Zerrissene Herzen von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 6: Sechs ---------------- ~*~ Teil 6 ~*~ Christian starrte Mark nur fassungslos hinterher und zuckte erschreckt zusammen, als der Kopf seines Schwagers unter der Ohrfeige zur Seite ruckte. Einen Arm hatte er um Michaels Taille gelegt, um ihn zu stützen, mit der anderen hielt er ihn an der Schulter zurück, damit er nicht dazwischen ging. Er hatte das Gefühl, sich in einem schlechten Film zu befinden. In einem furchtbar schlechten Film! Er hatte die Worte zwischen den Zwillingsbrüdern genau gehört und war sprachlos. So etwas hatte er noch nie gesehen. Auch hatte er Andre und Mark noch nie so erlebt. So verzweifelt, so wütend. So viel Schmerz hatte er in den Gesichtern lesen können, wie er es sich niemals zwischen zwei Menschen hätte vorstellen können. Und dann dieser letzte Kuss… Als er Andre in sich zusammensinken sah, entfuhr ihm ein gekeuchtes „Mein Gott!“. War das der Grund gewesen, warum man die Zwillinge getrennt hatte? Alles war still, kein Wort war zu hören, keiner traute sich etwas zu sagen. Einzig Andres Schluchzer zerrissen die unangenehme Stille. Entsetzt starrte Michael auf die zusammengesunkene Gestalt, die auf dem Boden saß und leise wimmerte. Es konnte doch unmöglich sein, dass Andre mit seinem Bruder… Verwirrt strich Michael sich über seine gerötete Wange und blickte hilfesuchend zu Christian. Der murmelte jedoch nur etwas, das sich verdächtig nach „Ach du Scheiße!“ anhörte und war somit überhaupt keine Hilfe. Langsam kam Michael auf Andre zu, bückte sich zu ihm herunter und streichelte ihm beruhigend über den Rücken. Irgendwie musste er ihn doch trösten, wo es doch seine eigene Schuld war! Er hätte Andre ihn schließlich fragen können, ob er ihn hätte küssen dürfen und ihn nicht einfach so überrumpeln sollen. Die Verantwortung für diese Katastrophe lag bei ihm. Wie konnte er Andre nur so unglücklich machen? Unwillkürlich zog er Andre einfach in seine Arme, ignorierte dabei seine eigenen Schmerzen und störte sich auch nicht daran, dass Andre sich wehrte. Er drückte ihn nur noch fester an sich und murmelte ihm ein „Entschuldige“ ins Ohr. Andre spürte, wie ihn jemand umarmte und versuchte sofort sich loszureißen. Er wollte niemanden sehen und erst recht von niemandem berührt werden. Als die Arme sich jedoch nur noch fester um ihn schlossen, riss er die Augen auf und erkannte sofort, wer ihn da festhielt. Nicht jetzt! Nicht er! Nicht Michael! Blind vor Tränen stieß er den jungen Studenten grob vor die Brust und versuchte so, ihn loszuwerden. Gerade seine Berührung konnte er jetzt nicht ertragen. „Sch… Komm her. Alles wird wieder gut.“ Michael ließ sich nicht wegstoßen, sondern strich nur weiter beruhigend über Andres Rücken. Er würde alles tun, nur damit Andre wieder aufhörte zu weinen. Wie hatte er nur so egoistisch sein können? Vorsichtig hob er Andres Kinn an, damit er ihm in die Augen sehen konnte. Er hoffte, ihn so wieder in die Realität zurückholen zu können. „Pass auf, Andre. Ich werde mit deinem Bruder sprechen. Ich werde ihm erklären, dass alles meine Schuld gewesen ist. Dein Bruder wird schon einsehen, dass du daran keine Schuld trägst. Er wird dir verzeihen. Bestimmt!“ Andre weinte nur noch mehr und schüttelte heftig den Kopf. „Nein, niemals… Er wird… nie mehr…“, er verstummte und brach den Blickkontakt. Er konnte Michael jetzt nicht in die Augen schauen. Er sah noch immer Michaels traurige Augen vor sich und schluchzte trocken. Alle waren unglücklich, und das alles wegen ihm. Warum hatte Michael ihn gerade heute küssen müssen? Und warum musste Mark gerade zu dieser Zeit aus dem Fenster schauen und sie sehen? Er ballte die Hände zu Fäusten. „Warum?…“, flüsterte er leise und schloss erschöpft die brennenden Augen. Michael legte Andre beruhigend seine warme Hand auf die Wange. Er versuchte sich seine Schmerzen nicht anmerken lassen, weil er glaubte, dass Andre nur noch verwirrter werden würde. Tapfer lächelte er ihn an und wischte ihm die Tränen aus dem Gesicht. Am besten sollte er Andre hier erst mal weg bringen. So langsam gewöhnte sich Michael daran, Andre aus peinlichen Situation zu retten. Nur diesmal war es seine Schuld… „Lass uns hier verschwinden. Aber diesmal trag ich dich nicht!“ Okay, der Spruch war zwar doof, aber irgendwie musste er Andre doch wieder aufheitern. Schief lächelte Michael ihn an, stand auf und reichte ihm die Hand, damit sich Andre an ihm hochziehen konnte. Andre, der seine Umwelt noch immer gänzlich ausgeblendet hatte, starrte die dargebotene Hand an. Michaels Absichten, ihn mit seinem Spruch zum Lachen zu bringen, waren vergeblich. Aber sein Lächeln… das tat irgendwie gut… Zögernd ergriff Andre die Hand und zog sich hoch, ließ die Hand dann aber so abrupt los, als hätte er sich verbrannt. Seine Beine fühlten sich an, als hätte er sie mindestens ein Jahr lang nicht mehr benutzt und in seinem Kopf drehte sich alles, aber irgendwie schaffte er es trotzdem aufrecht stehen zu bleiben. Ohne den Blick vom Boden zu heben, setzte er sich langsam in Bewegung, um seinen Rucksack zu holen. Weder beachtete er Michael weiter, noch sah er die anderen Umstehenden an. Endlich am Baum angelangt, griff er müde seinen Rucksack und wandte sich zum Gehen. Sie waren ihm doch alle egal. Sollten sie doch denken, was sie wollten. Michael hatte keine Zeit sich um seinen lädierten Brustkorb zu kümmern, erst mal war jetzt Andre wichtig. Michael schaute seinen Schwager an und signalisierte ihm, dass er Andre jetzt nach Hause bringen würde. Der schien davon gar nicht begeistert zu sein, aber das war nebensächlich. Es würde viel schwieriger werden Schwester Genepper zu entkommen. Die war gerade wieder zu neuem Leben erwacht, nachdem dieses Schauspiel beendet war und beschäftigte sich mit den Kindern. Die Kleinen sollten schließlich keine bleibenden Schäden davon tragen. Jede Nacht von einem randalierenden Mark träumen zu müssen, wäre auch bestimmt nicht schön. Hoffentlich hatten sie, und auch Schwester Genepper, nicht genau verstanden, was zwischen Andre und seinem Bruder gelaufen war. In Michael bereitete sich die vage Hoffnung aus, dass er und Andre vielleicht unerkannt verschwinden könnten. Er müsste sich dann halt für morgen irgendetwas ausdenken, wenn er die Nonne im Lehrerzimmer treffen würde. Oder noch besser, Christian könnte das erledigen. Er blickte seinen Schwager an und formte mit den Lippen ein „Bitte“. Herr Happ verstand sofort und war natürlich auch von dieser Idee gar nicht begeistert. Er schüttelte wild mit dem Kopf und stand kurz davor, ein lautes ‚Nein’ über den Hof zu schreien. Doch Michael störte sich nicht daran, sondern flüsterte nur leise „Danke“ und wandte sich wieder an Andre. Wenn sie schnell wären, würde sein Plan, Schwester Genepper zu entkommen, funktionieren. Andre bekam die nonverbale Kommunikation zwischen den beiden Schwägern gar nicht mit. Er hielt sich nur krampfhaft an seinem Rucksack fest und versuchte, die wiederaufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Er konnte sich an keinen Tag erinnern, an dem er so unglücklich gewesen war wie jetzt. Natürlich, Mark und er hatten oft Streit gehabt, auch oft heftigen, aber noch nie hatte Mark so endgültig geklungen. Und noch nie hatte Andre so ein schlechtes Gefühl bei ihren Auseinandersetzungen gehabt. Er spürte tief in seinem Innern, dass sie sich nicht einfach so wieder vertragen würden wie die letzten Male. Eher hatte er die Befürchtung, dass sie es niemals wieder tun würden. Selten hatte er sich so elend gefühlt wie jetzt. Aus dem rechten Blickwinkel beobachtete Michael noch die kleine Nonne, als er auch schon mit schnellen Schritten auf Andre zukam. Er konnte einfach nicht anders, als ihm seinen Arm über die Schulter zu legen und Andre so einfach mit sich zu ziehen. Sorgenvoll betrachtete er ihn. Die Augen waren blutrot und hoben sich so von dem weißen Gesicht ab. Noch im Gehen kramte Michael in seiner Hosentasche herum und fand schließlich eine zerdätschten Schokoriegel. In Schokolade waren schließlich viele Glückshormone enthalten. Lächelnd hielt Michael Andre den Riegel unter die Nase, vielleicht würde ihn das ja ein wenig aufheitern. „Ich futtere immer Schokolade, wenn ich Probleme hab. Das hilft wirklich. Du wirst schon sehen, er wird dir verzeihen. Hundertprozentig!“, lächelte er verlegen. Er wusste nicht, was er besseres in diesem Moment hätte sagen können. Andre sah den Schokoriegel und schlagartig wurde ihm schlecht. Schnell schob er Michaels Hand beiseite und entwand sich seinem Griff. Etwas zu essen konnte er jetzt wirklich nicht sehen. Zwar konnte er sich Michaels Griff entwinden, das Übelkeitsgefühl jedoch nicht vertreiben. Das Gesicht verziehend presste er eine Hand auf seinen Bauch, bevor er ins Schulgebäude eilte und auf die Toilette hechtete. Er schaffte es noch gerade, bevor er sich über die Kloschüssel gebeugt übergab. Alles lief schief heute! Einfach alles! Verdammt! Wie konnte man nur am laufenden Band so viele Fehler machen? Anstatt ihm zu helfen, verschlimmerte Michael die Situation nur noch. Scheiße! So schnell es sein strapazierter Oberkörper überhaupt noch mitmachte, folgte er Andre auf die Toilette. Langsam näherte er sich ihm, bevor er sich überlegte, dass der sicherlich nicht gestört werden wollte. Schließlich war es doch sehr privat sich zu übergeben. Er blieb vor dem WC stehen und versuchte, Andres Würgegeräusche zu überhören, indem er einfach wahllos irgendeine Melodie summte. Betreten schaute sich Michael die dreckigen Fensterscheiben an und wartete darauf, dass Andre ihm um Hilfe bat. Nachdem er bereits die zweite Strophe anstimmte wurde ihm erst bewusst, dass er die ganze Zeit ‚White Christmas’ gesummt hatte. Mein Gott, hoffentlich hatte Andre das jetzt nicht gehört. Er würde ihn doch für total bescheuert halten! Michael verstummte schlagartig und wurde stattdessen etwas rötlich. Verlegen schüttelte er leicht den Kopf und klopfte an die Tür. Nein, Andre hatte sicherlich nichts gehört. „Geht’s dir gut? Brauchst du Hilfe? Vielleicht ein Glas Wasser?“ Andre hatte wirklich nichts mitbekommen, er konzentrierte sich vielmehr darauf, nicht mit dem Kopf ins Becken zu fallen. Er fühlte sich so elend! Michaels Fragen überhörte er einfach. Er wartete einfach, dass sein Magen sich nicht mehr drehte, bevor er die Spülung betätigte. Kurz lehnte er die Stirn gegen die kühlen Kacheln und atmete tief durch. Als er glaubte, sein Magen würde nun endlich Ruhe geben, stand er vorsichtig auf. Hoffend, dass Michael in der Zwischenzeit schon gegangen war, da er nichts mehr von dem jungen Studenten gehört hatte, öffnete er die Tür und musste gegen das Schwindelgefühl ankämpfen, das auf seinem abgesackten Kreislauf zu verdanken hatte. Kurz konnte er einen Blick in Michaels Gesicht werfen, der anscheinend doch noch nicht gegangen war, bevor er sich kurzzeitig an den Türrahmen lehnen und die Augen schließen musste, um nicht umzukippen. Alles drehte sich… Schnell kam Michael auf Andre zu, um ihn zu stützen. Wie konnte ein Mensch nur so weiß sein? Das beste wäre wohl, wenn sich Andre erst mal setzen würde. Vorsichtig dirigierte ihn Michael auf den Boden und ließ ihn sich gegen die Wand anlehnen. Der Boden war zwar dreckig, aber immer noch besser als umzukippen. Sehr langsam kniete sich Michael vor Andre. Michael wusste nicht worüber er mit ihm sprechen sollte, nach dieser Aktion brauchte er auch wohl eher Ruhe als ein Gespräch. Also bevorzugte Michael zu schweigen, legte stattdessen seine Hand auf Andres Arm, um ihn wieder etwas zu beruhigen. Doch als er merkte, dass dieser zurückschreckte, nahm er blitzartig seine Hand zurück. War wohl doch nicht so eine gute Idee gewesen. Schnell murmelte er irgendeine Entschuldigung. Betreten schaute Michael auf seine Füße. Am liebsten wäre er jetzt an einem anderen Ort. Irgendwo wo diese scheiß Rippen nicht mehr so wehtun würden und er nicht immer so peinliche Dinge tat. Aber Andre brachte ihn immer so völlig aus dem Konzept, dass er ihn am liebsten ständig berühren wollte. Wie konnte dieser Mark nur so eklig zu ihm sein? Schließlich trug Andre keine Schuld an dem Kuss. Wie konnte man so grausam zu dem Menschen sein, den man angeblich liebt?! Andre war froh als er endlich saß, sagte aber immer noch nichts. Die Hand auf seinem Arm hatte er nicht ertragen können, aber Michaels Fürsorge fand er wirklich nett. Er atmete einmal tief durch und sagte dann, jedoch matt und mit geschlossenen Augen: „Ich will jetzt nach Hause. Wenn Sie mir hoch helfen, schaffe ich es bestimmt zum Auto.“ Er schluckte, als wieder die Übelkeit hochstieg, doch er drängte das Gefühl gewaltsam zurück. Er fühlte sich so leer… Michael stand auf und reichte Andre seine Hand. Wieso musste eigentlich alles so scheiße laufen? Hätte er sich nicht einmal in einen Jungen verlieben können, der ihn auch mochte? Nein, stattdessen suchte er sich einen aus, der in seinen eigenen Bruder verliebt war. Was fehlte ihm eigentlich im Gegensatz zu Mark? Die Kunst andere Menschen verletzten zu können, oder was? In diesem Moment fühlte Michael wie Trauer in ihm aufstieg und ein Gefühl der Resignation, das er nicht verhindern konnte, machte sich in ihm breit. Ihm wurde erst jetzt bewusst, dass er niemals eine echte Chance bei Andre haben würde, oder jemals gehabt hatte. Man würde ihn niemals von seinem Bruder trennen können. Er würde auf keinen Fall gegen den Zwilling ankommen können und wollte es auch gar nicht. Vielleicht war es so am besten, die beiden konnten wahrscheinlich nicht ohne einander, zumindest nach dem zu urteilen, was er da gerade gesehen und gehört hatte. Wer sich noch nicht einmal davon abbringen ließ, mit seinem eigenen Bruder zu schlafen, der würde auch alles andere aus dem Weg schaffen, das ihrer Liebe im Weg stehen würde. Michael konnte sich zwar nicht erklären, warum Andres Bruder dann so ein Theater gemacht hatte, aber er war sich sicher, dass sich die beiden wieder zusammenraufen würden. Enttäuscht blickte er an Andre vorbei und versuchte sich damit abzufinden, dass Andre jemanden anderen liebte. Wäre ja auch zu schön gewesen! Plötzlich verspürte Michael das Gefühl Andre loszuwerden zu müssen, wenn auch nur für kurze Zeit. Er wollte einfach nicht länger in diese Augen schauen. „Komm mit. Ich fahr dich nach Hause.“ Damit drehte er sich rum und rannte fast die Treppe herunter. Andre konnte ihm nur verwirrt hinterher schauen. Was war denn jetzt losgewesen? Doch er hatte keine Lust, sich in diesem Augenblick darüber Gedanken zu machen. Bedächtig machte er sich auf den Weg und folgte Michael. Eigentlich wollte er lieber allein sein, aber Autozufahren traute er sich in seinem Zustand nun auch wieder nicht und da Michael sich ja angeboten hatte, ihn nach Hause zu fahren… Würde er morgen, falls er dann überhaupt zur Schule gehen würde, eben mit der Bahn zur Schule fahren müssen. Erschöpft trat er auf die Beifahrerseite von dem Auto, neben dem Michael stand und wartete, dass dieser aufschloss. „Danke, dass Sie mich mitnehmen.“ „Ist doch Ehrensache. Wo wohnst du denn?“ Michael stieg ein und wartete bis Andre auch saß. Er sah immer noch sehr blass aus und schien als Ganzes nicht völlig auf dem Damm zu sein. Erneut zog sich Michaels Herz zusammen. Er würde ihn niemals absichtlich so verletzten. Michael fuhr vom Parkplatz und reihte sich in den Verkehr ein. Andre nannte ihm seine Adresse und schloss dann erschöpft die Augen. Immerhin weinte er nicht mehr, das war doch schon ein Anfang. Aber dafür fühlte er jetzt eine quälende Leere in sich, als würde etwas Wichtiges in seinem Innern fehlen. Den Kopf an das Polster lehnend ließ er seine Gedanken einfach schweifen, versuchte nur, nicht an seinen Bruder zu denken. Ob ihre Eltern jetzt wohl glücklich waren, wo sich ihre Söhne doch nun endlich entzweit hatten? Sein Herz zog sich bei diesem Gedanken zusammen. Da Andre zu schlafen schien, stellte Michael das Radio nicht an. Er versuchte, sich auf den Verkehr zu konzentrieren, was sich als großes Problem herausstellte. Warum musste Andre auch so süß aussehen, wenn er schlief? Es schien, als würde die ganze Anspannung von ihm abgefallen sein. Er wirkte zwar unglaublich erschöpft, aber trotzdem nicht mehr so verbissen. Irgendwie musste er sich ablenken. So begann Michael wieder ganz leise zu summen. Ihm konnte jetzt schließlich auch egal sein, ob Andre ihn für bescheuert hielt oder nicht. Versunken in seine Weihnachtsmelodie überlegte er sich, was er dieses Jahr wohl alles verschenken würde. Besonders Christian stellte da ein großes Problem dar. Er hatte ihm doch schon letztes Jahr ein Buch geschenkt. Als der Wagen hielt, schreckte Andre auf. Er schien doch wirklich eingeschlafen zu sein. Kurz blinzelte er, um sich zu orientieren und bemerkte, dass sie schon bei ihm zu Hause angekommen waren. Er drehte den Kopf und schaute zu Michael, der ihn zu betrachten schien und brachte ein verwirrtes „Danke“ heraus. Dann öffnete er die Tür, griff seinen Rucksack und stieg aus. Um nicht wieder zu schwanken, stützte er sich auf dem Dach des Autos ab und wartete, bis das Schwindelgefühl wieder abgeklungen war, bevor er sich noch einmal hinabbeugte. „Danke noch mal, dass Sie mich gefahren haben… ich…“ „Warte, Andre!“ So konnte Michael ihn unmöglich gehen lassen, so traurig und fertig. Wenn er es jetzt nicht klärte, würde er heute Nacht sicher nicht einschlafen können. Er machte noch einmal eine Pause, bevor er leise zu reden begann. „Es tut mir leid, was passiert ist. Du musst mir glauben. Es war wirklich nicht meine Absicht, dass du solche Schwierigkeiten bekommst.“ Michael schaute aus dem Fenster und wurde leicht rötlich. Die ganze Situation war unglaublich blöd. Er im Auto und Andre, einer Ohnmacht nahe, draußen. Vielleicht sollte er es besser ein anderes Mal ansprechen, wenn die Atmosphäre besser wäre. Nein, Michael kannte sich. Wenn er es jetzt nicht sagen würde, würde er es ewig herausschieben. Er atmete tief durch, blickte wieder in Andres Richtung, doch konnte er ihm nicht direkt in die Augen schauen. „Ich hab dich geküsst, weil ich mich in dich ver… Nein, du bist süß. Ich konnte dich nicht so leiden sehen. Ich weiß nicht, wie dir dein Bruder so was antun kann. Aber ich glaube, ihr werdet euch wieder vertragen. Außerdem, ich verspreche dir, dass ich dir nie wieder zu nah komme. Es ist nur so, es ist so wahnsinnig schwer Abstand von dir zu halten.“ „Also ich…“, ungläubig starrte Andre Michael an. Er hatte ihn geküsst, weil er süß war und es schwer war, von ihm Abstand zu halten?! Er hatte genau gehört, dass Michael gestockt hatte und eigentlich etwas anderes hatte sagen wollen, aber was? „Sie finden mich süß?“, fragte er deshalb. Und warum hatte Michael so viel Verständnis? Das hätte er nicht erwartet. Die Nonne und die kleinen Kinder hatten zwar auch alles mitbekommen, aber denen könnte er immer noch etwas von einer Theaterprobe oder sonst etwas erzählen, aber Michael? Der hatte alles zwischen ihm und Mark genau mitbekommen und verstanden. Und dann unterstützte er ihn auch noch? Und nur, weil er ihn süß fand? Meine Güte, hatte Andre jetzt wirklich nicht verstanden, was Michael ihm eigentlich hatte sagen wollen? Na ja, Michael konnte es ihm eigentlich nicht verübeln, seine Gefühle waren ja auch wirklich unrealistisch und total bescheuert. Aber er musste es einfach sagen und zwar so, dass Andre es auch wirklich verstand. Langsam stieg er aus dem Auto und kam zu Andre herüber. Er konnte ihm schließlich unmöglich ein Liebesgeständnis auf fünf Meter Entfernung machen. Michael spürte wie sein Herz pochte und fühlte den Schmerz in seinem Oberkörper noch intensiver. Er wollte es jetzt so schnell wie möglich hinter sich bringen und sich dann selbst bemitleiden, einfach nach Hause fahren, ein Schmerzmittel nehmen und sich in die Wanne legen. Aber vorher musste er da noch durch! Am besten kurz und schmerzlos. „Ich hab’ mich in dich verliebt!“ Andres einzige Reaktion bestand aus einem Blinzeln. Das konnte doch jetzt nicht wahr sein, oder?! „Würden Sie das bitte wiederholen?“, fragte er nur und war überrascht, dass seine Stimme nur ein wenig zitterte. Er musste sich einfach verhört haben! Klar, jetzt auch noch zweimal. Michael atmete tief durch, damit er seine Gedanken Andre nicht einfach ins Gesicht schrie. Er wusste ja eigentlich auch, dass es keine Absicht war. Es war nur so schwer. Aber wenn Andre es halt noch mal hören wollte, dann bitte. „Ich habe mich in dich verliebt.“ Andre schluckte. Das hatte ihm ja gerade noch gefehlt! Also damit konnte er jetzt wirklich nicht umgehen! Musste Michael ihm das ausgerechnet jetzt offenbaren? „Oh Gott“, entfleuchte es ihm, bevor er es verhindern konnte. Nicht das jetzt auch noch! Er hatte jetzt keine Kraft sich damit auseinander zu setzen. Nicht nach dem, was alles heute passiert war. Nicht nachdem Mark… „Tut mir Leid!“ Flucht war zwar nicht die feinste Art, aber die sicherste und im Moment die einfachste für ihn. „Ich… Es tut mir wirklich Leid… Ich muss jetzt. Wiedersehen!“ So schnell es ihm möglich war, drehte er sich um, kramte seinen Schlüssel aus der Tasche und stürzte ins Haus. Die Tür warf er stürmisch hinter sich ins Schloss und lehnte sich dann zitternd gegen die geschlossene Tür. Das war jetzt gerade nicht passiert, oder?! Verdammt! Michael schluckte und ihm wurde schlagartig übel. Hätte er es doch nie gesagt! Wieso muss er auch so ein verblödeter Idiot sein? Hatte er etwa erwartet, dass Andre ihm an den Hals sprang? Trotzdem atmete Michael einmal tief durch, um die aufsteigende Trauer zu bekämpfen. Schon das Schlagen der Tür hörte sich so an, als käme es von einem anderen Planeten. Michael war die ganze Situation schrecklich peinlich. Andre würde ihn doch nie mehr richtig anschauen können, ohne an das hier zu denken! Er hätte es niemals sagen dürfen. Nicht jetzt, nachdem Andres Bruder gerade mit ihm Schluss gemacht hatte. Scheiße! Michael schluckte erneut, doch diesmal half es nicht. Er wischte sich die Tränen schnell mit seinem Ärmel ab und starrte auf die geschlossene Tür. War er eigentlich so schrecklich? Musste man denn wirklich vor ihm weglaufen? Ruckartig drehte er sich um und stieg in sein Auto. Er wollte einfach nur nach Hause und das so schnell wie möglich. Andre sah Michael nach, wie er sich wieder in sein Auto setzte und davonfuhr. Hatte er sich das nur eingebildet, oder hatte Michael sich über die Augen gewischt? Er hatte doch wegen ihm keine Tränen vergossen, oder doch? Rucksack und Jacke ließ er einfach fallen, wo er gerade stand und schlurfte dann in die Küche. Wie immer, wenn er von der Schule kam, stand dort seine Mutter am Herd und rührte in irgendetwas. „Hallo“, murmelte er und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Seine Gedanken schwirrten wie wild durch seinen Kopf. In den letzten anderthalb Stunden war so viel passiert, dass er es kaum begreifen konnte. Doch trotzdem stellte er, jedoch mehr unbewusst, seine Standartfrage: „Was gibt’s zu essen?“ „Gemüsesuppe“, antwortete seine Mutter leicht abwesend. Dieses Mal würde es ein für allemal ein Ende haben! Heute war ihr ein Stein vom Herzen gefallen. Diese Hölle war jetzt endlich vorbei. Betont langsam drehte sie sich zu ihrem Sohn herum. Er müsste es doch auch einmal einsehen. Lächelnd nahm sie Andres und ihren Teller und setzte sich zu ihm an den Tisch. Mein Gott, der Junge sah so traurig und niedergeschlagen aus, richtig krank! Sofort überkamen sie wieder Schuldgefühle. Wie konnte sie sich nur so freuen, wenn ihr kleines Baby so unglücklich war? Trotzdem, es war das Beste für die Familie. Mark würde mit Karen glücklich werden und Andre würde auch noch jemand anderen finden. „Schatz, wir werden dieses Jahr nicht zusammen Weihnachten feiern können. Ich schenke Mark nämlich einen Skiurlaub mit Karen. Aber ich glaube, es wird das Beste sein. Ein bisschen Abstand wird euch gut tun.“ Sie nickte zuversichtlich. Andre verkrampfte sich, nahm aber trotzdem tapfer den Löffel und begann, lustlos in seinem Essen herumzurühren. Immer wieder schlich sich Marks Bild vor seine Augen. „Du musst mir nicht sagen, was gut für mich ist. Das kann ich schon ganz gut selbst entscheiden!“ „Ach, Andre. Bist du denn nicht auch froh, dass dieser Horror jetzt endlich vorbei ist?“ „Ach sei doch still!“, knurrte er. „Du hast echt von nichts eine Ahnung! Du verstehst gar nichts!“ „Schatz, beruhige dich wieder. Komm, wir essen schön und dann legst du dich am besten ins Bett. Du siehst ganz krank aus“, sie legte ihrem Sohn versöhnlich eine Hand auf den Arm, doch er zog ihn sofort zurück. „Du wirst sehen, alles wird wieder gut. Jetzt, wo Mark vernünftig geworden ist, können wie alle wieder glücklich werden. Du musst dich erst mit dem Gedanken auseinandersetzen, das verstehe ich, aber dann wirst du sehen, dass es das Beste für alle ist. Auch für dich.“ Andre wandte nur den Kopf ab. Mit seiner Mutter konnte er eh nicht darüber reden. Sie verstand nicht diese Leere, die seit seinem Streit mit Mark in seinem Innern herrschte. Dieses Stechen in seiner Brust, in seinem Herzen… Er aß keinen einzigen Bissen, ihm wäre nur wieder schlecht geworden. Als dann seine Mutter endlich aufgegessen hatte, erhob er sich schnell. Bloß weg hier und endlich allein sein! „Ich geh’ nach oben.“ Damit flüchtete er aus der Küche und ließ seine Mutter niedergeschlagen zurück. Was sollte sie denn noch tun, damit alles wieder in Ordnung kam? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)