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Die Bekenntnisse des Meisters

Niedergeschrieben von John H. Watson, M.D.
von

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Es hat leider wieder etwas länger gedauert, als ich beabsichtigt hatte, aber was soll man machen.

In diesem Kapitel nimmt die Gesichte eine erneute unerwartete Wendung und ohne irgendetwas zu verraten, wünsche ich euch viel Spaß dabei!
 

Weihnachten ist für mich – wie für die meisten Menschen – eine Zeit, an der die Familie zusammenkommt und man über das nachdenkt, was man hat. Selbst aus meiner stürmischen Kindheit hatte ich trotz meinem verschlossenen Vater, meinem verbitterten Bruder und meiner übereifrigen Mutter nur glückliche Weihnachtserinnerungen. Weihnachten war die Zeit, in der man sich seinen Mitmenschen am nächsten fühlte, in der man der Geburt unseres Heilands gedachte und was sie für unser Leben bedeutete.
 

Der Weihnachtsabend 1894 war allerdings nicht wirklich eine Nacht, in der ich über Religion, Familienzusammengehörigkeit oder glückliche Erinnerungen nachdachte. Es war eine lange, schlaflose Nacht. Ich lag in einem kalten Bett und starrte in die Dunkelheit eines fremden Zimmer. Ich dachte an den Begriff der romantischen Liebe und den der brüderlichen Liebe und daran, wie sich diese beiden in unserer Gesellschaft niemals treffen durften. In meinem Geist war das niemals zuvor geschehen. Doch auch wenn ich mich selbst überzeugt hatte, dass es nur die Belastung der letzten Monate war, änderten diese Gedanken nun das innerste Herzstück meines Glaubens. In jener Nacht kamen mir Gedanken, die ich selbst jetzt, in meinen Sterbejahren, in einem Schreiben, das vermutlich niemals gelesen werden wird, kaum zuzugeben wage. Doch ich habe mir selbst geschworen, nichts in diesen Memoiren zu beschönigen und deshalb werde ich alles niederschreiben, trotz meiner entsetzlichen Schuld solch unheiligen Dinge in jener heiligsten aller Nächte gedacht zu haben:
 

Ich fragte mich, ob Holmes tatsächlich ein Homosexueller war – Galt sein Interesse tatsächlich Männern oder war ich eine Ausnahme?
 

Hatte er jemals geschlechtlichen Verkehr mit einem anderen Mann gehabt? Der Gedanke erschien mir völlig grotesk und lächerlich.
 

Und…nun ja…schändete er sich selbst in seiner Liebe zu mir?
 

Nun, jene Nacht war das erste Mal, dass ich über all diese Dinge nachdachte, allerdings war ich noch kaum im Begriff wirkliche Antworten darauf zu wollen. Nein, es war vielmehr bloße Neugier. Vielleicht rein morbide und hormonelle Neugier. Aber meine Gedanken kreisten in jener Nacht vor allem um eine Frage – warum ich? Was an mir zog ihn an? Er hatte gesagt, er könne es nicht erklären. Aber es musste doch sicherlich einen Grund dafür geben. Liebe mag schnell aufflammen und ebenso schnell wieder erkalten, aber es steckt immer ein Grund hinter diesem heiligsten aller Gefühle. Was war seiner?
 

Auf alle diese Fragen sollte ich schließlich Antworten erhalten, auch wenn es bei manchen Jahre dauern würde.
 

Und so erwachte ich am Weihnachtsmorgen ziemlich unausgeschlafen aber mit einem Entschluss. Dem Entschluss, nicht mehr über dieses Thema nachzudenken. Dafür würde später sicher noch mehr als genug Zeit sein. Aber im Moment wollte ich einfach nur diese Ferien genießen. Ich wollte meinen Geist nicht mit rhetorischen Fragen verpesten und in der Furcht leben, etwas zu werden, das ich bei anderen Männern nicht verstand und schon gar nicht bei mir selbst.
 

Ich fühlte mich träge und machte mir nicht die Mühe, mich anzuziehen, sondern zog lediglich einen Morgenrock über mein Nachthemd, ehe ich in den Nebenraum ging. Durch das schneeverwehte Fenster sah ich das orange Morgenlicht mit wachsender Geschwindigkeit über die Alpen kriechen. Es war kalt, so kalt wie es auf sechstausend Fuß fast zu jeder Jahreszeit war, aber ich hatte gehört, das in diesem ungewöhnlich milden Winter nur wenig Schnee gefallen war. Wir würden in den Ort gehen können und ich freute mich darüber, dass ich Josh Teile dieses ruhigen Schweizerbergdorfes würde zeigen können. Denn ich wollte, dass er andere Länder und Kulturen kennen lernte und nicht in dem Glauben aufwuchs, Bond Street [1] repräsentiere die gesamte europäische Kultur.
 

Irgendwann während der Nacht war ein Weihnachtsmann namens Holmes gekommen und hatte meinem Sohn einen wahrhaften Berg an Schätzen dagelassen. Doch es war seltsam, dass ich nicht gehört hatte, wie er in mein Zimmer gekommen war. Dieser Gedanke erschreckte mich ein wenig, obwohl ich nicht genau sagen konnte warum. Allerdings war ich sehr froh, ihn auf der richtigen Seite des Gesetzes zu wissen. Er hätte ein exzellenter Einbrecher werden können. Doch eines der Geschenke erkannte ich sofort und konnte nicht anders, als erstaunt den Kopf zu schütteln. Es war mein Geschenk an Holmes, das ich während der ersten Tage meiner langen Genesung in der Baker Street aus einem Katalog bestellt hatte. Tatsächlich war es das einzige Geschenk, das ich hatte bestellen können, ehe sich die Ereignisse überschlugen. Mrs. Hudson hatte mich benachrichtigt, als es angekommen war, aber ich hatte sie gebeten, es bis zum Weihnachtsabend für mich zu verwahren. Ich fürchtete Joshs Neugier hätte es in meinem eigenen Zimmer recht bald zu Tage gefördert. Aber wie hatte Holmes…gut, ich vermute Mrs. Hudson hatte es ihm für unser Weihnachtsfest mitgegeben. Ich war froh darüber. Froh, das ich etwas für ihn hatte. Und ich freute mich darauf, sein Gesicht zu sehen, wenn er es öffnen würde.
 

„Er war da! Er war da!“
 

Ich war regungslos im goldenen Morgenlicht gesessen und hatte den stillen Schein des Baumes betrachtet, als von einer Sekunde auf die nächste plötzlich Josh hereingeplatzte. Er war ganz aus dem Häuschen angesichts all der Geschenke, die vor ihm ausgebreitet waren. „Papa! Der Weihnachtsmann war da! Genau wie Onkel gesagt! Er weiß wirklich alles!“
 

Ich wand mich um und sah Holmes direkt neben mir. Er betrachtete sein Werk mit einem ziemlich gerührten Grinsen und ich fühlte mich augenblicklich in Weihnachtsstimmung versetzt. Normalerweise verabscheute dieser Mann die Feiertage. Warum, das hatte er niemals wirklich gesagt, aber ich hatte angenommen, es läge an seinem Desinteresse an Religion und seiner Abneigung für die Einigkeit, die Weihnachten unweigerlich mit sich brachte und die so gar nicht zu seinem bohèmischen Lebensstil passte. Und doch stand er nun vor mir, fröhlich lachend wie ein Kind und ich war glücklich, ohne zu wissen warum.
 

„Sag nicht solche Dinge zu ihm, Josh“, meinte ich. „Er ist auch so schon arrogant genug.“
 

Außer dem Schaukelpferd, der Trommel und genug Süßigkeiten, um massive Bauchschmerzen zu verursachen, bekam Josh zahlreiche Bücher und seine eigene Lupe. Ich glaube, sie liebte er mehr als alles andere. Aber schließlich waren alle seine Geschenke aufgebraucht und Holmes sagte zu mir: „Und jetzt habe ich ein Geschenk für dich, Watson.“
 

Er reichte mir ein kleines, flaches Päckchen mit einer roten Schleife. An ihm haftete ein erfrischender Geruch und sofort als ich das Papier entfernte, sah ich, dass es ein Buch war. Aber nicht irgendein Buch; es war leer, so wie die, die ich benutzte, um während Holmes’ Fällen meine Notizen zu machen. Doch mir war sofort klar, dass dieses Exemplar wesentlich kostbarer war als jedes, das ich normalerweise verwenden würde.
 

„Das ist türkisches Leder“, sagte Holmes. „Gebunden in Konstantinopel [2] und dein Monogramm wurde in meiner Gegenwart von einer Familie eingeprägt, die sich seit Generationen aufs Buchbinden und Gerben versteht.“
 

Nun bemerkte ich das ‚JHW’ auf der Vorderseite. Das Leder war eindeutig exquisit, denn es fühlte sich unter meinen Händen weich und voll an. „Es…ist wunderbar, Holmes“, sagte ich, während ich die Buchstaben mit einem Finger nachzog. „Vielen Dank.“ Ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte, ihm zu erklären, wie viel es mir bedeutete, dass er mein Schreiben auf diese Weise würdigte. „Auch wenn ich keine Ahnung habe, wozu ich es benutzen soll. Es erscheint mir viel zu außergewöhnlich, um darin einfach irgendetwas aufzuzeichnen.“
 

„Dir wird schon etwas einfallen“, sagte er mit einem kurzen Lächeln, das mir deutlich seine Zufriedenheit über meine freudige Reaktion zeigte.
 

„Nun, es erstaunt mich, dass Mrs. Hudson das hier sowohl eingepackt als auch dir mitgegeben hat und auch wenn ich weiß, dass du wahrscheinlich leicht erraten könntest was es ist, will ich trotzdem, dass du es aufmachst.“ Ich hob das kleine Päckchen auf und reichte es ihm.
 

„Es ist nicht so, dass ich es nicht hätte erraten können“, erklärte er. „Aber das hätte die Überraschung verdorben. Und Überraschungen sind die Würze des Lebens.“
 

„Ich dachte, das wäre die Abwechslung.“
 

„Vielleicht beides.“ Er entfernte vorsichtig das Goldpapier und die Schleife, die Mrs. Hudson verwendet hatte und zog ein Kästchen aus Kirsch- und Eichenholz hervor. Die silberne Uhr glänzte in der Sonne, als er sie vorsichtig hochhob und von seiner rechten Hand baumeln ließ. Das ‚SH’, das ich hatte eingravieren lassen, drehte sich rund und rund gegen den Uhrzeigersinn. Die Uhr schwang leicht hin und her, als versuche er, uns damit zu hypnotisieren.
 

„Oooh“, sagte Josh. „Was für eine hübsche Uhr.“ Er streckte sofort die Hand danach aus.
 

„‚Hübsch’ ist wohl kaum ein angemessenes Wort“, verwies ihn Holmes arrogant, während er sie aus seiner Reichweite hielt. „Sie ist überragend. Und wesentlich mehr, als ich verdiene.“ Er musterte mich mit zu Schlitzen verengten Augen und ich war wie vom Donner gerührt. War er nicht zufrieden? Ich hatte ihm über die Jahre wesentlich weniger beeindruckende, wesentlich weniger teuere Geschenke gemacht und er hatte sich immer gefreut und sie zu schätzen gewusst. Auf seine eigene sachliche Art natürlich. Aber nun schien er…nun, wütend ist ein zu starkes Wort, vielleicht eher…traurig? Ich war mir nicht sicher.
 

„Nun?“, fühlte ich mich schließlich gezwungen zu fragen. „Gefällt sie dir jetzt oder nicht? Deinem Gesichtsausdruck nach könnte es genauso gut eine tote Ratte sein.“
 

Seine Augen zuckten zu mir und sein Gesichtausdruck wurde sofort weicher. Seine Faust schloss sich um das Geschenk und er legte es sanft zurück in die Holzschatulle. Er behandelte die Uhr mit einer Vorsicht, die man oft bei Menschen beobachten kann, die zum ersten Mal ein Neugeborenes im Arm halten. „Natürlich gefällt sie mir. Nur ein Narr könnte etwas anderes behaupten. Es ist nur…“
 

„Es ist nur was?“
 

Er warf mir einen schnellen Blick zu und ich wusste, dass er in Sekundenschnelle abwog, ob er es mir erzählen sollte oder nicht. Doch ich hatte offensichtlich verloren. „Schon gut. Es ist eine großartige Uhr und ich werde sie immer in Ehren halten, mein lieber Watson. Vielen Dank. Und nun“, fügte er hinzu und wechselte das Thema, wie es ihm passte. „Gibt es noch eine Angelegenheit, auf die du deine Aufmerksamkeit richten solltest. Es ist in der Baker Street angekommen, am selben Morgen als ich dort ankam, um John Sherlock wiederzubekommen und ich habe es für dich aufbewahrt, bis du wieder gesund genug warst, um es zu lesen.“
 

Er reichte mir ein kleines Packchen. Es war in Backpapier eingeschlagen, mit einer einfachen Schnur verknotet und mit dünner brauner Tinte an mich adressiert. „Wer zum Teufel…“ Aber dann fiel mein Blick auf den Absender. „Es ist von meiner Schwester.“
 

„Ja. Das habe ich erkannt.“
 

„Warum sollte sie mir ein Päckchen schicken“, überlegte ich laut.
 

„Vielleicht wirst du es erfahren, wenn du es aufmachst.“
 

Darin war ein kleines Geschenk, ebenfalls in braunes Backpapier eingewickelt und an ‚Master Watson’ adressiert. Ich runzelte die Stirn, aber bevor ich etwas sagen konnte, hatte Josh es schon erspäht und es mir aus den Händen gerissen.
 

„Es ist für mich!“, rief er. „Aber von wem ist es?“
 

„Von deiner Tante“, antwortete ich und zog einen sorgfältig gefalteten Brief hervor. Sie schrieb:
 

Lieber Bruder-
 

Ich entbiete dir meine Glückwünsche zum Fest und wünsche dir, dass der Herr über dein Leben wacht. Ich erhielt deine beiden Briefe anlässlich der Geburt deines Sohnes und dem Tod deiner Frau. In Anbetracht des letzteren möchte ich dir hiermit mein Mitgefühl bekunden. Ich bitte dich meine späte Antwort zu entschuldigen, aber der Anstand gebot mir, einen angemessenen Zeitpunkt abzuwarten, um euch beide zu besuchen. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es nun endlich an der Zeit ist, allen Hass zwischen uns, den Letzten unserer Familie, zu begraben.

Ich werde am Morgen des 15. Januars mit dem 10-Uhr-30-Zug in Victoria Station ankommen und hoffe, von dir dort empfangen zu werden. Anbei findest du ein Geschenk für das Kind, denn er ist es, den ich besuchen will.
 

Ein frohes Weihnachtsfest und ein glückliches, neues Jahr,
 

Deine Schwester,
 

Abigail
 

Ich übertreibe nicht, wenn ich schreibe, dass ich es mehrmals lesen musste, ehe ich wirklich begriff. Warum schrieb sie mir? Obwohl sie nur zwei Stunden von London in dem Haus meiner Kindheit in Kent lebte, waren zwei, drei Briefe seit einem Jahrzehnt der einzige Kontakt zwischen uns – und jeder davon war anlässlich von wichtigen Ereignissen gewesen, durch die wir keine andere Wahl hatten, als uns miteinander in Verbindung zu setzten.
 

„Es war augenscheinlich nicht von unmittelbarer Wichtigkeit“, sagte Holmes, während er sich eine Pfeife anzündete. „Ansonsten wäre ich gezwungen gewesen, es zu öffnen. Da das nicht der Fall war, habe ich es bis zu diesem Morgen aufbewahrt.“
 

„Woher wusstest du, dass es nicht von unmittelbarer Wichtigkeit war?“
 

„Weil dir deine Schwester ansonsten mit Sicherheit ein Telegramm geschickt hätte.“
 

Meine Weihnachtsstimmung war im Begriff dahinzuschwinden. „Ganz offensichtlich kennst du meine Schwester nicht.“
 

Das war eindeutig die falsche Antwort für Sherlock Holmes. Er starrte mich mit geweiteten Augen an, als hätte ich ihn beleidigt. „Und ich hatte angenommen, Watson, du würdest mich besser kennen.“
 

„Ich kann eine Edduktion machen“, sagte Josh zu seinem Onkel.
 

Holmes lächelte voller Zufriedenheit. „Und die wäre, John Sherlock?“
 

„Meine Tante kennt mich überhaupt nicht.“ Er hielt seine Geschenk hoch. Es war ein Bilderbuch mit wenig oder überhaupt keinem Text. „Das Buch ist für Babys.“ Er überlegte kurz. „Wenn ich eine Tante habe, warum hab ich sie dann noch nie getroffen, Papa?“
 

Weil sie niemals darum gebeten hatte, dich zu treffen. Weil ich ihre selbstsüchtige Art verachte. Weil sie nicht über das kleinste bisschen Einfühlungsvermögen verfügt. Das waren die wahren Gründe. Aber natürlich würde ich so etwas nicht zu meinem Sohn sagen. „Nun, diesem Brief zufolge, wirst du sie bald treffen.“
 

„Du wirkst, als wärst du darüber nicht sehr erfreut, Watson“
 

Ich reichte ihm den Brief. Ich wusste wie sehr sich sein allmächtiger Verstand danach sehnte, ihn zu analysieren. „Wenn du Abigail kennen würdest, wüsstest du warum.“
 

Mehrere Minuten lang las er den Brief und betrachtete ihn in jedem möglichen Licht, bevor er ihn schließlich fallen ließ. Danach hob er die Überreste des Pakets auf, um jedes Zoll und sogar die Schnur, die es zusammengehalten hatte, genau zu untersuchen. „Ganz im Gegenteil, Doktor, ich habe das Gefühl recht gut über deine Schwester Bescheid zu wissen.” Er hielt inne und der wissenschaftliche Glanz schien ein wenig aus seinen Augen zu weichen. „Aber vielleicht wäre es dir lieber, wenn ich mir nicht die Freiheit nehmen würde. Wenn man bedenkt, was beim letzten Mal bei deinem Bruder…“
 

„Nein, nein“, erwiderte ich. „Fahre nur fort. Ich habe sie seit dem Tod meines Bruders ’82 nicht mehr gesehen und keinen Brief mehr von ihr bekommen, seit sie sich geweigert hatte, zu meiner Hochzeit zu kommen. Auch wenn ich eine ungefähre Vorstellung von ihrem heutigen Charakter habe, kann es gut sein, dass du mehr weißt als ich.“
 

Er nickte und hielt den Brief hoch. „Zunächst einmal ist schon dieses Papier bemerkenswert genug. Kein Briefkopf. Dieses Schreibpapier ist schlicht aber dick und von guter Qualität. Das lässt mich auf zwei Dinge schließen: Erstens ist deine Schwester unverheiratet und zweitens handelt es sich hierbei nicht um ihr eigenes Briefpapier.“
 

„Wie kommst du darauf?“, fragte ich etwas verwirrt.
 

„Der überwiegende Großteil der Männer – besonders in der Mittel- und Oberschicht – besitzen ihr persönliches Briefpapier. Unter Frauen ist das weniger verbreitet. Aber ist dir aufgefallen, dass das Papier ziemlich teuer, die Tinte allerdings spottbillig ist? Und nicht nur billig sondern auch alt, was darauf hindeutet, dass der Schreiber kaum Verwendung dafür hat. Die Feder ist auch nicht besonders gut. Siehst du, dass die Buchstaben ein wenig geschmiert wirken? Ich denke, der Kopf ist gebrochen. Nun würden nur die wenigsten Männer den Gebrauch von billiger Tinte und zerbrochenen Federn erlauben und daher ist deine Schwester unverheiratet, lebt allein und hat dieses Papier irgendwo ausgeborgt.“
 

„Das…das kann ich nicht sagen“, gestand ich. „Aber…ja, ich bin sicher, dass sie unverheiratet ist. Andernfalls hätte sie mir sicher geschrieben. Aber wegen dem Papier…“
 

„Niemand der so schlechte Schreibutensilien verwendet, würde sich die Mühe machen, vernünftiges Schreibpapier zu kaufen. Ich vermute…hmm, ich entbiete dir meine Glückwünsche zum Fest und wünsche dir, dass der Herr über dein Leben wacht.” Er runzelte die Stirn. „Sie bekam das Papier von irgendeiner ehrenamtlichen Vereinigung. Einer religiösen Vereinigung, würde ich sagen, den es gibt draußen auf dem Land wenig andere Möglichkeiten für eine Frau.“
 

Ich hatte das Gefühl, als sinke mir mein Magen bis in die Kniekehlen. „Ja, das würde ihr ähnlich sehen.“
 

„Und diese Schnur. Hast du gesehen, wie abgenutzt und brüchig sie ist? Sie ist ganz offensichtlich nicht sehr neu. Genau wie das Papier. Nun lässt mich eine Frau, die altes Backpapier und alte Schnur verwendet, darauf schließen, dass sie nicht viel ausgeht. Wahrscheinlich nur in die Kirche und zu ihrer bis dato unbekannten Vereinigung. Wenn man das alles zusammen nimmt, lässt sich sagen, dass deine Schwester vermutlich eine alte Jungfer im mittleren Alter ist, vermutlich überreligiös, ein wenig…sagen wir mal sparsam und sich von der Gesellschaft eher zurückzieht. Na wie klingt das, alter Junge?“
 

„Unglaublich zutreffend“, sagte ich ein wenig erschrocken. Es ist etwas, woran ich mich bei ihm auch nach all der Zeit nicht völlig gewöhnen kann. „Aber auch du kannst unmöglich eine Erklärung finden, weshalb sie mich nach all der Zeit plötzlich sehen will. Ich habe sie zum letzten Mal beim Begräbnis meines Bruders gesehen und sie sagte…nun ja, Dinge, die besser nicht wiederholt werden sollten. Aber es war sonnenklar, dass sie nicht besonders daran interessiert war, unsere Beziehung weiterzuführen.“
 

„Und woran lag das?“ Er wirkte ehrlich interessiert, wie er mit dieser ernsthaften Miene vor mir saß und an seiner Pfeife kaute. Aber es war genau jener Blick, den er jedem seiner Klienten schenkte, ein Blick voller intellektueller Neugier doch ohne wirkliche Betroffenheit. Daher fühlte ich mich gezwungen zu erwidern:
 

„Ich will nicht darüber sprechen, danke sehr.“
 

„Aber du machst dir Sorgen darüber“, sagte er. Nein, er sagte es nicht, er stellte es fest.
 

„Warum, Papa? Ist meine Tante ein schlechter Mensch?“
 

Ich blickte zwischen ihnen hin und her. Ich fühlte mich wie in einem Verhör. Und das gefiel mir überhaupt nicht. „Hört schon auf, ihr beiden. Nach all diesen Fröhlichkeiten hätte ich jetzt gerne ein Frühstück.“
 

Holmes neigte leicht den Kopf, eher er sich erhob und die Tabakreste in seiner Pfeife in eine leere Brandykaraffe kippte. „Dann werde ich danach klingeln.“ Er machte keine weiteren Bemerkungen.
 


 


 

Holmes, Josh und ich blieben bis eine Woche nach Neujahr in Meiringen. Ich hatte mich inzwischen vollständig erholt. Mein Körper hatte hartnäckig gegen die Grippe angekämpft und sich aller ihrer Spuren entledigt. Von meiner Schusswunde war mittlerweile nur noch eine bläuliche, runde Narbe übrig – mit einem Durchmesser von wenigen Zoll.
 

Der Rest unserer Ferien verging ziemlich angenehm. Wir führten Josh zu der alten Kirche in der Kirchgasse, einem berühmten römischen Bauwerk aus dem 14. Jahrhundert, dass jährlich zahlreiche Reisende aus unserem eigenen Land anzog. [3] Holmes steckte ein kleines Stück der kunstvollen hölzernen Giebel ein, um es zuhause in seine Sammlung zu geben, die man schon als halbes Museum bezeichnen konnte. Wir erfuhren, dass das Britische Museum daheim in London ebenfalls Artefakte aus dieser Kirche ausstellte. Außerdem besuchten wir eines der unzähligen Schweizerschokoladengeschäfte; es war die beste Schokolade, die ich jemals gekostet habe. Die Einheimischen waren überaus freundlich und zuvorkommen und zum ersten Mal seit Monaten genoss ich die Gegenwart anderer Leute ohne Gefühle wie Schuld, Angst oder Ausgeschlossenheit.
 

Aber der schönste Teil jener unerwarteten Ferien waren die Spaziergänge, die wir stets in den frühen Abendstunden unternahmen. Holmes war in jenen Tagen nach Weihnachten ziemlich still geworden, was aber kaum ungewöhnlich für ihn war. Zuhause in der Baker Street schwieg er zuweilen tagelang ohne Unterbrechen, doch wenn ich darüber nachdachte, erkannte ich, dass er mich im Laufe der Jahre immer seltener auf diese Weise ignoriert hatte. Während jener Spaziergänge sprach er größtenteils mit Josh und größtenteils klärte er ihn dabei über die chemische Zusammensetzung bestimmter Steine oder dem Verhalten der Alpentiere auf. Josh fand all diese Fakten weit interessanter als ich, tatsächlich weit interessanter als ein Dreijähriger sie finden sollte. Ich hätte mich wohl an ihren Gesprächen beteiligen oder zumindest das Thema wechseln können, aber stattdessen hing ich meinen eigenen Gedanken nach. Ein Teil von mir wünschte sich, nie wieder nach London zurückzukehren. Ich hätte den trüben Nebel der Stadt für immer gegen die süße Bergluft eingetauscht.
 

Am Tag vor unserer Abreise sprach Holmes mich schließlich auf das an, womit sich sein Verstand zweifellos ebenso beschäftigte wie der meine. Die Sonne hatte gerade erst begonnen hinter den zerklüfteten weißen Berggipfeln zu versinken und der Himmel war in Farben getaucht, von denen ich niemals geglaubt hätte, die Natur könne sie hervorbringen. Es war natürlich kalt, aber wir waren schnell genug und nahe genug beieinander gegangen, um uns warm zu halten. Holmes hatte Josh voraus geschickt und der Junge war auf der Suche nach glühenden, vulkanischen Steinen oder etwas Derartigem fröhlich voraus gehüpft und wir schienen allein in der zunehmenden Dunkelheit.
 

„Was wirst du tun, Watson?“, fragte er plötzlich. „Wenn wir zurück in London sind?“
 

Ich wusste natürlich, was er meinte, aber gab mich ahnungslos. „Was meinst du, Holmes?“
 

Er betrachtete mich aus den Augenwinkeln und ich musste ein Lächeln unterdrücken. „Als wir uns das letzte Mal unterhielten, sagtest du, du würdest gehen. Aus der 221B, meine ich. Ich vermute, du wirst dich nach neuen Unterkünften umsehen?“
 

Ich beobachtete den warmen Atem, der ihm aus Mund und Nase strömte. So viel hoffnungsvoller Dampf. Sofort fühlte ich in mir das unmissverständliche Wüten einer Schlacht zwischen Herz und Verstand. Ich wollte nicht gehen, das wusste ich nur zu gut. Aber hier ging es nicht um Wünsche sondern um Notwendigkeit. Was wenn…Gott wie sehr war ich diese beiden Worte Leid. Nein, keine ‚was wenn’s mehr. Ich würde diesem Pfad den Rücken kehren. Es hatte keinen Zweck. Also antwortete ich ihm: „Ich werde keine Entscheidungen treffen, bis meine Schwester uns wieder verlässt. Ich kann im Moment nicht über beides nachdenken.“
 

„Ich hoffe, du weißt, Watson“, sagte er, während wir durch den knirschenden Schnee den Pfad in Richtung des Englischen Hofes einschlugen. „Dass du mir vertrauen kannst.“
 

Er war mir so nah, dass ich fühlen konnte, wie der Stoff seines Mantels den meinen streifte. Ich schluckte schwer. „Wie meinst du das?“, fragte ich ruhig.
 

Er schien überrascht. „Falls du meine Hilfe brauchst. Mit deiner Schwester. Du kannst mir alles anvertrauen, was dich bedrückt.“
 

So heftige Erleichterung durchflutete mich, dass ich beinahe seine Hand ergriffen hätte. „Da gibt es nicht viel zu erzählen. Abigail ist fünf Jahre jünger als ich. Unsere Beziehung lässt sich am besten dadurch erklären, dass sie unserem Vater sehr nahe stand und Henry und ich unserer Mutter. Sie war erst neun als er starb und das vernichtete sie. Bald danach erkrankte unsere Mutter. Tuberkulose. Henry hatte uns bereits verlassen, um sich seinen Platz in der Welt zu suchen und ich war im Begriff, zuhause auszuziehen, um zur Schule zu gehen. Ich glaube, Abby hat es mir sehr übel genommen, dass ich sie allein zurückgelassen habe, aber was sollte ich tun? Ich war doch auch erst fünfzehn.“
 

„Du musst mich nicht überzeugen“, sagte Holmes beinahe schon sanft. „Weshalb überdauerte diese Fehde bis zum heutigen Tag?“
 

„Als unsere Mutter starb, war ich in meinem zweiten Jahr an der Universität. Ich hoffe, du kannst verstehen, wie schwer es mich traf. Es war ziemlich offensichtlich, dass ich – auch wenn es niemand von uns je ausgesprochen hatte – Mutters Liebling gewesen war.“
 

„Das kann ich mir vorstellen“, Holmes lächelte grimmig. “Und so kam es – wenn du mir eine Mutmaßung gestattest – dass du nicht auf die Beerdigung deiner Mutter gingst und dass deine Schwester“—
 

„Ich konnte es nicht! Um Gotteswillen ich konnte meine eigene Mutter nicht so sehen! Wenn du mich jetzt für einen Feigling hältst“—
 

„Das tue ich nicht.“ Er ergriff meinen Arm. „Beruhige dich, Watson. Du vergisst dich.“
 

Ich zog meinen Arm weg – vielleicht ein wenig zu heftig, aber er hatte mich überrascht. „Es…es tut mir Leid“, sagte ich sofort. „Ich habe es nicht so gemeint.“
 

„Ich weiß.“ Er steckte nervös die Hände in die Taschen seines Mantels. Er wirkte sehr wie ein Junge, der von seinem Schulmeister gescholten worden war. „Was geschah danach? War es dein Bruder?“
 

„Wie immer erahnst du es, noch bevor ich es ausspreche. Abigail war rasend, dass ich das Begräbnis unserer Mutter nicht besucht hatte. Als dann Jahre später Henry starb, schickte sie mir zwar Vaters Uhr, aber erzählte mir – als Rache, wie ich vermute – erst von dem Begräbnis, als es schon vorüber war. Ich gebe zu, dass die Beziehung zu meinem Bruder in seinen letzten Jahren eher angespannt war. Seine Trunksucht geriet außer Kontrolle und…nun, in unserer Jugend standen wir uns sehr nah. Trotz der acht Jahre Altersunterschied. Ich hatte dabei sein wollen. Es war reine Bosheit von ihr. Also ging ich nach Kent…und wir, wir stritten uns. Sie sagte…es ist nicht so wichtig, was genau sie sagte. Wir beide kamen überein, dass es besser wäre, wenn wir uns nicht mehr wieder sähen. Und das haben wir auch nicht; ein paar Briefe sind unsere einzige Verbindung. Ich dachte, keiner von uns würde jemals in der Lage sein, dem anderen zu vergeben. Ich kann mir nicht vorstellen, warum sie auf einmal…“
 

„Ich fürchte…“, begann er, aber brach plötzlich ab.
 

„Was?“
 

„Nichts. Du hast schon genug um die Ohren.“ Er drehte sich um, um mir ins Gesicht zu sehen. „Ich hätte es dir niemals erzählen dürfen, Watson, um dich hierher zu locken. Es war ein schrecklicher Fehler, dir all das aufzubürden. Es war entsetzlich selbstsüchtig von mir.“
 

Holmes gestand sich seine Selbstsucht ein? Sein Stolz ließ so etwas tatsächlich zu? Und noch dazu mir zuliebe? „Holmes“, sagte ich und wand ihm mein Gesicht zu. „Ich…“
 

„Ja?“
 

„Ich…“
 

„Nun?“
 

Nein.
 

Ich konnte es nicht.
 

„Es war kein Fehler, es mir zu gestehen“, sagte ich. Aber mehr konnte ich noch sagen. Zumindest jetzt.
 

Die Reise zurück nach England dauerte nicht annähernd so lang wie die letzte. Tatsächlich verging sie nun, wo mir nichts an der Rückkehr lag, viel zu schnell. Es war spät in der Nacht, als wir zurück im Vaterland ankamen und Josh und Holmes waren beide eingeschlafen. Josh hatte sich auf meinem Schoß eingrollt und hielt seine Lupe fest umklammert in seiner kleinen rosigen Faust. Nachdem er stundenlang die anderen Passagiere auf Zügen und Booten beobachtet hatte, war er nun völlig ausgelaugt. Es war mir unheimlich, wie genau und akkurat er dabei gewesen war.
 

Seine kleine Brust hob und senkte sich und er macht leise schmatzende Geräusche. Ich legte ihm eine Hand auf den Kopf. Es fühlte sich so wunderbar weich an.
 

Ich blickte auf und sah, dass Holmes aufgewacht war. Er schenkte mir ein offenes Lächeln, nicht jenes stahlharte, pfeilschnelle Grinsen, das so typisch für ihn war. Er streckte die Hand aus, um Joshs Wange zu streicheln. Unsere Hände lagen praktisch unmittelbar nebeneinander. Und dann, in einem plötzlichen Augenblick der Unvernunft, ergriff ich seine Hand und hielt sie fest. Zur Hölle damit…
 

Er nicht besonders überrascht und bewegte sich auch nicht. Nein, wir saßen nur da, für mehrere Sekunden, wir drei. Wie eine Familie. Es fühlte sich sehr wie eine Familie an.
 

„Ich fürchte“—begann ich.
 

„Nein“, sagte Holmes. „Bitte. Sprich jetzt nicht. Noch nicht.“
 

Und ich gehorchte. Um uns war nichts als die Dunkelheit des Zuges und die Geräusche, wenn er an den Stationen hielt.
 


 

Ich erwachte früh am fünfzehnten Januar und auch wenn Abigails Zug nicht vor halb elf einlaufen würde, stand ich sofort auf, als ich erwacht. Ich ertrug es nicht, in jenem Haus ganz alleine meinen Gedanken ausgesetzt zu sein. Ich sehnte mich nach anderen Menschen.
 

Als ich eine halbe Stunde zu früh an der Victoria Station ankam, war ich wesentlich nervöser, als ich es sein sollte. Nun hinterher in dem Wissen, was geschehen würde, frage ich mich, ob es nicht eine böse Vorahnung gewesen war. Allerdings glaube ich, dass es mehr daran lag, dass ich meine Schwester kannte. Und dass ich wusste, wie wenig ich ihren Absichten trauen konnte.
 

Das Wetter war außergewöhnlich warm für Januar und es war ein ungewöhnlich heller Wintertag. Jedermann schien in fröhlicher Stimmung, schien immer noch vom Festtagsgeist erfüllt und obwohl ich selbst nicht wirklich dasselbe fühlte, grüßte ich jeden, an dem ich vorbei kam und blieb sogar kurz stehen, um mit einem Kerl zu plaudern, der früherer mein Patient gewesen war. Aber alldieweil konnte ich meine eigene Anspannung spüren. Ein Teil davon rührte von dem her, was gerade erst mit Holmes passiert war. Doch ein anderer Teil von mir wusste, dass was auch immer Abigail hier wollte, ganz gewiss nichts Gutes sein würde.
 

Als ich an der Anzeigetafel anhielt, erfuhr ich, dass der Zug meiner Schwester genau pünktlich sein und auf Plattform 10 einlaufen würde. Der Bahnhof war von Urlaubern überfüllt. Der Großteil war auf der Heimreise und ich versuchte unauffällig zu wirken, während ich mich auf meinen Stock lehnte und die vielen tränenreichen und herzzerreißenden Abschiede von Familien und Liebenden beobachtete. Josh wäre von den vielen glänzenden Lokomotiven begeistert gewesen, die Rauch und Dampf ausstoßend in den Bahnhof einliefen. Auch auf mich übten sie immer noch eine gewisse Faszination aus, selbst wenn ich schon auf unzähligen Zügen gewesen war. Aber es hatte einen Grund, dass ich ihn zuhause gelassen hatte. Welcher das war, wusste ich noch nicht, aber ich vertraute dem unguten Gefühl in meinem Bauch.
 

Als der Zug einrollte, schoss mir nur eine Frage durch den Kopf: Würde ich sie überhaupt noch erkennen? Und sie mich? Wir hatten einander seit beinahe zwölf Jahren nicht mehr gesehen. Sie war noch nicht einmal dreiundzwanzig gewesen, früh gereift durch die Sorge um unsere kranke Mutter. Und ich vermute, dass auch ich – nicht älter als achtundzwanzig - damals wesentlich dreister und unreifer gehandelt hatte, als es angemessen gewesen war. Aber keiner von uns hätte erwartet, dass der Verlust unserer Mutter mit fünfzehn beziehungsweise zwanzig Jahren eine achtzehn Jahre dauernde Familienfehde verursachen würde.
 

Der Zug war überfüllt. Es war seltsam, wir lebten nur wenige Stunden von einander entfernt und doch hätten es genauso gut Jahre sein können. Ich stand etwas abseits und beobachtete, wie eine junge Frau mit ihrer Tochter ausstieg, gefolgt von einem Vikar, einer Gruppe jugendlicher Schüler, einer alten Dame, die ihren Regenschirm umklammert hielt, einem Schuhputzer und schließlich…
 

Ich wusste, dass sie es war. Es gab keine Zweifel mehr, ob ich sie würde wieder erkennen können. Sie ging immer noch in derselben stocksteifen Haltung, die unsere Mutter ihr immer eingebläut hatte. Und auf einmal fühlte sich meine Kehle staubtrocken an. Sie sah mich fast im selben Moment, in dem ich sie erblickte.
 

„John!“, rief sie und winkte mir von den Stufen zu. „Hier bin ich!“
 

Ich erwiderte ihre Geste mit einem gezwungenen Lächeln – wesentlich begeisterter als ich mich fühlte. Das alles verlief nicht allzu gut und ich wusste es.
 

Abigail näherte sich mir so selbstsicher wie immer. Sie trug eine Tasche und ihren Reisekoffer. Ich nahm mir mehrere Sekunden, um sie ausgiebig zu studieren; zu versuchen Holmes’ Methoden auf sie anzuwenden, doch auch wenn ich damit in der Vergangenheit gewisse Erfolge gehabt hatte, war ich, was meine Schwester anging, völlig verloren. Ich sah in ihr nur den Ursprung eines beinah zwei Jahrzehnte langen Streits, der mir keinerlei nützliche Daten, sondern nur verletzte Gefühle bot.
 

Sie hatte eine große Ähnlichkeit mit unserem verstorbenen Vater. Es war nahe liegend, bedenkt man, wie nah sie sich standen. Es gibt natürlich auch einige Züge, die sich beinahe alle Watsons in meiner näheren Verwandtschaft teilen – darunter waren durchschnittliche Größe, eine kräftige Statur und gewöhnliche brauen Augen. Tatsächlich war Josh in drei Generationen der erste Watson mit blauen Augen. Abigail vereinte in sich alle diese Familienmerkmale, aber hatte wie unser Vater auch noch eine lange Nase, dünne Lippen und überproportional große Hände und Füße. Über diese unansehnlichen Merkmale lässt sich bei einem Mann noch leichter hinweg sehen, aber an einer Frau war es keine besonders angenehme Kombination. In ihrer Jugend war ihr ein gewisses Maß von Schönheit und Anmut zueigen gewesen, aber die Jahre ihres strengen Lebens und die Hingabe zu ihren „religiösen Pflichten“ hatten ihr Gesicht vorzeitig altern lassen und tiefe Linien zogen sich über die gebräunte Haut. Ich war mir sicher, dass sie es war. Ihr Haar war natürlich hochgesteckt und größtenteils hinter einem großen ländlichen Bonnet verborgen, das neben den mit Blumen und Federn verzierten Hüten, die die Frauen in der Stadt trugen, reichlich fehl am Platz wirkte. Auch ihr Kleid war veraltert genug, dass sogar ich es erkennen konnte und ich bin wahrlich ein Fachmann für die Mode der Frauen.
 

Kein Ehering. Keine Modebewusstsein und auch kein Interesse daran. Und ein Kreuz. Ich konnte mich nicht daran erinnern, es schon einmal gesehen zu haben, aber es war ein schlichtes Goldkreuz, das bis hinunter an ihren Busen hing. Es war der einzige Schmuck, den sie trug und für einen Moment fragte ich mich, woher sie es hatte. Aber eines war klar. Es schien, dass alle Schlussfolgerungen, die Holmes anhand des Briefes angestellt hatte, zutreffen würden. Aber natürlich hatte ich auch nicht daran gezweifelt.
 

„Gut“, begrüßte sie mich, als ich sie kurz auf die Wange küsste. „Wo ist er?“
 

„Wer?“
 

„Der Junge natürlich! Wo ist der kleine…wie war noch sein Spitzname?“
 

„Josh“, meinte ich, mehr als nur ein wenig fassungslos. Das war wohl kaum die Begrüßung, mit der ich gerechnet hatte. „Und er ist zuhause. Ich dachte, es wäre das Beste, wenn wir reden würden, bevor du ihn triffst.“
 

„Pah! Wie völlig lächerlich! Der einzige Grund, weshalb ich überhaupt nach London gekommen bin, ist meinen einzigen Neffen kennen zu lernen!“ Sie hob ihren Koffer mit Leichtigkeit und stieß ihn mir in die Seite, sodass ich gezwungen war, ihn zu nehmen.
 

„Abigail, du und ich haben seit zwölf Jahren nicht mehr miteinander gesprochen. Einmal abgesehen von ein paar übertrieben förmlichen Briefen. Und beim letzen Mal, als wir es taten, haben wir unsere Verbindung völlig aufgelöst. Wenn ich mich recht erinnere, sagtest du nach Mutters Tod, ich sei ein aufgeblasener Feigling und dass du hoffst, die Afghanen würden mir eine Kugel durchs Herz jagen.“ Ich rieb mir die Schulter, in der ich einen solidarischen Stich verspürte. „Es war zwar etwas weiter nördlich, aber du wurdest nicht völlig enttäuscht.“ Bis heute erinnere ich mich genau daran, wie wütend meine Worte sie machten. Doch meine Schwester war keine Frau, die sich von ihren Gefühlen den Geist verklären ließ. Als sie mir das an den Kopf geworfen hatte, war sie völlig gefasst gewesen, ihre Augen kalt wie Eis. Keine Tränen von Abigail Watson. Eher hätte sie mir ins Gesicht gespuckt.
 

„Du hast dir einen Schnurrbart wachsen lassen“, sagte sie und beäugte mich kritisch, als wäre das die angemessene Antwort. „Ich denke, du warst recht geeignet für das eheliche Leben. Wann willst du nach einer neuen Frau suchen?“
 

Ich hätte beinahe den Koffer fallen lassen und stieß mir einem grimmig aussehenden Kerl zusammen, der gerade eilig in Richtung seines abfahrenden Zuges hastete und von dem ich mit einer recht schmutzigen Geste belohnt wurde. „Was in Gottes Namen ist das für eine Frage? Das letzte, an das ich momentan denke, ist eine zweite Ehe. Ich habe Mary erst vor vier Monaten verloren! Großer Gott, Abigail, das war sogar für dich ausgesprochen boshaft.“
 

„Unsinn. Es ist eine wichtige Frage, wenn es um das Wohl eines Kindes geht. Du musst dich beizeiten wieder verheiraten. Das Kind braucht eine Mutter!“
 

„Das Kind hat eine Mutter. Sie ist nur tot. Ich kann das nicht ändern, Abigail, egal wie sehr ich es mir wünsche. Kutscher!“ Wir hatten den Bahnhof gerade erst verlassen und ich war bereits wütend. Ich hatte gewusst, dass es so sein würde. Wir waren erst fünf Minuten zusammen und schon stritten wir uns.
 

Meine Schwester stieg ein und gab als Ziel das Albert Hotel an, in dem sie wohnen würde. „Es ist natürliche eine notwendige Ausgabe“, sagte sie. „Denn ich will dich nicht einengen.“
 

„Ja, ich fürchte, es würde wahrlich eng werden. Denn in der Wohnung gibt es keine Gästezimmer. Ich habe das eine Schlafzimmer, Holmes das andere und wir waren gezwungen den Dachboden in ein Zimmer für Josh umzubauen.“
 

Sobald ich es ausgesprochen war, erkannte ich meinen Fehler. Natürlich hätte ich kaum lange vor ihr verbergen können, dass ich mit Holmes zusammenlebte, aber mit einem Mal herrschte Schweigen. Grässliches Schweigen bis mir meine Schwester einen erstaunten Blick zuwarf. „Was soll das, John? Du…du, Josh und…ein anderer Mann?“
 

„Sherlock Holmes. Willst du wirklich behaupten, du hättest keinen meiner Berichte über seine Fälle gelesen? Wenn du das hättest, wäre dir sicherlich klar gewesen, dass er und ich zusammen arbeiten. Warum sollten wir uns nicht aus Gründen der Einfachheit ein Haus teilen?“
 

„Nun, aber du beschäftigst doch wenigstens ein Kindermädchen, nicht wahr?“ Ihr Gesicht war in unverhohlenem Ekel verzogen.
 

„Das tat ich“, sagte ich nun ebenso boshaft. „Aber Holmes und ich kümmern uns selbst um ihn. Unsere Wirtin hilft ebenfalls.“
 

Sie ließ sich nicht anmerken, ob diese Tatsache sie weiter schockierte. Stattdessen saß sie den Rest der Fahrt stocksteif da. Ich half ihr beim Aussteigen und packte die Koffer, während ich dem Kutscher gleichzeitig sein Geld zuwarf.
 

„Ich werde dich hinauf in dein Zimmer begeleiten“, erklärte ich ihr. Aber stattdessen griff sie selbst grimmig nach Koffer und Tasche.
 

„Nein, das werde ich auch alleine schaffen. Ich glaube, ich brauche nach dieser Reise ein wenig Ruhe. Ich werde dich morgenfrüh zum Tee besuchen. Ich erwarte, dass das Kind da ist, John. Und du und ich haben ganz offensichtlich viel über sein Wohlergehen zu besprechen.“
 

„In der Tat? Und was würde das sein?“
 

„Das würde sein“, sagte sie mit den lodernden Augen meines Vaters. „Dass wenn du dich nicht angemessen um ihn kümmerst, ich mich dazu gezwungen sehen, ihn dir wegzunehmen.“
 


 

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[1] Bond Street ist das Londoner Gegenstück zur Wall Street.
 

[2] Heutiges Istanbul.
 

[3] Tatsächlich zählte dazu auch Sir Arthur Conan Doyle, der viel Male dort war. Heute gibt es in Meiringen ein Sherlock Holmes Museum ähnlich dem in London.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Teilchenzoo
2007-06-03T12:28:30+00:00 03.06.2007 14:28
Ist das eine Furie! Mir scheint, sie war von Anfang an nur darauf aus, Josh zu sich zu nehmen. So ein Biest!
Ich hoffe doch mal Holmes und Watson finden eine lösung.

Irgendwie ist es in dieser Geschichte gelungen, ganz langsam dieses Gefühl einer Familie aufzubauen. Es wirkt nicht absurd, nicht einmal ungewöhnlich. Eben eher wie eine ganz normale Familie. Liegt vielleicht daran, dass es etwas an diese Konstellation alleinerziehende Mutter - neuer Mann erinnert. Hm. Keine Ahnung.

Lg neko
Von:  Sasuke_Uchiha
2006-12-21T22:31:18+00:00 21.12.2006 23:31
Dieses Weihnachtskapitel zu lesen hat mir gefallen.
Watsons Schwester scheint ja schon ihre "Eigenarten" zu haben...


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