Bill sah aus dem Fenster. Leise klopften die Regentropfen daran. Er legte seine zarten, langen Finger auf die Fensterscheibe und schloss die Augen. Diese braunen Augen, dieser Mund. Dieser Blick, dieses verschmitzte Lächeln.
Warum nur? Warum? Konnte es nicht jemand anderes sein? So lange schon kannten sie sich. Und doch...
Alles war anders geworden. Soviel anders. Früher, da war alles immer nur Spaß gewesen. Da kamen sie gut miteinander aus, hatten gemeinsam viel gelacht und gescherzt. Doch aus irgendeinem unerfindlichen Grund ging das schon eine Weile nicht mehr. Wann genau hatte das alles eigentlich angefangen?
Es war auf einer Party gewesen. Bill war mit seinem Bruder, Georg und Gustav dort gewesen. Es war eine Private Party gewesen. Anfangs war es genauso gewesen, wie immer. Gustav riss einen Witz nach dem anderen, Georg lachte und Tom sprach mit einem Mädchen. Bill hingegen saß, anders als sonst, auf einem Sofa, unfähig sich zu rühren. Er sah zu seinem Zwillingsbrüder hinüber. Selten hatte er Tom so ausgelassen lachen sehen. Selten so eine flirtattacke startend. Als er sich dem Mädchen näherte und ihr einen Kuss auf den Mund gab, spürte Bill ein kurzes Stechen. Scheinbar von einer Sekunde auf die anderen wich ihm alle Farbe aus dem Gesicht. Was war das? Warum hatte es wehgetan? Mein Gott, das war sein Bruder. Er hatte ihn schon so oft gesehen, beim knutschen mit Mädchen. Und doch, dieses mal war es anders. War es wegen des Mädchens?
Bill wurde aus seinen Gedanken gerissen, als sein Bruder vor ihm stand und ihn fragend ansah. "Ist was?" fragte Bill und versuche seinen wahrscheinlich nur allzu deutlichen Gesichtsausdruck hinter einer Maske zu verstecken. "Naja, du wirkst so... abwesend. Was ist los?" Bill schüttelte den Kopf und sah zu Boden. "Nichts." "Das kannst du wem anderes erzählen. Es liegt an Natascha, oder? Es ist in letzter Zeit immer so, immer wenn ich mit einem hübschen Mädchen flirte, kriegst du einen halben Koller!" Tom hörte sich wütend und genervt an. Doch Bill setzte sich nicht zur Wehr. "Ich wünschte, ich würde keinen Bruder haben! Zumindest nicht DICH!" Das saß. Während Tom davonstapfte, kullerte hinter dem dichten Vorhang aus schwarzen Haaren eine Träne herunter. >>Wenn du doch nur Recht hättest...<< seufzte Bill in sich hinein. Er stand auf und beschloß, das kleine Haus zu verlassen und ein wenig Luft zu schnappen. Das würde ihm sicher gut tun und ihn im Kopf klar werden lassen.
Draussen lehnte er sich gegen die Mauer. Wenn er Raucher wäre, würde er sich jetzt bestimmt 3 Kippen auf einmal anstecken. Aber helfen würde es auch nichts. War es wirklich schon so oft vorgekommen? War es Tom tatsächlich aufgefallen? Nein. Aufgefallen war seinem Bruder, das er auf ihn eifersüchtig war. Nicht auf die Mädchen...
Bill starrte hinauf in die Sterne. Warum musste alles so verdammt kompliziert sein? Warum mussten sie Geschwister sein? Warum? Alles andere wäre ja egal gewesen...
"Bill?" Georg stakste recht unbeholfen aus dem Haus. "Na, schon einiges intus?" wurde er gefragt. Georg grinste breit und nickte. >>Vielleicht sollte ich mich auch hemmungslos betrinken...<< dachte Bill. "Fühlst du dich gut so?" Georg schüttelte den Kopf und augenblicklich wich das Grinsen aus seinem Gesicht, das nun leicht grünlich wirkte. Sekunden später übergab er sich. Bill verzog angewidert das Gesicht, musste dann aber schmunzeln. Nein, das war die ganze Sache nicht wert. Sich betrinken und hinterher alles wieder auskotzen musste nicht sein. Selbst einen Kater wollte er lieber nicht riskieren. Aufmunternd strich er seinem Bandkollegen über den Rücken...
Eine halbe Stunde später befand sich Georg wieder auf den Beinen und im Haus. Bill hingegen saß draussen, mit dem Rücken an die Wand gelehnt und starrte einfach nur vor sich hin. Von drinnen hörte er seinen Bruder nach sich rufen. Gut, das er hier draussen war. Das Herzklopfen hätte man sicherlich gehört. Als sich die Tür nach draussen öffnete, schlug sein Herz noch schneller. "Bill..." Tom stand neben seinem Bruder und sah zu ihm runter. "Hey... es tut mir leid..."Er ging in die Hocke und versuchte seinem Bruder wieder mal in die Augen zu sehen. Aber Bill wandte den Kopf ab. "Alles in Ordnung." Tom schüttelte den Kopf. "Bist du dir da sicher?" Bill nickte. >>Ich kann dir ja schlecht sagen, das ich etwas empfinde... Auch wenn du dich grad so süß entschuldigst...<< Tom lächelte sein süßestes Lächeln, was Bill's Pulsschlag erneut um mehr als 360 beschleunigte. >>Wenn du lachst, ist mir alles andere egal...<<
Eine Weile später war Tom wieder reingegangen. Es war ihm zu kalt geworden, trotzdem ihm Bill seine Jacke angeboten hatte. Irgendwann zog es auch seinen Bruder wieder in das Haus. 3 Uhr war weit vorbei und langsam wollte er nach Hause. Als er durch die Haustür getreten war, fragte er sich, mit wem er nach Hause gehen konnte. Tom lag knutschend mit einem Weib auf dem Sofa, Georg schien sich wieder mit der Toilette zu befassen denn er war nicht da, und Gustav brachte wieder einige Leute zum lachen. Doch ihm war jetzt weder nach lachen zumute, noch anderen Menschen beim knutschen zuzusehen. Geknickt und traurig trat er den Rückzug an...
Zuhause angekommen, öffnete er leise die Tür, versuchte so wenig Krach wie möglich zu machen und schmiss sich dann in voller Montur aufs Bett und liess den Tränen freien lauf. Niemand sollte wissen, das er sich in seinen Bruder verliebt hatte. Niemand durfte je davon erfahren. So weh es auch tat...
Als er am nächsten morgen aufwachte, fühlte er sich total gerädert. Er hatte keinen Kater, aber die Tränen hatten doch ihre Spuren hinterlassen. Er rieb sich den Dreck aus den Augen und stand auf. 11 Uhr war es. Hellwach fühlte er sich noch nicht, aber müde genug um zu schlafen war er nun auch nicht mehr. Er ging an seinen Kleiderschrank, schnappte sich ein TShirt und eine Boxershorts und ging ins Bad um Badewasser einlaufen zu lassen. Eine Badewanne würde er jetzt nötig haben.
Als er in der Wanne saß, fiel ihm siedend heiß ein, das er vergessen hatte, die Tür zum Bad abzuschliessen. Naja, was sollte schon groß passieren? Es würde kaum jemand auf die Idee kommen, ins Bad zu gehen, der nicht zu seiner Familie gehörte, denn das Gäste-WC befand sich unten. Und aus seiner Familie selbst würde es wohl auch keiner wagen, grad jetzt aufzutauchen. Sie hatten schliesslich alle gehört, das Wasser in die Wanne eingelassen worden war. Und Tom... der würde mit Sicherheit noch schlafen. Er tauchte unter, wusch sich die ganze Schminke vom Gesicht und seine Haare wurden ganz weich vom warmen Nass. Als er wieder auftauchte, stand plötzlich Tom im Raum. Lautes, pochendes Herzklopfen. Musste das sein? Warum jetzt?
"Was schaust mich so komisch an? Hast du zuviel getrunken gestern Nacht?" fragte Tom seinen Zwilling, der ihn grade anstarrte. "Nein, nein..." antwortete Bill hastig. "Was willst du hier?" fragte er, und begann hastig damit, den Schaum im Wasser über seinem besten Stück zu verteilen, damit man nichts sah. Tom sah seinen Bruder an, als ob der nicht mehr alle Tassen im Schrank hätte. "Ich muss mal. Ist doch normal. Ausserdem, seit wann hast du jetzt Komplexe?" sprachs und zeigte mit dem Finger in die Richtung wo Bill den Schaum hinschob. Bill lief knallrot an und schluckte. Scheiße, musste der denn alles bemerken? Und ausgerechnet jetzt machte sich das Teil von seinem Versteck aus auch noch bemerkbar. Das durfte einfach nicht wahr sein. "Mein Gott, ich dachte wir wären über die Phase hinweg wo uns irgendwas peinlich ist..." grinste Tom und lachte über seinen Bruder, dessen Kopf mittlerweile die Farbe einer überreifen Tomate angenommen hatte. Am liebsten wäre er jetzt wieder ganz untergetaucht. Aber... oh mein Gott. Warum setzte Tom sich jetzt auf den Badewannenrand? Und tauchte auch noch die Hände ins Badwasser? Das Klopfen von Bills Herzschlag wurde immer lauter. Irgendwann musste es ihn verraten. Doch Tom machte unbeirrt weiter, nahm das Shampoo, gab etwas davon in die Hände und fing an, seinem Bruder die Haare zu waschen, so wie er das früher gemacht hatte, wo sie klein waren. "Was ist los Brüderchen, mh? Fang schon an zu erzählen. Du weißt, lange kannstes eh nicht behalten..." lockte Tom seinen Bruder. Doch der wollte eisern bleiben. Einmal sollte es etwas geben, was Tom nicht erfahren würde. Unter keinen Umständen. NIE! "Bill? Träumst du?" Tom wedelte mit seiner Hand vor Bills Augen auf und ab. Erschrocken fuhr Bill hoch. "Nein, es ist.. alles ist okay. Mach dir keine Sorgen, okay?" Doch das konnte er nicht. Er sah seinen 10 Minuten jüngeren Bruder mit einem sorgenvollen Gesicht an. Was verbarg er nur? Worüber wollte er einfach nicht sprechen?
Das war so ungefähr der Zeitpunkt gewesen, wo die Gefühle langsam erwachten. Wo sie ihn trafen - und verwirrten. Er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Und genau das brachte alles ins Wanken...
