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Die Kronen des Kriegers

Die Vorgeschichte zu den Ereignissen in der Zeit der Echidna
von

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Flucht

Als sie und Malinche noch in der selben Stunde zum König geführt wurden, verfluchte Selina sich im Stillen für ihre Weichherzigkeit. Sie hätte die Stadt längst verlassen haben können, wenn sie nicht gezögert hätte, den jungen Nachtwächter auch noch zu töten, so wie die schwarzen Schatten. Statt dessen war sie jetzt eine Gefangene und konnte nur noch zusehen und abwarten, wie der König sich entscheiden würde.

Der Thronsaal war ein langgezogener Raum. Der Mittelgang war mit einem dicken Teppich ausgelegt, der vermutlich rot war, aber im flackernden Fackellicht war das nicht eindeutig zu erkennen. Zwei Schritte neben dem Teppich standen in größeren Abständen Säulen, die so dick waren wie Selinas Arm lang und halfen, das Dach zu tragen. Auch wenn das nur so hoch war wie drei Echidna, die jeweils auf den Schultern des unteren standen, war das Gewicht auf die Wände vermutlich ziemlich hoch.

Müde saß der König auf seinem Thron. Selina sah ihn zum ersten Mal von näherem und war erstaunt, wie tief die Falten in seinem Gesicht bereits waren. Im Sonnenlicht war Montezuma ihr nie so erschöpft, so müde, so kraftlos, so... alt vorgekommen. Seine prachtvoll verzierten Gewänder, die er normalerweise trug, hingen vermutlich über einem Stuhl in seinem Schlafzimmer. Im Moment trug er nur einen dunklen Morgenmantel.

Im Schatten, den die Fackeln, die den Thronsaal nur spärlich erleuchteten und von seiner Pracht fast nichts erhellten, hinter dem Thron ließen, konnte Selina schemenhaft eine Gestalt sehen, die Malinche, als sie auf die Gestalt zulaufen wollte, einen abwehrenden Wink gab. Vermutlich Prinz Hector, dachte sie. Vielleicht würde er sich ja für sie verwenden, immerhin war sie die Schwester seiner Verlobten.

Als sie kurz die Augen durch den Raum schweifen ließ, sah sie aber, dass neben dem König, dem Prinzen, ihr selbst und den zwei Wachen, die sie hergebracht hatten und nun einige Schritte hinter ihr standen, noch drei weitere Personen im Raum waren. An einer Säule zur Linken standen zwei Igel. Beide Igel trugen die übliche Igelkleidung - eine Hose und eine Jacke aus Leder, die entsprechend ihres Ranges als Gesandte mit an den Armen herabhängenden Lederstreifen und Zierfäden an den Nähten verziert waren. Einer von ihnen musste der Anführer der Gesandtschaft sein. Selina erkannte ihn unzweifelhaft vom Turnier, als er mitgeholfen hatte, die Kämpfer auszulosen. Sie konnte zwar einige erste Fältchen in seinem Gesicht sehen, aber er schien noch nicht wirklich alt zu sein. Trotzdem war er als Führer der Gesandten vermutlich sehr erfahren und klug. Im Moment sah er allerdings ziemlich unwillig und verstimmt aus.

Der andere war deutlich jünger als der Anführer der Gesandtschaft. Selina schätzte ihn auf allerhöchstens Anfang zwanzig, und trotz seiner Jugend wirkte er fast schon zu entspannt, wie er da mit verschränkten Armen an der Säule lehnte und wartete. Er war bestimmt nicht so erfahren wie sein Begleiter, was Verhandlungen anging, aber... da war irgendetwas an ihm, was Selina misstrauisch machte. Sie spürte irgendwie, dass dieser Igel mehr war, als er vorgab zu sein. Ihn umgab eine seltsame Aura... vielleicht hing das mit seinen dunklen Augen zusammen, die selbst im rötlichen Fackellicht so tiefblau schimmerten wie der Himmel zur Mittagszeit.

Und auf der anderen Seite des Raumes, rechts von ihr, stand Huascar neben einer Säule und blickte mit einer Mischung aus Besorgnis und Verwunderung zu ihr herüber. "Was soll sie getan haben?", fragte er in den Raum hinein.

Der König warf ihm einen strafenden Blick zu, bevor er antwortete. "Man hat mir gesagt, sie sei festgenommen worden, mit blutigen Waffen inmitten eines unglaublichen Blutbades in ihrem Haus."

"Ihr wollt sagen, dass Selina ihre Familie umgebracht haben soll?", fragte Huascar ungläubig und schüttelte den Kopf. "Das kann nicht wahr sein. Nicht Selina. Das würde sie niemals tun."

"Das hat mir der junge Nachtwächter berichtet, der sie hierher gebracht hat", erwiderte der König. "Und er sah mir nicht so aus, als würde er lügen."

Selina räusperte sich und blickte den König direkt an. "Der junge Nachtwächter konnte nur berichten, was er gesehen hat", sagte sie laut. "Es waren einige schwarze Gestalten, die mitten in der Nacht aufgetaucht sind. Einer von ihnen hat sich in das Zimmer von mir und Malinche geschlichen und wollte mich umbringen. Ich habe ihn getötet und bin in den Innenhof gegangen, der schon so aussah, wie es der Junge berichtet hat. Es waren noch neun weitere. Und mitten im Kampf sind sie plötzlich alle verschwunden."

Die Stille im Raum, die diesen Worten folgte, war fast greifbar. Endlich, nach einigen qualvoll langen Sekunden, kam Huascar zu ihr hinüber und blickte ihr direkt in die Augen. "Sie sind verschwunden?", fragte er leise und eindringlich. "Wie sind sie verschwunden?"

Selina wunderte sich kurz über die Frage. "Sie sind binnen weniger Sekunden verschwunden", sagte sie langsam. "Sie sind vor meinen Augen verblasst wie Nebel im Sonnenlicht."

Der alte Krieger nickte langsam und blickte dann zu den Igeln hinüber, während er an seinen alten Platz an der Säule zurückging. "Könnt Ihr uns erzählen, was man bei euch Igeln über Wesen erzählt, die man Shiki nennt?"

Der jüngere hob den Kopf und blickte Huascar mit seinen unheimlichen blauen Augen an. Selina hätte schwören können, dass er für einen Moment verwundert aussah, aber er hatte sich schnell wieder gefangen und sah wieder so gelassen aus wie zuvor. Der ältere hingegen lachte. "Warum fragt Ihr nach einer Kindergeschichte?", fragte er verächtlich. "Seid Ihr abergläubisch?"

Huascar blickte lächelnd zurück. "Sagen wir einfach, es ist eine Geschichte, an die ich mich nur noch schemenhaft erinnere, die aber, wie ich glaube, nicht ganz unwichtig ist."

Der Igel nickte verstehend. "Shiki sind Wesen, die ein Beschwörer erschafft", begann er zu erklären, langsam und deutlich. "Sie sind Wesen, die nur aus der geistigen Kraft des Beschwörers entstehen, genau nach seiner Vorstellung, sowohl an Gestalt als auch an Fähigkeiten." Er pausierte kurz und blickte den König an. "Was der alte Krieger vermutlich sagen will, ist, dass irgendein Beschwörer zehn Shiki mit Waffen gerufen und damit beauftragt hat, diese Familie umzubringen - wenn die Kraftreserven des Shiki aufgebraucht sind, verschwindet er nämlich einfach wieder. Aber", und an dieser Stelle grinste er verächtlich, "aber das ist Unsinn. Seit Hunderten von Jahren hat niemand mehr Shiki gerufen, geschweige denn eingesetzt."

"Dann erklärt mir doch bitte mal das, was Selina da gesagt hat", meinte der alte Krieger. "Ich glaube nicht, dass sie lügt."

"Dann erklärt mir doch bitte mal, warum irgendjemand sich die Mühe machen sollte, einige Shiki zu erschaffen, um diese Familie abzuschlachten", schaltete sich der jüngere ein. Seine Stimme war genauso ruhig wie er selbst - aber aus ihr waren keinerlei Gefühle zu hören. Sie war kalt und distanziert, fast herablassend und verächtlich. Schon ihr bloßer Klang ließ Selina einen Schauer über den Rücken laufen, ohne dass sie genau hätte erklären können, warum. Dieser Igel war ihr unheimlich.

Die Antwort auf seine Frage schwebte im Raum, und schließlich war es Hector, der sie aussprach. "Jemand, der die Friedensverhandlungen sabotieren will... Nur so jemand hätte Interesse daran, unsere Verhandlungsführerin aus dem Weg zu räumen."

"Und kennt ihr jemanden, der den Frieden nicht will und der ein Beschwörer ist?", fragte der ältere Igel. "Ich nicht. Und mein Begleiter auch nicht."

Montezuma schüttelte den Kopf. "Es gibt bei uns keine Beschwörer oder dergleichen", stellte er fest.

"Dann dürfte der Sachverhalt ja klar sein", meinte der jüngere Igel und richtete seine seltsamen Augen direkt auf Selina, die unter ihrem Blick kurz zusammenzuckte wie unter einem Peitschenhieb. "Sie lügt. Und damit ist klar, dass sie dieses Gemetzel angerichtet hat." Er wendete sich wieder dem König zu. "Ich weiß nicht, wie ihr eure Mörder bestraft, aber ich muss euch bitten, ein Zeichen zu setzen und das volle Strafmaß anzuwenden. Diese Tat richtete sich gegen die Friedensverhandlungen, und wenn ihr diese Verhandlungen unterstützen wollt, werdet ihr uns sicherlich unsere Bitte erfüllen."

Hector trat aus dem Schatten des Throns und blickte den Igel zornig an. "Wie wir mit unseren Mördern verfahren, ist unsere Sache", erwiderte er scharf. "Nur weil wir niemanden kennen, der Shiki gerufen haben könnte, heißt es nicht, dass es niemanden gibt. Und wir werden keine Unschuldigen auf dem Altar der Politik opfern."

Scheinbar gleichgültig zuckte der junge Igel die Schultern. "Nun, dann werden die Echidna, die den Krieg dem Frieden vorziehen, mit Sicherheit versuchen, das auszuführen, was sie" - er wies verächtlich mit einer Kopfbewegung auf Selina - "nicht vollendet hat. Und es sind eure Leute, die dadurch sterben. Und ob wir die Verhandlungen fortführen können, wenn ihr keine Unterhändler schicken könnt, weil sie alle vorher umgebracht werden, ist doch sehr fraglich."

Hector senkte den Blick. "Wir wissen es nicht", meinte er leise. "Wir wissen nicht, ob es einen Beschwörer gibt oder nicht."

"Das ist das Problem", meinte er seltsame Igel fast genauso leise. "Wenn es noch mehr Echidna gibt, die bereit sind, alles zu riskieren, sind die Verhandlungen fast schon gescheitert. Und das ist deutlich wahrscheinlicher, als dass es irgendwo im Geheimen einen Zauberer gibt, der die Verhandlungen sabotieren will. Und diesen Echidna müsst Ihr" - dabei sah er wieder zum König - "ein Zeichen geben, was mit denen passiert, die die Gespräche aktiv stören. Sonst werden eure Gesandten nicht lebend bei uns ankommen."

Montezuma knirschte mit den Zähnen. "Ihr habt Recht", meinte er leise durch zusammengebissene Zähne, "auch wenn ich wünschte, dem wäre nicht so." Er blickte Selina direkt in die Augen, und für einen Moment konnte sie Mitleid in seinen Augen erkennen, bevor er weitersprach und sein Gesicht hart wie Stein wurde, eine Maske, die er als König wohl immer griffbereit haben musste. "Die Strafe für Mord ist der Tod. Und weil du besonders rücksichtslos und mehrere Male binnen kurzer Zeit gemordet hast, wirst du nicht einfach so sterben. Morgen früh wirst du mit den Armen an zwei Pfähle gebunden werden, und man wird dir die Pulsadern durchstechen. Im Lauf des Tages wirst du langsam verbluten, und jeder wird dir dabei zusehen können." Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab und verließ den Saal durch eine Tür, die im Schatten hinter dem Thron verborgen lag, und die Igel folgten ihm.

Im selben Moment stand Hector neben Malinche und stützte sie, sonst wäre sie sicher zusammengebrochen. Bereits jetzt, Sekunden nach der Urteilsverkündung, liefen ihr die Tränen ungehemmt über das Gesicht, und sie schluchzte haltlos. Hector umarmte sie vorsichtig und sah zu Selina hinüber. "Verzeih mir", sagte er leise und mit erstickter Stimme.

Selina nickte langsam und fasste sich mit der Hand an die Stirn. Sie sollte sterben...? Für etwas, was sie nicht getan hatte? Noch dazu auf diese Weise, die grausamste und entehrendste, die ihr Volk kannte?

"Ich bin unschuldig", sagte sie laut und mit zitternder Stimme und blickte zu Huascar hinüber. Sie hatte Angst davor, auf diese Weise zu sterben, als Mörderin ihrer eigenen Familie und aller Angestellten geächtet zu sein... und diese Angst raubte ihr den Atem, und ihr wurde schlecht.

Ihr alter Ausbilder kam zu ihr herüber, legte ihr eine Hand auf die Schulter und blickte ihr in die Augen. "Ich weiß", erwiderte er leise und sah zum Prinzen hinüber, der einige Sekunden zurückstarrte und dann schließlich, kaum merklich, nickte.

Malinche löste sich aus seiner Umarmung und ging zu ihrer Schwester. "Das hast du nicht verdient", flüsterte sie leise, und immer noch weinte sie. "Ich habe gesehen, was mit dem Kerl passiert ist, der im Zimmer lag. Ich weiß, dass du die Wahrheit sagst."

Selina nickte langsam. "Pass auf dich auf", sagte sie leise und fuhr Malinche vorsichtig mit einer Hand übers Gesicht, sodass einige Tränen an ihrer Hand haften blieben. "Und bring diese Verhandlungen zu einem guten Ende", fügte sie tapfer lächelnd hinzu, auch wenn sie am liebsten ebenfalls geweint oder sich übergeben hätte. Ihr war noch nie so schlecht gewesen wie jetzt, wo sie wusste, was sie in einigen Stunden erwartete.

Malinche schüttelte den Kopf. "Das kann der König nicht ernst meinen", schluchzte sie. "Ich will dich nicht auch noch verlieren!"

Hector legte ihr tröstend den Arm auf die Schulter und blickte Selina direkt in die Augen, obwohl es ihm sichtlich schwer fiel. "Vergib mir", sagte er leise. "Aber selbst ich werde meinen Vater nicht dazu überreden können, dein Leben zu schonen. Er hat zu lange auf diese Verhandlungen hingearbeitet, als dass er sie einfach platzen lassen würde, indem er dich nicht zum Tode verurteilt." Jetzt senkte er den Blick. Offensichtlich konnte er Selina nicht länger in die Augen sehen. "Ich wünschte, ich könnte mehr tun", murmelte er leise. "Aber ich kann es nicht. Ich kann dein Leben nicht retten."

Selina schluckte schwer. Wenn selbst der Prinz das sagte... dann gab es wohl wirklich keine Hoffnung mehr für sie.

Einer der Wächter legte ihr die Hand auf die Schulter. "Leg deine Waffen ab", befahl er.

Wie von selbst ging Selinas Hand zum Knoten, der das Seil mit den Messerscheiden in Position hielt, und löste ihn. Behutsam nahm sie die Waffen vom Gürtel und gab sie ihrem alten Ausbilder. "Ihr habt für das hier mehr Verwendung als ich", sagte sie leise.

Langsam und widerstrebend nahm Huascar die Waffen zurück. "Ich hatte mir ein anderes Schicksal für dich erhofft", sagte er leise.

Selina nickte. "Ich mir auch", sagte sie noch leiser als er. Als sie sich umdrehen wollte, fiel ihr Blick auf ihre Schwester, die gar nicht mehr aufhörte zu weinen. Sie ging auf sie zu und umarmte sie ein letztes Mal. "Leb wohl", flüsterte sie leise, bevor sie sich wieder von ihr löste und sich vom Wächter mitziehen ließ. Ihre Schwester versuchte ihr zu folgen, aber Hector hielt sie - zwar sanft, aber unnachgiebig - zurück. Langsam, während der Wächter sie rückwärts zog, wurde der Abstand zwischen ihnen größer, bis die große Tür knallend zwischen ihnen zufiel und sie nichts mehr von ihrer Schwester sah oder hörte. Jetzt, als der Wächter sie zwar unsanft, aber nicht allzu grob herumdrehte, damit sie ihm besser folgen konnte, hörte sie nur noch das Tapsen der Schritte auf dem Steinboden, zu einer Treppe, die aus den mit prächtigem Marmor gefliesten und mit großen Glasfenstern ausgestatteten Räumen hinunter in enge Gänge aus grobem Stein mit Fackeln an den Wänden führte, entlang dieser Gänge, durch eine Tür in den Kerker und dort hinein in eine kleine fensterlose Zelle. Mit einem Knall fiel die Tür ins Schloss, ein leises Klacken war zu hören, als die Zellentür abgeschlossen wurde, dann Schritte, die sich entfernten. Schließlich herrschte Stille.

Jetzt, in der Dunkelheit, in der Einsamkeit, merkte Selina, dass sie weinte. Jetzt, in der Dunkelheit, liefen ihr die Tränen übers Gesicht. Jetzt, in der Einsamkeit, begann sie leise zu schluchzen, als sie sich in eine Ecke der Zelle setzte, die Knie an den Leib zog, den Kopf auf sie hinabsinken ließ und die Augen schloss.

Ihre Familie war tot, ohne dass sie wusste, wer sie hatte umbringen lassen... und man hielt sie für schuldig... Sie würde sterben... langsam verbluten... mit aufgeschlitzten Pulsadern, vor einer großen Menge, die ihr Beleidigungen, Schmähungen und Schlimmeres entgegenwarf... die jede Minute ihres Leidens mit ansehen konnte... die jeden einzelnen Blutstropfen, der aus ihr herausfloss, betrachten konnte... die sie vielleicht schon stundenlang betrachtete und den Moment herbeisehnte, in dem ihr Körper erschlaffen würde... in dem sie in den Knien einknicken und nur noch von den Fesseln gehalten würde... in dem sie sterben würde...
 

Urplötzlich hörte sie ein Geräusch und hob den Kopf. Sie musste geschlafen haben... noch stand sie nicht dort, wo sie sterben würde. Noch waren ihre Pulsadern unbeschädigt... noch lebte sie.

Noch während sie erleichtert aufatmete, hörte sie dasselbe Geräusch noch einmal. Es klang, als würde jemand einen kräftigen Schlag auf den Kopf erhalten und anschließend bewusstlos zusammensinken. Fast im gleichen Augenblick öffnete sich die Kerkertür leise knarrend... ein Geräusch, das ihr beim Hereinkommen nicht aufgefallen war. Das Knarren war seltsam langgezogen, so als öffne jemand die Tür ganz langsam. Der Schein einer Fackel schien durch die Tür in den dunklen Kerker, der keine Fenster und auch keine Fackeln an den Wänden hatte, und eine dunkle Gestalt blickte in den Raum hinein, ließ den Blick von der Tür aus durch den ganzen Raum, durch jede einzelne Zelle schweifen. Alle waren leer, wie Selina jetzt sah. Alle bis auf ihre.

Die dunkle Gestalt atmete erleichtert auf, betrat den Kerker vollends, schloss die Tür hinter sich und kam zu ihrer Zelle. Sie trug einen langen, weiten schwarzen Mantel mit einer Kapuze, die sie tief ins Gesicht gezogen hatte. In den engen Gängen musste sie, falls sie die Fackeln löschte, nahezu unsichtbar sein.

Die Gestalt blieb vor ihrer Zelle stehen, schlug die Kapuze zurück - und enthüllte ein bekanntes Gesicht eines alten Kriegers. Selina stand ganz langsam auf und ging zum Gitter. "Träume ich?", fragte sie leise. "Oder seid Ihr es wirklich?"

Huascar nickte. "Ich bin es wirklich", sagte er leise, während er einen dicken Schlüsselbund aus der Tasche zog und hastig die Schlüssel an ihrem Zellenschloss durchprobierte. "Den habe ich einem der Wachen abgenommen. Man glaubt gar nicht, was ein kräftiger Schlag mit einem dicken Holzstock auf den Kopf so für eine Wirkung haben kann."

"Wie spät ist es?", fragte Selina. Hier unten hatte sie jedes Zeitgefühl verloren.

"Die letzte Stunde vor Sonnenaufgang hat soeben angefangen", sagte der alte Echidna und fluchte leise, als erneut ein Schlüssel nicht passte. "Bei Sonnenaufgang soll das Urteil vollstreckt werden."

"Warum habt Ihr dann so lange gewartet?", fragte Selina mit zitternder Stimme. Wenn Huascar hier war, gab es für sie vielleicht doch noch Hoffnung. "Was macht Ihr überhaupt hier?"

"Dir das Leben retten", gab der Alte unwirsch zurück und probierte weiter die Schlüssel durch. "Ich glaube dir, auch wenn die Igel es nicht tun. Ich habe selbst in jungen Jahren gesehen, wie Shiki beschworen wurden. Und du würdest niemals das tun, was deiner Familie angetan worden ist." Endlich knackte das Schloss, und die Tür öffnete sich. Der alte Echidna griff unter seinen weiten Umhang und förderte die Waffen zutage, die er Selina geschenkt hatte. "Nimm sie schon", meinte er. "Du hast sie nötiger als ich, wenn du dich da draußen alleine durchschlagen willst."

Selina griff zögernd nach den Waffen, aber dann band sie sie sich wieder um die Hüfte und blickte verwirrt auf ihren alten Meister. "Ich muss die Stadt verlassen", meinte sie unsicher. "Aber was dann?"

"Du suchst nach dem Mörder", meinte Huascar und zog sich die Kapuze bis weit übers Gesicht. "Der Beschwörer, den ich kannte, war ein Fuchs, und er hat mir berichtet, dass seine Art weit im Norden lebt. Das ist vielleicht eine Spur, der du folgen kannst."

"Dann muss ich über die Prärie", wandte Selina ein. "Da leben doch die Igel, oder?"

"Wenn sich jemand an ihnen vorbeischleichen kann, dann bist du es", meinte Huascar und lächelte, während er zur Tür ging. "Aber jetzt müssen wir dich erst einmal aus der Stadt hinausbringen."

"Und... Ihr?", fragte Selina unsicher. "Was, wenn herauskommt, dass Ihr mir geholfen habt, zu entkommen?"

Der alte Echidna zuckte nur mit den Schultern. "Dann kommt es halt heraus. Ob ich sterbe, weil ich so bestraft werde wie du, oder ob ich im nächsten Winter an irgendeiner Krankheit eingehe, macht mit meinen sechzig Jahren auch nichts mehr aus. Wichtig ist nur, dass du entkommst. Und keine Diskussionen", ergänzte er eine Spur lauter als bisher, als Selina widersprechen wollte. "Ich will nicht, dass du so jung sterben musst. Vor allem nicht wegen etwas, das du nicht getan hast. Du hast dein ganzes Leben noch vor dir. Meins liegt hinter mir - und jetzt will ich es wenigstens noch dafür verwenden, um dir dein Leben zu retten."

Selina nickte widerstrebend, auch wenn ihr wirklich unwohl war bei dem Gedanken, dass Huascar, ihr Ausbilder... nein, ihr Freund wegen ihr sterben würde.

Der alte Krieger öffnete die Tür und blickte in den Gang hinein. Und wirklich stellte Selina fest, dass alle Fackeln an den Wänden nicht mehr brannten. Ein guter Trick, den Huascar da angewendet hatte, dachte sie grinsend - ein pechschwarzer Mantel im Dunkeln, und er konnte sich den Wachen nähern, ohne dass sie ihn bemerkten. Die letzte Fackel hatte er dann anscheinend aus der Fassung genommen und nutzte sie jetzt, um ihnen den Weg zu erhellen.

"Die Wachen schlafen noch", meinte Huascar befriedigt und griff nach dem Stock, den er neben der Tür hatte stehen lassen. Es war ein dicker Stab aus dem gleichen Holz wie ihre Übungswaffen und war halb so groß wie Huascar - gerade kurz genug, um ihn in den engen Gängen wirkungsvoll einsetzen zu können. "Das ist der Grund, warum ich so spät dran bin", meinte er leise. "Wenn sie müde sind, lassen sie sich leichter überwältigen und bleiben länger bewusstlos." Damit huschte der Alte vorwärts und Selina folgte ihm, immer einige Schritte auf Abstand, um ihm nicht auf den Umhang zu treten. Die Luft in den Gängen war stickig, und jeder ihrer Schritte hallte unheimlich von den nahen Wänden wider. Zum Glück ging es nur eine kurze Strecke geradeaus, bis sie wieder an der Treppe standen. Der Kerker war nicht groß. Im Grunde genommen war er ein umgebauter Weinkeller - und daher lag er nicht allzu tief unter dem Palast, ein Umstand, der ihre Flucht begünstigte. In der Regel, dachte Selina bitter, brauchte man auch keinen Kerker. Schließlich diente er nur zur Zwischenlagerung von Verbrechern über Nacht, bevor das Urteil - von Handabschlagen für Diebstahl bis zum Tod wegen Mord - am Morgen vollstreckt wurde.

Am Fuß der Treppe blieb sie stehen, während Huascar hoch schlich, die Tür in die Eingangshalle öffnete, hineinsah und sie schnell hoch winkte. Die Halle war leer - so kurz vor Sonnenaufgang nichts ungewöhnliches. Die Diener standen üblicherweise erst bei Sonnenaufgang auf, also war das Risiko, jemanden zu treffen, sehr gering. Und die große Halle mit dem kleinen Springbrunnen in der Mitte und den vielen Türen, die zu den verschiedensten Räumen und Trakten des Palastes führten, bildete da keine Ausnahme.

Eine kleine Tür auf der anderen Seite der Halle stand offen. Ihr Führer warf einen letzten, prüfenden Blick durch den Raum, bevor er die Tür, durch die sie gekommen waren, ganz öffnete, Selina durchwank, die Tür hinter ihr wieder schloss und durch den Raum eilte, zur offenen Tür hin. Auch dort betrat Selina den Raum zuerst, bevor Huascar ihr folgte und die Tür schloss, um sie vor Blicken von außen zu schützen.
 

Der Raum war eine kleine Kammer mit einem kleinen Fenster nach vorne, neben dem Haupttor in den Palast. Vermutlich war er beim Bau des Palastes als Wachstube angelegt worden, um gefahrlos das Gelände vor dem Palast im Blick halten zu können, aber im Moment diente er vermutlich nur als ein Raum, in dem die Wächter für ihre Patrouillen durch die Stadt tagsüber und in der Nacht ihre Uniformen anzogen.

"Was wollen wir denn hier?", fragte Selina leise.

"Tarnung", hörte sie eine bekannte Stimme aus der Ecke zur Linken sagen. Sie drehte sich dorthin und erkannte im flackernden Licht von Huascars Fackel, dass sie sich nicht geirrt hatte.

"Was macht Ihr denn hier, Prinz?", fragte sie verwirrt.

"Helfen, dein Leben zu retten, wenn ich den König schon nicht überreden kann, es zu schonen", erwiderte er nicht unfreundlich und griff hinter sich. Das Päckchen, was er dabei in die Hand nahm, warf er Selina zu. "Zieh das an. Es ist die Uniform eines Wächters. Du bist meine persönliche Eskorte, wenn ich die Igel verabschieden gehe. Wir werden allerdings einen Umweg machen, am Plateau des Sonnenuntergangs vorbei. Dort musst du die Felswand hinunter klettern. Das ist der einzige Weg, um dich schnell genug aus der Stadt herauszubringen. Bevor deine Flucht bemerkt wird, meine ich."

Selina nickte knapp und öffnete die Schlaufe, die das Päckchen aus Kleidungsstücken zusammenhielt. Sie sollte also die Felswand an ihrem Lieblingsplatz hinunterklettern... das war gefährlich, aber sie hatte nichts zu verlieren, und es war wirklich der einzige Weg. "Was werdet Ihr tun?", fragte sie Huascar, während sie sich das blutrote Wams der Wächter überzog. Es reichte ihr bis an die Knie und verdeckte sowohl ihre Waffen an der Hüfte als auch ihren knielangen Rock. Zusammen mit dem Ledergürtel war sie gegenüber ihrem sonstigen Aussehen kaum wiederzuerkennen.

"Ich werde dich begleiten", meinte Huascar. "Ich bin über Nacht im Palast geblieben und vom Prinz dazu eingeladen worden, mit ihm zusammen den Sonnenaufgang zu betrachten, bevor die Igel verabschiedet werden, wenn jemand es wagen sollte, die Begleiter des Prinzen näher auszufragen."

Selina musste grinsen, während sie den Gürtel festzog. "Wenn wir überhaupt jemanden treffen", meinte sie. "Zum Glück ist die Sonne noch nicht aufgegangen."

"Deswegen musst du ja so schnell verschwinden", mahnte Hector. "Wenn die Wachablösung kurz nach Sonnenaufgang abläuft, wird es nicht lange unentdeckt bleiben, dass du geflohen bist. Und bis dahin solltest du schon aus der Stadt verschwunden sein. Sonst wird es eng für dich." Damit verließ er den Raum, mit Huascar auf der einen und Selina auf der anderen Seite, führte sie durch das offene Tor des Palastes hin zum Tor im Zaun, das ein Posten, der Huascar auch die Fackel abnahm, ihm auf einen Wink hin öffnete, und wandte sich nach rechts, über den großen Platz in Richtung Westen. Der Platz war menschenleer, ebenso auch die Straße, die vom Palast aus direkt nach Westen auf einen weiteren, erheblich kleineren Platz führte. Die Häuser hier waren wesentlich kleiner, höchstens so groß wie der Innenhof eines Hauses im Viertel der reicheren Echidna, und hatten ein einfaches Dach aus roten Dachziegeln. Sie waren aus den gleichen Steinen gebaut wie das Haus, in dem Selina aufgewachsen war, und standen zwar dicht an dicht, boten aber wahrscheinlich genug Platz für eine Familie.

Aus einer Straße, die von Süden auf den kleinen Platz führte, kam eine Figur in der Uniform eines Wächters, die eine kleine Laterne mit sich trug und sehr langsam ging. Offensichtlich ein Nachtwächter, der darauf wartete, dass er sich schlafen legen konnte, dachte Selina, als sie ihn sich näher ansah - und den jungen Echidna erkannte, der sie festgenommen hatte. Schnell wandte sie den Blick ab und ließ ihn über den Platz schweifen, aber abgesehen von ihnen und dem jungen Nachtwächter war niemand auf dem Platz.

Glücklicherweise beachtete er sie nicht, als er auf den Prinzen zuging und sich knapp verbeugte. "Was macht Ihr so früh hier, Prinz Hector?", fragte er, und die Müdigkeit in seiner Stimme war unüberhörbar, auch wenn er klar gegen sie ankämpfte.

"Ich will mir den Sonnenaufgang ansehen", erwiderte der Prinz. "Wie lange bist du schon unterwegs?"

"Seit Einbruch der Dunkelheit", antwortete der junge Echidna und gähnte. "Verzeihung", murmelte er. "Ich weiß, dass ich schon längst hätte abgelöst werden müssen, aber nach den Ereignissen mit diesem Mädchen" - er blickte Selina nicht an, sondern starrte nur auf den Boden zwischen ihm und dem Prinzen - "hätte ich einfach nicht schlafen können. Was wird mit ihr geschehen?"

"Du meinst das Mädchen, das ihre ganze Familie umgebracht hat, richtig?", fragte der Prinz und seufzte. "Sie wird sterben", sagte er schließlich. "Bei Sonnenaufgang werden die Igel verabschiedet. Anschließend wird sie sterben."

Der junge Wächter nickte langsam. "Es ist seltsam", sagte er leise. "Die Beweise sind eindeutig... und trotzdem glaube ich nicht, dass sie es wirklich getan hat." Er hob den Kopf und blickte Hector in die Augen. "Wenn sie es wirklich getan hat, warum hat sie mich dann nicht auch noch umgebracht? Es wäre so leicht für sie gewesen, aber sie hat es nicht getan - und irgendetwas sagt mir, dass sie die Tat, für die sie sterben wird, nicht begangen hat. Auch wenn das natürlich Unsinn ist", fügte er müde lächelnd hinzu. "Aber gibt es wirklich keinen Weg, sie zu retten?"

Hector schüttelte den Kopf und sah wirklich überzeugend traurig aus, als er weitersprach. "Ich fürchte nicht. Nicht bei dieser Beweislage." Er seufzte. "Mach dir nicht zu viele Gedanken um sie", meinte er. "Du kannst sie sowieso nicht retten. Jetzt solltest du schlafen gehen, ..." Er musste lächeln. "Ich kenne nicht einmal deinen Namen", sagte er leise.

"Yucatan", sagte der junge Echidna und nickte müde. "Wahrscheinlich sollte ich mich wirklich schlafen legen", murmelte er. "Sobald die Sonne aufgeht, werde ich das auch tun." Damit verbeugte er sich noch einmal und ging an ihnen vorbei, in einer weitere Straße und verschwand aus ihrem Blickfeld.

Hector setzte sich wieder in Bewegung, und erst, als sie den Platz überquert hatten und bereits auf der Straße waren, die zu den Treppen führte, sprach er wieder. "Er hat dich nicht erkannt. Glück für uns."

"Er scheint ein ziemlich vernünftiger junger Mann zu sein", bemerkte Huascar. "Ihr solltet ein Auge auf ihn haben, Prinz. Es mag sein, dass er sich als ein tüchtiger Wächter erweist... vielleicht wäre er ein Fall für eure persönliche Garde."

Hector zuckte mit den Schultern. "Vielleicht", meinte er. "Er ist noch jung. Vielleicht in zwei oder drei Jahren."

Huascar grinste. "Ihr redet wie ich", meinte er sichtlich amüsiert. "Dabei seid ihr doch selbst erst fünfzehn."

"Als Prinz fühlt man sich unter der Last der Verantwortung viel älter, als man ist", meinte Hector entschuldigend und blieb am Fuß der Treppe stehen, die sie nach oben aufs Plateau führen würde.

Selinas Blick wanderte die Treppenstufen hinauf... jene Stufen, die sie schon unzählige Male erklommen hatte, um die Sonne untergehen zu sehen, und die sie jetzt vielleicht retten konnten.

Hector stieg die abgetretenen Stufen gemessenen Schrittes hinauf, Huascar und Selina dicht bei sich. Und als sie oben ankamen, waren sie niemandem mehr begegnet, die Sterne funkelten am Himmel, und der Himmel im Osten verfärbte sich bereits dunkelviolett.

Hector atmete erleichtert auf. "Von hier an liegt es in deiner Hand", sagte er leise zu Selina. "Zieh die Wächterkleidung aus. Huascar wird sie anlegen und mich nachher zurück in den Palast begleiten, damit nicht auffällt, dass meine Eskorte plötzlich verschwunden ist."

"Guter Plan", ertönte plötzlich eine Stimme vom kleinen Schrein zu ihnen herüber.

Selina fuhr zusammen, als hätte sie einen Peitschenhieb mitten ins Gesicht erhalten. Sie kannte diese Stimme, und sie fürchtete sie, auch wenn sie sie erst bei einer einzigen Gelegenheit gehört hatte. Und tatsächlich erschien aus dem Schatten unter dem Schreindach der junge Igel, der sich so vehement für ihren Tod eingesetzt hatte. Seine tiefblauen Augen leuchteten in der Dunkelheit, und das kalte, überlegene Lächeln auf seinem Gesicht war nicht zu übersehen.

Instinktiv wich Selina einen Schritt zurück und warf das rote Wams und den Gürtel weg, aber bevor sie etwas sagen konnte, trat Hector vor und blickte dem mysteriösen Igel direkt in die Augen, die Selina, selbst wenn sie nur ihren Blick auf sich spürte, einen Schauer über den Rücken jagten. Hector hingegen schienen sie überhaupt nichts auszumachen.

"Was macht Ihr denn hier?", fragte er leise und scheinbar höflich, aber Selina spürte, dass da noch etwas anderes war... nicht Hass, aber unverhohlene Feindschaft.

"Ich will mir den Sonnenaufgang ansehen", gab der Igel zurück und grinste. Offenbar hatte er nicht zufällig Hectors Worte gebraucht. "Aus dieser Perspektive muss es ein ganz anderer Blick sein als über die unendlichen Weiten der Ebenen, auf denen wir leben."

"Ihr seid jetzt zwei Jahre hier und habt noch nie von hier aus den Sonnenaufgang betrachtet", meinte Hector mit einem kalten Lächeln. "Ich hätte eine bessere Lüge erwartet."

"Wenigstens bin ich nicht hier, um eine verurteilte Mörderin vor dem Griff der Gerechtigkeit zu schützen und sie aus der Stadt zu schmuggeln", erwiderte der Igel, und seine Züge wurden hart. "Wollt Ihr wirklich die Verhandlungen für das Leben eines Mädchens aufs Spiel setzen?"

Jeder seiner Sätze jagte Selina einen eiskalten Schauer über den ganzen Körper. Woher wusste dieser Igel das alles?

Hector schüttelte den Kopf. "Wenn Ihr uns nicht hier erwartet hättet, dann hätte es niemand bemerkt", knurrte er leise. "Wollt Ihr denn wirklich Eurem Blutdurst ein unschuldiges Leben opfern?"

"Unschuldig?" Verächtlich schnaubte der Igel. "Das haben wir doch zur Genüge besprochen, Prinz. Ihr glaubt doch nicht etwa diese Shiki-Geschichte, oder? Und Ihr wollt doch nicht wirklich den radikalen Echidna freie Hand lassen, oder?"

Hector lächelte überlegen. "Wer sagt denn, dass der Drahtzieher ein Echidna ist?", fragte er und blickte den Igel scharf an. Aber bevor er weitersprechen konnte, hob der Igel geradezu unheimlich schnell die flache Hand und richtete sie auf ihn. Ein dumpfes Grollen war zu hören, und binnen eines Wimpernschlages baute sich eine unglaubliche Kraft auf, die genau auf Hector zuraste. Der hob blitzschnell die Arme und verschränkte sie vor seinem Gesicht. Und im nächsten Moment prallte die Kraftwelle auf ihn und presste ihn um mehrere Schritte nach hinten, genau zwischen Selina und Huascar hindurch.

Selina spürte die Kraft wie einen kräftigen Windstoß, der ganz dicht an ihr vorbeizischte und blickte verwundert und ängstlich zu dem Igel hinüber. Was war dieser Igel eigentlich?

Ihre Verwirrung nahm noch zu, als sie sah, dass auch dieser Igel für einen Moment ernsthaft überrascht war. Das hielt aber nicht lange an. Statt dessen drehte der den Arm geringfügig weiter - und jetzt zeigte die Hand genau auf Selina. Ein kaltes, siegesgewisses Grinsen zeigte sich auf seinem Gesicht, seine Augen leuchteten einmal kurz auf, und erneut ertönte das dumpfe Grollen.

Selina spürte, wie sie zur Seite gestoßen wurde, ließ sich fallen und rollte sich weiter weg. Selbst auf diese Distanz - etwa ein Schritt entfernt von dem Ort, an dem sie eben noch gestanden hatte - spürte sie noch die Druckwelle an sich vorüberziehen.

Und genau dort, wo sie eben noch gestanden hatte, hatte sich Huascar befunden, wie Selina sofort erkannte. Er war von seinem Standort zu ihr herübergerannt und hatte sie weggestoßen - und musste dabei die ganze Wucht des Angriffs abbekommen haben.

Selinas Blick wanderte entlang der geraden Linie von ihrem Feind über den Punkt, an dem sich Huascar befunden haben musste - und schnell sah sie, wo er gelandet war. Der Angriff hatte ihn bis an die Felswand zurückgestoßen, die das Plateau überragte. Am Rande des Plateaus, gegenüber dem kleinen Schrein, ragte der Berggipfel noch etwa drei bis vier Echidnagrößen weit in den Himmel hinauf. Huascars Körper, besser gesagt das, was die Wucht des Aufpralls überstanden hatte, klebte etwa auf Kopfhöhe an der Wand. Ein großer Blutfleck war zu sehen, in dem noch der Rumpf, der Kopf und Teile der Arme und Beine an der Wand hingen. Der Rest hatte sich beim Aufprall auf dem Boden vor ihm verteilt.

Und dieser Angriff hatte ihr gegolten.

Selinas Blick fuhr zurück zum Igel, der soeben wieder seine Augen aufleuchten ließ. Erneut erklang das dumpfe Grollen, erneut raste eine Kraftwelle auf sie zu, aber diesmal konnte sie nicht ausweichen. Sie schloss die Augen, aber nichts passierte mit ihr. Statt dessen hörte sie ein unheimliches, tiefes Hallen. Sie öffnete die Augen wieder und sah über die Entfernung, die sie von ihrem Gegner trennte, dass er wütend an ihr vorbeisah, und als sie seinem Blick folgte, sah sie, dass er Hector anblickte.

Sie wäre unter diesem Blick vermutlich schon längst zusammengebrochen, so... unheimlich war der Blick des Igels. Seine Augen leuchteten jetzt fast so stark wie der Vollmond und beleuchteten sein ganzes Gesicht, und in ihnen brannte ein zorniges, kaltes Feuer. Sie fröstelte schon, wenn sie ihm jetzt, wo er sie ignorierte, in die Augen sah.

Aber Hector hielt dem Blick stand, als sei er gar nichts. Er erwiderte den Blick, und Selina meinte, in seinem Blick so etwas wie Zufriedenheit sehen zu können. "Jetzt weiß ich, wer du bist und was du willst", sagte er leise.

Das war das letzte, was sie bewusst von den beiden wahrnahm. Im nächsten Moment flog sie, wie von einer gigantischen Faust getroffen, nach hinten, über die Felswand hinweg, befand sich für kurze Zeit im freien Fall, während sie auf die Baumgruppe am Fuß der Felswand zuraste, und Zentimeter über den Baumwipfeln bremste sich ihr Fall plötzlich von ganz allein. Irgendeine seltsame Kraft ließ sie sanft durch die Blätter und Äste gleiten, bis sie unter dem Blätterdach nicht mehr zu sehen war. Dann ließ sie sie fallen, aber aus fünf Metern Höhe war es für Selina kein Problem, sich abzurollen und so den Fall ohne Schaden zu überstehen.

Sie rappelte sich sofort wieder auf und lief los, in Richtung Westen. Sie wollte nur weg von hier. Weg von der Stadt der Echidna, in die Wildnis, dem einzigen Ort, an dem sie nun noch sicher sein würde. Weg von diesem kranken Igel. Von diesem Monster.

Ein Tränenschleier legte sich über ihre Augen, aber sie fuhr nur mit einer Hand über die Augen und rannte weiter, immer im Schutz des Blätterdachs. Er hatte Huascar getötet, auf eine Weise, die sie noch nie gesehen hatte... und sie hatte auf die gleiche Weise sterben sollen.

Sie merkte, dass ihr bei dem Gedanken übel wurde. Fast so übel wie in der Nacht, als sie gedacht hatte, dass sie sterben würde, auf die unerträglichste Art und Weise... nein, sogar noch mehr. Dieser Igel mit seinen Kräften, seiner Stimme, seinen Augen machte ihr mehr Angst als alles, was sie jemals gesehen oder sich vorgestellt hatte. Sogar mehr als die Aussicht, so zu sterben, wie sie nach dem Urteil des Königs hatte sterben sollen.

Als sie an einem großen Baum vorbeikam, blieb sie stehen und setzte sich an seinen Stamm. Sie musste ihre Gedanken ordnen, dachte sie... aber immer noch wurde sie das grässliche Bild von Huascar nicht los... von dem, was dieser Igel mit ihm gemacht hatte, und sie kämpfte mit aller Macht die aufsteigende Übelkeit nieder. Die Tränen konnte sie allerdings nicht zurückhalten. Tränen der Trauer um Huascar, um ihre Träume, die sie nun unwiderruflich vergessen konnte, um ihr Leben, das sie von nun an als ausgestoßene, als Geächtete im Schutz der Wildnis verbringen musste... und Tränen der Angst vor diesem Igel, vor seiner leeren Stimme, vor seinen unheimlichen Augen. Und Tränen der Angst um ihre Schwester, die die nächsten Jahre in unmittelbarer Gesellschaft dieses Monsters verbringen musste. Und sie konnte ihr nicht einmal helfen. Sie konnte sich nicht in ihrer Nähe blicken lassen, weil entweder die Echidna um Malinche herum oder die Igel sie sofort umbringen würden.

Sie war von nun an ganz auf sich allein gestellt.

Sie kämpfte sich wieder auf die Beine und schleppte sich weiter. Jeder Schritt brachte sie weg von der Stadt, wo sie der Tod erwartete, weg von dem Monster in Igelsgestalt, hin zum Schutz, den ein Leben in der Wildnis bot, hin zum täglichen Überlebenskampf, hin zur Einsamkeit.

Sie schluckte hart und fuhr sich ein letztes Mal über die Augen. Als sie die Hand sinken ließ, spürte sie die Waffen, die sie immer noch am Gürtel trug, und ein grimmiges Lächeln ging über ihr Gesicht. Sie hatte eine Spur. Vielleicht konnte Huascars Hinweis sie wirklich auf die Spur des wahren Mörders bringen.

Aber jetzt, dachte sie, musste sie erst einmal Gras über die Sache wachsen lassen. Jetzt musste sie erst einmal für einige Zeit untertauchen. Wenn der Frieden unter Dach und Fach war, konnte sie es vielleicht wagen, durch das Gebiet der Igel zu reisen und die Füchse aufzusuchen.

Und wie würde sie am besten herausfinden, wann es Frieden gab? Indem sie Reisende belauschte, die durch diese Wildnis zogen, auf dem Weg zur Hauptstadt oder zu den kleinen Ansiedlungen in den unwegsamen Hügeln.

Dann war auch klar, wo sie sich in nächster Zeit aufhalten würde.

Sie drehte sich um und blickte zur Spitze der Felswand, durch eine Lücke im Blätterdach. Der Himmel über der Felswand war bereits sehr hell. Die Sonne würde bald aufgehen, und dann würde auch die Suche nach ihr beginnen.

Nun, dachte sie grimmig entschlossen, dann würde sie sich am besten noch einen ordentlichen Vorsprung verschaffen. Sie kannte die Gegend um Echidnapolis recht gut und war sich sicher, mit einem vernünftigen Vorsprung ihren Verfolgern auf jeden Fall entkommen zu können. Sie musste sich nur in der Wildnis halten, abseits der Straßen und Wege, dann konnten ihre Verfolger sie für Monate suchen und doch keine Spur von ihr finden.
 

"Du wirst sie nicht entdecken", sagte Hector leise und wandte sich ab. "Sie ist zu klug, um sich offen sehen zu lassen. Und selbst wenn sie es täte - du könntest sie doch nicht erreichen."

"Ich könnte sie sehr wohl von hier aus töten", gab der Igel zurück, wandte sich vom Abgrund ab und ging zur Treppe hinüber.

"Aber nicht, ohne diesen Körper dabei zu zerstören", erwiderte Hector ruhig. "Und diesen Preis willst du nicht zahlen. Das weißt du so gut wie ich. Lass uns lieber zusehen, dass wir noch rechtzeitig zu eurer Verabschiedung kommen."

Der Igel nickte knapp und machte sich auf den Weg die Stufen hinunter. Hector blieb kurz oben stehen und blickte über die Kante des Plateaus hinweg zum Horizont. "Wo bist du da nur hineingeraten, Selina", murmelte er leise, und ein Lächeln ging über sein Gesicht. Sie würde einfach das Beste aus dieser Situation machen müssen. So wie er.



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von: abgemeldet
2006-06-11T01:09:15+00:00 11.06.2006 03:09
also, was ich ja sehr bewundere sind deine vielen detailierten beschreibungen! manchmal find ich sie allerdings auch ein bisschen zuviel, da wären andeutungen "literarischer". was mich ein bisschen gestört hat (na, das ist schon zuviel gesagt), war, dass du oft worte wiederholst, bzw eher namen. zb der igel machte das... in den nächsten sätzen wird der igel wieder erwähnt. da wäre ein simples ER oder eine umschreibung etc. toll. wir besonders gefallen hat, ist die viele action!
Von:  Kunoichi
2006-05-20T13:12:08+00:00 20.05.2006 15:12
Wieder mal spannend geschrieben, aber trotzdem viiiiel zu lang. @_@ Huascala tat mir leid... und was wird nur aus Selina? Ob sie die wahren Mörder findet? Fragen über Fragen... In schreiben hast auf jedenfall Talent! Mach weiter so! ;D
Von:  Geist
2006-02-15T17:25:16+00:00 15.02.2006 18:25
Hmmmm...irgendwie schade das Huascala sterben musste, aber es sind doch imemr die Guten die zuerst verrecken..........
(das heißt du stirbst garantiert vor mir X3)

Nun spaß beiseite.
Wie immer sehr gut formuliert und geschrieben. Deine Art zu schreiben scheint mir irgendwie bis ins kleinste Detail durchdacht zu sein.
Es ist recht fantasievoll geschrieben und richtig anspruchsvoll. Vor allem die 'Brutalen' Szenen scheinst du mit Leib und Seele zu verfassen.
(Eigentlich das was man sich von einem Guten Schrifsteller erwarten könnte)

Ich weiß nicht, irgendwie fesselt mich die Geschichte schon seit dem Prolog in dem das 'Kristallwesen' alias Igel Tristan von Susake auftaucht.
Jaja ich kenne Tristan gut....aber mehr von den Bildern von Black Star.

Auf jedenfall freue ich mich schon das es weiter geht.
(Ich hoffe du beschreibst Selinas Gefpühle zu allem was bis jetzt passiert ist genau so gut wie in unserem RPG Sonic X Revolution, denn da kommen wirklich ihre Gefühle voll rüber, wäre ja schade wenn es hier nicht so ist gell!?)

Nun mehr habe ich im Moment nicht mehr zu sagen.

~Sharie~
Von:  Yuufa
2006-01-14T12:28:00+00:00 14.01.2006 13:28
*wiedermal kraisch*
Man, ist das hammer ;___; Argh, ich mag deine FFs. chyuu .____.~ Fragen über Fragen und noch keine Antowrt in Sicht >< Also ich finde, wie du das alles so herüber bringst, ist der hamma >////< Ich wüsste gerne, WAS dieser Igel da wirklich ist! >.< Und Huascala ;___; Muh, der war mir soooo sympatisch ><" Und was wird aus Malinche? ;___; Ich will nicht, dass sie mit diesem Psychopathen rumreist, baka >< Aber schreib bitte schnell weida *o*
Von:  Fenrion
2006-01-13T15:06:16+00:00 13.01.2006 16:06
Whheeee...*mit den Armen wedel*
.....Diese FF is voll cool x33...Ich wünschte ich könnte so schreiben wie du! Alter Falter Respekt! xD...
Die Kapitel werden immer spannender, ich freue mich schon auf die nächsten....


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