Den ganzen Abend über hatte Bill seinen Bruder nicht mehr gesehen. Ehrlich gesagt hatte er auch nicht wirklich vorgehabt, seinem Bruder über den Weg zu laufen. Tom war so verdammt wechselhaft in letzter Zeit. Nicht launisch, sondern wechselhaft. Erst küsste er ihn, dann war er verschreckt wegen dem Kuss... und nun versuchte er wieder einen auf "alles ganz Normal" zu machen. Mein Gott, dieser Kerl regte ihn irgendwie tierisch auf. Am liebsten hätte er ihn angeschrien, aber das wäre irgendwie auch nicht die richtige Reaktion gewesen...
Tom hatte unterdesssen sämtliche Wäsche gewaschen und durch den Trockner gejagt. Eigentlich war das ja gar nicht mal sooo schwer. Wieso hatte er das nicht schon die Tage gemacht? Er stand in seinem Zimmer und sortierte die Wäsche aus. Zuerst hatte er fast nur seine eigenen Sachen in den Händen. Als er plötzlich ein Shirt von Bill in seinen Händen hielt, drückte er es verträumt an sich. Es roch frisch gewaschen. Klar, war ja auch grad erst durch die Wäsche. Trotzdem hatte er das Gefühl, es roch auch etwas nach Bill. Erschrocken von sich selbst warf Tom das Shirt auf sein Bett. Was war das denn gewesen? So hatte er sich noch nie erlebt. In Windeseile holte er alle seine Sachen aus dem Korb und warf das Shirt auf den Rest, der aus Bills Sachen bestand. Ohne weiter drüber nachdenken zu wollen, trug er den Korb vor Bills Türe und stellte ihn dort ab. Er klopfte leise und ging dann wieder in sein Zimmer zurück.
Bill öffnete die Tür. Er grübelte. Irgendwie war es dumm, zuhause hocken bleiben zu wollen, während die anderen Party machten. Während er die Sachen aussortierte, faltete und auf sein Bett legte, dachte er darüber nach, doch auf die Party zu gehen. Es würde ihm sicherlich gut tun. Vielleicht würde er dadurch etwas abgelenkt, von Toms merkwürdigem Verhalten. Er sortierte seine Wäsche ein und legte sich ins Bett...
Am nächsten morgen wurde er von der Sonne geweckt, deren Strahlen ihn an der Nase kitzelten. Er hielt sich die Hand vor Augen, um sich vor dem grellen Licht zu schützen. Mist - er hatte vergessen die Gardine gestern Nacht vor die Fenster zu ziehen. Nachdem sich seine Augen etwas an die Helligkeit gewöhnt hatten, drehte er den Kopf zum Nachttisch um auf die Uhr zu sehen. Halb 9. Halb 9? Viel zu früh. Er wollte sich nochmal umdrehen, als plötzlich mit lautem Tamtam seine Tür aufflog. "Guten Morgen Herzallerliebster Bruder! Es wird Zeit zum aufstehen." Innerlich verfluchte Bill Gott für die Tatsache, das er einen Zwillingsbruder hatte. Äußerlich war seine Reaktion, das er ein Kissen in die Richtung der gesprochenen Worte warf. Da er mit geschlossenen Augen warf, war die Zielbestimmung ziemlich schlecht und traf dementsprechend daneben. "Was willst du?" murmelte er in seine Bettdecke. "Na komm schon, steh auf. Wir haben einiges vor uns heute!" Tom hörte sich irgendwie fröhlich an, was Bills Laune etwas hob. Nachdem Tom ihn einige Momente lang schweigend beobachtet hatte, erhob er sich aus seinem Bett. "Was um Himmels willen hat man dir angetan, das du jetzt schon so eine scheiß-gute-Laune hast?" fragte er seinen Bruder. Tom stand grinsend in der Tür. "Ach, weiß auch nicht. Ich freu mich einfach auf heute Abend." Bill zog seine gepiercte Augenbraue hoch. Sich freuen. Auf heute Abend. Aha. Er lief an seinem merkwürdig grinsenden Bruder vorbei ins Bad. Tom musste einen Clown gefrühstückt haben, anders war sein grinsen nicht zu erklären. Unter der Dusche fing er leise an, vor sich hinzusingen. Einerseits hasste er den Gedanken an heute Abend aus irgend einem unerfindlichen Grund, andererseits freute er sich schon ein wenig.
Tom lachte. Schon beim aufstehen hatte ihn einfach eine irre gute Laune gepackt, ohne das er wusste, woher diese kam. Er hätte einfach Bäume ausreißen können, so gut ging es ihm. Mit diesem Gefühl im Bauch ging er auch den Rest des Tages an. Zuerst brachte er die Wäsche in den Keller, die er die Woche über vergessen hatte. Dann ging er in die Küche und deckte freiwillig den Frühstückstisch. Und er brachte auch noch den Müll raus, was fürwahr etwas ungewöhnlich war. Denn sonst war Tom derjenige, der nie seinen Arsch hochbekam, was "Hausfrauenarbeit" anging.
Nachdem er aus dem Bad kam, hörte Bill, wie jemand in der Küche am werkeln war. Er ging in sein Zimmer, zog sich an und beschloß, erstmal eine Runde zu frühstücken. Als er in die Küche kam, traf ihn fast der Schlag. Tom öffnete gerade den Backofen und holte Brötchen heraus. Verwundert starrte er seinen 10 Minuten älteren Bruder an. "Was genau machst du da?" fragte er, obwohl er sah, das Tom den Tisch deckte. "Frühstück..." Bill rieb sich die Augen. Was hatte Tom bitteschön genommen? Irgendwas war faul, aber ganz gewaltig. Er liess sich auf einen der Stühle fallen und schloß die Augen. Der Geruch von frischen Brötchen stieg ihm in die Nase. Dem konnte er nicht widerstehen. Tom seufzte leise und setzte sich dazu. Schweigend saßen sich die beiden gegenüber und frühstückten. Bill musterte seinen Bruder ziemlich genau. "Sag mal, warum hast du eigentlich Frühstück gemacht?" durchbrach Bill die Stille. Er lauschte. Eigentlich hätte ihre Mutter auch wach sein müssen. "Naja... als ich heute morgen wach wurde, meinte Mama, sie und Gordon müssten irgendwohin. Hab nicht so genau zugehört, war ja noch nicht wirklich wach. Und daraufhin hab ich dann Frühstück fertig gemacht..." Bill grübelte. Na gut, das ihre Ma weggefahren war... er glaubte eine Stimme im Hinterkopf zu hören, die etwas von einem Termin mit irgendwelchen Kindern faselte. "Und? Was hast du heute so tolles geplant?" fragte Bill. "Lass dich überraschen." Tom grinste ein Honigkuchenpferd-Grinsen und fast hatte Bill den Eindruck, das Tom verliebt sei. So richtig. Nicht so wie sonst...
Nach dem Frühstück stand Bill auf und liess seinen Bruder die Küche alleine aufräumen. Er ging ins Bad und stylte sich. Tom hatte also etwas geplant. Naja, er wollte ihn nicht mit seiner fragerei belästigen. Irgendwann würde er schon selber damit rausrücken...
Nach nur einer halben Stunde verliess Bill das Bad bereits wieder und ging in sein Zimmer. Er lud sich Musik auf seinen MP3-Player und ordnete nebenbei noch ein paar Sachen ein. Er las sich gerade einen alten Songtext durch, als sich die Tür öffnete und Tom hereinkam. "Bill? Bist du fertig?" fragte er. Bill legte die Blätter aus seiner Hand und stand auf. "Ja... soweit schon. Wieso denn?" Tom grinste immer noch. Langsam wirkte dieses Grinsen affig. "Ist egal. Soll ne Überraschung werden." Das Grinsen wurde noch breiter. Bill seufzte. Naja, würde schon nicht soooo schlimm werden - so hoffte er zumindestens.
Ein paar Minuten später saßen sie bereits in einem Bus und fuhren durch die Gegend. "Wenn du mir jetzt erklären könntest wo wir hinwollen?" versuchte Bill es noch einmal. "Nein, kann ich nicht. Du musst dich überraschen lassen!" verlangte Tom. Bill spielte mit seinem Zungenpiercing. Es war verdammt schwer, sich überraschen zu lassen. Erst recht wenn man so gar keine Lust auf Überraschungen hatte, da sie möglicherweise unangenehm waren. Nach einer weiteren halben Stunde kamen sie an ihrem Ziel an: Die Strandbar. Als Tom Bill aus dem Bus zog, glaubte Bill nicht richtig zu sehen. Schon von weitem erkannte er sie. Immer noch das gleiche Gesicht. Das gleiche, süße, verschüchterte Lächeln wie damals. Der gleiche Blick. Sie war nur etwas gewachsen. Und zog sich etwas anders an. "NA? Überraschung gelungen?" grinste Tom. Doch Bill nahm das nicht wirklich wahr. Er starrte sie nur an. Ja, damals hatte er sie wirklich geliebt. Es hatte so verdammt weh getan, als sie Schluß gemacht hatte. Tagelang, ach was, Wochenlang hatte er nichts mehr essen können. Und immer wieder hallte in seinem Kopf die Frage nach dem "Warum". Selbst jetzt, 2 Jahre später, hörte er es immer noch. Fast auf den Tag genau war es jetzt 2 Jahre vorbei. Sie hatte gesagt, das es wegen der Zeit sei. Weil sie sich kaum noch sahen, da er sich zum einen auf die Schule konzentrieren musste, zum anderen die meiste Zeit die Musik im Kopf hatte. Und trotzdem hatte er immer wieder nachgedacht, noch andere Gründe zu finden versucht. Doch nie war ihm einer in den Kopf gekommen. Und jetzt? Jetzt stand sie da. Ein paar Meter entfernt. Lächelte vorsichtig.
"Hey, Linda. Schön das du hier bist!" begrüßte Tom sie mit einer Umarmung. "Ja... ich habs fast nicht geglaubt, als du angerufen hast... ich meine... wir haben doch seit damals nichts mehr voneinander gehört..." sprach sie leise, flüsterte fast. Bill sah sie immer noch an. Leicht geschockt, leicht irritiert. WAS machte SIE hier? Was MACHTE sie HIER? "Na komm Bruderherz..." Tom griff sich eine Hand und zog Bill mit sich zu Linda. In ihm schaltete alles auf einmal um. Am liebsten hätte er sie jetzt einfach nur angegiftet, was sie sich erdreistete, nach all der Zeit hier aufzutauchen, und dann auch noch zu lächeln. Sie, die ihn damals fast umgebracht hatte damit. Sie, die ihn in die leidvolle Verzweiflung geschickt hatte. Aber... moment... "Tom? Was hast du mit der Sache zu tun?" Tom grinste. "Toll, nicht?" Bill schloß die Augen und atmete langsam und bedacht. Schon lange hatte er nicht mehr das Verlangen danach verspürt, sich auf seinen Bruder zu stürzen und seine Wut an ihm auszulassen. Und dieser Drang in ihm war noch nie so stark in ihm gewesen wie heute. Er ballte seine Hand zur Faust und krallte seine Nägel tief in sein Fleisch, um sich unter Kontrolle zu halten. "Sag mal, spinnst du eigentlich?" fragte er Tom kalt. "Was soll das?" hakte er nach. Das Grinsen in Toms Gesicht erstarb augenblicklich. "Wie jetzt?" Bill senkte den Kopf. "Meinst du ehrlich, ich habe große Lust darauf, Linda nach exakt 2 Jahren wiederzusehen?" Auch Linda sah zu Boden. "Es... es tut mir leid..." sagte sie. Bill schüttelte den Kopf. "Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, ich weiß, das Tom das arrangiert hat." Auch Tom sah nun zu Boden. "Mensch ich hab gedacht es tut dir gut, wenn du sie mal wieder siehst. Wenn du mit ihr über alte Zeiten reden kannst." Bill sah Tom in die Augen. "Ach, du hast gedacht? Vielleicht denkst du mal daran, das ich vielleicht gar nicht über die alten Zeiten reden will. Das ich die alten Zeiten alte Zeiten sein lassen möchte? Das ich gar keine Lust darauf habe, darüber nachzudenken?" Er drehte sich um und lief zur Bushaltestelle zurück. Tom hatte einen geknickten Gesichtsausdruck und hockte sich in den Sand. "Ich... es tut mir leid Linda... hätte ich vorher gewusst, das er so reagiert, ich hätte dich nicht geholt..." sagte er leise. Linda hockte sich neben ihn. "Ist schon okay... ich weiß ja, wie er ist. Er hat ein Recht darauf, so zu reagieren..." sagte sie leise und strich Tom über die Wange. "Mach dir nichts draus. Wichtig ist, das du dich wieder mit deinem Bruder verträgst..."
Bill war wutentbrannt mit dem nächsten Bus nach Hause gefahren. Dummerweise fuhr selbiger erst eine halbe Stunde später, sodaß er tatsächlich mit Tom in einem Bus heim musste. Stillschweigend hatte Tom sich neben ihn gesetzt. Während der Fahrt hatten sie kein Wort miteinander gewechselt. Erst als sie wieder am Haus ankamen, flüsterte Tom ein leises "Tut mir leid...".
Die nächste Stunde verbrachte Bill damit, sich "Away from the Sun" anzuhören. Das ganze Gesabbel seines Bruders heute morgen also nur wegen Linda? Nein, auf die konnte er weiß gut verzichten. Und wenn er gewusst hätte, was später am Abend noch passieren würde, hätte er sich auch gar nicht erst wieder mit seinem Bruder vertragen...
