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Die Bekenntnisse des Meisters

Niedergeschrieben von John H. Watson, M.D.
von

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Hier kommt Kapitel 16 und der Konflikt mit Abigail geht langsam seinem Höhepunkt entgegen.

Im Übrigen bin ich sehr zuversichtlich, dass nächste Kapitel (eines meiner Lieblingskapitel, wohlgemerkt) noch vor Weihnachten fertig zu kriegen.
 

Josh kehrt kurz nach Mittag zurück, rannte durch die Wohnzimmertür und wirkte vollkommen gesund und zufrieden. Warum ich etwas anderes erwartet hatte, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, aber ich war zumindest ein wenig erleichtert. Nach dem, was sie mit der Bibel getan hatte, hatte ich befürchten, sie könnte sich einfach Josh schnappen und wäre auf und davon. In den letzten Stunden hatte ich einsam aus dem Fenster hinaus auf die Baker Street, hinaus auf die Zivilisation gestarrt. Aber auch wenn ich hinaus blickte, so sah ich doch in Wirklichkeit nichts davon. Meine einzigen Gefährten waren ein halbes Dutzend starker Zigarren. Normalerweise war ich kein Mann, der es genoss die Atmosphäre eines Zimmers mit mehr Toxin als Sauerstoff zu füllen, (das überließ ich Holmes), aber an jenem Tag tat ich es dennoch. Nichts als der schwere graue Dunst, der durch die Fenster strömte und die grässlichen Gedanken, die meinen Geist plagte, konnten mich erreichen. Das heißt, bis sich die Tür öffnete und Josh hereinstürzte.
 

„Ich bin zuhause, Papa“, verkündete er höchst überflüssig. „Und Onkel hatte Recht. Die Kirche war sehr langweilig.“
 

Das Geräusch seiner trampelnden Füße holte mich wieder in die Wirklichkeit zurück. Ihn wieder hier vor mir zu sehen, besänftigte meine düsteren Gedanken ein wenig. „Oh, Josh…Gott sei dank. Aber wo ist deine Tante? Ist sie nicht mit dir mitgekommen?“
 

Er schüttelte den Kopf. „Nein. Sie sagte, ich soll dir ausrichten, dass sie zurück nach Hause gefahren ist.“
 

Holmes hatte, bald nachdem er mir Abigails Werk an der Bibel gezeigt hatte, irgendetwas darüber gemurmelt, dass er etwas überprüfen müsse und war ohne Hut und Mantel nach draußen in die nächste Kutsche gerauscht. Nun stürzte er zurück in den Raum, die Augen weit aufgerissen wie die eines Wahnsinnigen. Aber ich machte mir keine Sorgen. Es war ein gewohnter Anblick. Er erschien immer dann auf seinem Gesicht, wenn er fühlte, dass das Ende eines Falles unmittelbar bevorstand. Aber im selben Moment als seine Augen auf Josh fielen, schien er seine vollkommene Beherrschung wiederzuerlangen. Mit einem tiefen Seufzen, das er vergeblich zu verbergen suchte, schloss er die Tür und schenkte dem Jungen ein Lächeln. „Ich bin überzeugt, du hast getan, worum ich dich gebeten habe. Nicht wahr, Junge?“
 

„Ja, Onkel. Aber sie hat mir nichts erzählt. Nur einmal hat sie richtig traurig ausgesehen. Und zwar als wir die Vögel im Regent’s Park beobachteten. Sie sagte, dass ich Glück habe. Und als ich zu ihr aufsah, schien sie ganz traurig. Aber sonst hat sie nichts gesagt.“
 

Mein Blick wanderte von dem Jungen zu Holmes. „Was hat das zu bedeuten?“, fragte ich.
 

„Nur ein kleines Experiment, Watson“, sagte mein Freund. „Hat sie dir sonst noch irgendetwas erzählt, John Sherlock?“
 

„Sie hat erzählt, wo sie lebt. Und von Gott. Und dem Himmel. Ich hab ihr erzählt, dass meine Mutter und meine Schwester dort sind…“
 

„Irgendetwas anderes? Irgendetwas anderes, das dir seltsam vorkam?“
 

Josh kniff die Augen zusammen und überlegte so fest wie er konnte. „Nein, Sir…oh, warte. Einmal hat sie mich Harry genannt. Als wir bei der Brücke waren. Sie sage: ‚Wir sollten uns beeilen, Harry.’ Ich sah sie an und sie schüttelte den Kopf und sagte: ‚Gehen wir, Josh.’ Sie wirkte, als wäre nichts passiert und als hätte sie mich nie Harry genannt. Aber ich weiß, dass sie es getan hat!“
 

Holmes vertiefte sich in die Informationen und der vertraute Ausdruck erschien wieder auf seinem Gesicht. „Und du bist dir sicher, dass es der Name Harry war?“
 

Josh nickte, aber ich war völlig verwirrt. „Warte, Holmes…Was hat das zu bedeuten? Was heckst du mit meinem Sohn zusammen aus? Was auch immer es ist, ich wäre dir sehr verbunden, wenn du mich einweihen würdest.“
 

„Du könntest es eine Vorsichtsmaßnahme nennen“, erklärte er mit der Andeutung eines Lächelns. „Und ich verspreche, dich einzuweihen, sobald es notwendig ist.“
 

„Aber wieso sollte Abigail Josh beim Namen meines Bruders rufen? Was soll das bedeuten?“
 

„Ich hatte gehofft, du würdest es wissen. Der Name deines Bruders war Harry?“
 

„Ja. Nun, eigentlich Henry“, antwortete ich. „Wir riefen ihn manchmal Harry. Aber es ist seltsam, dass sie ihn so nennen sollte. Ich meine, zuallererst einmal sieht Josh Henry überhaupt nicht ähnlich. Und er war bereits zehn Jahre alt, als Abigail geboren wurde. Sie standen sich nicht im Geringsten nah. Was für eine seltsame Aussage!“
 

„Ein Versprecher“, murmelte Holmes. „Es könnte alles aber auch nichts bedeuten. Die Zeit wird uns vielleicht die Wahrheit zeigen. Aber im Moment…“ Er hob den Jungen in seine langen Arme. „Haben John Sherlock und ich einige chemische Gleichungen zu lösen.“
 

„Aber Holmes!“, rief ich. „Was ist mit…nun, mit dem, was du mir gestern erzählt hast. Über…den Grund für Abigails Hiersein?“
 

Er drehte sich um, auf seine Gesicht ein Ausdruck tiefster Konzentration. „Wenn ich du wäre, Watson, mein Freund, würde ich es nicht für einen Augenblick vergessen.”
 


 

Holmes’ Pessimismus machte mich rund um die Uhr angespannt und ich erwartete ständig ein Telegramm von meiner Schwester oder – noch schlimmer – einen weiteren Besuch. Ein Teil von mir sehnte sich schon beinahe danach und sei es nur, um die unerträgliche Ungewissheit zu beenden. Aber ein anderer Teil von mir, der Teil, der Holmes’ Intuition voll und ganz vertraute, hoffte, dass alles vorüber war, bevor es noch richtig begonnen hatte.
 

Ich hätte es besser wissen sollen.
 

Zwei Monate später, nach einem Brief und zwei Telegrammen, die alle nicht beantwortet worden waren, versuchte ich alles, was geschehen war, aus meinen Gedanken zu vertreiben und wieder positiv zu denken. Ich assistierte Holmes sogar in dem Mord an Jonas Oldeacre (der schließlich doch keiner war). Später veröffentlichte ich diesen Fall unter dem Titel ‚Der Baumeister aus Norwood’.
 

Aber mir ging es wie einem Kind, dass glaubt, wenn es nur die Augen offen hält, könne es den Schlaf fernhalten: Das Unvermeidliche sollte sich schon bald ereignen. Zwei Monate waren vergangen und die bitteren Klauen des Winters wichen langsam der süßen Wiedergeburt des Frühlings. Der Frühling in London ist für mich normalerweise die schönste Jahreszeit. Die Epidemien des Winters neigen sich dem Ende zu und die Einwohner der Stadt scheinen aus ihrem Winterschlaf zu erwachen. Lachende Kinder laufen vorüber, Frauen mit Kinderwägen zeigen sich wieder auf den Straßen, die Männer gehen wieder aufrecht und plaudern auf der Straße, anstatt nur tief in ihren Schals verborgen aneinander vorbeizueilen. Und vielleicht erklärt meine Liebe zu alldem die Ironie, dass ich am ersten Morgen dieser neuen Jahreszeit zu einem der schlimmsten Tage meines Lebens erwachte.
 

Holmes war in seltsamer Stimmung. Sein Erfolg im Norwoodfall war noch frisch und er schien mir auch recht ausgelassen, allerdings hatte ich trotzdem den Verdacht, dass er sich im Hinterkopf immer noch große Sorgen wegen meiner Schwester machte. Und es war nicht nur um Joshs und meinetwillen. Auch für ihn stand viel auf dem Spiel. Und vielleicht erklärte das die Kirschholzpfeife, die von seinem Mundwinkel hing. Er bevorzugte sie, wenn er in streitsüchtiger Stimmung war.
 

Er blickte zu mir auf, als ich das Wohnzimmer betrat, hielt sich allerdings nicht mit etwas wie einem ‚Guten Morgen’ auf. Auch ohne die Pfeife wäre es offensichtlich gewesen, dass ihn etwas bekümmerte. In seiner Hand hielt er die Morgenausgabe der Times und starrt zornig auf irgendetwas darin. Seine Gesichtsfarbe war noch bleicher als sonst.
 

„Was ist es?“, fragte ich, während ich mir einen starken Kaffee einschenkte.
 

Er antwortete nicht, also schenkte ich auch ihm eine Tasse ein und ging zu ihm hinüber. „Holmes? Stimmt etwas nicht?“
 

Er zuckte leicht zusammen, so als überraschte es ihn, mich direkt neben seinem Sessel zu sehen. Während er die Zeitung in einer Hand zerknüllte, nahm er mir den Kaffee ab und hastete eilig zum Tisch. „Nein, es ist nichts.“
 

Ich konnte mich des Gefühls nicht erwähren, dass er etwas absichtlich vor mir verbarg. „Also Holmes…“, begann ich.
 

Aber ich bekam niemals die Gelegenheit, meinen Satz zu beenden. „Der Brief traf nur Minuten vor dir hier ein, Watson, falls es dich interessiert.“ Er deutete auf den Haufen unter den zerstreuten Überresten der Zeitung.
 

Ich gab ihm mit einem langen Blick zu verstehen, was ich von seinem Verhalten hielt, aber er tat so, als bemerke er ihn nicht. Also schüttelte ich bloß den Kopf und begann in den Briefen zu wühlen, die allesamt an Holmes adressiert waren. Das heißt, alle außer dem letzten Brief, der meinen Namen trug.
 

Er war aus Kent und in der ersten Sekunde war ich sicher, nun endlich einen Brief meiner Schwester in Händen zu halten. Das heißt, bis ich genauer hinsah und mir fast das Herz aussetzte.
 

„Großer Gott…nein.“
 

„Was ist es?“, fragte Holmes.
 

„Es ist eine Vorladung. Eine Vorladung des Gerichts in Kent.“ Ich riss den Brief auf und überflog ihn. Ich war zu erschüttert, um ihn genau lesen zu können. Als meine Hand schließlich so heftig zu zittern begann, dass ich kein einziges Wort mehr ausmachen konnte, riss Holmes ihn mir aus den Händen und las ihn selbst. Er stützte sich auf einen Stuhl und rauchte immer noch jene verdammte Pfeife.
 

„Also was schließt du daraus?“, fragte ich nach mehreren Sekunden des Schweigens.
 

„Es scheint“, sagte Holmes. „Dass du durch diesen Brief gezwungen werden sollst, am Dreißigsten dieses Monats einem Prozess beizuwohnen. Eine gewisse Abigail A. Watson hat die Absicht, dein Recht auf die Vormundschaft für den Minderjährigen, John Sherlock Watson, anzufechten. Weiterhin heißt es, du hättest das Recht auf einen Anwalt und solltest du dich weigern zu erscheinen…etcetera, etcetera. Hmm…das ist interessant, Doktor. Deine Schwester hat es vorgezogen ihre Klage bei dem Gericht von Kent einzureichen, anstatt es hier in London zu tun.”
 

„Was…warum ist das interessant?“
 

„Nun, trotz der Maxime ist Justitia kaum einmal blind. Und die Geschichte des Rechts zeigt uns, dass kleinere Gerichte anscheinend dazu neigen, konservativer zu sein, was uns in diesem Fall nicht unbedingt zugute kommen würde. Außerdem bist du in London bekannt und bei einer Verhandlung hier könntest du durch deine Berühmtheit einen Vorteil gewinnen. Im Übrigen“—
 

„Es ist mir egal!“, schrie ich. „Es ist mir egal, ob sie mich in Kent, London oder Timbuktu verklagt! Verdammt noch mal, Holmes, wie kannst du so ruhig sein und die wahnsinnigen Taten meiner Schwester analysieren? Sie versucht mir mein Kind wegzunehmen! Sie wird entweder Josh nehmen oder unsere Namen ruinieren!“
 

„Beruhige dich, Watson. Es ist noch viel zu früh am Morgen für so hohen Blutdruck.“
 

Aber ich war fast schon in Panik. Wie hatte das passieren können? Wie hatte ich zulassen können, dass das passiert war? „Ich muss fort“, begann ich. „Ich könnte mit Josh das Land verlassen. Vielleicht wenn ich nach Schottland gehe…oder sogar zurück nach Indien…“
 

„Sei kein Narr“, rief Holmes. „Erkennst du nicht, wie schuldig du wirkten würdest, wenn du fliehst?“
 

„Was für eine Wahl habe ich denn schon?!“ Ich fühlte einen dumpfen Schmerz in meiner linken Handfläche und sah, dass ich mit meiner rechten Faust heftig dagegen geschlagen hatte.
 

„Eine weit vernünftigere als zu fliehen. Nun, Doktor, vertraust du mir?“
 

„Natürlich.“ Ich zögerte keine Sekunde.
 

„Dann musst du genau tun, was ich dir sage. Und wenn du das tust, dann verspreche ich dir, dass alles ein gutes Ende nehmen wird.“
 

Ich holte tief Luft. „In Ordnung, mein Freund. Sag mir, was ich tun soll.“
 

Er klopfte mir auf die Schulter. „Sehr gut. Nun, zuerst einmal geh zum Schreibtisch und nimm ein Telegrammformular.“
 

„Ein Telegrammformular?“ Das war der letzte Befehl, den ich von ihm erwartete hätte.
 

„Ja. Adressiere es an deine Schwester in Kent. Und dann schreib das: ‚Schreiben über Vormundschaftsklage erhalten – stopp – müssen uns treffen – stopp – komm heute nach London – stopp – nimm den 1:45 Zug und komm in die Vorhalle des Albert Hotel – stopp – werde dich dort empfangen – stopp.’“
 

Ich schrieb genau, was er mir diktierte. Meine Feder zitterte. „Woher willst du wissen, dass sie kommen wird?“
 

„Füge das als Postscript hinzu: ‚Abigail – stopp – wenn du nicht einwilligst – stopp – werden Holmes und ich mit Josh fliehen und du wirst uns niemals wieder sehen – stopp.’“
 

„Werden wir das wirklich?“
 

Er zögerte einen Augenblick. „Natürlich nicht. Aber das kann sie nicht wissen.“
 

Ich bekam das Gefühl, als wäre mit mir und Josh zu fliehen, ganz genau, was er sich innerlich wünschte, aber ich sagte nichts. „Aber was soll ich ihr erzählen, wenn wir uns im Albert treffen?“
 

„Watson, Watson…wir werden überhaupt nicht im Albert sein.“
 

„Werden wir nicht?“
 

„Natürlich nicht! Es ist nur eine Finte, Doktor, um sie aus Kent wegzulocken. Um uns Zeit zu geben.“
 

„Zeit wofür?“
 

Er starrte mich an, als wäre es vollkommen offensichtlich. „Zeit um sie aufzuhalten natürlich.“
 

„Aber wie?“
 

„Nein, das wirst du noch früh genug erfahren. Jetzt schickt das Telegramm sofort ab.“
 


 

Die nächsten paar Stunden vergingen so schnell, dass mir hinterher alles wie ein einziger verschwommener Fleck vorkam. Ich erinnere mich nur noch deutlich daran, dass Holmes und ich uns schließlich in einem größtenteils leeren Zwei-Uhr-Zug nach Kent befand, Gott allein wusste, was uns bevorstehen sollte.
 

„In Ordnung, Holmes“, sagte ich, als ich die Ungewissheit schließlich nicht länger ertrug. „Vielleicht wäre jetzt endlich ein angemessener Zeitpunkt, mir zu erklären, was ich hier überhaupt tue. Warum gehe ich zurück nach Kent, zu der Heimat meiner Kindheit, einem Platz, an den ich mir schwor niemals mehr zurückzukehren?“
 

„Es ist für dich ein Ort voller unangenehmer Erinnerungen?“, fragte Holmes.
 

„Nun…ich vermute, die Heimat jeder Kindheit verbirgt zumindest ein paar unangenehme Erinnerungen“—
 

„Ein paar mehr als es gerecht wäre.“
 

Ich blinzelte mehrmals und versuchte diese rätselhafte Bemerkung zu begreifen. „Ja…ich vermute.“
 

Holmes räusperte sich und lehnte sich näher zu mir, anscheinend begierig das Thema zu wechseln. „Der einzige Weg, wie wir deine Schwester zur Aufgabe zwingen können, ist Feuer mit Feuer zu bekämpfen. Das Problem dabei ist nur, dass sie die einzige Fackel hält. Daher müssen wir unsere eigene Flamme finden. Und hoffen, dass sie heller und großer ist als die ihre. Und ich habe den Verdacht, dass wir durchaus eine finden könnten.“
 

Ich sollte vielleicht anmerken, dass ich es zeitweise verdammt noch mal hasste, wenn er sich wie die Sphinx ausdrückte. Immer in Rätseln. Aber ich denke, dass ich seinen Worten dennoch etwas Sinn abgewinnen konnte. „Du meinst – zumindest denke ich, dass du das tust – dass wir etwas über meine Schwester herausfinden müssen, das wir gegen sie benutzen können?“
 

„Exakt.“
 

„Oh, aber Holmes! Sei doch vernünftig! Was könnte es in Abigails Leben schon geben, mit dem wir sie erpressen könnten? Meine Schwester hat niemals irgendetwas getan. Überhaupt nichts. Was hoffst du zu finden?“
 

„Watson, ich dachte, du hättest gesagt, dass du mir vertrauen würdest.“
 

„Das tue ich, aber“—
 

„Dann tu es auch, mein lieber Doktor. Du musst daran glauben, dass ich dich da rausholen werde.“
 

Unsere Blicke trafen sich einen endlosen Moment lang. „Wirst du das?“, fragte ich.
 

Er nickte. „Natürlich. Auf mein Wort. Solange du mir vertraust und deinen Glauben nicht verlierst.“
 

Glaube. Meinen Glauben hatte ich schon verloren. Aber nicht den Glauben an diesen Mann. „‚Ich bin bei dir, wie ich es immer gewesen bin’[1]“, sagte ich zu ihm.
 

Er lächelte mich an. „Du bist würdig, Bertuccio.“
 

Und dann wandten wir uns der vorbeiziehenden Landschaft zu; wir verfielen in Schweigen, so als ahnten wir, was uns an jenem Tag noch bevor stehen würde.
 


 

Seit dem Tod meines Bruders vor beinahe dreizehn Jahren war ich nicht mehr zuhause gewesen und doch wirkte alles so wie früher. Der Bahnhof von Canterbury war nur einen kurzen Fußmarsch vom Haus entfernt und weil das Wetter für März ungewöhnlich warm war, nahmen wir unsere Beine in die Hand und machten uns auf den Weg heimwärts…zum Haus. Ich deutete auf die Papiermühle, wo sowohl mein Onkel als auch mein Vater beinahe jeden Tag gearbeitet hatten, und auch auf das alte Schulhaus und auf die Häuser von alten Freunden.
 

Es war wie eine Reise zurück in meine Kindheit. Ich führte Holmes auf einen Pfad durch die Wälder, die unser Anwesen umgaben. Ich erzählte meinem Freund von dem Wetter. „Wir haben das zweifelhafte Vergnügen, im Sommer der heißeste und im Winter der kälteste Flecken in ganz England zu sein. Außerdem werden wir gewöhnlich auch als der windigste angesehen und Überflutungen sind im Herbst nichts Ungewöhnliches…“ Ich verlor mich in leerem Geschwätz und wusste es auch, aber die Bäume riefen mich. Erzählten die Geschichten meiner Vergangenheit.
 

„Du bist, Johnny!“
 

„Bin ich nicht!“
 

„Ich kann schneller laufen als du, Georgie!“
 

„Harry, gibst du uns das Signal?“
 

„Auf die Plätze…fertig…los!“
 

Aus den kühlen Schatten am Westrand des Grundstücks traten wir nun hinaus ins helle Sonnenlicht. Da stand es, so wie es immer gewesen war. Das Haus meines Vaters war sehr typisch für Kent, es war ein Fachwerkbau mit ausladenden Dachkanten und dem steilen Dach mit den roten Ziegeln. Es stand am Fuß eines Hügels, nur Schritte von dem See entfernt, dessen Ufer praktisch direkt vor der Hintertür begann. Amelia Lake, wie wir ihn nach der Mutter meines Vaters getauft hatten. Sein Bruder und seine Schwägerin sowie meine Cousins hatten gleich auf der anderen Seite des Hügels gewohnt, nur eine Viertelmeile entfernt. Das Wasser schimmerte in der Kälte des Winters silberblau, doch es war nicht die kühle Luft die mich frösteln ließ. Ich fürchtete diesen See immer noch.
 

„Erzähl mir davon“, sagte Holmes.
 

Ich drehte mich hastig um. „Was?“
 

„Von eurer Kindheit. Deiner und der deiner Schwester.“ Er tippte sich an die Stirn. „Ich muss euch beide als Kinder sehen können; die Ereignisse verstehen, die euch zu den Menschen gemacht haben, die ihr heute seid.“
 

Ich wand mich wieder dem See zu. Und war wieder dreizehn. Hörte die Schreie.
 

„Johnny! Johnny, hilf mir!“
 

„Abby!“
 

Ich rannte auf sie zu und riss den Kopf zu meinem Cousin George herum. „Hol deinen Pa, Georgie!“ Er verschwand. Der schnellste Läufer in der Familie, auch wenn er im Kopf etwas langsam war.
 

Harry war weg. Papa war krank. Ich war der Mann der Familie. „Ich komme, Abby!“
 

Das Wasser war kalt. Es war so kalt. Was tat sie nur in diesem kalten Wasser? Meine Füße wurden schwer. Ich hätte meine Stiefel ausziehen sollen. Das Wasser erreichte meine Knie, meine Taille, meine Brust. Ich konnte nicht atmen. Aber ich musste. „Ich…ich komme, Abby…“
 

Meine Arme waren schwer. Konnte sie kaum bewegen. Ich war der beste Schwimmer in der Familie. Harry konnte nicht einmal auf dem Wasser treiben und Abby…
 

„Ich komme…“
 

„Johnny…ich…beeil dich…“
 

Das Wasser tropfte mir von meinen Haaren in die Augen. Es brannte. Aber sie war direkt vor mir. Sie war ein furchtbarer Schwimmer. Und hörte nie zu. Ich versuchte ihren Arm zu packen, aber griff ins Leere. Ich ging unter. Es war dunkel. Meine Lungen verwandelten sich zu Eis. Keuchend streckte ich die Hände aus. Ihr Arm schlug nach mir, während sie verzweifelt strampelte. Wieder ging ich unter. Vor meinen Augen wurde es rot und grau und schwarz…
 

Abby…
 

Mein Arm schoss hervor. Er stieß auf etwas Hartes. Meine Hand packte zu. Sie war es. Es war ihr Handgelenk. Ich hatte sie.
 

Schwimmen…
 

Schwimmen…
 

Meine Stiefel stießen auf Grund.
 

Und dann hatte mich jemand.
 

„Oh, Johnny…mein Liebling, bist du in Ordnung? George…ist er in Ordnung?“
 

„Es wir ihm gut gehen, Anne“, sagte mein Onkel. „Es wird ihnen beiden gut gehen.“
 

Ich war in eine Decke gewickelt und das Wasser tropfte von meinen Haaren. Ma hielt mich im Arm und küsste mich. „Johnny, du bist ein Held, ein echter Held.“
 

Sie wand sich an Abby. Auch sie war eingehüllt und lag frierend auf dem Bett. „Wie konntest du nur so etwas Närrisches tun, Mädchen? Wie konntest du? Wenn dein Bruder nicht gewesen wäre, würdest du tot sein!“
 

„‚Wenn dein Bruder nicht gewesen wäre’“, wiederholte Holmes. „Du hast dein eigenes Leben riskiert, um das deiner Schwester zu retten.“
 

„Mutter war mit meiner Schwester immer am strengsten. Und Abigail war wütend auf sie. Sie würde es nicht zugeben, aber ich weiß, dass es so war. Ich war ein Held in Ma’s…in den Augen meiner Mutter. Und Abby konnte sie wieder einmal nicht zufrieden stellen. Ich fürchte, dass konnte sie nie.“
 

Holmes nickte langsam und für einen Moment betrachteten wir beide die zerklüfteten Wellentäler, die der Wind in die Wasseroberfläche grub. Der Tag hatte gerade erst begonnen. Ich spürte die Hand meines Freundes auf meiner Schulter. „Komm“, sagte er.
 

„Wohin? Ins Haus?“
 

„Noch nicht. Auf die andere Seite des Grundstücks.“ Er hob seinen Stock vom Boden und eilte mit raschen Schritten davon.
 

Ich wollte nicht dorthin. Ich wusste, was sich dort befand. Aber Holmes war schon mit großer Geschwindigkeit hinter der rechten Seite des Hauses verschwunden. Ich stopfte meine Hände in die Manteltaschen und kämpfte gegen den Wind an, um ihm zu folgen. Die Luft roch nach Gras und Kiefernnadeln. Veränderte sich denn gar nichts?
 

Auf der rechten Seite hinter dem Haus lag der Familienfriedhof. Im Gegensatz zu dem vieler anderer Familien reichte der unsere nur zwei Generationen in die Vergangenheit zurück, denn mein Großvater war nach England gekommen, als mein Vater noch in den Windeln lag. Er und mein Onkel George hatten sich benachbartes Land in Kent erworben, schottische Schwestern geheiratet, eine Familie gegründet und sich dann in ihr frühes Grab getrunken. Mein Bruder Henry hatte nicht das Glück gehabt, ihrem Vermächtnis zu entkommen. Doch ich war verschont geblieben.
 

„Und das sind alles Familiengräber, Watson?“, fragte Holmes, als ich ihn schließlich eingeholt hatte. Er schritt langsam von einem Grabstein zum anderen.
 

„Ja. Hier liegen mein Vater und meine Mutter“, sagte ich und deutete auf zwei Grabsteine. Sie waren beide ein wenig mit Moos überzogen, was mich erstaunte, denn normalerweise war Abigail fast schon fanatisch reinlich. „Neben meinem Vater liegen mein Onkel George, er starb nur zwei Jahre nach seinem älteren Bruder, und seine Frau Jane, die Schwester meiner Mutter. Neben Jane liegt mein Cousin Bennie.“—Ich hielt inne, um den ältesten Grabstein zu betrachten. Bennie war im Alter von acht Jahren an den Röteln gestorben. Er und ich waren ständig zusammen gewesen und er ist auch der Cousin, den ich schon früher im Hinblick auf meine Arbeit als Mediziner erwähnte. Benjamin George Watson – unser kleiner Engel…
 

„Und…hier, hier liegt Harry…mein Bruder, Henry.“ Ich wand mich ab. Sein Grab schmerzte fast mehr als alle anderen. Er war für mich mehr ein Vater gewesen als der, der mich gezeugt hatte. Aber er war tot. Sie alle waren tot. Sogar Mary, auf dem kalten Friedhof der St. Paul’s Cathedrale in London. Und Josh könnte der Nächste sein. Dann wäre ich wahrhaftig allein…
 

„Es tut mir Leid, Watson.“
 

„Was tut dir Leid, Holmes?“
 

Er berührte kurz meinen Arm. „Das kann nicht leicht für dich sein.“ Und dann, bevor ich antworten konnte, war er auch schon wieder fort, schlenderte zum Rand des Anwesens. Während er in Gedanken zweifellos alle Einzelheiten über diese heilige Erde durchging, blieb er plötzlich stehen und winkte mich mit einer Hand zu sich.
 

„Und wessen Grab ist das?“, fragte er und deutete mit der Hand auf den Boden.
 

Ich blickte zu Boden. Zuerst hatte ich nicht die geringste Ahnung, wovon er überhaupt sprach. Da war kein Grabstein und folglich auch kein Grab. Aber als ich genauer hinsah, wozu mich Holmes ständig aufforderte, bemerkte ich eine kleine Erhebung. Und nicht nur das. Der Boden war kahl und von brauner, trockener Erde bedeckt. Kein Gras, keine Wurzeln, ja überhaupt keine Pflanzen wuchsen hier. „Ich habe diese Stelle noch nie zuvor gesehen“, erklärte ich meinem Freund. „Aber es muss sicherlich sehr alt sein. Und es kann nicht das Grab eines Menschen sein. Es gibt keinen Grabstein. Vielleicht ein Tier?“
 

„Das denke ich nicht, Doktor“, sagte Holmes, während in die Hocke ging und mit seiner behandschuhten Hand über den Erdhügel strich. „Wenn hier ein Tier begraben läge, würde diese Stelle wohl kaum so sorgfältig freigehalten.“ Er hielt inne und betrachtete die übrigen Gräber der Familie mit ausgestrecktem Arm. „Hmm…“, überlegte er. „Es liegen mindestens sechs Klafter zwischen den Gräbern deiner Familie und diesem hier. Es scheint fast so, als wollte jemand dieses Grab absichtlich nicht bei den anderen haben.“
 

„Aber warum um Himmelswillen…“
 

„Es ist erstaunlich.“ Er sprang auf die Füße und klopfte sich auf seine typische, eitle Art den Schmutz von der Kleidung.
 

„Was soll das heißen? Und was glaubst du, hier herauszufinden? Sollten wir nicht ins Haus gehen?“ Es war kälter geworden, denn der Abend war näher gerückt und ich konnte eine beißende Kälte durch den Stoff meines Mantels fühlen.
 

„Du hast vollkommen Recht“, sagte Holmes. „Lass uns unsere Suche drinnen fortsetzten.“
 

„Fortsetzen?“ Mir war nicht klar gewesen, dass sie überhaupt begonnen hatte. Aber wieder einmal war Holmes vorausgeeilt. „Was soll die Hast?“, fragte ich, als ich ihn eingeholt hatte. „So wie du herum hetzt, hat man ja das Gefühl, wir wären auf einer Besichtigungstour.”
 

„Wir haben keine Zeit zu verlieren, Watson.“
 

Wir gingen durch die Eingangshalle in die spärlich erleuchtete Küche. Abby hatte sich noch immer kein Gas legen lassen, obwohl ich es ihr schon vor Jahren angeboten hatte. Die Vorhänge sperrten die Sonne aus und ich bemerkte sofort die langen, dunklen Schatten, die Holmes und ich auf den Holzboden warfen.
 

Alles im Haus wirkte blitzblank. Und wegen Abigails unglaublicher Sparsamkeit war der Großteil des Hauses noch genau, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Ma’s altes Spinnrad stand immer noch in der Ecke. Wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, wie viel es benutzt worden war; in das Schwungrad hatten sich Fingerabdrücke eingegraben. Auf dem Wasserhahn konnte man immer noch dieselben alten Rostflecke erkennen und der hellgelbe und rote, gewebte Teppich, der den Boden der Vorhalle bedeckte, schien für immer durch die Fußspuren meiner ganzen Familie abgewetzt. Ich konnte hören, wie das Haus aus der Stille zu mir sprach. Und das tat es wirklich:
 

Wir kamen aus der Stadt herein gerannt. Es war nur eine Meile bis zur Schule und wir rannten immer: meine Cousins George, Basil und ich.
 

Ma hatte an jenem Tag gerade frisches Brot gebacken. Es gibt keinen Duft, der so göttlich ist wie der von frischem Brot. Das Aroma erfüllte meine Nase mit Hitze, Süße und frisch aufgegangenem Sauerteig. Das Wasser lief mir im Munde zusammen.
 

„Zieht die dreckigen Schuhe aus, ihr Lümmel!“, befahl Ma.
 

Aber sie lächelte mich an, wie es Mütter ständig tun. Sie war mit dem Schlagen von Butter beschäftigt. Ihre Haut selbst hatte die sanfte Farbe von Butter, bevor die Karotten hineingemischt wurden, um sie gelb zu färben. Alabasterweiß. Auch Stunden in der Sonne ließen sie nicht dunkler werden.
 

„Hungrig, Jungs?“
 

„Ja, Ma’am“, riefen wir.
 

Wir nahmen uns dicke Scheiben des immer noch warmen Brotes, über und über beladen mit der frischesten Butter. Es fühlte sich auf der Zunge wie Samt an.
 

„Ma, dürfen wir vor dem Abendessen fischen gehen?“, fragte ich.
 

Sie lächelte wieder. „Natürlich.“
 

Abigail kam hereingestürmt. Ich war etwas besorgt, dass sie keine Cousinen in ihrem Alter hatte, mit denen sie Freundschaft schließen konnte, aber ich war ein Junge – gerade erst zwölf oder dreizehn Jahre alt. Und kein Junge in diesem Alter will etwas mit seiner Schwester zu tun haben. „Du kannst nicht mitkommen, Abby“, hatte ich schon gerufen, bevor sie auch nur den Mund aufmachen konnte.
 

„Mutter! Warum darf ich nicht?“
 

„Lass die Jungs in Ruhe, Kind. Du machst dich doch nur schmutzig. Und außerdem bist du noch nicht mit deiner Flickarbeit fertig.“
 

Georgie und ich gingen nach draußen, aber Basil blieb im Haus. Er war der Älteste von uns allen – fast schon sechzehn und hatte die Schule in Canterbury beinahe schon abgeschlossen. „Geh nicht, Basil“, sagte Abby. Er würde bald auf die höhere Schule in Edinburgh gehen. Abigail hatte die ganze Nacht geweint.
 

„Keine Angst, Mädchen“, sagte mein Cousin. „Ich werde hier bleiben und dir Gesellschaft leisten.“
 

Und so holten Georgie und ich unsere Angelruten ohne ihn.
 

Ich hatte nicht einmal gemerkt, dass ich mich an diesen Abschnitt meines Lebens nicht nur erinnerte. Ich sprach es laut.
 

„Verzeihung, Holmes“, sagte ich, als ich bemerkte, wie intensiv er mich betrachtete. „Aber dieser Ort beschwört einfach Erinnerungen herauf, die ich schon lange vergessen glaubte.“
 

„Nein, nein“, antwortete er. „Sprich nur weiter. Das menschliche Gehirn, Watson, ist wie das vollkommenste Archiv für Informationen. Du legst die Daten darin ab, ohne zu wissen warum und sie treten wieder hervor an Zeitpunkten, die wir zunächst nicht verstehen, aber ich versichere dir, es gibt einen Grund. Es gibt immer einen Grund. Und deshalb bitte ich dich inständig, weiter zu sprechen. Sprich alles aus, was dir dieses Haus wieder in Erinnerung ruft.“
 

Ich nickte, aber war mir nicht im Geringsten sicher, wie begierig ich darauf war, einfach so über meine Vergangenheit zu schwatzen. Es war nicht so, dass ich wirklich viel zu beklagen hatte und tatsächlich hatte ich im Vergleich zu vielen anderen eine durchaus glückliche Kindheit gehabt. Aber trotzdem wäre es eine furchtbare Unwahrheit gewesen, Holmes nun in Seelenruhe mit Dutzenden Anekdoten aus meiner Kindheit zu unterhalten und ich würde nicht so tun, als sei alles in bester Ordnung. Das hier war kein fröhlicher kleiner Ausflug. Und ich konnte ihn auch nicht so behandeln.
 

Ich konnte aus dem Wohnzimmer die Kaminuhr hören, die die Stunde schlug. Ich hatte die Uhr vergessen. Mein Vater hatte sie meiner Mutter an ihrem ersten Hochzeitstag gekauft. Es war ihr vermutlich das liebste Stück im ganzen Haus gewesen. Jeden Abend hatte sie sie aufgezogen und jeden Sonntag so lange poliert, bis ich in dem streifenlosen Glas mein eigenes Spiegelbild betrachten konnte.
 

Neben der Uhr hingen mehrere Familienportraits. Abigail hatte eines, das auch ich selbst besaß, das einzige Bild der gesamten Familie, aufgenommen, als ich etwa zehn Jahre alt war. Daneben hing eines von meiner Mutter und meinem Vater: das einzige, auf dem sie beide zusammen zu sehen waren, aufgenommen kurz nach ihrer Hochzeit. Auf der anderen Seite hingen meine Tante und mein Onkel Watson und die zwei überlebenden ihrer drei Kinder. George, der an irgendeiner unbekannten Geisteskrankheit litt, zeigte ein breites, seltsam schiefes Lächeln. Basil war etwa sechzehn. Er trug seine Schuluniform und starrte mit harten, dunklen Augen in die Kamera.
 

„Deine Cousins?“, fragte Holmes.
 

Ich nickte. „Allerdings war der Altersunterschied zwischen uns viel geringer als der zwischen mir und Henry, sodass wir mehr wie Brüder waren.“
 

„Was ist aus ihnen geworden?“
 

„Bevor wir den Kontakt abbrachen, schrieb mir meine Schwester, dass George nur ein paar Jahre, nach dem dieses Photo gemacht worden war, in eine Anstalt eingewiesen wurde. Meine Tante verstarb kurz danach. Ich glaube er ist immer noch dort. Es ist irgendwo in der Nähe von Edinburgh. Basil dagegen schloss die Universität ab, aber ich habe niemals wirklich erfahren, was danach aus ihm wurde. Wir verloren den Kontakt, aber ich glaube, dass Abigail es wahrscheinlich weiß. Sie war immer diejenige, die den Kontakt aufrechterhielt.“ Ich sah mein Spiegelbild im Glas des Bilderrahmens und war beinahe erstaunt, dass mich ein Mann in seinen späten Dreißigern anstelle eines vierzehnjährigen Jungen anstarrte. „Bei ihrem eigenen Bruder war sie weniger eifrig.“
 

Holmes bestand darauf, dass wir das obere Stockwerk untersuchten. Als ich meine Hand auf das Geländer legte, konnte ich fühlen, dass das Eichenholz mit den Jahren weich wie Samt geworden war. 17 Stufen, das hatte ich einst von meinem Freund erfahren, führten von der Vorhalle in das Wohnzimmer der Baker Street. Ich hatte meine ganze Kindheit damit verbracht, diese Treppe hinauf und hinunter zu steigen, aber dennoch hatte ich nie darauf geachtet, aus wie vielen Stufen sie bestand.
 

In meiner Erinnerung war dieses Treppenhaus viel weiter und größer gewesen. Ich hatte es als Junge gesehen, nicht als Mann. Es waren 14 Stufen und die sechste knarrte immer noch deutlich unter meinem Gewicht.
 

Es gab vier Schlafzimmer. Das meiner Eltern war direkt rechts neben der Treppe. Daneben war ein Gästezimmer, das hunderte Male von meinen Cousins benützt worden war oder später hin und wieder von meinem Onkel George, nachdem meine Tante ihn regelmäßig wegen seiner Liebe zum Scotch-Whiskey aus dem Haus geworfen hatte. Schräg gegenüber war Abigails Zimmer; das Zimmer, in dem sie bis heute schlief. Gegenüber lag mein altes Zimmer, meines und Harrys, bis er es verlassen hatte, um alle Pubs und Tavernen zu erforschen, die unser schönes Land zu bieten hatte. Es war diese Zimmer, das mich sofort anzog.
 

Als ich die Tür öffnete, wurde ich mit abgestandener Luft überflutet, wie man es von einem Raum erwarten konnte, der für so lange Zeit verlassen war. Sonnelicht fiel durch das Fenster, durch das man die weiten Felder hinter dem Anwesen überblicken konnte. Ich trat ein.
 

Ich hatte meinen Kopf in Ma’s Schürze vergraben und roch den Duft von Zimt, Mehl und Rosenwasser. Mein Gesicht war tränenüberströmt, obwohl ich mich nicht daran erinnern konnte, geweint zu haben.
 

„Hör jetzt auf, John“, sagte Pa. Er stand hochaufgerichtet wie eine Statue draußen im Schatten des Flurs. „Du hast genug geweint.“
 

„Du kannst ihm das nicht vorschreiben, Henry Watson. Lass ihm seine Tränen.“
 

Ich blickte auf und nach draußen. Obwohl sie eine halbe Meile von uns entfernt lebten, konnte ich meine Tante Jane beinahe über dem toten Körper ihres jüngsten Sohnes weinen hören. Mein lieber Bennie war tot.
 

„Ihr standet euch nah?“
 

Holmes plötzliches Erscheinen hinter mir ließ mich beinahe aus der Haut fahren. Gott, ich wusste nicht, wie viel ich in diesem Haus noch ertragen konnte. Es gab einfach zu viel, an das ich mich nicht erinnern wollte. „Das waren wir“, sagte ich. „Wir wurden nur Wochen auseinander geboren. Unsere Mütter nannten uns ‚die Zwillinge’. Wir waren sieben Jahre lang praktisch unzertrennlich. Und dann bekam er die Röteln. In jenem Jahr gab es eine Epidemie in Canterbury. Acht Menschen starben, fünf davon waren Schulkinder.“
 

„Es muss sehr hart für dich gewesen sein.“
 

„So hart, wie ein Tod für einen Siebenjährigen sein kann, vermute ich. Aber es war Bennies Tod, der mich zur Medizin trieb. Und ich bin niemals von diesem Pfad abgewichen.“
 

„Der Verlust von Geschwistern…“ begann er, doch dann hielt er inne, drehte sich am Absatz um und verließ das Zimmer.
 

Meine Neugier war sofort geweckt. Sein einziger Bruder war immer noch am Leben und bei bester Gesundheit, also was konnte er über den Verlust von Geschwistern wissen? Aber der Ausdruck auf seinem Gesicht sagte mir deutlich, dass ich nicht fragen konnte. Also sagte ich nichts.
 

„Das hier ist das Zimmer deiner Schwester, nicht wahr?“, fragte er und ging hinein.
 

„Äh…ja.“ Ich wusste natürlich, dass wir in einer ehrbaren Mission unterwegs waren und das das Durchsuchen ihres Zimmers zwangsläufig ein Teil davon sein musste, aber um die Wahrheit zu sagen, war mir trotzdem nicht ganz wohl dabei. Auch wenn Holmes es beinahe zu genießen schien, in ihre Privatsphäre einzudringen. Seine Wut über das, was sie vorhatte, überwog vielleicht sogar meinen eigene, sodass ihm nichts mehr heilig war, wenn es um diese Frau ging. Ich erkannte das. Und wären seine Scharfsinnigkeit und Ausdauer nicht gewesen, dann wäre mit Sicherheit alles ganz anders gekommen.
 

Anders als mein eigenes Zimmer hatte sich Abigails seit unserer Kindheit ein wenig verändert. Ihr Bettgestell war immer noch aus dem Holz jener Kiefern gefertigt, die einst diese Gegend überzogen hatten, auch wenn sie sich als kleines Mädchen stets ein ‚hübsches’ Messinggestell gewünscht hatte. Darüber erstreckte sich immer noch die rosa und weiße Steppdecke, die Mutter und Tante gefertigt hatten, sobald die Schwangerschaft bekannt geworden war. Nachdem die beiden Schwestern fünf Jungen hintereinander bekommen hatten, waren sie sich beide sicher, dass dieses Kind endlich eine Tochter sein würde.
 

Die Spitzenvorhänge vor dem Lake Amelia überblickenden Fenster hingen seit dem Tag ihrer Geburt an ihrem Platz. Blumen – wildwachsende Gänseblümchen und Veilchen, die sorgsam in einer Porzellanvase arrangiert worden waren – bildeten den einzigen Schmuck des Raumes. Abgesehen von dem Kruzifix, das über dem Bett hing und dem Bildnis der Jungfrau Maria und dem Jesuskind in ihren Armen. Ihre Bibel und eine Öllampe lagen auf einem kleinen Nachtkästchen. An der gegenüberliegenden Wand standen ein Kleiderschrank und eine Kommode, beide ohne jegliche Verzierungen. Der Fußboden war kahl, ebenso wie die Wände, sah man von ihren religiösen Artefakten ab.
 

„Du lieber Himmel, was für eine frommes Gruft!“, bemerkte Holmes und sprach damit genau meine eigenen Gedanken aus. „Es entbehrt beinahe jeglicher Persönlichkeit.“
 

Aber war es immer so leer gewesen? Nein, nicht bevor das Leben meine einzige Schwester in eine verbitterte alte Jungfer verwandelt hatte, die ihren einzigen Trost im Glauben fand. Ich konnte sie immer noch vor mir sehen: Ein süßes kleines Ding eingehüllt in Schleifen und Taft, ihr braunes Haar war in Löckchen gedreht und ihr Mund zu einem breiten Lächeln geöffnet. Ausgestreckt auf dem Fußboden ihres Kinderzimmers, musste ich für Ma hin und wieder auf sie aufpassen. Und ich war gezwungen mit ihrem Spielzeug zu spielen: eine Arche Noah, handgemacht von meinem Vater für sein Lieblingskind. Sie besaß außerdem noch eine Wachspuppe und ein Teeservice aus Porzellan, beides aus Londoner Geschäften bestellt. Im Vergleich zu vielen anderen in jener Zeit ging es uns recht gut und für Henry Watsons kleinen Engel wurden keine Kosten gescheut. Aber sie war ein so liebes Kind, dass ich damals sehr wohl verstehen konnte warum.
 

‚Johnny, Johnny, komm her und setz dich. Willst du einen Tee? Trink ihn hier, mit Dolly und mir.’ Und dann würde sie über ihren kleinen Reim kichern und nach einem kurzen, vergeblichen Protest würde ich von der pummeligen Hand einer Dreijährigen in ihr Zimmer gezerrt, wo ich mich hinsetzen musste und so tun, als würde ich Tee trinken, anstatt mit meinen Cousins durch die Wälder zu trampeln, zu jagen und zu fischen.
 

‚Ist der Tee nicht herrlich?’
 

‚Natürlich, Abby.’
 

‚Vielen Dank für deinen Besuch und dass du Tee mit uns getrunken hast, Johnny.’ Und dann würde sie mich anlächeln – mich ihren geliebten Bruder.
 

Was war nur aus uns geworden?
 

„Was beschäftig dich, Watson? Ich habe dich noch nie so abwesend gesehen“, sagte Holmes. Er untersuchte das Zimmer, als würde es rätselhafte Geheimnisse beheimaten.
 

„Ja, ich…nein, es ist nichts. Nur…nun gut, ich frage mich, wie es zu alldem gekommen ist. Abby…wir standen uns einmal nahe. Nicht außergewöhnlich nah, aber bis zu Vaters Tod schien sie wie ein normales, glückliches Kind. Und dann…ich weiß nicht, mein Freund. Ich hätte mir niemals vorstellen könne, dass es so weit mit uns kommen würde.“
 

„Der Verlust eines Elternteils kann eine solche Wirkung auf ein Kind haben“, antwortete er, während er die Schublade ihres Nachtkästchens herauszog. Es enthielt nichts außer drei Taschentüchern, ein paar Kerzen, Streichhölzern und ihren Rosenkränzen.
 

Dieser Satz erinnerte mich heftig an das, was er nur einen Augenblick zuvor über den Verlust von Geschwistern gesagt hatte. Dahinter verbarg sich offensichtlich eine Geschichte. „Das klingt, als sprichst du aus persönlicher Erfahrung, Holmes.“ Ich konnte nicht anders, als es auszusprechen.
 

„Meine Erkenntnisse basieren auf Beobachtungen, das ist alles“, sagte er ruhig und ging nicht weiter auf das Thema ein.
 

Er hatte sich von ihrem Nachtkästchen zu der Kommode bewegt. Die meisten Schubladen enthielten Kleidung, aber in der letzten schien mehr zu sein. Einige wenige Schmuckstücke, die er genau untersuchte, mir aber völlig unbedeutend erschienen. Er stöberte weiter in der Schublade, bis er etwas herauszog, das ich zuerst für ein bloßes Stück Papier hielt. Aber als ich genauer hinsah, erkannte ich, dass es sich um eine Photographie handelte.
 

„Wer ist es?“, fragte ich Holmes.
 

Aber im selben Moment, als er es hervorgezogen hatte, stopfte er es sofort in seine Manteltasche, sodass ich keinen näheren Blick darauf werfen konnte. „Holmes…“, begann ich, aber ich erkannte sofort, dass sich seine ganze Persönlichkeit gewandelt hatte. Er war nicht länger Holmes, der besorgte Freund, der meiner Familie einfach diese Hölle ersparen wollte; er war Holmes, die Maschine und er fühlte, dass du Lösung ganz nah war. Ich glaube nicht, dass er mich auch nur gehört hatte.
 

Er stürzte aus dem Zimmer und rannte zum Schlafzimmer meine Eltern, dessen Tür er öffnete, aber fast im selben Moment wieder zuknallte. Er tat dasselbe beim Gästezimmer, knallte die Tür ebenso nach ein oder zwei Sekunden wieder zu. „Dieses Haus hat keinen Dachboden“, überlegte er anscheinend an niemanden gerichtet außer sich selbst. „Dann vielleicht einen Keller?“
 

„Wir haben einen alten Obstkeller“, erklärte ich ihm. „Er wird vor allem zur Lagerung genützt, aber“—
 

„Komm mit!“, rief er, während er die Treppe hinunterstürzte
 

Mit einem tiefen Seufzer eilte ich ihm hinterher. Selbst nach beinahe anderthalb Jahrzehnten konnte ich mich einfach nicht daran gewöhnen, seinem unglaublichen Verstand Meilen hinterher zu hinken.
 

Der alte Obstkeller war dunkel und feucht; ihm war ein ziemlich unvergesslicher Geruch nach Erde und Schimmel zueigen. In unseren Jugendtagen liebten wir es, uns hier unten zu verstecken und uns gegenseitig zu erschrecken. Oft waren wir hier unten zusammen gesessen, um uns Geistergeschichten zu erzählen, die wir von unseren Vätern gelernt hatten. Ich denke, dass dieser Ort durch die Erinnerung an all die schlaflosen Nächte, die mir mein Cousin Basil mit seinen schaurigen Erzählungen von Hexen und Sumpfunholden beschert hatte, immer noch ein gewisses Grauen bereithielt. Schaudernd fragte ich Holmes, was genau wir hier unten eigentlich taten.
 

„Wir sind auf der Suche nach den letzen Puzzleteilen, um dieses verzwickte Rätsel zu lösen“, sagte er und stöberte hastig in den Schachteln, Kanistern und Koffer, die hier aufbewahrt wurden.
 

„Den letzten? Was zum Teufel waren die ersten?“
 

„Hmm…“, war seine einzige Antwort. „Weißt du, Watson, ich denke, dass ich ziemlich dankbar sein sollte, dass dein Schwester als Frau geboren wurde. Mit ihrer Mentalität und Hartnäckigkeit hätte aus ihr gut und gern ein zweiter Professor Moriarty werden können.“
 

„Holmes!“
 

Er starrte mich an. „Oh, ich meine das auf die bestmögliche Art, mein lieber Watson. Denn auch wenn sein Verstand sich dem Bösen zuwandte, so war es trotzdem ein unglaublicher Verstand, egal wie man es betrachtet. Auch deine Schwester verfügt über einen solchen beneidenswerten Verstand. Aber trotz ihres frommen Äußeren ist sie innerlich ebenso unrein wie der Rest von uns allen.“
 

„Was weißt du?“
 

„Ich weiß, dass…“, begann er und erstarrte. „Sie ist zurückgekehrt. Schnell, Watson, komm mit!“
 

Wir stürzten aus dem Keller zurück ins Wohnzimmer, wo mein Freund irgendwie das Anhalten der Kutsche mit meiner Schwester am Beifahrersitz gehört hatte. „Wir haben keine Zeit“, sagte Holmes. „Wenn sich für dich alles zum Guten wenden soll, dann musst du ganz genau tun, was ich sage, mein Freund.“
 

„Was soll ich tun?“
 

„Du musst hier hinter dieser Wand bleiben und sie darf nichts von deiner Anwesenheit bemerken. Es ist essentiell, dass ich sie allein damit konfrontiere.“
 

„Womit genau willst du sie überhaupt konfrontieren?“
 

Er blickte fast schon nervös Richtung Fenster. „Wir haben keine Zeit zum Diskutieren, Watson! Du musst mir dein Wort geben!“
 

„In Ordnung, in Ordnung, du hast es.“
 

„Ganz egal, was sie oder ich sagen könnten?“
 

Ich konnte mir kaum vorstellen, was sie sagen könnte. Ich schlucke schwer, als ich mich an die Bibel zuhause erinnerte, aber ich nickte. „Mein lieber Holmes, als ich sagte, dass ich dir bedingungslos vertraue, war das mein voller Ernst. Auf mein Wort, ich werde verborgen bleiben, bis du mir ein Zeichen gibst.“
 

Er legte mir kurz die Hand auf den Arm. „Dann werden du und dein Sohn in Sicherheit sein.“
 

Während ich hinter die Kaminecke hastete – ich wusste, dass ich dort nicht gesehen werden konnte – wunderte ich mich über die Worte, die er gewählt hatte. Warum würden nur Josh und ich in Sicherheit sein? Was war mit ihm?
 


 

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[1] Marino Faliero an Bertuccio in ‚The Doge of Venice’ – Lord Byron



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Teilchenzoo
2007-06-03T13:17:54+00:00 03.06.2007 15:17
Oh, spannend. Ich kann mir denken, was es ist. Sie hatte ein uneheliches Kind geboren, vielleicht ist es früh gestorben, vielleicht war es eine Todgeburt. Zumindest ist dies das gepflegte Grab. Sie hatte das Kind Harry genannt (erkennbar daran, dass sie Josh so anprach, ihn mit dem eigenen Sohn verwechselte). Der Vater ... nun, ich tippe auf Basil, Watsons Erinnerung nach mochte sie ihn sehr. Vielleicht war das Foto, das Holmes fand, ein "Hochzeitsfoto". Gut möglich, dass sie sich heimlich trauen ließen.
So. Stimmts oder lieg ich wie gewöhnlich komplett falsch? Wir werden sehen ...

Auf jeden Fall werde ich diesen Cliffhanger (angeblich nach holmes höchst eigenem "Cliffhanger" benannt) schnellstens hinter mir lassen und weiter lesen.

Lg neko
Von:  Sasuke_Uchiha
2006-12-21T23:33:35+00:00 22.12.2006 00:33
Wie gemein...an dieser spannenden Stelle aufzuhören.
Das gehört sich nicht.
Hoffe es geht schnell weiter.


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