Kamui und Maurice von Ashura-oh (Vorgeschichte) ================================================================================ Kapitel 1: Die Flucht --------------------- 1 Die Flucht Los Angeles US-Bundesstaat Karlifornien xx. Oktober 19xx Es war einer dieser seltenen, kühlen und verregneten Herbsttage, der die Stadt in einem anderen Licht zeigte. Die kleinen Regentropfen, die gegen mein Fenster prasselten konnten den Lärm der Stadt, die anscheinend niemals schlief und niemals Ruhe fand, nicht übertönen. Dazu waren sie zu leise, ein sanfter Nieselregen, der sich vielleicht, wenn ich Glück hatte, doch noch ändern würde, damit ich den Straßenlärm nicht mehr hören musste. Vielleicht würde es der Regen auch schaffen, dass ich selbst endlich Ruhe fand, doch in diesem Augenblick konnte ich nur Angst und Verwirrung empfinden. Denn mein Vater hatte mich wieder, ohne einen Grund, geschlagen. Fest, wie sonst auch immer, dennoch war es nur ein Schlag gewesen, danach hatte er aufgehört. Vielleicht hatte er mich verschont, weil mein Körper noch von den harten Schlägen vom Morgen weh tat. Doch es war mir egal, ich konnte nur nicht verstehen, warum ich dieses Mal geschlagen worden war. Ich hatte alles getan, was mein Vater von mir verlangt hatte. Ich war pünktlich von der Schule nach Hause gegangen, hatte seine 6 Flaschen Bier vom Supermarkt, der auf dem Heimweg lag, mitgebracht. Der Ladenbesitzer kannte mich und hatte Mitleid mit mir, weshalb er mir die Flaschen ausgehändigt hatte, obwohl ich erst 13 Jahre alt war. Schließlich waren sie nicht für mich, sondern für meinen Vater und das wusste er. Ich hatte für meinen Vater sogar noch das Abendessen zubereitet, Spaghetti Bolognese, was er so gern aß und dennoch hatte er mich geohrfeigt, als ich in mein Zimmer gehen wollte. Dabei hatte ich die Küche wieder aufgeräumt und das Geschirr abgewaschen und wollte nur noch meine Hausaufgaben in meinem Zimmer erledigen, damit es in der Schule am nächsten Tag nicht auch noch Ärger gab. Denn das hätte nur zur Folge gehabt, dass ich Abends noch Größeren von meinem Vater bekommen hätte. Was habe ich dieses Mal nur falsch gemacht?, fragte ich mich und konnte es einfach nicht verstehen. Nicht einmal, als ich mich anschließend in meinem Zimmer auf meinem Bett verkrochen hatte und zusammen gekauert auf diesem saß und meine brennende Wange mit meiner Hand hielt. Mein Vater war nicht hinterher gekommen, was mich ein wenig beruhigte. Ich hoffte, dass ich jetzt wirklich für heute meine Ruhe vor ihm hatte. Doch ich war mir nicht sicher. Ich hoffte es so sehr. Leise, ohne es selbst zu bemerken, liefen mir vereinzelt Tränen über das Gesicht und erst, als Eine davon meine Hand streifte, bemerkte ich es. Ich wischte sie hastig weg und starrte verängstigt auf die Tür, in der Annahme, dass sie gleich aufgerissen wurde und mein Vater in das Zimmer stürmte. Doch die Tür blieb verschlossen. Erleichtert atmete ich auf und sah zu dem Bild, das auf meinem Nachttisch stand. „Mama...“ wisperte ich leise und schloss meine Augen. Ich sollte mich mehr zusammen reißen, das wusste ich, doch es fiel mir so schwer. Mein Vater hasste Heulsusen, denn Männer waren keine Heulsusen. Das waren nur Weiber und Waschlappen seiner Meinung nach. Zu letzterem zählte mein Vater mich zwar, doch ich musste ihm nicht auch noch einen Beweis mehr dafür geben, ihn in seiner Meinung zu bestätigen. Zur Sicherheit, dass er mich nicht gleich entdeckte, falls er doch noch hereinstürmen sollte, verkroch ich mich unter meiner dünnen Decke, die mich an kalten Tagen nicht wirklich wärmte. Doch sie spendete wenigstens Trost und das war es, was ich im Moment dringend benötigte. Wieder laufen mir ein paar Tränen über mein Gesicht, doch ich presste es nur in das Kissen und hielt die Luft an. Am liebsten hätte ich geschrien, doch ich wagte es nicht, meinen Vater auf mich aufmerksam zu machen. Also zählte ich nur stumm bis 10, während ich die Luft anhielt. Das half mir immer mich zu beruhigen. Zumindest, wenn ich weinte. Meine Gedanken konnte ich damit an diesem verregneten Abend leider nicht beruhigen. Zu verwirrt und verängstigt war ich. Warum schlägt mich Papa immer? Ich hab doch nichts falsch gemacht. Ich schaffe es nicht, meine Gedanken verstummen zu lassen und so ergab ich mich und ließ mich dahin driften. Hoffte darauf, dass ich bald einschlafen und alles vergessen würde. Zumindest für eine Nacht, bis mich der nächste Morgen wieder in die harte und kalte Realität zurückbringen würde. Noch während ich darüber nachdachte, warum ich an diesem Abend eine Ohrfeige bekommen hatte und ob es nicht einfacher für mich wäre, wenn ich endlich einfach abhauen und verschwinden würde, wurde ich durch ein leises und aufgeregtes Murmeln abgelenkt. So aufgeregt hatte ich meinen Vater schon lang nicht mehr reden hören und es machte mich neugierig. Mit wem redet Papa?, fragte ich mich und schlüpfte so leise wie möglich unter meiner Decke hervor und schob mich an den Bettrand. Groß war es nicht gewesen, dennoch quietschte es laut auf, als ich mein Gewicht verlagerte und meine nackten Füße auf dem weichen Teppich stellte. Für einen kurzen Moment schloss ich meine Augen und genoss das Gefühl, denn ich liebte den Teppich. Meine Mutter hatte ihn vor Jahren für mein Zimmer ausgesucht. Erneut spürte ich die Tränen, die mir meine Kehle zuschnürten und kämpfte gegen den Drang an, einfach los zu weinen. Ich dachte nicht gern an meine Mutter. Nicht, weil ich sie nicht lieb hatte, sondern einfach, weil ich sie so sehr vermisste, dass ich ihren Tod nur ertragen konnte, wenn ich versuchte, nicht an sie zu denken. Doch vergessen würde ich sie nie. Das war unmöglich, denn mein Vater erinnerte mich tagtäglich aufs neue an ihren Verlust, denn mit ihrem Tod hatte er angefangen zu trinken. Schnell schob ich die düsteren und traurigen Gedanken an meine Mutter und die Folgen durch ihren Tod beiseite und schlich leise zur Tür. Drückte mein Ohr gegen das kalte Holz und versuchte zu lauschen, doch es war zu leise. Mein Vater musste wohl im Wohnzimmer sein. Ich zögerte einen Moment, doch dann griff ich nach dem Türgriff und drückte ihn langsam und vorsichtig hinunter. Ein kurzes Klack und meine Tür kam mir ein paar Zentimeter entgegen. Für eine Sekunde blieb mein Herz vor Schreck stehen, als hätte mein Vater dieses leise Geräusch gehört. Doch nun, da die Tür offen war, hörte ich, dass er zu sehr in sein Gespräch vertieft war, als dass er es wohl irgendwie hätte wahrnehmen können. Dennoch blieb ich vorsichtig und öffnete die Tür langsam, um mich dann in den Flur zu schleichen. Mit wem redet Papa da?, fragte ich mich selbst und zog meine Augenbrauen zusammen. Im Flur konnte ich seine Stimme deutlicher hören. „... er ist 1,45m groß...“ hörte ich ihn sagen. Über was redet Papa da? Über mich?, ich konnte nicht verstehen, warum mein Vater so etwas zu jemand anderem sagte. Nach ein paar Schritten, die nicht wirklich hörbar waren, da der Boden unter meinen nackten Füßen zum Glück nicht knarrte, erreichte ich das Wohnzimmer. Vorsichtig reckte ich mich etwas nach vorne um durch die halb offene Tür zu sehen und sah meinen Vater mit dem Rücken zu mir stehend. In seiner linken Hand hielt er das Telefon und in seiner Rechten hielt er die Bierflasche, die er bei seinem Gespräch ein wenig herumwirbelte. „... er ist gerade 13 Jahre alt geworden, Mr. Harrison... Er hat aschblondes Haar... Ja, er wirkt wie ein Mädchen...“ erzählte er dem Fremden Mann am Telefon, was mich erstarren ließ. Nun wusste ich, dass er definitiv über mich sprach. Was hat Papa vor? Und Warum erzählt er einem fremden Mann von mir?, wollte ich wissen und doch fand ich keine Antwort darauf und meinen Vater hätte ich sicher nicht gefragt. Zu sehr hatte ich Angst davor, dass er mich wieder schlagen würde. Mein Körper war immer noch mit blauen Flecken überzogen von den letzten paar Mal, als ich seine Faust zu spüren bekommen hatte. Was hat das zu bedeuten? Wieder hörte ich meinen Vater, wie er weiter sprach: „... Ich kann Ihnen den Kleinen morgen vorbei bringen, wenn Sie ihn sich ansehen wollen... Sie nehmen ihn so? Ohne ihn vorher...“ mein Vater verstummte und langsam begriff ich, worüber er mit dem Fremden redete. „Sie... Sie wollen mir... 20.000 $ für ihn geben? … Nein, nein, das ist absolut fair, Sie haben Recht...“ wehrte mein Vater schnell ab, nachdem er seine Sprache wiedergefunden hatte. Von da an bekam ich nichts mehr von seinem Gespräch mit. Papa... will mich verkaufen..., schoss es mir durch den Kopf, als ich die Summe hörte, die mein Vater so sprachlos gemacht hatte. Die Erkenntnis traf mich wie ein Faustschlag meines Vaters und mir entwich ein geschocktes Keuchen. Fassungslos lehnte ich mich gegen die gelblich gefleckte Wand u nd versuchte wieder Luft zu bekommen. Ich hatte aufgehört zu Atmen und musste nun nachholen, was ich meinem Körper verwehrt hatte. Viel zu oft hatte ich im Fernsehen, heimlich, wenn mein Vater ohnehin kurz Nachrichten gesehen hatte, mich wie jetzt in den Flur geschlichen und hatte zugesehen. Es gab unzählige Berichte über verschleppte, verkaufte und entführte Kinder. Über verzweifelte Eltern, oder über solche, die ihre Kinder aus einer Not heraus verkauft hatten. Doch mein Vater gehörte nicht zu ihnen. Ich wusste, dass mein Vater nicht zu der Sorte Menschen gehörte, denn für ihn zählte nur eines. Sein Bier. Dieses Mal spürte ich, dass mir wieder Tränen über mein Gesicht liefen, denn sie brannten auf meiner geröteten Wange. Als ich hörte, wie mein Vater sich von dem Fremden verabschiedete konnte ich mich aus meiner Starre befreien. Denn erneut stieg Angst in mir hoch. Er sollte mich nicht hier im Flur erwischen. Fast blind vor lauter Tränen tastete ich mich an der Wand entlang zurück zu meinem Zimmer, in dem ich mich sofort wieder auf das Bett und unter die Decke verkroch. Ich hörte die Schritte meines Vaters überdeutlich und schnell wischte ich mir mit einem Zipfel meiner Decke über das Gesicht um meine Tränenspuren zu beseitigen. Ich tat so, als ob ich schlafen würde, in der Hoffnung, mein Vater würde mich in Ruhe lassen. Angstvoll wartete ich mit geschlossenen Augen darauf, dass mein Vater in m ein Zimmer kam und versuchte dabei möglichst ruhig zu atmen. Keine Träne kullerte mehr aus meinen Augenwinkeln, denn ich konnte nicht mehr weinen. Ein dicker Klos steckte mir im hals und schnürte mir alles ab. Selbst das atmen fiel mir schwer. Ich spürte nur noch die Angst vor dem, was Morgen sein würde und davor, dass Vaters Schritte sich meinem Zimmer näherten. Denn jetzt hörte ich sie. Sie wurden immer lauter, bis plötzlich die Tür zu meinem Zimmer aufgerissen wurde und mit einem lauten Knall gegen die Wand dahinter knallte. Vater war nie sehr sensibel mit meiner Tür umgegangen. Wäre es nach ihm gegangen, hätte ich wohl gar keine gehabt. Polternd kam mein Vater in mein Zimmer und trat an mein Bett. „Schläfst du schon, du Bengel?! Wach auf!“, herrschte mich mein Vater an und schüttelte mich dabei grob an der Schulter. Erschrocken drüber riss ich meine Augen auf und starrte verängstigt zu ihm hoch. Ich war mir sicher, dass er mich schlagen würde, doch es kam kein Schlag. Mein Vater richtete sich nur wieder auf und grinste breit. „Gut, du bist wach. Morgen gehen wir zwei in die Stadt. Einkaufen. Zieh dich also ordentlich an, damit du mich im Kaufhaus nicht blamierst und ich mich für dich schämen muss, Bengel.“ teilte er mir ungerührt und leicht lallend mit. Er musste wohl noch ein oder zwei Flaschen nach dem Anruf getrunken haben, bevor er in mein Zimmer gekommen war. Seine Bierfahne schlug mir direkt ins Gesicht, so dass ich nur mühsam verhindern konnte, meine Nase nicht angewidert zu rümpfen. Noch bevor ich richtig auf seine Mitteilung nicken konnte, wankte mein Vater auch schon wieder aus meinem Zimmer. Er schlug die Tür so fest zu, dass ich das Gefühl hatte, als ob mein ganzes Zimmer beben würde. Schweigend starrte ich die Tür an und konnte es noch gar nicht richtig begreifen. Oder wollte es nicht. Aber es stand fest. Ich hatte meinen Vater richtig verstanden, als er mit dem Fremden Mann telefoniert hatte. Mein Vater wollte mich verkaufen. Langsam, wie in Zeitlupe, kauerte ich mich auf dem Bett unter der Decke zusammen und fing an, lautlos zu weinen. Warum passierte so etwas? Dass mein Vater mich nicht wirklich lieb hatte, war mir schon seit langem klar. Doch dass er mich so sehr verabscheute, dass er mich jetzt auch noch verkaufte, hätte ich nicht erwartet gehabt. Stunden vergingen in denen ich nur am Anfang lautlos geweint hatte. Immer wieder hatte ich das Bild meiner verstorbenen Mutter angesehen und mir gewünscht, sie wäre bei dem Unfall nicht gestorben. Doch ich konnte es nicht ändern. Und das war das Schlimmste daran. Sie würde mir nicht helfen können, meinem Vater zu entkommen. Es war mittlerweile mitten in der Nacht. Alle Lichter in Vaters Wohnung waren aus und auch bei den Nachbarn waren die meisten Lichter erloschen. Nichts rührte sich mehr in dem Haus, nur auf der Straße konnte man die vorbeifahrenden Autos immer wieder mal hören. Das einzige Geräusch neben dem Motorenlärm war das laute Schnarchen meines Vaters, der im Wohnzimmer in seinem Lieblingssessel seinen Rausch aus schlief. Ich hatte lang genug darüber nachgedacht, was ich tun sollte und jetzt, wo alles um mich herum still war, bis auf das Schnarchen und den Lärm der vorbeifahrenden Autos, entschloss ich mich dazu das einzig Richtige zu tun. Ich würde abhauen und meinen Vater verlassen. Ich hätte es wohl schon viel früher tun sollen, doch was hätte ich mit meinen 13 Jahren schon machen können? Auf der Straße zu leben war gefährlich, doch wahrscheinlich nicht so gefährlich, wie das, was auf mich zukommen würde, wenn ich hier blieb. Es stand also fest, ich würde meine wichtigsten Sachen packen und verschwinden. Schon vor langem hatte ich das vorbereitet und dafür gespart. Jeden Penny hatte ich in mein Versteck in meinem Schreibtisch getan und es immer wieder gegen Scheine umgetauscht. Und so war ein stolzer Betrag von 500 $ zustande gekommen. Vielleicht auch ein paar Pennys mehr, doch das war nicht relevant. Ohne groß weiter darüber nachzudenken holte ich meinen braunen Rucksack aus dem hintersten Eck meines Schrankes heraus in dem bereits eine neue, noch eingepackte Zahnbürste, Zahnpasta, Becher und Bürste war. Ich verstaute mein Geld darin und tat ein paar Scheine in meinen Geldbeutel, den ich bei mir tragen würde. Was ich an Kleidung mitnehmen würde war nicht viel. Ich besaß auch nicht wirklich viel, denn mein Vater gönnte mir kaum etwas. Also legte ich die sorgfältig zusammen gelegten Sachen in den Rucksack. Verstaute es so Platz sparend wie möglich, damit die 2 T-Shirts, 3 Jeans, Unterwäsche und auch 2 Pullover hinein passten. Mein Lieblingsteddy musste auch mit hinein, den hatte meine Mutter mir zu meinem Geburtstag geschenkt, bevor sie gestorben ist. Ich hing an ihm und könnte nie ohne ihn weg. Auch mein etwas abgegriffenes Tagebuch legte ich in den Rucksack und ein paar Stifte. Noch einmal blickte ich mich in meinem Zimmer um, holte mein zweites Paar Turnschuhe unter meinem Bett hervor, die ich als letztes in meinen Rucksack mittlerweile stopfen musste, da kaum mehr etwas hinein passte. Vorsichtig und mit etwas Überredungskunst schaffte ich es nach einigen Versuchen doch noch ihn zu zu bekommen, ohne etwas hier lassen zu müssen. Erleichtert atmete ich auf und holte noch das Photo meiner Mutter vom Nachttisch und verstaute es sorgfältig in meinem Geldbeutel, den ich in eine kleine Umhängetasche verstaute und mir umhängte. Mit einem Griff in meinen Kleiderschrank holte ich noch einen Pullover hervor, der etwas älter war und nicht so auffallen würde, wenn ich raus ging. Als letztes holte ich meine Jacke, die ich gleich anzog und meinen Rucksack anlegte. Schnell kontrollierte ich den Sitz und nickte. Er saß fest und tat nicht weh. Ich hatte alles, was wichtig war und was ich brauchte, wenn ich ging. Einen letzten Blick warf ich auf mein penibel aufgeräumtes Zimmer, stopfte noch ein Kissen unter die Decke, damit es so aussah, als ob ich noch schlafen würde, falls mein Vater am Morgen zuerst in mein Zimmer sehen würde. Nur für den Fall, so hatte ich noch ein klein wenig mehr Aufschub, bevor er nach mir suchen würde. Und dass er das tun würde, da war ich mir sicher. Immerhin wollte er 20.000$ für mich bekommen und da wäre er sicher nicht erfreut darüber, wenn ich weg war. Doch es geschah ihm nur recht, wenn er morgen feststellen würde, dass ich nicht mehr da war. Schließlich wollte er mich ja los werden. Tief holte ich Luft und schloss dabei die Augen. Ich konnte schwach das Parfum meiner Mutter riechen, dass ich hier ab und zu versprüht hatte, doch letzte Woche war es leer gegangen und ich hatte keine Zeit gehabt mir ein neues zu kaufen. Doch jetzt war es ja ohnehin egal. Mit schneller schlagendem Herzen verließ ich mein Zimmer und ging ohne Schuhe zur Wohnungstür. Jedes mal, wenn das Schnarchen meines Vaters aussetzte, blieb ich vor Schreck stehen und hielt die Luft an. Und erst, wenn es wieder einsetzte, ging ich weiter und kam endlich an der Wohnungstür an. Vorsichtig und langsam drehte ich den Schlüssel herum und zuckte bei jedem Klirren zusammen, ehe ich die Tür endlich öffnen konnte. In meiner linken Hand hielt ich meine älteren Turnschuhe, die ich erst im Flur anzog, als ich die Tür zugezogen hatte. Und selbst jetzt, als ich im Hausflur stand und meine Schuhe angezogen hatte, hielt ich die Luft kurz an und lauschte, befürchtete, dass mein Vater jede Sekunde aus der Tür kam und mich erwischte. Doch es blieb still. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, die ich brauchte, um endlich aus der Haustür zu schleichen und selbst auf dem Weg von unserem Haus weg zum Gehweg ging ich noch langsam und blieb wachsam. Noch nicht einmal auf dem Gehweg fühlte ich mich sicher, denn ich drehte mich nervös um und sah zurück, doch da war niemand. Die Lichter in dem ganzen Haus waren aus, nicht einmal im Hausflur brannte Licht, das ich auch nicht angeschaltet hatte, damit es ja keinem auffiel, das sich jemand dort herum schlich. Und nun rannte ich um den nächsten Block, blieb erst stehen, als ich mir sicher war, dass man das Haus nicht mehr sehen konnte. Längst war Mitternacht vorbei und die Straßenbeleuchtung erhellte alles. Endlich war ich frei. Ich war weg, hatte alles, was ich brauchte und konnte meinen Vater hinter mir lassen. Wie es jetzt allerdings weitergehen sollte wußte ich noch nicht genau. Wohin sollte ich jetzt gehen? Ich kannte mich kaum in L.A. aus und nun war ich auf mich allein gestellt. Was soll ich nur machen?, fragte ich mich verzweifelt in meinen Gedanken selbst während ich durch die Straßen von Los Angeles lief. Los Angeles, die Stadt der Engel. Doch ich wusste, dass hier keine Engel wohnten. Es vergingen Tage, in denen ich mich von einem Tag zum nächsten durchschlug. Immer auf der Suche, nach einem neuen Schlafplatz und einer warmen Mahlzeit. Ich traute mich nicht zu betteln, denn vielleicht kam mein Vater irgendwann vorbei und erkannte mich zufällig, denn dass er nach mir suchte hatte ich bereits in einem Schaufenster eines Ladens gesehen, der die neuesten Fernseher verkaufte. Deshalb hatte ich mir auch ein Basecap gekauft, dass ich tief in mein Gesicht gezogen hatte. So erkannte man mich wenigstens nicht so schnell. Eine Woche, nachdem ich abgehauen war, fand ich einen Schlafplatz in einem leer stehenden Gebäude. Hier hausten auch schon andere Obdachlose, doch sie erschienen mir harmlos. Nirgends, wo ich hinsah, konnte ich Spritzen erkennen, nur Flaschen, die den Alkoholgeruch verbreiteten, der mir in meiner Nase kribbelte. Mit ein paar von ihnen freundete ich mich sogar an und ließ mir von ihnen Abends Geschichten erzählen von ihren besseren Tagen. Doch über mich verriet ich kein Wort. Die Leute hier wurden so etwas wie eine kleine Familie für mich, denn sie zeigten mir, wo ich günstig an Essen heran kam und auch, wo ich das ein oder andere mal für ein klein wenig Arbeit auch etwas Warmes kostenfrei bekam. Auch passte Bobby, eine etwa 54 jährige Frau auf mich auf, wenn ich raus ging. Sie schlich mir immer nach, weil sie meinte, so ein hübscher Junge würde auf der Straße zu sehr auffallen. Er wäre zu leicht in Gefahr und damit behielt sie leider oft Recht. Viel zu oft hatte sie mir helfen müssen oder einer ihrer Freunde, als irgend jemand meinte, ich wäre ein passendes Spielzeug für ihn gewesen. Das erste Mal war besonders schlimm gewesen und ich hatte mich weinend den ganzen restlichen Tag und die Nacht in Bobbys armen verkrochen und sie nicht losgelassen. Sie war wirklich ein herzensguter Mensch und es war ungerecht, dass sie auf der Straße lebte. Doch wir konnten es beide nicht ändern. Aber wir hatten uns, ich war wie ein Sohn für sie, den sie verloren hatte und sie wie eine Mutter für mich, die auch ich verloren hatte. Dass es so schlimm sein würde, auf der Straße zu leben, hatte ich mir bisher nicht vorstellen können. Es war fast genauso schlimm, als würde ich noch zu Hause bei meinem Vater wohnen. Wobei, jetzt wäre ich sicher bei diesem Fremden, Mr. Harrison. Ich fragte mich, was mein Vater wohl gemacht hatte, als er festgestellt hatte, dass ich verschwunden war. Ich würde es wohl nie erfahren. Und es war mir, ehrlich gesagt, auch ziemlich egal. Hier bei Bobby und ihren Freunden, jetzt auch meinen Freunden, war es wesentlich besser. Nur, wenn ich auf die Straße ging, wurde ich immer wieder daran erinnert, wie gefährlich es eigentlich doch war. Und das vermied ich, so gut es ging. Schließlich versorgte mich Bobby und auch die anderen kümmerten sich rührend um mich, ihren kleinen Schatz, wie sie mich immer wieder gern nannten. Sie alle waren längst weit über 50 Jahre alt und hatten wohl kaum mehr etwas vom Leben zu erwarten, deshalb versuchte ich ihnen Abends eine Geschichte zu erzählen, denn darin war ich sehr gut. Dass die Zeit viel zu schnell verging, wurde mir erst bewusst, als es deutlich kälter wurde und ich nachts zwei Jeans und Pullover übereinander trug Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)