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Die Bekenntnisse des Meisters

Niedergeschrieben von John H. Watson, M.D.
von

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Hier kommt schließlich das nächste Kapitel. Es tut mir Leid das ich immer so lange brauche (-.-°) und ich bedanke mich gerade deshalb bei den Kommentatoren, die dieser Fanfiction dennoch treu geblieben sind.
 

Die Baker Street hatte noch niemals so einladend ausgesehen, dachte ich, als mein Blick schließlich darauf fiel. Mit seinen überfüllten Straßen, vertrauten Geschäften, beißenden Gerüchen und grölenden Bewohnern, wollte ich nichts lieber, als durch die wunderbare grüne Tür der 221B zu rennen. Das Leben würde wieder alltäglich werden, aus Fällen bestehen und aus dem Schreiben und der Erziehung meines Kindes. Und Holmes und ich hatten einen gewissen Punkt des Verstehens erreicht, so vermutete ich. Ein Punkt, an dem ich meinem Verstand von all seinen Sorgen ruhe gönnen konnte. Das zumindest war es, was ich dachte.
 

Unsere Wohnung erschien dunkel und leblos, wie ein ironisches Gegenstück zu der Eile und der Geschäftigkeit in den hellen Straßen unserer Stadt. Es war seltsam, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass Mrs. Hudson ihren niemals endenden Pflichten derartig nachgehen würde und wenn sie irgendwo anders war, wo war dann mein Sohn? Ich rief sie, während der Kutscher unser Gepäck auslud, aber ich erhielt keine Antwort.
 

„Denkst du, sie sind irgendwohin ausgegangen? Ich habe ihnen ein Telegramm geschickt, dass wir mit dem 1:14 kommen würden.“
 

„Man möchte meinen, unsere gute Haushälterin sei in der Tat verschwunden“, erwiderte Holmes, während er abwesend einige Münzen in die Hand des Mannes fallen ließ.
 

„Was? Sie würde niemals“—
 

„Natürlich nicht. Wenn du deine Aufmerksamkeit hierher lenken würdest“—seine Hand deutete rasch auf das Bonnet einer Frau, das oben auf dem Gestell für unsere Stöcke lag. „Dann wirst du, wie ich meine, bemerken, dass wir Gäste haben. Es ist eine neue Mode und prunkvoll in seiner Verzierung, allerdings alles andere als teuer…“ Er hielt inne, um zu spotten, während er den Hut betrachtete. „Das heißt, sie ist sehr jung. Jung und aus einer Arbeiterfamilie der Mittelklasse. Ein Rotschopf…nun, das passt zu den Hudsons, schätze ich. Ich bezweifle, dass unsere vorsichtige Wirtin irgendjemanden hier hereinlassen würde, um bei dem Jungen zu bleiben, wenn er nicht zur Familie gehörte. Daher“—
 

„Sehr richtig, Mr. Holmes.“
 

Wir beide drehten uns um, nur um eine wahre Göttin der Weiblichkeit die Treppe hinabsteigen zu sehen. Nun, das ist, wie ich gestehe, zumindest das, was ich erkannte. Für Holmes mochte es ein Dämon gewesen sein, eine gefährliche Kreatur mit Fangzähnen und Hörnern. Eva, die uns die verbotene Frucht entgegenstreckte. Aber was auch immer er sah, ich war hingerissen von blauen Augen und kastanienbraunem Haar. Eine schlanke Gestalt von elfenbeinfarbener Haut, das wie Porzellan mit Grübchen wirkte, als sie uns anlächelte. Ich könnte nun damit fortfahren, all die verschiedenen Aspekte ihres Körpers aufzählen, die mir ins Auge stachen und von denen einige dabei waren, die zu bemerken, mich in Verlegenheit bringen würde, aber das werde ich nicht. Um es zusammenzufassen, sie war eine wunderschöne Frau, deren Näherkommen meine Zunge augenblicklich trocken werden ließ. Es war ein herrlicher Anblick.
 

„Ich bin Julia Hudson. Ihre Wirtin ist meine Großmama, Großmama Martha.“
 

Dann wand sie sich mir zu und bot mir eine satinweiche Hand an, die ich eifrig drückte. „John Watson. Es ist mir ein Vergnügen, Miss Hudson.“
 

„Natürlich sind Sie das.“ Ich bemerkte, dass sie ein äußerst unverkennbares Grinsen hatte. Es war nicht genau das, was ein Mann als reizvoll beschreiben würde, sondern eher ein wenig schief, aber es war selbstsicher und subtil. „Sie sind also der gute Mieter, von dem, was ich höre.“
 

Ich schaffte es nur, zu lächeln wie ein völliger Narr. Ein entzückter Narr.
 

„Und das ist natürlich Ihr gefeierter Freund.“ Mit jedem bisschen Charme, das ich sofort in der jungen Lady erkannt hatte, lächelte sie und sagte zu meinem Freund: „Aufgrund von Dr. Watsons Fällen und den Erzählungen meiner Großmutter habe ich das Gefühl, als würde ich Sie bereits kennen, Mr. Holmes.“
 

Holmes starrte auf die Hand, die sie ihm anbot, so wie ein anderer Mann wohl eine angriffsbereite Schlange betrachtet hätte: mit weiten, gefährlichen Augen und einem beinahe erstarrten Gesichtsausdruck. Das überraschte mich, denn wie ich in meinen Fällen angemerkt habe, war mein Freund trotz seiner Meinung über das schöne Geschlecht stets ein ritterlicher Gegner. Aber im Moment war galant das letzte Adjektiv, mit dem ich ihn beschreiben hätte. Er sah ängstlich aus – ängstlich und giftig.
 

„Holmes…“, murmelte ich nach seinem seltsamen Schweigen und zwang ihn mit meinem Gesichtsausdruck wieder zurück in die Wirklichkeit. Aus irgendeinem Grund funktionierte es. Holmes blinzelte ein paar Mal, bevor er kurz die Hand der jungen Lady schüttelte und so leicht nickte, als ob diese Geste ihm Schmerzen bereite.
 

„Sie sind sehr abgelenkt“, sagte Miss Hudson. „Und deduzieren zweifellos mein ganzes Leben von einem Fleck auf meiner Hand oder der Farbe meiner Augen.“
 

Im ersten Moment glaubte ich beinahe, dass er genau das tun würde und dass wir ihrer ganzen Lebensgeschichte würden lauschen müssen. Stattdessen sagte er: „Ich bezweifle sehr stark, dass Sie mich tatsächlich von Watsons Berichten her kennen könnten. Eine Tatsache, die er zweifellos bestätigen wird. Wenn ihr beide mich entschuldigen würdet…“ Er hastete an uns vorbei und war schneller als eine Windböe die Treppe hinauf.
 

„Sie werden ihn entschuldigen müssen, Miss Hudson“, sagte ich, während ich versuchte, nicht erschüttert den Kopf zu schütteln, als ich ihm beim Verschwinden zusah. „Er hat ein paar anstrengende Tage hinter sich.“
 

„Ah…ein besonders schwieriger Fall?“
 

„Nein…in Wahrheit, seine Mutter…sie verschied vor Kurzem. Wir sind auf dem Begräbnis gewesen.“
 

„Oh, das tut mir Leid für ihn.“ Auch ihr Blick fiel auf das leere Stiegenhaus. „Ich weiß, wie er sich fühlen muss. Ich selbst habe meine Mutter schon im Alter von sieben Jahren verloren.“
 

In jenem Moment fühlte ich, wie sich die Verbindung zwischen uns festzementierte. Aber natürlich sagte ich nichts.
 

Wir verließen zusammen den Eingangsbereich und gingen in das Esszimmer, das Mrs. Hudson niemals benutzte und ich konnte die Gelegenheiten, da ich es betreten hatte, an der Hand abzählen. Es war natürlich alles perfekt angeordnet. Der englische Eichentisch, antike Kerzenständer aus Silber und smaragdgrüne Tapete. Sie war von winzigen rosa Rosetten bedeckt, was mir noch nie zuvor aufgefallen war. Wie außerordentlich hässlich.
 

„Sie müssen nicht hier bleiben und mir Gesellschaf leisten, Doktor“, sage Miss Hudson nach einem Moment. „Sie wollen doch bestimmt nach Ihrem Sohn sehen. Oder nach Mr. Holmes…“
 

„Nein“, sagte ich sofort. „Nein…das ist das Letzte, was Holmes will, das versichere ich Ihnen. Und Josh…ich bin mir sicher, es geht ihm gut. Holmes ist wahrscheinlich bei ihm und bereitet seine Lehrpläne vor. Ich werde bei Ihnen bleiben, bis Mrs. Hudson zurückkommt Und bitte, ich bestehe darauf, dass Sie mich John nennen, Miss Hudson.“
 

Sie lachte leicht. „Nicht wenn Sie mich weiterhin ‚Miss Hudson’ nennen.“
 

Gegenüber des Tisches hin eine Fotografie, gerahmt in leicht angelaufenem Gold. Es war mir noch nie in den Sinn gekommen, sie anzusehen.
 

„Der hier ist Vater“, sagte Julia und zeigte auf ihn.
 

Ich konnte kaum glauben, wie jung die liebe Mrs. Hudson aussah, bevor Jahre der Strapazen und harten Arbeit an ihr ihre Spuren hinterlassen hatten. Ihr voller Haarschopf musste wohl denselben wundervollen Rotton gehabt haben, wie der ihrer Enkeltochter und ihr Lächeln war fast ebenso bezaubernd. Aber die Augen waren gleich. Eine Nuance von Metall, härter als Stahl.
 

Die junge Martha war von ihrer Familie umgeben. Ein hart aussehender Kerl mit demselben finsteren und kalten Ausdruck, der von jedem wahren Schotten erwartete wurde. Wegen des dichten Walrossschnauzbartes war es unmöglich seinen Mund zu sehen, aber er hätte sicher nicht gelächelt. Von den Kindern, es waren vier – alles Söhne, war der jüngste sogar kleiner als Josh. Julia hatte von dem Ältesten als ihrem Vater gesprochen, einem straffen Jungen und dem einzige mit dem Aussehen seiner Mutter.
 

„Ein stattlicher Kerl“, sagte ich.
 

„Das ist er. Oder eher war. Mutters Tod hat ihn schwer getroffen und seit dem ist er kaum noch derselbe Mann.“ Sie hielt inne, aber erlangte augenblicklich wieder ihre Fassung zurück. „Er arbeitet zu hart, das ist alles. Bevor Mutter starb, war er ein ausgezeichneter Offizier in der Armee Ihrer Majestät und diente in der Nähe von Madras[1] mit den 21st Royal Scot Fusiliers.“
 

„Wirklich? Nun, ich selbst war bei den 5th Northumberland Fusiliers, stationiert in Bombay. Natürlich habe ich die meiste Zeit in Candahar verbracht, als die Schlacht von Maiwand ausbrach.“
 

„Natürlich“, sagte Miss Hudson. „Ich habe das in Ihrem ersten Fall gelesen. Sie wurden verwundet. Wenn das nicht geschehen wäre, hätten Sie Mr. Holmes wohl niemals getroffen.“
 

„Das ist wahr genug.“
 

„Ich war noch ein Kind, als ich in Indien gewesen bin. Kaum älter als sieben, als Papa mich zurück nach Schottland brachte, nachdem er…nachdem sein Dienst beendet war.“
 

„Sie haben auch in Schottland gelebt?“
 

„Größtenteils in der Gegend von Aviemore. Aber Papa ließ sich nie wirklich nieder. Wir zogen oft um.“
 

Ich lachte angesichts dieses unglaublichen Zufalls. „Nun, mein eigener Vater stammt aus Inverness!“
 

„Dann sind wir ja praktisch verwandt, Doktor.“
 

In der Mitte dieses Gesprächs öffnete sich die Tür und Mrs. Hudson trat ein, immer noch in Überwurf und Bonnet, in der einen Hand ein großes und köstlich aussehendes Huhn und ihren Marktkorb in der anderen. „Du liebe Güte! Sind Sie etwa schon zurück, Doktor? Ich hatte vollkommen die Zeit vergessen. Ich hatte gehofft diesen Vogel bereits gewürzt und im Topf zu haben, bevor Sie und Mr. Holmes ankommen würden.“
 

„Aber das macht doch nichts, meine Liebe“, versicherte ich ihr. „Ich hatte eine vollkommen angenehme Unterhaltung mit Ihrer reizenden Enkeltochter.“
 

„Sie schmeicheln mir, Doktor.“ Miss Hudson lächelte, aber es war nicht im Geringsten schüchtern.
 

„Ja, das tun Sie, Dr. Watson. Und das ist das Letzte, was Sie bei einem Kind wie Julia tun sollten.“
 

„Großmama!“
 

„Oh, ich empfinde die Wahrheit nicht im Geringsten als Schmeichelei, Mrs. Hudson. Und Miss…ich meine Julia, Sie werden doch Holmes, Josh und mir beim Abendessen Gesellschaft leisten, nicht wahr? Ich würde sehr gerne mehr über Schottland und Indien hören. Und natürlich über alles andere, was wir noch gemeinsam haben mögen.“
 

„Nun, sehen Sie, tatsächlich fahre ich morgen nach Edinburgh. Ein alter Freund von Papa hat eine kleine Schauspieltruppe und mir wurde angeboten, mich ihnen für ein paar Produktionen anzuschließen. Ich habe schon immer von der Bühne geträumt – es ist natürlich nicht viel, aber ich habe die Hoffnung, dass es mich eines Tages irgendwo anders hinführt…nach London zum Beispiel.“
 

„Ich kann Sie schon praktisch dort sehen. Im Haymarket oder im Globe…die Menge würde vor Begeisterung über Sie auf die Füße springen.“
 

Nun würden die meisten jungen Mädchen bei einer solchen Bemerkung erröten und schüchtern sein (denn ich gestehe, dass ich selbst überrascht war, es tatsächlich gesagt zu haben), aber nicht Miss Hudson. Sie lachte herzhaft, völlig furchtlos, ihren Geist zu zeigen. „Sie wissen wirklich, wie man ein Mädchen bezaubert, Doktor. Aber Sie sollten meine Erwartungen nicht zu sehr in die Höhe treiben.“
 

„Oh, ich sehe es nicht als bezaubern. Es ist nur die Wahrheit. Aber um mich für meine Unverfrorenheit zu entschuldigen, bestehe ich darauf, dass Sie mit uns zu Abend essen.“ Ich konnte nicht anders, als eine plötzliche Trauer zu fühlen, dass dieses erstaunliche Wesen, das ich gerade erst getroffen hatte, schon in einem Tag aus meinem Leben verschwinden würde, vielleicht für immer. Aber wenn es denn so sein musste, dann konnte ich zumindest ein Abendessen haben, an das ich mich zurückerinnern konnte.
 

„Nun, Dr. Watson…“
 

„Das ist in Ordnung, Großmama“, unterbrach Julia. „Es wäre mir ein Vergnügen, John. Dann kann ich allen Leuten, die ich treffe, erzählen, dass ich das Privileg hatte, mit dem großartigen Sherlock Holmes und seinem überaus tapferen Assistenten Dr. John Watson zu Abend zu essen.“
 

Mittlerweile fühlte ich mich vollkommen warm und sicher, so als wäre etwas Großartiges geschehen, obwohl ich noch nicht einmal annähernd dazu in der Lage war, zu benennen, was es war. Ich ließ die beiden Hudsons in der Küche und wagte mich in die oberen Stockwerke, um meinen Sohn zu suchen.
 

Als ich allerdings den Dachboden erreicht hatte, hatte sich das warme Gefühl, das in der Gegenwart von Miss Hudson aufgetaucht war, bereits zu etwas verwandelt, das sich mehr wie ein bleierner Magen anfühlte.
 

Josh saß an seinem Schreibtisch, strampelte mit den Beinen und schrieb irgendetwas in seinem großen und beinahe unleserlichen Gekritzel. Als ich eintrat, sah er auf und grinste breit, aber ich konnte nicht anders, als an seine früheren Begrüßungen bei meiner Rückkehr denken, die etwas …ausgelassener gewesen waren.
 

„Hallo, Papa“, sagte er. „Hast du Julia getroffen?“
 

„Äh…ja, natürlich. Aber für dich ist sie Miss Hudson.“
 

„Sie hat gesagt, ich soll sie Julia nennen. Sie ist schon hier seit dem Tag, als du und Onkel zu dem Begräbnis gefahren sind. Ich finde sie nett. Sie hat meine Geschichte gelesen und mir gesagt, sie sei reizend. Ich fand, dass das kein besonders passendes Wort dafür ist, aber das ist in Ordnung. Onkel hat gesagt, dass einem ohnehin die wenigsten Frauen die Wahrheit erzählen, weil sie so un…unlo-gisch sind.“
 

„Ja, das klingt nach etwas, das er sagen würde…woher um Himmelswillen wusstest du, dass wir auf einem Begräbnis waren?“ Ich merkte, dass ich den Jungen anstarrte, so als wäre er nicht mein Sohn.
 

Josh zuckte nur die Schultern und sah nicht einmal von seinem Papier auf. „Onkel war aufgebracht. Es ging nicht um einen Fall und mir fiel nichts anderes ein, was in seinem Telegramm gestanden haben könnte und das ihn traurig machen würde. Also habe ich geraten…ich hätte nicht raten sollen. Es beeinträchtigt die Drehigkeiten…oder so. Du wirst es ihm doch nicht erzählen, oder?“ Er wirkte tatsächlich ängstlich bei dem Gedanken, dass Holmes erfahren könnte, dass er so etwas getan hatte.
 

„Natürlich nicht.“
 

„Dann hatte ich also Recht?“
 

„Ja…ja, du hattest Recht.“ Als ob es daran irgendwelche Zweifel gäbe.
 

Er grinste, aber sein Gesichtsausdruck wurde rasch ausdruckslos, als er mein Gesicht sah. „Es tut mir Leid. Ich vermute, Onkel muss schrecklich mitgenommen sein.“
 

„Ich schätze, dass ist er wohl.“ Wenn auch nicht so wie der Junge dachte.
 

„Er ist doch nicht…nicht böse auf mich?“ Er begann schneller zu kritzeln.
 

„Warum sollte er?“
 

„Er war wütend, bevor ihr gegangen seid. Ich bin eine Plage gewesen.“
 

„Nun, red keinen Unsinn, Josh. Es war überhaupt nicht deine Schuld. Du hast nichts getan. Es war ganz und gar falsch von ihm, dich derartig anzuschreien.“
 

Er nickte, sah aber nicht sehr überzeugt aus. Für ein paar Sekunden dachte ich, ich hätte den Jungen zurück, den ich vor dem Tod meiner Frau gehabt hatte. Den Jungen, der nur fünf Jahre alt hätte sein sollen. „Papa?“, frage er, während ich darüber nachdachte.
 

„Ja, Liebling.“
 

„Warum gehst du immer…?“
 

„Warum tue ich immer was?“
 

Er sah nicht auf. „Gehst mit ihm fort? Mit Onkel?“
 

Ungewollt sog ich heftig Luft ein und würgte, als ob ich gerade etwas von dem scheußlichen Tabak eingeatmet, mit dem sich mein Freund so gerne vergiftete. In den Augen des Jungen lag Neugier und er runzelte über meine Reaktion nur die Stirn. Ich musste mich daran erinnern, dass er nur ein Kind war. Ein unschuldiges Kind, das trotz seiner Fähigkeiten immer noch nichts über die Wahrheit zwischen seinem Vater und seine ‚Onkel’ wissen konnte.
 

„Was, äh, was meinst du damit…Sohn?“
 

Er senkte den Kopf. „Du…du bist nur immer bei ihm. Das ist alles, Papa.“
 

„Und nicht hier, meinst du?“ Ich fragte mich, ob ich in seiner Gegenwart jemals wieder etwas anders als Schuld fühlen würde. Aber er zuckte nur die Schultern und bewegte sich hin und her, so als ob er nicht wirklich verstanden hätte. „Ich vermute, Josh…“, war ich gezwungen, fortzufahren. „Ich vermute, dass ich immer bei ihm bin…weil er mich braucht. Er würde so etwas natürlich niemals zugeben…aber…er braucht mich.“
 

Josh hatte lange genug mit dem Schreiben aufgehört, um dieser ungeschickten Rede zuzuhören, die sogar in meinen eigenen Ohren albern klang, obwohl ich wusste, dass ich es Ernst gemeint hatte. Ich glaube, als ich fertig war, erwartete ein Teil von mir, dass er wütend sein würde, dass ich so etwas sagte, dass er schreien würde und mich einen verdammten Bastard nennen, eine selbstsüchtige Schwuchtel.
 

Als die ich mich fühlte.
 

Aber dann sah ich das lockige Haar und die winzigen Hände, den Samtanzug und die Spitzenbluse [2], den Stoffhund auf seine Schreibtisch und ich erkannte, mit wem ich sprach. Und alles was er sagte, war „Oh.“ „Oh“, und dann fuhr er fort zu schreiben.
 

Es würde noch Jahre dauern, bevor ich erkennen würde das meine ganze falsch gelebte Beziehung zu meinem Sohn an diesem einen Wort hang. Dass ich in jenem Moment etwas hätte sagen können, dass den ganzen Kurs ändern würde, den ich mit dem Jungen eingeschlagen hatte. Aber ich tat es nicht. Stattdessen betrachtete ich ihn und sagte nichts. Überhaupt nichts.
 

„Willst du meine Geschichte lesen?“
 

„Eh?“
 

„Meine Geschichte. Ich hab sie für dich geschrieben.“ Er drückte mir ein paar Zettel in die Hand, die mit Küchengarn zusammen gebunden worden waren. Auf der Titelseite stand: ‚Der Einsame Drache von John S. Watson.’
 

„Hast du das alles gemacht?“
 

„Nun…Julia hat mir mit den schweren Wörtern geholfen. Und Mrs. Hudson hat es für mich zusammengebunden…ich wollte es dir zu Weihnachten schenken, aber…“
 

„Du bist ungeduldig.“
 

Er lächelte und ich klopfte auf mein Knie, worauf er auf meinen Schoß kletterte. Die Geschichte, illustriert mit groben Bildern, war sehr einfach gestrickt, aber überraschend detailliert, wenn man bedachte, dass ihr Autor noch immer zu jung für den Grammatikunterricht war. Sie handelte von einem großen Drachen, der in einer ‚dunklen und gruseligen Höhle weit, weit weg von London’ lebte. Die Freunde des Drachens waren alle tot, weil die Menschen natürlich Angst vor Drachen hatten. Und so flog der Drache eines Tages davon, um eine andere Drachenkolonie zu finden. Auf dieser Reise begegnete der Drache allen Arten von Gefahren, einschließlich ‚des Lands der Monsterhunde’. Die Geschichte endete natürlich gut, denn es war ein Märchen. Der Drache traf seine langverschollene Familie in einer ‚Drachenstadt’ in Indien und erkannte, dass er doch nicht ganz alleine war.
 

„Und sie lebten glücklich für ewig und immer“, erklärte Josh, als wir zur letzten Seite gekommen waren. „Ich mag es, wenn sie glücklich für ewig und immer leben.“
 

„Ja, ich…jeder mag glückliche Enden, würde ich sagen. Auch wenn das richtige Leben ein klein wenig komplizierter ist.“
 

„Ich weiß, Papa. Aber das ist eine Geschichte. Gesichten müssen nicht wie das richtige Leben sein.“ Seine Augen weiteten sich ein wenig. „Hat es dir nicht gefallen?“
 

„Aber natürlich hat es das, Liebling! Es war brillant…genau wie alles, was du tust.“ Ich bereute augenblicklich die Bitterkeit, die in jenen letzten Satz einfloss, aber Gott sei Dank erfasste Josh nur das Kompliment und nicht den beleidigten Zynismus.
 

„Josh“, sagte ich, als ich ihn vor mich auf den Boden stellte. „Es tut mir Leid, dass ich dich so oft allein lassen muss. Wenn du ein bisschen älter bist, wirst du vielleicht die Verantwortung verstehen, die ein Erwachsener trägt.“
 

„Ich weiß.“
 

„Es ist ja nicht so, dass ich nicht hier sein will. Manchmal…sind die Umstände nun mal schwierig, verstehst du.“
 

„Ich weiß.“
 

„Ich liebe dich wirklich sehr, Sohn…“
 

„Ich weiß, Papa. Aber du liebst Onkel auch. Ich bin nicht blöd. Ich verstehe das.“
 

Ich sprang auf die Füße, um meinen Standpunkt zu unterstreichen. „Du verstehst nicht alles, Junge! Ganz egal, was Holmes dir erzählt haben mag! Du bist immer noch ein Kind und ich habe auch vor, dich wie eines zu behandeln!“
 

Zum ersten Mal seit einer ganzen Weile, vielleicht sogar zum ersten Mal überhaupt, sah ich, dass er mich voller Wut anstarrte. Der engelsgleiche Junge, der er immer zu sein schien, war nirgends zu entdecken. „Ich weiß mehr, als du denkst“, sagte er.
 

„Ja, daran habe ich keinerlei Zweifel…“
 

Er öffnete die Tür, ohne mich anzusehen. „Ich werde zu Mrs. Hudson gehen. Sie sagte, dass sie einen großen Kuchen backen wird, weil Julia weggeht.“
 

Die Erkenntnis dessen, was er gesagt hatte, traf mich sehr plötzlich. Aber…das konnte er damit nicht gemeint haben. „Josh, warte!“
 

Aber er hatte seine Aufmerksamkeit bereits vollkommen von mir abgewandt. Ich hätte keine Angst vor dem Jungen und seinen Worten haben dürfen. Liebe gab es schließlich in vielerlei Formen und er wusste erst wenig oder überhaupt nichts von der Art, die Holmes und ich miteinander teilten. Aber trotzdem, ihn sagen zu hören, er wisse, dass ich den Mann liebte. Ich weiß mehr, als du denkst… mehr hatte er damit wahrscheinlich nicht gemeint. Es gab keine versteckten Absichten, und doch…wenn wir noch nicht einmal ein kleines Kind hinters Licht führen konnten, wie um Himmelswillen sollten wir dann jemals den Rest der Welt täuschen?
 

Ein Teil von mir dachte daran, Josh nachzugehen, aber ich wollte keine Konfrontation jetzt, wo Miss Hudson noch im Haus war. Das Einzige, was ich nun tun konnte, war mir die Sache über Nacht durch den Kopf gehen zu lassen. Und deshalb tat ich das einzige anderweitig Vernünftige.
 

Ich fand Holmes in seinem Zimmer, wo er einen Brief zu schreiben schien. Er stieß ihn zur Seite, als ich hereinkam, aber drehte sich nicht zu mir um. „Nun, Watson, hattest du eine angenehme Unterhaltung mit der bezaubernden Miss Hudson?“
 

„Die hatte ich in der Tat“, sagte ich und ignorierte seinen Zynismus. „Wir scheinen Vieles gemeinsam zu haben.“
 

„Hm! Davon bin ich überzeugt.“
 

„Du kannst mit uns zu Abend essen, dann findest du es heraus. Julia ist einer deiner Anhänger und ich bin sicher, dass sie sehr gerne mehr über deine Fälle“—
 

„Also ist es bereits ‚Julia’? Und dabei habt ihr euch gerade erst kennen gelernt…“
 

Ich konnte mein Lächeln nicht zurückhalten. „Nun, mein lieber Holmes. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du bist eifersüchtig.“
 

„Oh, jetzt versuchst du mich also in das grünäugige Monster zu verwandeln, Iago?“, fragte er schnaubend. „Eifersucht ist eine Emotion, deren man sich leicht entledigen kann. Sie dient keinerlei logischem Zweck, außer den Verstand zu stören und abzulenken. Nun, die Hälfte meiner Fälle, mindestens die Hälfe, wurden unter dem Deckmantel der Eifersucht begangen. Sie tut nichts anderes, als dich den Pfad zur Hölle hinunterzuführen.“
 

Ein ganz anderes Zitat des großen Meisters kam mir in jenem Augenblick in den Sinn, ein Zitat, das sich auf jemanden bezog, der zu heftigen Widerspruch einlegte, aber ich sagte es ihm nicht. Er würde niemals zugeben, ein so menschliches Gefühl wie Eifersucht zu empfinden. Ich hatte meine Zweifel, dass er sie überhaupt an sich selbst würde erkennen können, so sehr war er es gewohnt, diese Leidenschaften zu unterdrücken. „Ich denke immer noch, dass du – und sei es auch nur aus Respekt unserer Wirtin gegenüber – versuchen solltest ein gesittetes Mahl mit Miss Hudson und mir einzunehmen. Es ist das Mindeste, was du tun kannst.“
 

„Nein, nein…du bist im Irrtum. Das Mindeste, was ich tun kann, ist meine Aufzeichnungen über die verzögerten Reaktionen einiger giftiger, pflanzlicher Alkaloide zu beenden, die ich in letzter Zeit studiert habe. Und es dir zu überlassen, Miss Hudson mit deinen…“ Er sah mich an, also ob er etwas ganz anderes sagen wollte. „Witzeleien zu bezaubern.“
 

„Holmes…du müsstest wissen, dass du nichts zu befürchten hast. Wenn du bis jetzt nicht erkennen kannst, dass ich mich dir verschrieben habe…“
 

„Ja, ja…ich weiß, dass du das hast.“ Seine Augen senkten sich in einem seltenen Moment der Scham. „Es sind wahrscheinlich nur meine eigenen Unsicherheiten. Ich habe das Gefühl…dass eine Verbindung zwischen dir und dieser jungen Lady besteht. Es ist sehr überempfindlich und unglaublich unlogisch von mir. Und doch fühle ich es nichtsdestoweniger.“
 

„Sie ist eine vollkommen bezaubernde junge Lady, aber das ist alles, Holmes! Um Gotteswillen, denkst du etwas, dass ich mich jedem hübschen jungen Wesen in die Arme schmeißen werde, das mir über den Weg läuft? Das ist doch absolut lächerlich!“
 

Er erhob sich langsam auf die Füße und warf seine Feder auf den Tisch, wodurch er ihn mit Tinte beschmierte. „Du hast natürlich Recht. Vergib mir, Watson. Es ist nur mein…Misstrauen gegen diese hübschen jungen Wesen, wie du sie nennst, das mich dazu bringt. Ich weiß, dass du mir…treu bist.“ Er schenkte mir ein kurzes Grinsen. „In jeder Hinsicht.“
 

„Dann wirst du mit uns dinieren?“
 

„Um deinetwillen werde ich es. Mit Sicherheit nicht wegen Anstand oder guten Manieren. Denen schulde ich keine Treue.“
 


 

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[1] Madras war die erste größere Besiedelung der Briten in Indien.
 

[2] Da Josh nun fünf Jahre alt ist, bestehen gute Chancen, dass er den Kleidern nun entronnen ist und anfängt Anzüge mit kurzen Hosen zu tragen. Der am weitest verbreitetste damals war der ‚Little Lord Fauntleroy’-Anzug, der kein bisschen männlicher aussah als die Kleider.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2007-06-07T16:27:48+00:00 07.06.2007 18:27
Huhu, wieder mal ein neues Kapitel und wieder mal ist es hervorragend. Holmes ist ganz schön eifersüchtig auf die junge Dame, der Watson, seine Aufmerksamkeit schenkt. *ggg*. der arme sherlock, dabei sollte er ja wissen, dass Watson in wirklich sehr gern hat, da kann so ein Mädel, glaube ich nicht dazwischenfunken. Und der Junge Josh, weiß wohl mehr als er zugibt, trotz seines relativ jungen alters.

Ich bin gespannt wie es weiter geht und hoffe es kommt bald wieder ein neues Kapitel. Die Übersetzung ist wie immer hervorragend.

glg sarah-sama


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