Zum Inhalt der Seite

Seasons

Oneshot-Sammlung
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

[Frühling] So wie du bist (Abenteuer)

Ihr großer Bruder war alles, was sie sich je erträumte. Er war mutig, er war selbstbewusst und vor allem war er kein bisschen kontaktscheu. Himawari bewunderte und beneidete ihn zugleich. Wenn Boruto wütend war, dann schrie er, wenn er traurig war, weinte er, wenn er glücklich war, lachte er und wenn er Aufmerksamkeit brauchte, forderte er sie ein – zur Not mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln. Es war nicht immer leicht, sich mit einem solch einnehmenden Charakter wie seinem nur ein Elternpaar zu teilen, denn Himawari war oft gezwungen zurückzustecken. Doch wenn die Schatten in ihrem Zimmer nachts zu dunkel wurden und sie leise und heimlich zu Boruto ins Bett kroch, sich an ihn schmiegte und in die Wärme seiner Arme gezogen wurde, war sie wieder unglaublich froh, einen großen Bruder zu haben.
 

„Gib ihn her!“

„Ja ja, gleich.“

„Gib ihn sofort her!“

„Kleinen Moment, nur noch die zwei Seiten hier.“

„Es ist meiner! GIB IHN JETZT HER!“

Himawaris Wangen glühten zornesrot. Mit einem Hechtsprung warf sie sich auf Boruto, der bäuchlings auf dem Teppich in ihrem Zimmer lag, und versuchte ihm den Comic aus den Händen zu reißen. Doch blitzschnell war ihr Bruder auf den Beinen und hielt das Heft hoch über seinen Kopf.

„Stell dich nicht so an!“, rief er. „Du kannst das ja eh noch nicht lesen!“

„MAAAMAAA!“
 

Mit Kochlöffel und Küchenschürze erschien Hinata im Türrahmen und blickte erwartungsvoll von einem Kind zum anderen.

„Was ist denn los?“, fragte sie sanft.

„Boruto hat meinen Comic!“, antwortete Himawari wie aus der Pistole geschossen.

„Ich wollte ihn ja nicht behalten, nur mal reingucken“, verteidigte sich Boruto. „Da hast du ihn wieder!“ Und er pfefferte seiner Schwester das Heft ungestüm vor die Brust.

„Boruto!“ Hinatas Stimme klang empört angesichts dieser Handlung. „Hat Papa dir nicht genau den gleichen Comic geschenkt? Warum liest du nicht deinen eigenen?“

„Den hab ich verliehen.“

„Dann musst du solange warten, bis du ihn zurückbekommst.“ Sie musterte ihn mit dieser Kombination aus Empathie und Strenge, wie es nur eine Mutter vermochte. „Und jetzt wascht euch die Hände und helft mir, den Tisch zu decken, bevor es noch mehr Zankerei gibt. Das Mittagessen ist gleich fertig.“
 

Kaum hatte sie ihren beiden Sprösslingen den Rücken zugewandt, streckte Himawari Boruto die Zunge entgegen.

„Deswegen kannst du trotzdem nicht lesen“, zischte dieser daraufhin wütend und folgte Hinata in die Küche. Himawari hob das Comicheft vom Boden auf, strich es glatt und legte es sorgsam auf ihren Nachttisch. Zwei Superhelden in knallgelben Outfits lieferten sich auf dem Titelbild eine erbitterte Schlacht und wenn Himawari die Seiten aufklappte, konnte sie erkennen, wie eine Frau aus einem brennenden Haus gerettet wurde und dann ein schwarzgekleideter Bösewicht auftauchte. Das einzige, was ihr nur überhaupt nichts sagte, waren die vielen verschiedenen Kringel und Schnörkel in den Sprechblasen. Da half alles nichts – sie würde ihre Eltern bitten müssen, etwas daraus vorzulesen.
 

„Hima, komm her! Das Essen wird kalt!“

„Schon unterwegs!“ Laut polternd jagte Himawari die Treppe hinunter, dem köstlichen Duft nach Reis und Fisch hinterher, und kam mit rutschenden Socken vor dem Küchentisch zum Stehen. Es war der leere Stuhl ihr gegenüber, der in den letzten Tagen schon viel zu oft leer geblieben war, welcher ihr als allererstes ins Auge fiel.

„Wo ist Papa?“, fragte sie und war schon im Begriff sich zu setzen, als Hinata sie mit einem Wink zum Waschbecken daran erinnerte, dass sie etwas vergessen hatte.

„Er ist auf einer wichtigen Mission und kommt erst morgen Abend heim.“

„Das ist ja mal was Neues“, murrte Boruto leise und lud sich den Teller voll, wobei er das Gemüse gekonnt außer Acht ließ.

„Euer Vater macht das nicht, um euch zu ärgern, Boruto“, versuchte Hinata ihn zu beschwichtigen. „Er hat dem Dorf gegenüber Verpflichtungen und wenn du ein bisschen älter bist, wirst du das auch verstehen.“ Dann, noch bevor er es verhindern konnte, landete eine große Kelle Gemüse auf seinem Reis.
 

Himawari nahm ihre Essstäbchen und begann mit der Mahlzeit. Es schmeckte so hervorragend wie immer, doch sie war sich sicher, dass es noch besser geschmeckt hätte, wäre ihr Vater jetzt bei ihnen gewesen. Sie akzeptierte den Grund für seine Abwesenheit – immerhin war er der Anwärter auf den nächsten Hokagetitel und das galt als ganz große Sache – aber das hieß nicht, dass sie ihn nicht trotzdem vermisste. Hinata schien das betrübte Gesicht ihrer Tochter zu bemerken, denn sie fragte so aufmunternd wie irgend möglich: „Hima, wie hat dir denn deine erste Woche an der Akademie gefallen?“

Nachdenklich schluckte Himawari ihren Bissen hinunter. „Es hat Spaß gemacht“, sagte sie. „Die Lehrer sind nett und wir haben noch gar keine Hausaufgaben bekommen.“

„Das ist ja schön. Sind deine Klassenkameraden auch nett? Hast du schon Freunde gefunden?“

Ein wenig beschämt senkte Himawari den Blick auf ihren Teller. „Eh, nein. Also, noch nicht richtig…“

„Wird sie auch nicht, wenn sie nicht lernt, ihre Comics zu teilen“, mischte sich Boruto ins Gespräch ein und erntete von Himawari einen saftigen Tritt unter dem Tisch.
 

Während Mutter und Tochter noch mit ihrer ersten Portion beschäftigt waren, hatte Boruto längst die zweite vertilgt und rutschte nun ungeduldig auf seinem Platz hin und her.

„Darf ich bitte aufstehen?“, fragte er so zuckersüß, wie er es nur tat, wenn er etwas haben wollte. „Ich bin mit Shikadai und Inojin auf dem Spielplatz verabredet. Sie warten sicher schon auf mich.“

Hinata zögerte einen Augenblick. „Aber nur ausnahmsweise“, sagte sie, „und spätestens um sechs bist du wieder hier.“

„Ja, weiß ich.“ Boruto hatte sich bei diesen Worten so rasch erhoben, dass sein Stuhl hintenüber gefallen war. Er stürmte in den Flur, nahm seine Jacke vom Haken und hatte nicht mal die Zeit, sie richtig anzuziehen, da war er schon halb aus dem Haus.

„Wann bist du wieder hier?“, rief Hinata ihm nach und sie hörten nur noch ein fernes „um sechs“, bevor die Tür donnernd ins Schloss fiel.
 

Auch Himawari legte jetzt ihre Stäbchen zur Seite, obwohl sie bisher kaum etwas gegessen hatte.

„Bist du etwa schon satt?“, wunderte Hinata sich und erhielt zur Antwort bloß ein stummes Nicken. Sie räumten gemeinsam den Tisch ab und als hätte Hinata die Gedanken des Mädchens gelesen, fuhr sie fort: „Nimm dir das nicht so sehr zu Herzen. Manche Menschen brauchen eben etwas länger, um miteinander Freundschaft zu schließen.“

Himawari nickte abermals und nahm die sauberen Schüsseln vom Waschbrett, um sie abzutrocknen. Die Kehle schnürte sich ihr zu, wenn sie daran dachte, dass Boruto schon nach seinem ersten Tag an der Akademie bekannt gewesen war wie ein bunter Hund, während sie bei sich selbst nicht mal wirklich sicher war, ob überhaupt alle in der Klasse sie bemerkt hatten. Warum fiel es ihr so schwer, im Unterricht einen Ton herauszubringen, wo es Zuhause doch gar kein Problem war?
 

„Magst du mir einen Gefallen tun, Hima?“

Hinata wischte sich die nassen Hände in ihrer Schürze ab, öffnete eine Schublade und holte eine Brieftasche hervor, aus der sie ein wenig Kleingeld abzählte. „Ich brauche für die Gräber noch einen schönen Strauß Blumen aus dem Laden der Yamanakas“, sagte sie. „Nimm, welche auch immer dir gefallen. Ich verlass mich da ganz auf deinen Geschmack.“

Es war das erste Mal, dass ihre Mutter sie alleine losschickte, um eine Besorgung zu erledigen und es erfüllte Himawari ein bisschen mit Stolz, dieses Vertrauen entgegengebracht zu bekommen. Vielleicht kam das ja daher, weil sie jetzt ein Schulkind war?

„Ich suche die allerallerhübschesten Blumen aus!“, versprach sie, ließ das Geld in ihre Hosentasche gleiten und machte sich rasch auf den Weg nach draußen.
 

Die gleißenden Sonnenstrahlen, die Himawari auf der Straße empfingen, wirkten ganz so, als wollten sie schon einen kleinen Vorgeschmack auf den bevorstehenden Sommer geben, wenngleich der Wind immer noch winterlich kalt war. Hunderte Kirschbäume reckten ihre blütenschweren Zweige in den azurblauen Himmel und hüllten Konohagakure in zarte Rosafarben. Doch es war nicht ihr Anblick, sondern vielmehr der schwere süßliche Duft nach Frühling, der Himawari für ein paar herrliche Minuten all ihren Kummer vergessen ließ. Verträumt bog sie in die Einkaufsstraße ein, in der sich der Blumenladen der Yamanakas befand und jetzt, um die Mittagszeit, herrschte dort recht wenig Betrieb. Da rief eine fremde Stimme plötzlich ihren Namen.
 

„Himawari! Hey, du bist doch Himawari, oder?“

Überrascht sah die Angesprochene sich um und entdeckte zwei Mädchen, die sie freundlich zu sich heranwinkten. Himawari konnte sich beim besten Willen nicht mehr erinnern, wie die beiden hießen, obwohl sie alle in dieselbe Klasse gingen und sogar nur einen Tisch voneinander entfernt saßen. Umso mehr beeindruckte es sie, dass ihr eigener Name nicht in Vergessenheit geraten war und entgegen jeder Unsicherheit, die ihr Herz mit eisernem Griff umklammert hielt, kam sie der Aufforderung der Mädchen nach.

„Ähm, j-ja, genau, Himawari. Das ist richtig“, stammelte sie schüchtern. „Und ihr seid…“

„Ich heiße Risa, das ist Mai“, stellte die eine sich umgehend vor. Sie hatte rote Locken, freche blaue Augen und viele Sommersprossen im Gesicht. Himawari war sie im Unterricht durch ihr vorlautes Mundwerk aufgefallen, das schon so manchen Lehrer in die Verzweiflung getrieben hatte. Im Gegensatz zu ihr wirkte ihre Freundin fast unscheinbar, mit kränklich blasser Haut und langen schwarzen Haaren.
 

„Bist du zum Einkaufen hier?“, wollte Risa wissen und musterte Himawari voll unverhohlener Neugier.

„Ja, meine Mutter hat mich geschickt. Ich soll für sie Blumen holen. Was- Was macht ihr so?“

„Ach, nichts besonderes“, sagte Mai. „Wir schlagen ein bisschen die Zeit tot.“

„Bis es los geht“, ergänzte Risa, hüllte sich in geheimnisvolles Schweigen und wartete gespannt auf Himawaris Reaktion, die natürlich nicht lange auf sich warten ließ.

„Was soll losgehen?“, fragte sie und Risa ruckte mit dem Kopf in Mais Richtung.

„Sie hat heute Geburtstag.“

„Echt?“

„Ja, ganz ehrlich.“

„Oh, na dann… herzlichen Glückwunsch.“

„Danke sehr“, grinste Mai. „Hast du nicht auch Lust zu meiner Feier zu kommen? Wir treffen uns in einer halben Stunde zum Picknick an der großen Eiche.“
 

In Himawaris Bauch schien vor Freude ein kleiner Luftballon anzuschwellen.

„Das würde ich wirklich gern“, sagte sie. Außer von Boruto – der sie notgedrungen hatte erdulden müssen – war sie noch nie zuvor auf eine Geburtstagsparty eingeladen worden.

„Gut, aber du musst mir ein Geschenk mitbringen“, forderte Mai und deutete hinter sich auf das Schaufenster eines Juweliers, in dem Halsketten, Ringe und Uhren aus Gold und Silber ausgestellt waren. „Diese Kette da wünsche ich mir.“

Himawari trat nah an die Glasscheibe heran und besah sich das edle Schmuckstück. Sie musste nicht rechnen können, um zu wissen, dass es sehr teuer war und mehr kostete als der Betrag, den sie bei sich trug oder den ihre Mutter ihr dafür zu geben bereit sein würde. Der Luftballon schrumpelte wieder in sich zusammen.

„Das kann ich nicht kaufen“, sagte sie traurig.

„Dann darfst du auch nicht zu meiner Feier kommen“, entgegnete Mai, verschränkte die Arme vor der Brust und zog eine Schnute.
 

„Jetzt warte doch mal.“

Mitfühlend legte Risa eine Hand auf Himawaris Schulter. „Gib uns einfach, was du hast“, schlug sie vor. „Das wird schon reichen und wir teilen uns ein Geschenk für Mai.“

„Wäre das wirklich in Ordnung?“ Himawari machte große Augen und nestelte hastig an ihrer Hosentasche, um das Geld herauszuholen.

„Klar, kein Problem. Wir sind schließlich Freundinnen“, versicherte Risa ihr, während sie die Münzen an sich nahm. Zum ersten Luftballon gesellte sich ein zweiter und füllte Himawaris ganzen Körper mit einem kribbelnden Glücksgefühl aus.

„Du kannst schon mal zum Treffpunkt vorgehen“, sagte Mai. „Wir müssen von Zuhause noch den Kuchen holen und kommen gleich nach.“
 

Sie verabschiedeten sich von einander und – mehr hüpfend als rennend – machte Himawari kehrt, lief von der Einkaufspassage bis zum Fluss, dann entlang des Deiches und über die Brücke auf die andere Seite, wo ein mächtiger Eichenbaum seine knorrigen Wurzeln in das fließende Wasser steckte. Dieser Ort war allen Kindern wohl bekannt, denn es gab niemanden, der noch nicht versucht hatte, bis hoch in die Krone hinaufzuklettern, um für seinen Wagemut bejubelt zu werden. Himawari sank ins hohe Gras, lehnte sich mit dem Rücken gegen den Baumstamm und fixierte das gegenüberliegende Ufer. Es fiel ihr schwer, still zu sitzen, so aufgeregt war sie. Wer wohl noch zur Feier eingeladen sein mochte? Was für Geschenke Mai bekommen und was für Spiele es geben würde? Ob sie sogar Konfetti schießen und Luftschlagen pusten durften? Und erst der Kuchen! Wie der wohl schmecken würde? Obwohl Himawari sich ganz sicher war, dass keinem eine bessere Geburtstagstorte gelingen konnte, als ihrer Mutter.
 

Ihre Mutter! Die Blumen! Siedend heiß fiel Himawari wieder der Grund ein, weshalb sie überhaupt aus dem Haus gegangen war und das schlechte Gewissen brannte ihr im Magen wie zu scharf gewürzte Speisen. Hecktisch überlegte sie, ob sie es zum Geschäft der Yamanakas, nach Hause und hierher zurück schaffen konnte, bevor die Gäste eintrafen, da wurde ihr schlagartig bewusst, dass sie ja gar kein Geld mehr besaß. Halb erhoben, ließ sie sich wieder auf den Boden sacken und versuchte trotz ihrer Verzweiflung einen klaren Gedanken zu fassen. Sicher würde ihre Mutter Verständnis zeigen und sich freuen, weil ihre Tochter endlich Freunde gefunden hatte, wenn sie ihr die Umstände nur richtig erklärte. Diese Vorstellung beruhigte Himawari ein wenig. Ach, und sollte sie am Ende doch ausgeschimpft werden – das hier war es schließlich alle Mal wert!
 

Über eine Stunde verging, bis Himawari in den Sinn kam, dass sie den Treffpunkt womöglich missverstanden hatte. Gab es im Dorf etwa noch eine andere Eiche, die gemeint gewesen sein konnte? Oder hatte Mai gar einen ganz anderen Ort genannt? Das konnte eigentlich nicht sein, hatte sie es vorhin doch ganz deutlich gehört. Mit der zweiten Stunde des Wartens fragte Himawari sich, warum ihr niemand Bescheid gab, sollte die Feier verlegt oder abgesagt worden sein und als dann die dritte Stunde anbrach, war sie sich ziemlich sicher, dass keiner mehr kommen würde und vielleicht auch niemals kommen sollte. Enttäuscht blickte sie in den klaren Himmel, beobachtete einen Vogelschwarm, der auf einem nahegelegenen Hausdach rastete und bemerkte nicht, wie Boruto auf der anderen Seite des Flusses stehengeblieben war und über die Brücke auf sie zukam.
 

„Hey, was starrst du Löcher in die Luft?“, raunzte er, stemmte die Hände in die Hüften und baute sich vor seiner Schwester auf. Himawari antwortete nicht, sondern zuckte beinahe gleichgültig mit den Schultern, was Boruto zutiefst irritierte. Normalerweise sprang sie sofort auf seine Sticheleien an und ein wenig behutsamer fuhr er fort: „Du bist doch nicht etwa immer noch sauer auf mich wegen diesem blöden Comic? Das war doch nur-“

„Es geht nicht um den Comic“, unterbrach Himawari ihn leise.

„Sondern?“

Sie mied seinen Blick und er ließ sich neben ihr auf der Erde nieder. „Was ist los?“, fragte er und mit einem Mal war Himawaris Mund so trocken, dass sie glaubte, kein einziges Wort mehr über die Lippen zu kriegen. Tränen verschleierten ihre Sicht und obwohl sie Boruto überhaupt nichts hatte erzählen wollen, sprudelte plötzlich die ganze Geschichte in einem Atemzug aus ihr heraus. Als sie beendet war, wirkte Borutos Gesicht finsterer, als Himawari es sich je hätte vorstellen können.
 

„Du musst dir das Geld wiederholen!“, sagte er bestimmt. „Los komm, lass uns nach den beiden suchen!“

Er schnelle hoch, um seinen Plan in die Tat umzusetzen, doch da hatte Himawari ihn schon am Ärmel gepackt und entschlossen zurückgehalten. „Nein, bitte nicht!“, flehte sie.

„Hä? Warum nicht?“ In Borutos Stimme vermischte sich Wut mit Unverständnis.

„Ich will keinen Ärger haben.“

„Du kriegst auch keinen Ärger. Wenn hier jemand ein Problem hat, dann sind das deine ach-so-guten Freundinnen.“ Mit einem Ruck riss er sich los. „Wenn du Angst hast, erledige ich das eben für dich.“

„Nicht!“ Himawari heftete sich an das Bein ihres Bruders und hinderte ihn somit am Gehen. „Das ist allein meine Sache, also hör auf, dich einzumischen!“

„Ich will dir doch nur helfen!“

„Ich will deine Hilfe ja gar nicht!“
 

Sie zog Boruto das Bein weg, sodass er unsanft auf dem Hintern landete, verschränkte die Arme vor seiner Brust und vergrub das Gesicht in seinem Nacken.

„Bleib bitte hier!“, schluchzte sie erstickt. „Tu einfach so, als wüsstest du von nichts! Mach nichts! Sag nichts! Ganz besonders nicht zu Mama und Papa. Ich verspreche auch, dass mir sowas nie, nie wieder passieren wird.“

Boruto ballte die Hände zu Fäusten, zwang sich aber, still sitzen zu bleiben und abzuwarten, bis sich sein Zorn verflüchtigt und Himawari sich ausgeweint hatte. Mühsam schluckte er all die Dinge hinunter, die ihm noch auf der Zunge lagen und nach einer langen Pause des Schweigens sagte er schließlich nur: „Hima, mein Rücken wird ganz nass.“

„Tut mir leid“, nuschelte sie, ließ ihn los und wischte sich mit der Hand über die Augen. Er rutschte herum, damit er ihr gegenüber saß und kramte in seiner Jacke nach einem Taschentuch, welches sie dankbar entgegennahm.
 

„Wenn ich Mama erzähle, ich hätte das Geld verloren, bittet sie mich garantiert nie wieder um etwas“, verriet Himawari ihre Befürchtung und schnäuzte sich geräuschvoll die Nase, „und ohne Blumen kann ich mich Zuhause auch nicht mehr blicken lassen.“

„Darüber mach dir mal keine Sorgen“, tröstete Boruto sie. „Die Blumen musst du nicht kaufen, die pflücken wir einfach selber. Ich kenne da einen guten Platz in der Nähe des Haupttors, wo es eine gigantische Wiese gibt. Mama wird keinen Unterschied merken.“

„Davon hab ich ja noch nie gehört“, schniefte Himawari.

„Nun – nein. Es ist auch eher außerhalb-“

„Aber wir dürfen nicht aus dem Dorf raus! Das weißt du doch!“

„Es ist nicht gefährlich! Mit Inojin und Shikadai war ich schon unzählige Male dort!“

„Papa hat es verboten!“

„Willst du die Blumen nun oder willst du sie nicht?“

Unschlüssig biss sich Himawari auf die Unterlippe. Dann siegte Verlockung über Vernunft. „Na schön“, sagte sie, klang jedoch nicht recht überzeugt.

„Du wirst sehen, es ist nicht weit von hier“, beteuerte ihr Bruder. „Wir sind zurück, noch bevor jemandem auffällt, dass wir überhaupt weggewesen sind.“

„Und was machen wir mit den Wachen am Tor?“

„Ach die!“ Borutos Grinsen reichte von einem Ohr zum anderen. „An denen kommen wir erst gar nicht vorbei.“
 

Es war so einfach – Himawari hätte es niemals für möglich gehalten. Das Loch in der Mauer war hinter einem dichten Gestrüpp aus Büschen versteckt und gerade mal so groß, dass ein schlankes Kind hindurch schlüpfen konnte. Die Benutzung von, wie es schien, bereits mehreren Generationen hatte auf dem Boden eine Mulde geschaffen und die einst scharfen Kanten im Stein abgeschliffen. Boruto krabbelte voraus, um zu prüfen, ob die Luft rein war und ließ Himawari dann nachkommen. Mit klopfendem Herzen und leisen Schritten folgte sie ihm in den Wald und obwohl sie wusste, dass sie gerade etwas Unrechtes tat, begann ein kleiner, unbekannter Teil ihres Bewusstseins diesen Nervenkitzel zu genießen. So weit weg von Zuhause war sie zuvor noch nie gewesen. Gemeinsam mit Boruto lief sie durchs Unterholz, verjagte Hasen und Hirsche, die ihren Weg kreuzten und hätte am liebsten vor Begeisterung laut aufgelacht.
 

Sie waren schon eine Weile unterwegs, als sie vor dem Ufer eben jenen Flusses zum Stehen kamen, den Himawari schon aus Konohagakure kannte. Nur war aus dem gemächlichen Plätschern, das innerhalb des Dorfes herrschte, draußen vor den Toren ein reißender Strom geworden. Das Geländer einer durch Witterung zerstörten Holzbrücke spannte ihre morschen Bögen über das wilde Gewässer und von dem Übertritt waren nur noch einzelne Streben vorhanden. Himawari fand nicht, dass dieses Konstrukt irgendeine Vertrauenswürdigkeit ausstrahlte, während Boruto wie selbstverständlich darauf zuging.

„Bist du dir auch sicher, dass das hält?“, fragte Himawari skeptisch. „Wenn wir ein Stück weitergehen, finden wir vielleicht eine andere Möglichkeit, um rüber zu kommen.“

„Nicht nötig“, antwortete Boruto leichthin. „Das wäre ein Umweg. Die Blumenwiese liegt gleich hinter den Bäumen auf der anderen Seite. Ich bin schon ganz oft hier gewesen, du musst mir nur alles nachmachen.“
 

Mit langsamen, vorsichtigen Bewegungen hangelte er sich am Geländer über die Brücke. Himawari mochte überhaupt nicht hinsehen. Das Holz unter seinen Füßen schien lauter zu knarzen als das Rauschen des Flusses und als hätte sie es vorausgeahnt, rutschte Boruto in der Hälfte der Strecke plötzlich ab. Einen grauenvollen Moment lang strauchelte er haltlos auf den Balken, drohte zu stürzen und fand nur ganz knapp wieder das Gleichgewicht. Sofort winkte er seiner Schwester zu, um zu signalisieren, dass alles in Ordnung war, auch wenn das vermeintlich sorglose Lächeln nicht ganz über den Schreck hinwegtäuschen konnte. Himawari war jedenfalls nicht im Geringsten beruhigt. Sie spürte, wo sich ihre Fingernägel unbewusst in die Wangen gegraben hatten. Dann ging alles viel zu schnell. Ein unachtsames Auftreten – und die Brücke brach in sich zusammen wie ein Kartenhaus bei einem kräftigen Windstoß.
 

Begleitet von Himawaris Entsetzensschrei wurde Boruto unter Holz- und Wassermassen begraben und verschwand für ein paar Sekunden vollständig unter der Oberfläche. Dann tauchte sein blonder Schopf einige Meter flussabwärts wieder auf, nur um erneut von der Strömung hinab gedrückt zu werden. Wie ferngesteuert wandelte Himawari durch einen Nebel aus Panik.

„Oh nein“, stöhnte sie. „Oh nein, oh nein, oh nein.“ Sie merkte, dass ihre Beine rannten und ihr Kopf den Befehl gab, etwas zu unternehmen, doch sie konnte weder einen konkreten Plan entwerfen, noch eine gezielte Handlung ausführen. Es war pures Glück, als Boruto schließlich die Zweige eines Strauchs zu fassen bekam und somit verhinderte, noch weiter fortgetrieben zu werden. Sein Hilferuf erstarb in einem Keuchen und Gurgeln und es bereitete ihm sichtlich Mühe, aus eigener Kraft wieder an Land zu kommen.
 

Als hätte Himawari nie etwas anderes im Sinn gehabt, warf sie sich auf die Knie, krabbelte so nah wie möglich ans Wasser und streckte den Arm nach Boruto aus.

„Nimm meine Hand!“, brüllte sie, doch es fehlte noch mindestens ein halber Meter, bis sie in seine Reichweite kam. Um sich länger zu machen, legte sie sich flach auf den Bauch und reckte sich so stark, dass ihre Muskeln begannen zu protestieren. Aber was immer sie tat, sie kam nicht an ihn heran. Wenn Boruto losließ und nach ihr greifen wollte, zerrte der Fluss an seinem Körper und zwang ihn in seine vorherige Position zurück. Mittlerweile fiel es ihm schwer, nach Luft zu schnappen und nicht selten war kaum mehr als seine Stirn zu sehen. Himawari fühlte, wie kalte Schauer ihren Rücken hinunterliefen und gerade, als die Situation nicht aussichtsloser hätte erscheinen können, lag auf einmal ein großer Schatten über ihr. Ein Arm, viel länger als ihr eigener, packte den geschwächten Boruto und zog ihn mit einem einzigen, heftigen Ruck ans Ufer.
 

Atemlos wandte Himawari sich um und blickte in das bleiche, aber hellerzürnte Gesicht ihres Vaters.

„Was zum Teufel habt ihr euch dabei bloß gedacht?!“, presste er mit bebender Stimme hervor, vermutlich ohne eine wirkliche Antwort zu erwarten. „Ist euch eigentlich klar, in welche Gefahr ihr euch gebracht habt?! Was macht ihr überhaupt hier draußen?“

Boruto, von oben bis unten vor Kälte schlotternd, richtete sich auf und schüttelte die Haare wie ein Hund. Er war kreideweiß, hielt die Augen gesenkt und bekam keinen Ton mehr über die Lippen, ebenso wie Himawari.

„Hab ich euch beiden nicht schon tausend Mal gesagt, dass ihr das Dorf nicht verlassen sollt?!“, brachte sich Naruto nun endgültig in Rage. „Ich will mir gar nicht ausmalen, was gewesen wäre, hätte ich mich erst morgen auf den Heimweg gemacht. Was, wenn ich nicht zufällig hier vorbeigekommen wäre?“

Für den Hauch eines Wimpernschlags schauten die Kinder sich an und es war nicht zu beschreiben, welche Miene betretener wirkte.

„Ich frage jetzt noch ein allerletztes Mal: Was treibt ihr hier?
 

Himawari schrumpfte bei den ungewohnt harschen Worten in sich zusammen. Sie fixierte einen Käfer im Gras, der sich über Halme und Kleeblätter eilig aus dem Staub machte und verspürte den sehnlichsten Wunsch, es ihm gleichzutun. Die Wahrheit, die ihr Vater verlangte – eine Wahrheit, so eng mit Scham verknüpft – würde sie ihm niemals geben können.

„Es ist meine Schuld.“

Fassungslos hob Himawari den Kopf und hätte sie sich nicht vergewissert, dass dieser Satz aus Borutos Mund gekommen war, hätte sie ihren Ohren wohl nicht getraut.

„Ich war sauer, weil Hima mir ihren Comic nicht leihen wollte“, führte er weiter aus, „und hab ihr das Geld weggenommen, das sie von Mama zum Blumenkaufen bekommen hat. Hima wollte es sich zurückholen und hat mich hierher verfolgt. Ich wollte über die Brücke abhauen, aber sie ist eingestürzt und nun hat der Fluss das Geld weggespült. Ich wollte nicht, dass das passiert. Ich wollte Hima nur ein bisschen ärgern. Es tut mir leid.“

Die Reue, die sich unter Borutos Lüge mischte, war echt, auch wenn es nicht so wirkte, als habe diese Geschichte Naruto restlos überzeugt.

„Mir ist egal, wer mit dem Ganzen angefangen hat“, sagte er ein wenig milder. „Das hier war unglaublich dumm und ich möchte nie wieder solche Angst um euch haben.“
 

Vorerst schien das Thema damit für ihn beendet. Er stand auf, zog seine Jacke aus und legte sie seinem Sohn um die Schultern. Himawari fiel ein riesiger Stein vom Herzen und so viel Dankbarkeit, wie in diesem Moment, hatte sie für Boruto in ihrem ganzen Leben noch nicht empfunden. Die Sonne stand schon tief am rotgoldenen Himmel, als das Dreiergespann die Wälder des Feuerreichs endlich hinter sich ließ und durch das Haupttor nach Konohagakure zurückkehrte. Anspannung gipfelte allmählich in Erschöpfung und machte Himawaris Glieder schwer wie Blei, sodass sie froh war, in der Ferne irgendwann die Lichter ihres Elternhauses zu erblicken. Eine völlig aufgelöste Hinata rannte ihnen schon am Anfang der Straße entgegen und schloss sowohl ihre Kinder als auch ihren Ehemann weinend in die Arme. Da Naruto sie über die Begebenheiten informierte, blieb es Himawari zu ihrem Glück erspart, selbst eine Erklärung abzugeben, denn sie wusste, dass sie eine bei weitem schlechtere Lügnerin war als ihr Bruder.
 

Der schmale Schein, der wenige Stunden später durch den Türschlitz in Himawaris dunkles Zimmer fiel, zeichnete sich hell auf ihrer Bettdecke ab. Aus der Küche konnte sie die leisen Stimmen ihrer Eltern vernehmen, auch wenn sie nicht verstand, was dort gesprochen wurde. Gewiss würde da morgen noch eine lange Unterhaltung auf sie und ihren Bruder zukommen. Unruhig wälzte sie sich auf die Seite, drückte sich ihren Stoffpanda fest an die Brust und versuchte in den Schlaf zu finden. Doch ihre Lider weigerten sich beharrlich zuzufallen. Die Ereignisse des Tages schwirrten in ihrem Kopf herum wie Puzzleteile, aus denen noch kein vollständiges Bild entstanden war. Sie dachte an Boruto und daran, dass er weder beim Abendessen, noch beim anschließenden Zähneputzen auch nur einen Mucks von sich gegeben hatte. War er vielleicht wütend auf sie?
 

So lautlos, wie sie nur konnte, schlüpfte Himawari aus dem Bett, drückte die Tür einen Spalt breit auf und tapste barfüßig über den beleuchteten Flur. In Borutos Zimmer herrschte die gleiche Dunkelheit wie in ihrem. Er lag mit dem Gesicht zur Wand und rührte sich nicht, als der unerwartete Besuch sich gegen seinen Rücken presste, aber er stieß sie auch nicht weg. Himawari merkte sofort, dass er noch wach war.

„Du bist böse auf mich, stimmt’s?“, flüsterte sie.

„Nein, bin ich nicht“, antwortete er.

„Doch, das bist du. Weil ich ein Feigling bin. Ich hätte Papa erzählen sollen, was heute wirklich passiert ist.“

„Das ist doch Unsinn.“

„Du hast alles auf dich allein genommen.“ Himawari kämpfte gegen den Kloß, der sich in ihrem Hals zu bilden begann. „Ich wünschte, ich wäre wie du“, gestand sie beinahe unhörbar. „Du bist viel mutiger als ich. Du hättest dich gegen die Mädchen gewehrt. Bei dir hätten sie sich bestimmt gar nicht erst getraut, einen Streich zu spielen. Wenn ich mir das nicht gefallen gelassen hätte, wären wir niemals zu dieser Blumenwiese gegangen.“
 

Seufzend drehte Boruto sich um und streichelte Himawari zärtlich übers Haar.

„Es war meine Entscheidung auf die Brücke zu gehen“, sagte er, „und wenn du so wärst wie ich, wären wir heute vermutlich beide ertrunken. Ich will nicht, dass du dich veränderst. Ich mag dich genauso, wie du bist. Die Mädchen in deiner Klasse müssen blöd sein, wenn sie dich nicht zur Freundin haben wollen. Außerdem hast du dich selbst in Gefahr begeben, um mich zu retten. Wie kannst du da behaupten, nicht mutig zu sein?“

Niemals hätte Himawari diese Reaktion erwartet und fast wäre ihr rausgerutscht, wer dieser fremde Junge sei und was er mit ihrem Bruder gemacht habe. Boruto musste sich einen Lachkrampf verkneifen, um ihre Eltern nicht auf den Plan zu rufen, so verdattert starrte sie ihn an.

„Mach den Mund zu, das sieht echt dämlich aus!“, meinte er und klang nun zu Himawaris Erleichterung wieder ganz wie der alte. Sie bewarf ihn mit seinem Kissen und kuschelte sich dann unter die Decke, damit er ihr verlegenes Grinsen nicht sehen konnte.
 

Noch lange, nachdem er längst eingeschlafen war, lag sie wach, lauschte dem gleichmäßigen Ticken der Wanduhr und betrachtete, wie das fahle Mondlicht durch die Gardinen schimmerte. Boruto hatte auf ihren eigenen Wunsch hin nichts von Risa und Mai verraten und das, zusätzlich zu der Tatsache, dass er vor ihren Eltern für sie in die Bresche gesprungen war, machte Himawari nicht gerade stolz. Aus einem zögerlichen Vorhaben wurde allmählich ein handfester Entschluss und sie nahm sich vor, gleich morgen die Konfrontation zu suchen und ihr Geld wieder zurückzufordern. Das war sie Boruto, ihren Eltern und vor allem sich selbst einfach schuldig.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück