Kapitel eins
Stop! So funktioniert das nicht!" Frustriert sah der zierliche Sänger sich um. "Das Licht stimmt nicht. Und ihr steht falsch. Überhaupt, hier stimmt absolut nichts!!!"
Die anderen Bandmitglieder sahen sich ratlos an. So aufgebracht hatten sie Hyde selten erlebt. Als nun auch noch der Regisseur sich einschaltete, rastete der Sänger total aus. Er schrie den fast einen Kopf größeren Regisseur einfach so nieder und stürmte vom Set.
Vor Zorn immer noch kochend rannte Hyde den schmalen Weg entlang, in Richting der Klippe. Dort, an seinem Lieblingsplatz, wo er das Meer sehen konnte, setzte er sich ins Gras. Er war ein bißchen überrascht über sich selbst. Hatte sich soviel in seinem Inneren aufgestaut, daß er so ausrastete? Das war sonst nicht seine Art, er versuchte seinen Zorn immer zu kaschieren.
Er seufzte. Ihm war klar, daß Tetsu, Ken und Yukihiro sich Sorgen machen würden. Er mochte die Jungs, wirklich. Vorallem mit Tetsu verband ihn eine innige Freundschaft. Und dann waren da noch andere. Zum Beispiel Gackt. Am Anfang war es ihm gar nicht so bewußt gewesen, aber nach und nach hatte sich Gackt mit seiner Ausstrahlung und seiner typischen Art einen festen Platz in Hydes Gedanken erobert. Und in seinem Herzen.
"Ich empfinde mehr für ihn als gut für mich ist..." sagte er leise und seufzte dann. Er dachte ja schon wieder an ihn...
Nach und nach rief er sich die Gesichter derer in Erinnerung, die ihm etwas bedeuteten. Tetsu, Ken, Yukihiro, Megumi...und Gackt. Immer wieder Gackt.
Der "Moon Child"-Dreh kam ihm wieder in den Sinn. Wie eng sie zusammengearbeitet hatten. Wie sie herumgealbert hatten. Gackt hatte es geschafft, ihn alles andere vergessen zu lassen...Kummer, Sorgen, selbst der Stress des Drehs. Und er erinnerte sich noch genau an den einen Abend im Hotel.
Er hatte nur kurz die schmerzenden Augen geschlossen. Nur einen Moment, wie es schien. Daß er eingeschlafen war, bemerkte er erst, als er die Augen öffnete und Gackts Gesicht nur Zentimeter über seinem war. Hatte er nicht eben noch im Sessel gegenüber gesessen?
Fast glaubte er, Gackts Lippen über seinen Mund streifen zu spüren. Es war verwirrend...aber nicht unangenehm.
"Du bist schön, weißt Du das?"
Hyde riss die Augen auf, erstaunt über dieses Kompliment. Von einem Mann, dem die Frauen selbst scharenweise nachrannten. Und die Männer auch. Er traute sich kaum zu atmen und spürte zur selben Zeit Gackts Atem auf seinem Gesicht.
Dann war dieser magische Moment vorbei. Gackt richtete sich auf und lächelte ihm zu. Hyde setzte sich auf und rieb sich die Augen.
"Habe ich lange geschlafen?"
"Nur ein paar Minuten. Du solltest ins Bett gehen, wir haben einen harten Drehtag morgen."
"Hmmm...die Schiesserei, ich erinnere mich." Hyde nickte und stand auf. "Gute Nacht, Gackt."
"Gute Nacht, Engel."
Für einen Moment stand Hyde erstarrt in der Tür. Dann ging er.
Zurück in der Gegenwart schüttelte Hyde den Kopf. Wie war Gackt damals darauf gekommen, ihn so zu nennen?
"Er hat sicherlich nur auf die Tätowierung angespielt...oder auf meiner Rolle. Kei der Todesengel..." er lachte leise. Dann stand er auf.
Der Wind hatte aufgefrischt. Am Horizont färbte sich langsam der Himmel und kündigte den neuen Tag an. Die Welt schien langsam um ihn herum zu erwachen. Erste Vögel zogen ihre Kreise in der noch kühlen Luft.
Trauer überkam ihn. Warum hatte er sein Herz mit so vielen Gefühlen beladen? Warum hatte er sich verlieben müssen?
Mit ausgebreiteten Armen stand er da, den Blick auf den Horizont gerichtet und ließ sich vom Wind umwehen. Die anderen würde sicher schon nach ihm suchen...ihm blieb nicht viel Zeit.
Er schloss die Augen. Vor ihm wurde der Himmel langsam heller. Sein Hemd glitt von seinen Schultern und verblasste, verschwand im Nichts, bevor es den Boden berührte. Auch seine Hose schien sich aufzulösen. Nackt stand er da.
Die tätowierten Engelsflügel auf seinem Rücken schienen ebenso zu verblassen...wurden heller, bis die Linien weiss schimmerten. Die Zwischenräume füllten sich, die Flügel wuchsen, wurden länger, bis sich schließlich gewaltige schillernd weisse Schwingen entfaltet hatten.
Kurz sah er zurück, Tränen schimmerten auf seinen Wangen, wurden vom Wind fortgerissen.
Mit einem Sprung katapultierte er sich in die Luft. Erst schien es, als würde er fallen, doch dann breitete er die Schwingen völlig aus und ließ sich vom Wind tragen, bis er mit dem silbrigen Licht des Morgens verschmolz.
Einige Zeit später kam Tetsu auf die Klippe. Er wußte, daß dies während des Videodrehs Hydes Lieblingsplatz geworden war, wohin er sich zurückzog, wenn er nachdenken wollte.
Er fand die Klippe leer. Im hohen Gras lag eine einzelne lange weisse Feder. Tetsu beugte sich hinunter und hob sie auf. Vorsichtig hielt er sie in beiden Händen, sah dann auf.
Bevor er sich umdrehte und zum Camp zurückkehrte, flüsterte er, das Gesicht zum Himmel gerichtet: "Komm bald zurück. Wir brauchen Dich."
Ende Kapitel eins