektors erkannte, rief mich durch den Wind. „Ich fürchte das war’s. Vielleicht sollten wir uns lieber irgendwohin vor dem Wind in Sicherheit bringen?“
 

Ich schauderte wieder und fühlte einen seltsamen Knoten in meinem Unterleib. Meine Stiefel standen fest auf dem bereits rutschigen Boden. Eine Wärme legte sich auf meine Hand, ein kleiner blauer Fausthandschuh.
 

„Papa, bist du in Ordnung?“ Josh blickte mich stirnrunzelnd an und sowohl Neugier als auch Sorge verzerrten seine kindlichen Züge.
 

Das war ich nicht, aber ich versicherte ihm das Gegenteil mit einem knappen Nicken.
 

„Wollen wir dann, Leute?“ Lestrade deutete auf die Untergrundbahn und wir gingen langsam aus dem Wind.
 

Der Inspektor sah mich prüfend an, er war trotz seiner unbeholfenen Haltung in seinen Mantel gekauert, um gegen die Kälte anzukämpfen. „Sind Sie sich sicher, dass es Ihnen gut geht, Doktor?“
 

„Es geht mir bestens“, log ich.
 

„Sie schienen etwas…in Gedanken versunken, als ich eine mögliche Theorie des Verbrechens erwähnte. Wenn Sie es auch nur im Geringsten in Erwägung ziehen…“
 

„Ich tue nichts dergleichen, Lestrade! Ich habe Ihnen bereits erklärt, dass das, was sie vorschlagen, unmöglich ist! Sherlock Holmes ist zu so etwas absolut nicht fähig!“
 

Er versteifte sich etwas unter meiner Rüge. „Ja…ich vergaß, wie viel besser Sie diesen Mann kennen.“
 

„Sie wissen überhaupt nichts darüber!“
 

Ich brüllte das so laut heraus, dass trotz dem Geheul des Windes Lestrade, Josh und zwei vorübergehende Fremde in ihrem Schritt innehielten. Der Inspektor starrte mich verblüfft an, unfähig zu erfassen, was ich gerade gesagt hatte. Ich konnte es ihm kaum übel nehmen, denn in all den Jahren unserer Bekanntschaft hatte ich mich kein einziges Mal von meinem Temperament überwältigen lassen, aber nun brach es so plötzlich aus mir hervor, dass ich kaum wusste, was ich tat.
 

Oder wie es wirkte.
 

„Lestrade, ich…ich entschuldige mich.“ Selbstverständlich. Seit mittlerweile zwei Jahren hatte ich kaum etwas anderes getan, als mich zu entschuldigen. Das war die Grundlage meiner Beziehung zu Holmes. Mich bei Freunden und Familie für die Dinge entschuldigen, die ich geheim hielt und bei einander für die Dinge, die wir nicht genug geheim gehalten hatten. „Es war nicht meine Absicht zu…ähm, schreien…“
 

Er lächelte, wenn auch gezwungen. „Nichts passiert. Ich würde sagen, dass Wetter bekommt Ihren Nerven nicht unbedingt, hm?“
 

„Ja, natürlich.“ Ich erschauderte wieder. Allerdings hatte das Wetter nichts damit zu tun.
 

Die Teezeit war mittlerweile schon vorübergegangen und da unser Trio auf dem besten Weg zu einer Unterkühlung war, lud ich den Inspektor auf etwas Warmes in die Baker Street ein. Er akzeptierte mit einem Nicken, aber niemand nicht einmal Josh sprach während des Rückwegs. Wir hatten nichts erreicht oder zumindest redete ich mir das immer und immer wieder selbst ein, um nicht an meine Vision zu denken. Und doch war sie immer noch da, in meinem Unterbewusstsein. Das Kind mit dem düsteren Gesicht, den Augen aus Eis und den geballten Fäusten, das ich auf der Fotografie in jenem grässlichen Haus gesehen hatte, blieb in meinen Gedanken. Lestrade hatte gesagt, er kenne den Mann gut, aber trotzdem würde er immer der geheimnisvollste Mensch bleiben, den ich jemals kennen lernen sollte. Ich wollte mir selbst einreden, dass ich ihn gut kannte, aber es war eine Lüge. Der Mann, den ich zu kennen und zu lieben glaubte, hatte sich vor vier Tagen vollkommen verändert.
 

„Dieses Schneegestöber scheint bereits nachzulassen“, sagte Lestrade, als wir warm und trocknend vor dem krachenden Wohnzimmerfeuer saßen. „Vielleicht können wir früher weitermachen als erwartet? Vielleicht schon morgen?“
 

Mrs. Hudson erschien im selben Moment mit einem entzückenden Tablett, dessen Anblick meine durchweichten Sinne beinahe trunken machte. „Wir werden sehen, Lestrade. In der Zwischenzeit frage ich mich immer noch, ob das alles vielleicht ein Fehler war.“
 

„Das will ich wohl meinen, Doktor!“, schimpfte unsere Wirtin, während sie Kekse vor meinem Sohn abstellte. „Mitten in einen Blizzard zu rennen und dann durchnässt bis auf die Knochen zurückzukommen!“
 

Ich lachte sanft. „Das war wohl kaum ein Blizzard, Mrs. Hudson. Es hat bereits aufgehört.“
 

Aber sie wollte nichts davon hören. „Man müsste eigentlich meinen, dass zwei respektable Gentlemen wie Sie im Laufe Ihres Lebens zumindest ein bisschen Vernunft entwickelt hätten…“
 

„Man müsste es meinen, nicht wahr?“ Lestrade lächelte breit.
 

„Sie übertreiben wirklich, Mrs. Hudson. Wir haben kaum etwas vom Hauptstoß des Sturmes gespürt und ich kann Ihnen versichern, dass unsere Motive so ehrenhaft waren wie nur vorstellbar.“
 

Mrs. Hudson beäugte mich (meiner Meinung nach fast schon misstrauisch), als sie den Tee einschenkte. „Wissen Sie, Doktor, manchmal denke ich, Sie würden sich für Mr. Holmes noch einmal zu Tode arbeiten. Er verlangt zu viel von Ihnen.“
 

„Papa würde alles für Onkel tun“, bemerkte Josh, den Mund voller Krümel.
 

„Ja“, sagte Mrs. Hudson eher distanziert. „Das ist mir bewusst, Junge.“ Schnell und effizient sammelte sie die Überreste der alten Zeitungen auf, die wir für unser Feuer verwendet hatten und ging schweigend.
 

Ich fühlte wie mein Atem aus meinem Körper entwich.
 

Auch wenn Mrs. Hudson unter uns lebte, unsere Wäsche wusch und unsere Zimmer sauber hielt, hatte ich nie den Verdacht gehabt, sie könnte uns verdächtigen. Schließlich waren wir die absolute Definition von Vorsicht und Diskretion und trotz der panikartigen Angst, die Wilde unglücklicherweise in den Köpfen vieler gesät hatte, wäre ich niemals auf den Gedanken gekommen, dass so eine nette alte Dame wie unsere Wirtin irgendwelche Zweifel an unserem Charakter haben könnte. Vielleicht trifft uns die Naivität am eigenen Herd öfter als in der Fremde.
 

Ich erhob mich mit falscher Selbstsicherheit von meinem Sitz. „Was würden sie von etwas ein wenig Wärmerem sagen, Inspektor?“
 

„Ich würde nicht nein sagen.“
 

Ich schenkte jedem von uns ein, zwei Schluck von Holmes’ Whiskey ein. Auch wenn er einen Vorrat an Spirituosen im Haus hielt, nahm er selten mehr als einen Trunk nach dem Abendessen, abgesehen von sehr seltenen Stimmungen. Sein Vorrat an Whiskey war zu meiner Bestürzung irisch und ich denke dahinter steckt seine Absicht, mich nicht mit meinem vertrauten Scotch in Versuchung zu führen. In jenem Moment allerdings hätte ich alles getrunken, das mich beruhigt hätte. Nach dem ersten Schluck erlaubte ich mir einen zweiten, was mir einen Blick des Inspektors einbrachte. Die Taubheit in meinen Zehen verging und bewegte sich langsam aufwärts in mein Gehirn. Ich stopfte den Korken unbeholfen zurück in die Flasche. Beinahe sofort sehnte ich mich nach einem weiteren Glas.
 

„Kälter als Sie dachten, Doktor?“ Lestrade schob langsam sein leeres Glas beiseite.
 

„Ja, ziemlich.“
 

Er lachte schwach. „Ich würde mir keine Sorgen machen, Dr. Watson. Schließlich war es nur ein erster Versuch. Wenn wir dieser Sache mit ganzem Verstand nachgehen, dann werden wir sicher“—
 

„Ja, sicher, Lestrade“, unterbrach ich ihn. Aber ich wusste, dass ich den Fall von Philippa Holmes niemals lösen würde. In diesem kurzen winterlichen Schneegestöber, das uns ironischerweise umgeben hatte, lag ein Zeichen. Gottes Zorn. Sein Urteil.
 

„Der Schnee hört auf“, kommentierte Josh, als er ans Fenster trat. „Vielleicht könnten wir zurückgehen?“
 

Ich war unsicher, warum sie so eifrig waren. Es schien beinahe, als ob sie mich dazu nötigen wollten. Als ob sie wussten, wie dringend ich diesen Fall für Holmes lösen musste.
 

„Wir sind jetzt warm“, sagte Lestrade. „Ich denke, der Junge hat Recht. Was sagen Sie, Doktor?“
 

Es wurde dunkel und ich sah durch das Fenster, wie sich die Sonne längsseits hinter eine schwere Barriere aus grauen Wolken schob. „Ich denke nicht.“
 

Josh sprang auf die Füße. „Aber Papa“—
 

„Nun, ich habe mich doch wohl klar ausgedrückt!“
 

Schon wieder war meine Stimme gänzlich lauter, als ich es erwartet hatte. Nun taumelte nicht nur mein Sohn vor Überraschung, sondern auch der Inspektor zuckte merklich zusammen. Ich räusperte mich verlegen. Es war klar genug, dass ich mich zum Idioten machte. Aber als ich begann wie ein ermahntes Schulkind auf den Teppich zu starren, während ich schon wieder eine Entschuldigung vorbereitete, wurde ich unerwarteter Weise unterbrochen.
 

„Tss, Watson! Wie ungewöhnlich unhöflich von dir! Und dann auch noch wenn wir Besuch haben.“ Holmes erschien auf der Türschwelle in einem durchnässten Mantel und Hut, während geschmolzener Schnee gegen die Wand tropfte und seine normalerweise blasse Gesichtsfarbe war von der Kälter leicht gerötet. Aber er lächelte uns herzlich an, als er die besagten Gegenstände entfernte und die Hände aneinander rieb. „Ich hoffe sehr, ihr Gentlemen hab nichts Lohnendes ohne mich zusammenbraut, das ich nun verpasst habe.“
 

„Wo um Himmelswillen bist du gewesen?“, fragte ich überrascht und registrierte kaum seinen Tadel.
 

„Im Brennpunkt dieser kleinen Darbietung von Mutter Naturs Macht. Wo ihr drei zweifellos ebenso gewesen seid, wenn ich mir eure trüben Augen und rosigen Nasenspitzen so ansehe. Ich kann euch versichern, dass es das Feuer und jene Flasche noch um Einiges einladender macht.“
 

Lestrade nahm den Whiskey, den ich auf dem Beistelltischen zurückgelassen hatte und schenkte Holmes einen großzügigen Schluck ein. „Sie haben einen interessanten Tag verpasst, Mr. Holmes. Wenn der plötzliche Wetterumschwung nicht gewesen wäre, hätte man ihn beinahe schon produktiv nennen können.“
 

„Tatsächlich? Ich bin zutiefst betrübt.“
 

„Oh? Weil Sie nicht dabei waren?“
 

„Nein, nein. Weil Sie es beinahe geschafft haben, ohne mich produktiv zu sein.“ Holmes lachte und Josh machte es ihm nach. Lestrade nahm die Spöttelei mit Humor. Doch das einzige, woran ich denken konnte, war die Richtung des Gesprächs; wo es unvermeidlich enden musste. Ich wünschte mir mit einem Mal, das ich diesen Pfad niemals eingeschlagen hätte. Ich fürchtete sein Ende.
 

Und sicherlich hatte ich Recht. „Jetzt wo du wieder da bist, Onkel, werden wir es sicher lösen!“ Mein Sohn teilte ihm das mit, als wären es die besten Neuigkeiten, die man sich nur vorstellen konnte.
 

„Lösen?“ Holmes runzelte die Stirn.
 

„Wirklich, Josh, du brauchst nicht“—begann ich, aber wurde sofort unterbrochen.
 

„Den Fall deiner Schwester. Wir werden ihn lösen!“ Er strahlte sein Vorbild an.
 

„Meine…Schwester…?“
 

Die Verwandlung geschah augenblicklich. Es muss beinahe schon klischeehaft klingen, wenn ich darauf bestehe, dass alle Farbe aus seinem Gesicht wich, mehr noch da sein Gesicht ohnehin schon beinahe farblos war, aber ich schwöre, dass ich für eine kurze Sekunde glaubte, er würde sogar in Ohnmacht fallen.
 

Die Art, wie er von seinem Stuhl aufsprang, erinnerte mich so sehr an Joshs Benehmen an eben jenem Morgen, dass ich sicher war, er würde einen Wutanfall bekommen. Aber in jenem Moment war es sicherlich nicht Wut auf seinem Gesicht sondern Angst. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er zuerst auf den Jungen und dann auf mich selbst. Sein Adamsapfel bewegte sich stumm auf und ab. Schließlich sprach er zu mir.
 

„Was hast du getan?“
 

Lestrade, der auf die Gefühle dieses Mannes nicht so gestimmt war wie ich, lachte. „Ich muss schon sagen, Mr. Holmes, was zum Teufel ist über Sie gekommen? Sie sehen aus, als hätten Sie einen Geist gesehen!“
 

Holmes sah ihn kaum an. Tatsächlich schien er die Bedeutung von Lestrades Worten gar nicht zu erfassen. Stattdessen räusperte er sich und sagte leise. „Gentlemen, ich bitte Sie, mich zu entschuldigen.“ Er eilte durch den Raum und schlug seine Zimmertür heftig hinter sich ins Schloss, während er uns drei voller Verwunderung rund um den Tisch zurückließ.
 

„Nun, Doktor, das war wohl kaum die Reaktion, auf die wir gehofft hatten“, sagte Lestrade, während er mich seltsam mit gerunzelten Brauen betrachtete.
 

„In der Tat.“ Ich fühlte, wie die Schwere der Situation schmerzhaft meine Brust zermalmte. Wie gewöhnlich blieb es mir überlassen, für Holmes’ Benehmen eine würdevolle Entschuldigung zu finden, die ihn vor Verlegenheit schützen würde. Aber wie konnte ich ihn Wahrheit auch nur irgendetwas erklären? Ich zuckte zusammen, als sich der Schmerz im Inneren steigerte. Es war der Schmerz entsetzlicher Erkenntnis. Ich drehte mich zu den anderen mit einem lauten Stöhnen um.
 

„Ich fürchte, ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht.“
 

Ein verwirrter Ausdruck zuckte über Lestrades Gesicht und ich konnte ihm kaum vorwerfen, dass er nicht begriff. Josh allerdings wirkte sogar ängstlich. „Was für einen Fehler?“, fragte er vorsichtig.
 

Ich konnte als Antwort nur den Kopf schütteln. „Entschuldigt mich, aber ich muss das regeln.“
 

Er stand genau in der Mitte des Zimmers und seine Augen waren genau auf die Tür gerichtet, sodass sie sich, als ich eintrat, sofort mit den meinen trafen. Ich war mir nicht sicher, ob es Absicht war; dass er wusste, dass ich ihm nachgehen würde oder ob er diesen Punkt nur zufällig gewählt hatte, um sich zu fassen. Er wirkte mit Sicherheit so, als hätte er keine Ahnung, was er sagen sollte.
 

Auch ich fand mich selbst in einem ähnlichen Zustand.
 

Aus dem Bauch heraus, hätte ich ihn, nachdem ich die Tür geschlossen hatte, am liebsten in die Arme genommen, hätte seine dünne Gestalt mit unsicheren Händen umarmt, bis wir uns zu einem vollkommenen Wesen zusammengedrückt hätten.
 

Aber das war keine durchführbare Lösung.
 

Sein Blick ruhte auf meinen Händen, als ob er meine Gedanken lesen könnte. Mittlerweile – nach so vielen Jahren – konnte er es vielleicht. Für eine Sekunde sah ich, wie sich die langen, flinken Finger seiner rechten Hand bewegten. Ein Zucken. Ich dachte, dass er nach den meinen greifen könnte, aber er tat es nicht. Stattdessen fielen seine Augen leer und sinkend auf den grauen, durchgetretenen Teppich seines Fußbodens.
 

„Du wirst wirklich mehr üben müssen“, sagte er leise. „Wenn du mich tatsächlich irreführen willst, Doktor.“
 

„Was? Dich irreführen?“
 

„Ich wusste schon in der Sekunde, in der ich deinen Gesichtsausdruck sah, dass etwas nicht stimmte. Du wärst ein furchtbarer Schauspieler, fürchte ich [1]. Geweitete Pupillen, zerfurchte Brauen, rot im Gesicht…du hast mindestens zwei Whiskeys getrunken.“ Er sah schroff auf. „Du trinkst nur dann so viel, wenn du dir über etwas Sorgen machst. Du hast mich mit Sicherheit nicht zurückerwartet, bevor du diese Angelegenheit über die Bühne gebracht hättest“—
 

„Das ist nicht wahr! Ich wollte dir nur helfen!“
 

Er war nun weit weg, so weit weg, dass ich ihn nicht hätte berühren können, ohne mich zu bewegen. Ich konnte den gewaltigen Abstand zwischen uns tatsächlich sehen.
 

„Und warum solltest du auf die Idee kommen, dass es helfen würde, wenn du deine Klaue von einer Hand direkt in meinen Körper bohrt und mir mein schlagendes Herz herausreißt!“
 

„Aber es quält dich!“
 

„Natürlich! Aber mit Sicherheit, Doktor, kannst du nicht über den monströsen Egoismus verfügen, dich zu erdreisten, dass du auch nur annähernd die Fähigkeiten dazu besitzt, diese Sache in Ordnung zu bringen!“
 

Ich konnte die Worte kaum hören, so sehr schrie er. Josh und Lestrade konnten es mit Sicherheit ebenso gut hören. Ich hatte immer ihn als den Egoistischen von uns beiden angesehen. Hatte ich wirklich gedacht, dass ich ihn würde in Ordnung bringen können? Wenn eine solche Heilung überhaupt existierte. Ich war ein Mediziner; es war meine Beruf, zu heilen. Aber nicht so.
 

„Holmes“, sagte ich sanfter. „Ich dachte, dass die Wunde anfangen könnte zu heilen, wenn du erst eine Antwort auf den Fall deiner“—
 

„Ach, dachtest du das?“ Die Art, wie er mich nicht anblickte, macht mich nervöser, als unser erster unerwarteter Kuss vor so langer Zeit. Er würde mich nicht ansehen.
 

„Als wir in Cornwall waren“, versuchte ich zu erklären. „Erzählte mir Mycroft, dass das, was du brauchst, vielleicht eine Antwort sein könnte. Er sagte“—
 

„Mein Bruder ist ein pedantischer, selbstsüchtiger Egoist. Er weiß nichts von meinem Schmerz!“
 

Seinem Schmerz. Die beinahe schon schrille Schärfe seiner Stimme, die Grausamkeit und die Verzweiflung, die in seinen Worten lagen, machten mich so unglaublich besorgt. Ich taumelte ein oder zwei Schritte rückwärts. In weniger als einer Sekunde waren die grauen Augen auf mir, studieren mich rasch. Augenblicklich härtete sich jenes Grau zu Stein. Es war ein Blick, den ich noch nie von ihm erhalten hatte und denn ich auch niemals mehr erhalten würde. Ein Blick von…nun, Abscheu ist wirklich das einzige Wort dafür. Abscheu und Verrat.
 

„Aber das ist noch nicht alles. Nicht wahr, mein lieber Doktor? Mit Sicherheit kann ich dir deine philanthropischen Missetaten bis zu einem gewissen Punkt vergeben, aber das ist noch nicht alles. Ich kann es in deinem Schweigen lesen, in deiner überaus sorgsamen Wortwahl. Wie sorgsam du entscheidest, was genau du mit Lestrade besprochen haben musst. Es gibt einen anderen Grund für den Ausdruck auf deinem Gesicht, als ich durch die Tür hereinkam.“ Er hielt inne und einen Moment lang dachte ich, er wollte nicht weiter sprechen. Er hob seine Hand an die Lippen und berührte sie sanft. Die Finger bewegten sich langsam hinunter zu dem markanten Kinn, wo sie einen Augenblick lang verweilten, bevor sie sich schließlich zu einer Faust ballten, die er so heftig gegen die Wand schlug, dass ich vor Überraschung aufschrie.
 

„Du denkst, dass ich sie ermordet habe, nicht wahr?”
 

Er war eine entsetzliche Angst, in der er dies schrie, kaum der Zorn, den ich erwartet hätte. Aber es machte keinen Unterschied. Er hatte es gesagt. Und unsere Leben würden nun deshalb für immer verändert sein. Es war nicht unbedingt die Behauptung selbst, sonder die Tatsache, dass wir beide wussten, dass es stimmte. Er musste in der Lage gewesen sein, es in meinem Gesicht zu lesen. Er konnte immer viel mehr sehen, als ich beabsichtigte, egal wie sehr ich mich auch bemühte. Und trotz meiner Scham konnte ich nicht wegsehen.
 

Holmes nickte knapp, so als ob er entweder etwas entschied oder die Situation akzeptierte. „In Ordnung“, sagte er, als seine Stimme wieder etwas Ruhe und Autorität zurückgewonnen hatte. „Her damit. Gib mir ein…Szenario, wenn du willst.“
 

„Was?“
 

„Ein Szenario! Eine plausible Lösung! Biete mir eine Abfolge von Ereignissen an, die den bekannten Daten entsprechen. Es muss eine Abfolge von Ereignissen sein, die sich selbst so wie die Glieder einer Kette miteinander verbinden.“
 

Ich versteifte mich vor Angst. „Also wirklich, Holmes.“
 

Seine Augen loderten in meine Richtung. Das Gas flackerte. „Du wirst das tun. Für mich.“
 

„Werde ich das? Warum?“
 

„Einfach – Logik, Mann! Ich kann Logik vergeben!“ Sein Gesicht verzerrte sich in etwas, das beinahe schon Qual war. „Aber keine blinde Irrationalität! Keine…Leidenschaft! Wie kann ich das vergeben? Um Gotteswillen, John! Gib mir eine plausible Lösung!“
 

Wenn es Qual war, wusste ich, sie war echt. Es gab kaum eine Gelegenheit, da dieser Mann solche Leidenschaft zeigen würde. Tatsächlich war es die einzige Gelegenheit. Und um es zu beweisen, hatte er meinen Taufnamen benutzt. Es gab nichts, womit ich das bekämpfen konnte, außer aufzugeben.
 

Ich seufzte tief, versucht all das angespannte Grauen dieser Situation aus meinen Lungen hinaus zu zwingen. „In Ordnung“, sagte ich sanft. „Für dich also. Eine plausible Lösung.“ Ich konnte kaum denken, während ich sprach, erlaubte einfach fünfzehn Jahren der Beobachtung, Erkenntnis und Vorstellung aus mir hervorzubrechen. Es war sowohl schmerzhaft als auch befreiend, es zu tun.
 

‚Das Herz des Jungen ist nun wie Feuerstein. Er fühlt das Gewicht der Pistole in seiner Hand – ihr kalter Stahl passt zu seinen Augen. Als er sie aus dem Waffenzimmer seines Vaters stahl, war er sich nicht sicher, was er damit tun wollte. Es war nicht etwas, worüber er nachgedacht hatte. Er tat es einfach. Davies hatte die beiden verlassen und sie waren nun allein. „Sherlock, bitte!“, schrie Philippa, aber er rannte davon und verließ sie. Die Wut in ihm war wie eine Krankheit und er kannte nur einen Weg, um sie aufzuhalten.’
 

‚Er war sich nicht einmal sicher, ob er sie wirklich töten wollte. Nein, er wollte sie ganz bestimmt nicht töten. Aber die Pistole schien ihren eigenen Willen zu haben. PENG! Er beobachtet ihren Sturz. Wie ein Sack Steine fiel sie in eine Lache von Blut. Aber es war nicht seine Schuld, jemand hatte seinen Arm getroffen, sein Ziel durcheinander gebracht. Er warf die Waffe in die Menge. Wahrscheinlich würde sie jemand aufheben und mit sich nehmen. Beim Pfandleiher war sie eine Wochenration an Essen wert.’
 

‚Die Leute haben den Schuss natürlich gehört. Sie laufen Amok wie aufgescheuchtes Vieh. Zu der Zeit, als er sie erreicht, ist sie beinahe schon tot. Die Erkenntnis, was er getan hat, trifft ihn so unmittelbar, dass er auf die Knie fällt. Es ist der bedeutsamste Augenblick seines Lebens. Als er seine entsetzlichste Sünde betrachtet, erkennt er, dass er den Rest seines Lebens damit verbringen wird, es wieder gut zu machen. Das Verbrechen aus seinem Gedächtnis zu löschen. Vergeblich.’
 

‚Er darf nie wieder lieben, um sicher zu sein. Nachdem sein Bruder seine geistige Gesundheit rettet und ihn zur Schule schickte, beginnt er mit seinen Versuchen, jedes Gefühl zu verlieren. Die Wissenschaft ist nun seine Welt – Chemikalien, Einzelheiten, Verbrechen. Es ist eine Welt vollkommen aus Logik, in der es keine Chance gibt, dass er jemals wieder das wird, was er einst geworden war, wenn auch nur für einen Moment, im Alter von zehn Jahren. Als er sich von seinen Gefühlen so sehr überwältigen ließ, dass er sich nun selbst davon abhält, jemals wieder zu fühlen, abgesehen von der gelegentlichen Erinnerung an seine Schwester in einem einsamen Violinenspiel. Er wird nie wieder verwundbar sein. Ich habe nie geliebt [2], sagte er einmal. Und wann immer jene euphorische Logik bedroht wird, benutzt er Rauschmittel, um den Dämon zu vertreiben. Es hält ihn bei Verstand.’
 

‚Aber dann geschieht etwas. Sein Leben aus kaltem Stahl wird von etwas Unerwartetem ersetzt. Er braucht jemandem, der mit ihm seine Unterkunft teilt. Und plötzlich mit einem Lächeln und einem Händeschütteln fühlt er, wie das Metall zu schmelzen beginnt. Er kann es nicht ändern. So sehr er auch versucht, seinen Verstand mit Fällen und Kokain zu beschäftigen, liegt darin ein Gedanke, von dem er sich nicht befreien kann. Er wächst in ihm, bis er an nichts anders mehr denken kann. Er muss gehen – hofft, dass die Entfernung genug ist, um diese Gefühle auszulöschen. Es könnte funktionieren, aber nur für eine kurze Weile. Als er Jahre später auf die tosenden Wasser der Reichenbachfälle hinabblickt, hat er es schließlich ausgesprochen. Es gab nichts, was er tun konnte. Alles war aus.’
 

„Oder besser gesagt, ich vermute jetzt ist alles aus“, sagte ich. „Es…passt alles.“ Ich hätte weiter machen können, aber als ich inne hielt, um Atem zu holen, erstarrte ich. Mein Zuhörer wirkte so vollkommen berauscht, dass es unmöglich gewesen wäre, weiter zu sprechen. „Also wie ist das?“, fragte ich den sprachlosen Detektiv. „Ist es plausibel genug, dass du mir vergeben kannst?“
 

Er war ein Meister der Täuschung. Wie viele Male hatte er selbst mich hereingelegt und wie viele zahllose andere? Und doch hatte ich anscheinend durch die Maske geblickt, die er täglich trug, die gewöhnlichste, seit so viel länger, als es mir klar gewesen war. Ihn diagnostizieren war nichts, dass ich jemals freiwillig getan hatte, aber unwillkürlich musste ich die Einzelheiten seit Jahren in meinem Kopf herumgedreht haben. Es auszusprechen, es zu ordnen, ließ jedes Stück davon so vollkommen logisch erscheinen. Er war ein einzigartiges Wesen, ein Mann so ungewöhnlich wie ich in meinem ganzen Leben keinen anderen getroffen hatte oder noch treffen sollte. Und doch existierte eine Methode in diesem Wahnsinn, in dem wir lebten. [3] Jedes Ereignis in seinem Leben und jeder Aspekt seiner ungewöhnlichen Natur gipfelten in meiner oben genannten Definition seiner selbst. Oh, wie absolut vernünftig es doch war! Wie sowohl brillant als auch verwundert fühlte ich mich an jenem bedeutsamen Moment! Aber als ich die Verwundbarkeit, die Angst und Betroffenheit in seinem Gesicht sah, wusste ich, dass trotz der Richtigkeit, der Akkuratesse von dem, was ich gesagt hatte, hatte ich einen Mann mit jener Richtigkeit zerstört. Er war mir in jenem Moment ebenbürtiger, als er es jemals gewesen war oder noch sein würde.
 

„Nun?“, wiederholte ich sanft, als er immer noch schwieg. „Sprich, Mann.“
 

Ich beobachtet, wie sich seine Augen langsam von der Stelle auf dem Boden direkt vor mir hoben, die sie studiert hatten. Für eine Sekunde, aber nur eine Sekund trafen sie die meinen mit einem Ausdruck von Verwirrung, der mich daran zweifeln ließ, ob er mich erkannte. Das dauerte nur kurz an, aber es war genug, um mir einen Schauer über den Rücken zu jagen. Sein Blick fiel wieder und er klopfte nervös auf die Taschen seines Mantels. Auf der Suche nach Tabak ohne Zweifel. Allerdings musste er sein Etui verlegt haben, denn er hörte auf und holte tief Atem. Ich konnte nicht anders, als zu bemerken, dass seine Schultern leicht sanken, als er mir den Rücken zuwandte. Normalerweise stand er aufrecht und autoritär. „Nun, Watson.“ Seine Stimme war kaum hörbar. „Du hast es sehr gut gemacht. Du solltest…du solltest deine eigenen Fähigkeiten in diesen Fiktionen, die du so gerne schreibst, nicht so herunterspielen.“
 

Ich dachte, ich wäre nicht in der Lage, zu atmen. „Dann habe ich…also Recht?“
 

„Hast du das?“
 

„Das hoffe ich sicherlich nicht!“
 

Wir betrachteten einander kühl und verzweifelt. Aber wenn ich später in meinem Leben an diesen Höhepunkt unserer Beziehung zurückdachte, war ich mir sicher, dass die Verzweiflung weit mehr von Holmes’ Seite kam. Er mit seinem überlegenen Verstand wusste, was geschehen würde, wie es enden würde.
 

Schlimm. Tragisch.
 

Aber es würden Jahre vergehen, bevor ich das erkennen sollte. Jahre bevor ich erkenne sollte, wie viel wir beide wegen ein paar wenigen entscheidenden Tagen verlieren würden. Wenn ich es nur gewusst hätte.
 


 

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[1] Das genaue Gegenteil von dem, was er Watson früher erzählt hat.
 

[2] In „Der Teufelsfuß“ erzählt er Watson: „Ich habe nie geliebt, aber wenn ich es hätte, und die Frau, die ich liebte…“ Wir wissen natürlich, dass sein Biograf ihn damit nur gedeckt hat.
 

[3] Polonius, aus Hamlet – „Ist dies schon Wahnsinn, hat es doch Methode.“ 2. Akt, 2. Szene (Original: „Though this be madness, yet there is method in’t“)



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