Clockwork Little Happiness von YourBucky ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Die Idee zu dieser "Kurz"geschichte, die im Endeffekt vielleicht doch gar nicht so kurz geworden ist, kam mir in den düsteren Wochen, in denen ich pausenlos da saß und fürs Abi lernen musste... *grusel* Es waren harte Zeiten, und ich sehnte mich so sehr danach, endlich wieder schreiben zu können... *snif* als es dann so weit war, hab ich mich hingesetzt und in jeder freien Minute an dieser kleinen Story hier geschrieben. Ich hoffe, die Geschichte hat den Effekt, den ich beabsichtigt habe. Ich wäre für jeden Comment sehr dankbar! *verneig* Ich habe übrigens zum ersten Mal FF-Codes ausprobiert und hoffe, dass alles gut geht! ^^; Wenn nicht, überlest es einfach. Ich möchte allen unendlich oft danken, die mir geholfen haben diese furchtbare Zeit zu überstehen, meinen tapferen Mitstreitern im Lerncamp, Katerchen, Dai-chan und Nette, außerdem dem Sklaven und meinem einzigartigen FF-Autor, dem Fünkchen, der mich beinahe... noch tiefer in den Wahnsinn getrieben hätte. ARIGATOU euch allen! Und, finally, eine unendlich wichtige, in gar keinem Fall zu übersehende Gebrauchsanweisung für Clockwork Little Happiness... WICHTIG!!!!! LEST DIESE STORY UM GOTTES WILLEN AM STÜCK UND OHNE UNTERBRECHUNG! ... Danke! ^^ Irgendwie ist doch jeder Mensch nur wie ein kleines Uhrwerk, das rastlos nach vorne hetzt, ohne Pause und ohne rechtes Ziel, wieder und wieder im Kreis herum, immer die gleichen Fehler und die gleichen Lügen und die gleichen Gesichter. Der Weg in dieser Kreisbahn ist nicht sonderlich abwechslungsreich und hinterlässt auch meist keine nennenswerten Spuren, aber darum kümmert sich das Uhrwerk natürlich nicht im Geringsten, sondern läuft einfach weiter und weiter und immer weiter, bis eben irgendwann die Batterie ausgeht... Keira lächelte. Es war lange her, dass sie das letzte Mal durch die Straßen der Stadt geschlendert war, sehr lange, zu lange, und die Zeit, die hinter ihr lag, war gewiss nicht einfach gewesen. Sie hatte die Stadt auch nicht unbedingt freiwillig verlassen, mehr - für die Liebe. Eine alte und altbekannte Geschichte, die aber höchstwahrscheinlich gerade deshalb so alt und altbekannt war, weil sie sich eben trotz allem unaufhörlich wiederholte. Liebe macht blind. Eine Weisheit, die auch Keira am eigenen Leibe hatte erfahren müssen, aber trotz allem bereute sie nichts, oder zumindest nicht mehr. Sie war wieder zuhause und alles war gut. Perfekt, um genau zu sein, besser noch als in all ihren vorfreudigen (Tag-) Träumen, und das wollte schon was heißen. Es war nämlich Nachmittag - später Nachmittag - und die Sonne stand bereits tief, glühend orange, beinahe rot, steckte mit ihren zerfließenden Konturen die Wolken in Brand und zauberte wundervolle Muster in den spätsommerlichen Himmel. Für all das - Himmel, Sonne, Wolken - hatte Keira allerdings erst einmal keine Augen, oder zumindest nicht so uneingeschränkt, begeistert und verzaubert, wie es dieses Kunstwerk der Natur ganz ohne jeden Zweifel verdient hätte. Was Keira nämlich viel lieber mochte, das waren die Schaufenster der Geschäfte, aber auch bei diesen Schaufenstern kam es ihr nicht, wie man erst einmal meinen konnte, auf den tatsächlichen Inhalt an. Es war das Glühen, diese merkwürdige Fusion aus dumpfem Licht und Glas, die Keira jedes Mal aufs Neue in ihren Bann zu ziehen wusste. Die Scheiben waren keine wirklichen Scheiben mehr (denn dieses Wort verband Keira auf jeden Fall immer mit etwas ziemlich Flachem), sondern gewannen eine merkwürdige Tiefe, verwandelten sich in magische Vorhänge, hinter denen alles ganz unwahrscheinlich märchenhaft erschien. In jedem Schuh steckte ein bisschen von Aschenputtel, die Kleider schimmerten ganz weich, wie Seide oder wie schmelzendes Wachs, und das Essen glitzerte so, als ob es selbst aus einem Märchen stammen würde, ganz gleich, ob es sich dabei nun um die reich gefüllten Bonbongläser des altmodischen kleinen Süßigkeitenladens oder die stilvoll angerichteten Pestogläser, Weinflaschen und Pastavariationen des italienischen Feinkostgeschäftes handelte. Keira liebte Märchen, und aus diesem Grund verfolgte sie das Licht von Fenster zu Fenster, von der Bäckerei zum Stoffgeschäft, vom Elektrowarenfachverkäufer bis zum Esoterikshop und dann immer weiter, bis die Sonne irgendwann hinter den Häusern der Stadt verschwunden war und sich die weich glühenden magischen Kaleidoskope wieder in das verwandelt hatten, was ihnen vom boshaften Schicksal vorherbestimmt worden war - Scheiben. Sie hatte das schon früher jeden Abend so gemacht, hatte die Stunden des Tages - ob gut oder schlecht - zumindest für wenige schwerelose Augenblicke vergessen können, und dann hatte sich Keira manchmal gefragt, warum in solchen Momenten die Uhr überhaupt weiterlaufen musste. Ihr war klar, dass diese kostbaren Minuten die mit Abstand schönste Zeit ihres gesamten Tages werden würden, und dass nach ihrem viel zu frühen Ende eigentlich alles nur noch schlechter werden konnte. Aber die Zeit blieb nicht stehen. Minute um Minute, Stunde um Stunde verstrich. Und natürlich wurde es schlechter. Viel schlechter. Langweilig. Bedrückend. Traurig. In erster Linie aber eben einfach nur ereignislos, nüchtern und sachlich bis in die letzte Haarspitze des letzten teilnahmslos-neutral dreinblickenden Passanten, der Keiras Weg kreuzte, bevor sie sich endlich wieder in das (auch nicht unbedingt sehr aufregende) Refugium ihrer eigenen vier Wände zurückziehen konnte. Ein leiser Seufzer stahl sich über Keiras Lippen, als sich die dichten Häuserreihen zu ihren Seiten auftaten und den Blick auf die große Brücke freigaben. Es war einer jener paradoxen Augenblicke, in denen die untergehende Sonne alle Elemente vertauschte und durcheinander mischte, ungeachtet jeglicher Logik und Naturgesetze. Das Wasser loderte in Gold und Rot, ganz so, als ob es eigentlich Feuer wäre. Dahinter erstreckte sich ein Teil des Parks, und weit hinter den wellenartig wogenden Baumkronen ragten die Kuppel und die Spitze des Fernsehturms wie eine fließend konturierte Lanze in die Wolken hinein. Oder wie eine Boje, denn auch die bewegte Farbigkeit und das immer tiefer werdende Blau des Himmels, vermengt mit Rot und Orange und Violett und Türkis, schien selbst ein bisschen so wie ein riesengroßer Ozean. Genau an diesem Ort hatte Daniel ihr vor vielen, vielen Jahren seine Liebe gestanden. Vor vielen, vielen Jahren? War es nicht vielmehr erst gestern gewesen? Vor ein paar Minuten, Sekunden? Machte das überhaupt einen Unterschied? Genau genommen ereignete sich dieser unvergleichliche Moment sogar genau in dem Augenblick, als Keira die Mitte der Brücke überschritt und ihren Kopf dem träge dahinfließenden Fluss entgegenwandte, genau so, wie sie es damals auch getan hatte. Daniels blaue Augen leuchteten, als in sein entwaffnend fröhliches Lächeln mit einem Mal eine gewisse Ernsthaftigkeit trat, die ihr bis dahin vollkommen fremd gewesen war, und die ihr doch so unendlich vertraut erschien, dass sie mit einem einzigen Lufthauch alle Sorgen und Ängste hinwegwischte. Dann nahm er ihre kleine, zierliche Hand in seine große, kräftige, strich ihr vorsichtig mit dem Daumen über die Haut und sprach zu ihr mit einer Stimme, die alle anderen Geräusche bedeutungslos machte: "Weißt du, Keira... ich glaube, ich habe mich in dich verliebt." Ein wenig unbeholfen blickte er drein bei diesen Worten, und obwohl Keira mit Sicherheit schon poetischere Liebeserklärungen gehört hatte, so war doch keine von ihnen mit so viel Aufrichtigkeit gesprochen worden, und keine von ihnen hatte sich derart tief in ihr Herz eingebrannt. Der Fluss glitzerte und strahlte, beinahe so schön wie eine der verzauberten Schaufensterscheiben, der Wind streichelte sanft ihre Haut und ihr Haar, ihre Finger lagen sicher in Daniels Hand und er lächelte, lächelte so wunderbar, lächelte das allerschönste Lächeln, dass sie jemals in ihrem ganzen Leben hatten sehen dürfen, und in diesem Moment begriff Keira, dass sie soeben das perfekte Glück erfahren hatte, dass Daniel nun ihr gehörte und bis in alle Ewigkeiten ihr gehören würde, dass sie beide einzig und allein zu dem Zweck auf diesen merkwürdigen Planeten gekommen waren, um den Rest ihrer kleinen Unendlichkeit miteinander verbringen zu dürfen. Dies war wieder einer dieser Momente, in denen die Zeit einfach hätte stehen bleiben müssen. Wieso auch nicht? Es gab keine Steigerung von perfekt, jede noch so kleine Veränderung konnte folglich nur Verschlechterung bedeuten, und natürlich war auch alles so gekommen, wie es immer kam, wie es kommen musste. Die Sonne war irgendwann untergegangen, statt dem fließenden Feuer war aus dem Fluss eben wieder ein ganz einfacher, etwas schmutzig grüner Wasserstrom geworden und dann irgendwann war die Nacht über sie hereingebrochen. Keira erschauderte. Sie kannte diese Erinnerungen nur zu gut, aber selten zuvor waren sie in so lebhafter Form über sie hereingebrochen. Andererseits war das nicht weiter verwunderlich, war sie doch heute, an diesem merk- und denkwürdigen Abend zum ersten Mal wieder an den Ort des Geschehens zurückgekehrt, diesen seltsamen Ort, an dem sich so viel Schönes und so viel Schmerzhaftes zu einem berauschenden Trank aus Melancholie und Glück vermischte. Am anderen Ufer, direkt am westlichen Ende des Parks, ragte der altehrwürdige Kirchturm von Keiras Lieblingskirche in den Abendhimmel empor. Er bestand aus unregelmäßigen Reihen von kleinen grauen Steinquadern, mit einer großen Glocke unter der pechschwarzen Turmspitze, und einer riesigen Uhr, die aus unerfindlichen Gründen der Wasserseite und dem davor liegenden kleinen Platz zugewandt war. Zeit und ihr unaufhaltsames Verstreichen war schon immer etwas gewesen, das Keira zutiefst fasziniert und auch zu endlosen philosophischen Gedankenflüssen inspiriert hatte. Momentan jedoch stimmte sie der Anblick dieser leicht morbiden, aber doch unbestreitbar wunderschönen Kirche eher wehmütig als beflügelt nachdenklich, und so wandte sie sich hastig wieder ab, bevor der griesgrämige Weltschmerz allzu sehr von ihr Besitz ergreifen konnte. Es ließ sich nun einmal leider Gottes nicht ändern - viele Jahre waren ins Land gezogen, seit sie zum letzten Mal diesen Weg beschritten hatte, und die Zeit war auch an Keira nicht spurlos vorbeigezogen. Sie war nicht mehr die junge, ehrgeizige Journalistin von damals, die gerade erst das Studium beendet hatte und nun am viel versprechenden Anfang einer großen Karriere stand. Ihr grenzenloser Idealismus war wohl irgendwo auf halber Strecke im Sande verlaufen, auch ihre kaum zu bremsende Tatkraft und ihr unbändiger Stolz waren nicht mehr ganz das, was sie einmal gewesen waren. Sie war erwachsen geworden. Und damit meinte sie nicht das sachlich-biologische Alter, denn diese Art von erwachsen werden hatte Keira zu Beginn ihrer beruflichen Laufbahn ja schon lange hinter sich gebracht. Es ging vielmehr um diese innere Betrachtungsweise aller Dinge, um den Blick, mit dem sie sich selbst und ihre Umgebung wahrnahm, und genau darin lag der feine, aber alles entscheidende Unterschied. Wenn Keira jetzt auf den Kanal oder durch die Schaufensterscheiben blickte, dann ergriff so eine besondere Stimmung von ihr Besitz und sie fühlte sich glatt wieder wie in ihre jungen Jahre zurückversetzt. Und genau das war auch schon der zentrale Punkt. Keira fühlte sich wie in ihre jungen Jahre zurückversetzt, aber es war doch eben nur ein wie, das blasse Abziehbild einer Zeit, die nie mehr wieder zurückkehren würde, und genau darin lag die Besonderheit dieser zerbrechlichen Augenblicke. Keira wandelte durch ihren eigenen Traum - ein verlorener Traum, gewiss, aber das waren ja schließlich die meisten Träume, spätestens nach dem Aufwachen - und dies war doch trotz aller Wehmut immer noch ein sehr besonderes Erlebnis. Natürlich wünschte sie sich, noch ein einziges Mal so fühlen zu können wie damals, aber da das nun einmal nicht möglich war, genoss sie stattdessen die filmreife Tragik ihres ureigenen Schicksals. Bald würde die Sonne untergehen und der Alltag würde sie wiederhaben, ein völlig neuer Alltag wohlgemerkt, denn trotz aller Pläne und Tagträume hatte Keira doch immer noch nicht die leiseste Ahnung, was sie wohl tatsächlich erwarten würde. Sie befand sich in einem Schwebezustand zwischen altem und neuem Leben, ein Zustand, den sie wohl nicht so bald wieder erleben würde, und bei dem Gedanken daran kehrte endlich das Lächeln auf Keiras Gesicht zurück. Die folgenden Tage nutzte Keira, um ihr neues und doch altbekanntes Revier zu erkunden. In jeder freien Minute - vornehmlich in der Mittagspause - durchstreifte sie die Straßen und Sträßchen um den zentralen Marktplatz herum. Sie schlenderte durch die Arkaden mit der großen gläsernen Kuppel, vorbei an zahllosen kleinen Geschäften, billigen Trendschmuckläden, Handyshops und Designerhandtaschenfestungen, machte kurz Halt bei ihrem Lieblings-Asia-Schnellimbiss (Hauptgericht), bei Häagen Dazs (Nachtisch, meist Cookies and Cream, Bailey's oder Macadamia Nut) und Starbucks (schnelle und leckere Energielieferung für den Rest des Tages) oder saß einfach nur auf einer der Bänke am großen, futuristisch beleuchteten Springbrunnen und sah dem Rest der Menschheit beim Essen, Shoppen und Zur-U-Bahn-Hetzen zu. Es war ja nicht so, dass sie in irgendeiner Weise vergessen hatte, wie die Stadt aussah, und nun ihrem verbleichten Gedächtnis erst wieder auf die Sprünge helfen musste. Auch der gewiss nicht ganz unwichtige Grund, schöne Erinnerungen wieder aufleben zu lassen, war nicht die wirkliche treibende Kraft hinter Keiras abenteuerlustigem Verhalten. Sicherlich war es ganz unbeschreiblich schön, noch einmal über die große Treppe hinauf zur größten Kirche der Stadt zu steigen, am Ufer des Flusses entlang zu schlendern, am regen Treiben der (unverschämt stylishen) Einkaufsstraße teilzuhaben oder die zahllosen Wunder, die multikulturellen Lebensmittelläden und die Insider-Trend-Adressen in den Nebenstraßen auszukundschaften. Aber trotz allem ging es ihr doch faktisch mehr um die Menschen, denen sie auf diesen kurzen, aber ereignisreichen Streifzügen begegnete. Am besten ließ sich Keiras Unterfangen wohl mit einer Art Test vergleichen, eine stumme Umfrage, deren Ergebnis einzig und allein für ihre eigenen Augen bestimmt war. Es war nun einmal so, dass eine schwere Zeit hinter Keira lag. Sie hatte oft davon gehört, dass die vollkommene Hingabe in die große Liebe ernsthafte und unschöne Konsequenzen nach sich ziehen konnte, aber es war doch etwas völlig anderes, diese bittere Wahrheit am eigenen Leibe erfahren zu müssen. Und nun, nachdem sie endlich hatte beschließen können, die Vergangenheit eben Vergangenheit sein zu lassen und ihren Blick gen Zukunft zu wenden, da wollte Keira erst einmal sicher gehen, ob sie denn überhaupt noch, nun ja - wirkte. Schon seit ihrer Jugend war Keira niemals wirklich das gewesen, was man landläufig als hübsch bezeichnete. Sie war vielmehr eine jener Frauen, denen man das Prädikat ausstellte, ein Typ zu sein, etwas Besonderes, Ungewöhnliches, und eigentlich war es Keira so auch weitaus lieber gewesen. Sie hielt nicht viel von jenem unscheinbar makellosen Püppchen, die die Männer lieber an ihrem Beschützerinstinkt packten, als sie durch Wortgewandtheit, Intelligenz und den besonderen Zauber einer geheimnisvollen, selbstbewussten, unabhängigen femme fatale in ihren ureigenen Bann zu ziehen. Keira hatte wohl niemals auch nur in einem einzigen Mann das Bedürfnis geweckt, sich mit stolz geschwellter Brust und grimmigem Blicke vor sie zu werfen, um sie entweder aus irgendeinem Turm und vor einem Drachen zu erretten oder sie vor sonstigen Gefahren der großen, bösen Welt da draußen zu beschützen. Sie hatte schon das Abitur als eine der Besten ihres Jahrgangs abgeschlossen, war schnell auf eigenen Beinen gestanden und wusste sich auch im Haifischbecken des freien Journalismus nur allzu gut zu behaupten. Auch ihr Äußeres widersprach dem niedlichen Kindchenschema vollkommen. Sie durfte zwei schmale, blassgrün funkelnde Katzenaugen ihr Eigen nennen, und auch sonst war da eine gewisse Ähnlichkeit zu ihren erklärten Lieblingstieren durchaus nicht von der Hand zu weisen. Ihre Wangenknochen waren recht hoch und ausgeprägt, die Haut sehr blass und das Gesicht über und über mit Sommersprossen bedeckt, was wiederum nicht so recht in das verrucht-sinnliche Gesamtbild passen wollte, das ihr zumindest im aufgestylten Zustand wahrhaftig nicht abzusprechen war. Ihr kupferrotes, ganz, ganz leicht gewelltes Haar trug sie etwas mehr als schulterlang, und außerdem hatte Keira ein Faible für körperbetonte, aber stilvolle Kleidung. Alles in allem hatte sich Keira niemals über mangelnde Aufmerksamkeit seitens des anderen Geschlechts beschweren müssen, aber kaum einer hatte jemals begriffen, dass irgendwo, ganz tief im Inneren der starken und vielleicht gerade deshalb so unnahbar wirkenden Karrierefrau doch auch der Wunsch nach dem sprichwörtlichen Prinzen auf seinem weißen Ross ein tristes, kaum beachtetes Dasein führte, nur um ab und an mit umso verzweifelterer Gewalt hervorzubrechen. Natürlich wollte Keira frei und selbstständig sein, aber ab und an sehnte doch selbst sie sich nach einer starken Schulter, an die sie sich - ganz freiwillig, versteht sich - in besonders schweren oder besonders schönen Zeiten anlehnen konnte. Den verträumten, schwärmerischen Blick auf die Liebe hatte Keira im Laufe der Jahre leider (oder zum Glück) bereits verloren, das änderte aber nichts daran, dass sie sich immer noch nach Aufmerksamkeit, Bewunderung und - ja, und nach einem Partner sehnte, der mehr in ihr sah als nur eine begehrenswerte Trophäe, mit der man aber weiß Gott nicht den Rest seines Lebens verbringen wollte. Möglicherweise war sie ja auch schon längst aus dem Alter heraus, in dem man sich noch haltlos und blauäugig verlieben konnte und höchstwahrscheinlich war das auch besser so. Bevor sie Daniel getroffen hatte, war sich Keira sicher gewesen, dass sie niemals wegen einem Mann Tränen vergießen würde - sie doch nicht! - aber dann war alles ganz anders gekommen. Wie gesagt, sie bereute nichts, aber manchmal, wenn sie an jenen Moment vollkommenen Glücks zurückdachte, den sie damals an jenem verzauberten Abend auf der Brücke erlebt hatte, an Daniels unbeschreibliches Lächeln, dann fühlte sie einen Stich mitten in ihrem Herzen. Niemals wieder hatte sie Daniel so lächeln sehen, hatte sie irgendjemanden so lächeln sehen, und das war vielleicht sogar schlimmer als alles andere, was sie in den vergangenen Jahren hatte durchmachen müssen. Je mehr sie jedoch die Straßen der Stadt durchstreifte, desto öfter begann sie sich zu fragen, ob es wirklich so etwas wie einmalige Momente im Leben gab. Gut, eine Chance war eine Chance, und einmal verloren ließ sie sich nicht mehr einfach so aufs Neue heraufbeschwören. War ein Augenblick erst einmal verstrichen, konnte er niemals wieder zurückkehren, soviel stand fest. Aber es gab neue Chancen und ähnliche Augenblicke. Genauso, wie man ja auch wie von einem grausamen Fluch gebannt ein und denselben Fehler wieder und wieder begehen konnte, so mussten sich doch auch denkwürdig schöne Momente wiederholen und ein weiteres Mal durchleben lassen! Und selbst wenn nicht - Keira hatte es satt, alleine zu sein. Sie war viel zu lange alleine gewesen, um das Gefühl noch in irgendeiner Weise genießen zu können, und obwohl sie diese Zeit sicherlich auch gebraucht hatte, um überhaupt erst einen Neuanfang wagen zu können, so fiel ihr dieser nun natürlich nur umso schwerer. Ein bisschen war sie ja schon aus der Übung gekommen, und so sah Keira nur einen einzigen Weg, ihren Plan erfolgreich in die Tat umzusetzen: viel, viel Übung. Gesagt, getan - schon am zweiten Abend, nach ihrer Heimkehr von den abendlichen Streifzügen durch die magischen Gassen, hatte Keira ein blau-schwarz gemustertes Schulheft zur Hand genommen (sie hatte schon vor langer Zeit festgestellt, dass Schulhefte von schlechter Qualität meist immer noch deutlich billiger waren als die unsauber perforierten Schreibblöcke der vergleichbaren Preisklasse), eine nostalgisch wertvolle CD ihrer ehemaligen Lieblingsgruppe aufgelegt und mit einem schwarzen Fineliner sämtliche Flirttricks, die sie sich noch irgendwie ins Gedächtnis hatte zurückrufen können, aufgeschrieben und anschließend durch nette kleine Bildchen visualisiert. Danach folgten kurze Übungsstunden vor dem Spiegel, eine Unterrichtseinheit, die vom verführerischen, aber nicht peinlich-aufgesetzten Augenaufschlag über den richtigen, ebenfalls eleganten und dezenten Hüftschwung bis zum vermeintlich gedankenverloren Spiel mit den Haarsträhnen alles beinhaltete, was man als paarungswilliges Menschenweibchen eben einfach unbedingt beherrschen musste. Die Basics, sozusagen, ein Crashkurs in Sachen Aufmerksamkeit erregen und gekonnter, auf gar keinen Fall zu rascher und vehementer Verführung, und obwohl es Keira insgeheim doch überaus peinlich war, solch ein ansatzweise vorpubertäres Verhaltensschema an den Tag zu legen, hatte am Ende doch wieder einmal ihre Zielstrebigkeit über den Stolz gesiegt - und zwar mit Erfolg. Keira hatte in den wenigen Stunden ihrer Beutezüge schon weit mehr Lächeln kassiert, als in allen zurückliegenden Jahren zusammen. Jung und alt schien von ihrem neu wiedergefundenen Selbstbewusstsein gleichermaßen beeindruckt zu werden, Businessmänner in ebenso schicken wie sündteuren Anzügen lächelten ihr nicht weniger wohlwollend entgegen als der zwar nicht unbedingt sonderlich attraktive, aber doch unbestreitbar charmante Gemüsehändler aus dem türkischen Feinkostladen, und mit jedem Schritt spürte Keira, wie ihr ein Stückchen Last von den Schultern fiel und wie ihr Gang zunehmend leichtfüßiger, aufrechter, sicherer wurde, obwohl sie gar nicht mehr so wirklich an High Heels gewöhnt war. Außerdem schien die Sonne und alles war wunderbar. Beinahe zu wunderbar, denn als Keira mit einem Mal wieder aus diesem belanglosen in den Tag hineinleben gerissen wurde, da konnte sie sich zuerst einmal vor lauter Schreck noch gar nicht so richtig freuen. Wie gesagt - zunächst einmal. Dann jedoch, ganz plötzlich und unvermutet, wurde der Himmel sogar noch viel blauer, als er es ohnehin schon gewesen war. Wenn es denn mal Wolken gab, dann bildeten diese ganz herrliche, kunstvolle Muster (Tiere, Gesichter, Blumen, Märchenschlösser) und das Lachen der Menschen um sie herum war genauso hell und zart wie das Rauschen der Blätter, als die Baumkronen vom zarten Hauch des Windes gestreift wurden. Und dies alles war auch überhaupt nicht kitschig, sondern wunder-, wunderschön. Das alles lag daran, dass Keira den eindeutigen Beweis dafür gefunden hatte, dass es für sie, entgegen all ihrer Zweifel und Sorgen, doch noch nicht zu spät war. Sie saß gerade auf den Stufen der großen Treppe und schlürfte ihren White Chocolate-Macchiato, als sie mit einem Mal dieses Lachen hörte. Es war nicht einmal wirklich so, als ob dieses Lachen sie in irgendeiner Form an Daniel erinnert hätte. Eigentlich klang es auch vollkommen anders, tiefer, männlicher, ein bisschen weniger rau, dafür tönender, ein wunderbares Lachen. Obwohl Keira wusste, das man so etwas als sinnlich verführerische Frau ja eigentlich gar nicht machen durfte, konnte sie doch nicht dem Verlangen widerstehen, sich suchend nach der Quelle dieses bemerkenswerten Lachens umzusehen. Es war keine sonderlich lange Suche, auf die sie sich da machen musste, denn der Lachende war tatsächlich alles andere als eine unauffällige Erscheinung. Keiras Katzenaugen hefteten sich bereits nach wenigen Sekunden auf einen Mittdreißiger in einem braunen, elegant geschnittenen Anzug mit leicht welligen, kurzen dunklen Haaren, schokoladenbraunen Augen und einem überaus männlichen, aber noch nicht unangenehm machohaft anmutenden Gesicht. Wie der Zufall es so wollte, blickte er genau in dem Moment in Keiras Richtung, als sie wiederum in seine blickte, und ihre Augen trafen sich genau auf halbem Wege. Keira lächelte. Er lächelte zurück. Dann wandte er sich wieder der kleinen Gruppe von drei Männern zu, offensichtlich seine Freunde, mit denen er zuvor bereits in eine angeregte und offensichtlich auch überaus erheiternde Konversation verwickelt gewesen war. An und für sich ja nichts Ungewöhnliches, sondern eine Szene, wie sie Keira in den vergangenen Tagen unzählige Male erlebt und auch gar nicht weiter im Gedächtnis behalten hatte. Auch bei diesem kurzen, beflügelnden Blickkontakt war es nicht anders - er wurde registriert, geprüft und für gut befunden, anschließend abgeheftet und dann fein säuberlich in einem großen, roten Ordner mit der Aufschrift "warmherzig-sympathisch" verstaut. Dieser Ordner mochte nicht ganz so überfüllt sein wie sein großer Bruder "ordinär-gaffend" oder auch "schwärmerisch-bewundernd", aber doch immer noch voll genug, um die Schönheit des Momentes nur zu einer alltäglichen Begebenheit, nicht aber zu einem Wunder werden zu lassen. Keira nahm den letzten Schluck des angenehm warmen, schneeweißen Getränks aus ihrem grünen Pappbecher, leckte sich vorsichtig über die rot geschminkten Lippen und stand dann auf, um die kärglichen Überreste ihres beflügelnden Lebenselixiers (denn ein Leben ohne Kaffee war in Keiras Augen wirklich ganz und gar unvorstellbar) in den nahe gelegenen Papierkorb zu befördern, als sie mit einem Mal spürte, wie ihr ganz sachte und verstohlen ein Finger auf die Schulter tippte. "Ähm - Entschuldigung?" Die beiden - zugegebenermaßen nicht einmal sonderlich poetischen - Worte schlugen wie ein eisig kalter Blitz in Keiras bedächtige Mittagspausenruhe ein. Im ersten Moment stand sie einfach nur da, den halb zerdrückten Pappbecher in der rechten Hand, die andere fest auf ihren kurzen schwarzen Rock gepresst, unfähig sich zu bewegen oder irgendein sinnvolles oder auch sinnloses Wort hervorzubringen. Sie schlug einige Male ihre langen, schwarz getuschten Wimpern auf und nieder, schnappte kurz nach Luft, und drehte sich dann langsam, mit angehaltenem Atem herum. "Ja?", fragte sie mit ihrer gewohnt ruhigen, leicht rauchigen Stimme, die sie im Laufe der Jahre perfekt unter Kontrolle zu halten gelernt hatte. Sie war nicht einmal wirklich überrascht, in zwei schöne, schokoladenbraune Augen zu blicken, die gut anderthalb Köpfe über ihr in einem attraktiven Männergesicht lagen, trotzdem fühlte sie sich wie gelähmt von einer plötzlichen Woge aus Erkenntnis und Hoffnung, fast so wie eingeklemmt und zerquetscht zwischen den Zahnrädern ihrer Schicksalsuhr, und obwohl sie ganz instinktiv ihre Lippen zu einem Lächeln verzog, schien sie doch kaum mehr Herrin ihrer eigenen Sinne und Körperfunktionen zu sein. Ihr Puls raste und ihr Oberteil schien mit einem Mal sehr viel enger an ihrem Körper zu kleben, aber all das war ihr sowieso kaum mehr wirklich bewusst. "Ich - ich meinte nur, entschuldigen Sie, dürfte ich vielleicht..." Er stockte kurz, und in dem warmen Dunkelbraun der Augen konnte Keira förmlich lesen, wie er in der Kürze der Zeit verzweifelt nach den richtigen Worten suchte. "Dürfte ich vielleicht Ihren Mülleimer benutzen?" Keira zog zweifelnd beide Augenbrauen hoch, doch als sie sah, wie sich ein verlegenes Grinsen auf die Lippen ihres gut aussehenden Gegenübers stahl, da konnte sie gar nicht mehr anders, als mit einem verschwörerischen Zwinkern zu antworten. "Tut mir leid", lächelte sie, so geheimnisvoll sie nur irgendwie konnte, "aber für die Benutzung meines Mülleimers muss ich leider gewisse Gebühren verlangen." "Gebühren?" Anstatt auch nur im Geringsten pikiert dreinzublicken, schien der Mann sogar überaus gerne in ihr kleines Spielchen mit einzufallen. Ein zerknirschter Ausdruck trat auf sein Gesicht und in seine Stimme. "Das tut mir aber leid, ich habe meine ec-Karte leider zuhause vergessen. Aber dürfte ich vielleicht... mit einem Kaffee bezahlen?" "Noch einer?", entgegnete Keira, während sie nun endlich doch ihren Kaffeebecher in das große runde Loch des Mülleimers beförderte. Als sie sah, wie ihr unbekannter Gesprächspartner daraufhin sogar noch ein klein wenig zerknirschter dreinblickte, da lachte sie und warf sich ihr rotes Haar über die Schulter zurück. "Gerne!" Und als der Mann daraufhin sofort in ihr Lachen einstimmte, da wusste sie plötzlich, dass sich all ihre kindischen Bemühungen gelohnt hatten, und wieder einmal war der Tag perfekt. Als Keira in dem schmucklos gelben S-Bahn-Wagon saß, der sie trotz spätsommerlich warmen Temperaturen mit der stoischen Gelassenheit eines alteingesessenen innerstädtischen Transportmittels in Richtung ihrer eigenen vier Wände beförderte, da war sie beim besten Willen nicht mehr in der Lage dazu, jenes glücklich debile Dauerlächeln aus ihrem Gesicht zu verbannen, dass sich dort mit selten gekannter Hartnäckigkeit festgesetzt hatte. Aber was hätte es ihr es denn auch genutzt? Die erste vorsichtige Testphase war zu einem Ende gekommen, und so beschloss Keira, ihre unnahbar verführerische Aura des Geheimnisvollen eben einfach mal eine unnahbar verführerische Aura des Geheimnisvollen sein zu lassen und - sich nicht mehr weiter darum zu sorgen. Der Himmel war tiefblau und verlief sich am Horizont zu einem helleren Türkis. Doch während das Licht am Himmel dahinschwand, begannen die zahllosen Lichter der Stadt, eines nach dem anderen, zu erwachen. Die Temperaturen wollten und wollten nicht abkühlen, aber auch das konnte Keira momentan nicht mehr großartig stören, obwohl sie drückende Wärme normalerweise nicht ausstehen konnte. Allerdings hatten die zurückliegenden Stunden ihr Flügel verliehen, die sie gut und gern zehn Zentimeter über den Dingen schweben ließen und sie mit einer seltsamen, ausgelassenen Ruhe erfüllten. Es war lange her, dass sie sich so ungezwungen und so... gut mit einem Mann hatte unterhalten können. Sie hatten sich in die Augen gesehen, und dann war ganz plötzlich und ohne jede beklommene Verlegenheit, ohne jeden peinlichen Zwang ein Gespräch aufgekommen, für das jene altbekannte Pingpong-Metapher, die Keira bislang immer eher ungläubig belächelt hatte, förmlich erfunden worden zu sein schien. Jeder von ihnen spielte dem anderen Bälle zu, und schon ging die Konversation lebhaft hin und her, und wenn dann doch einmal ein Thema ins Aus gespielt wurde, dann wurde einfach ohne lange Umschweife mit einem neuen, nicht minder unterhaltsamen Spiel begonnen. Keira hatte herausgefunden, dass ihr überaus charmanter, humorvoller und obendrein noch gut aussehender Gesprächspartner auf den Namen Garrett hörte, dass er von Beruf Versicherungsvertreter war (bei diesem Teil des Gespräches hatte Keira besonders herzlich lachen müssen, eröffnete er doch Raum für eine wahre Unzahl an kleinen Witzchen und Neckereien), dass er gerne Jazz, insbesondere Bebop hörte und sich am liebsten entspannte, indem er mediterrane Gerichte für seine Freunde zauberte. Er hatte den gleichen Lieblingsfilm wie Keira, ebenso wie sie eine Vorliebe für makabren, pechschwarzen Humor und überhaupt fanden sich im Laufe des gar nicht mal so langen Gespräches weit mehr Gemeinsamkeiten, als Keira sich jemals zu träumen gewagt hatte - noch dazu bei solch einem Traummann! Keira hätte am liebsten gesungen, und als die S-Bahn endlich an der richtigen Haltestelle unweit des Hochhauses hielt, in dem sich ihre kleine aber schöne Wohnung befand, da zog sie sich ihre geliebten High Heels aus, um den Rest des Weges rennen und hüpfen zu können. Die folgenden Tage durchlebte Keira in einem Zustand aufgeregter, beschwingter Harmonie. Das Wetter war traumhaft gut, von einigen kurzen, meist nächtlichen Regenschauern und noch viel kürzeren Gewittern einmal abgesehen schien die ganze Zeit über die Sonne und die Temperaturen waren angenehm, nicht zu warm und schon gar nicht zu kalt. Ermutigt von ihrer gelungenen Unterhaltung mit Garrett hatte Keira sich nach langer Zeit endlich ein Herz gefasst und sich mit einer besonders sympathischen Kollegin zum Shopping verabredet. Die Frau hieß Claire, war allein erziehende Mutter einer bezaubernden kleinen Tochter und trug trotz ihrer nicht ganz makellosen Figur so unendlich stylishe Kleidung, dass Keira sie im Grunde genommen tagein, tagaus nur hätte anstarren und bewundern können. So herrlich Keiras einsame Streifzüge durch ihre doch ein bisschen fremd gewordene Heimatstadt ganz unzweifelhaft gewesen waren, sie genoss die neu gewonnene Gesellschaft doch noch weit mehr als angenommen. Nur eine Woche nach ihrer ersten gemeinsamen Unternehmung schien es Keira wie ein Ding der Unmöglichkeit, dass sie überhaupt jemals ohne so etwas wie eine beste Freundin hatte auskommen können. Auch Claire war erst vor kurzem in die Stadt gezogen, kannte noch niemanden und nahm die Einladungen ihrer Kollegin dankend an. Sie waren zwei modebewusste, charakterstarke Frauen im besten Alter, zwischen denen sich sofort eine vertraute Nähe eingestellt hatte und die es sich nun zum Ziel machten, die besten Boutiquen und In-Shops der Stadt ausfindig zu machen und diese nach und nach leer zu kaufen. Gut - weder Keira noch Claire war unbedingt reich, nicht einmal wirklich wohlhabend (mittelständig war wohl das treffendste Wort, um ihre finanzielle Lage zu beschreiben, aber Keira hasste diese Bezeichnung, weil sie so furchtbar langweilig klang), und dementsprechend bestanden ihre Besuche in den angesagtesten Läden und den besten Geheimtipps auch vornehmlich aus stundenlangen Anprobierorgien. Trotz allem war es einen Tatsache, dass Keira und Claire sich wundervoll gemeinsam amüsieren konnten, und so war Claire auch die erste und einzige Person, der Keira von ihrer märchenhaften Begegnung mit ihrem heimlichen Traumprinzen Garrett erzählte. "Er ist einfach unglaublich!", seufzte die junge Frau, nachdem sie in einem gut zehnmütigen Vortrag erst einmal lang und breit erörtert hatte, was genau an ihrer Zufallsbekanntschaft denn nun eigentlich so unheimlich unglaublich war. Claire grinste und nahm einen tiefen Schluck von ihrem stillen Mineralwasser (sie trank überhaupt nichts anderes, da stilles Mineralwasser angeblich gut für Haut und Teint war). "Du bist auch unglaublich, Keira", diagnostizierte sie mit gespieltem Ernst. "Unglaublich verliebt!" "Blödsinn!", entgegnete Keira hastig und ertappte sich nur wenige Sekunden später bei einem pubertär verklärten Grinsen. "Ja, ich sehe es!" Claire runzelte die Stirn. "Keira, dir springt die Verliebtheit beinahe schon aus den Augen. Du hast dich von einem begehrenswerten Vamp in ein kleines Schulmädchen verwandelt, das in stummer Verzückung ihren Lehrer anhimmelt!" "Er ist in meinem Alter, Claire! Und er liebt Duftkerzen mit Vanille- und Zimtaroma. Ein... ein Mann, der Duftkerzen mit Vanille- und Zimtaroma liebt! Oh Claire, ich..." Keira seufzte ein weiteres Mal, noch ungleich versunkener und schwärmerischer als zuvor, und ließ sich nach hinten auf ihre Matratze fallen. "Ich nehme alles zurück. Das hier wäre selbst einem Schulmädchen zu peinlich! Als nächstes schnappst du dir dein Kissen und drückst es zärtlich an deine Brüste, und alles mit diesem verklärten Ausdruck auf deinem Gesicht..." "Warum eigentlich nur mein Kissen?", zwinkerte Keira ihrer neu und trotzdem schon unheimlich lieb gewonnen Freundin zu. Beide lachten. "Hey - nichts überstürzen. Aus dem Alter sind wir raus, wenn es bis jetzt nicht geklappt hat, dann haben wir es auch nicht mehr eilig. Wie oft hast du ihn denn eigentlich schon getroffen?" "Viermal!", strahlte Keira. "Und ich finde ihn bislang weder langweilig noch aufdringlich noch charakterlos! Was sagst du jetzt?" "Wow!" Claire weitete wie in größter Verblüffung ihre graublauen Augen. "Keira, wenn du mich fragst - das wird was fürs Leben." "Glaube ich auch! Und weißt du, was sogar noch viel, viel besser ist? Nächsten Freitag sehen wir uns wieder - zum Abendessen!" "Abendessen? Mädchen, du gehst aber ran!" "Nein, nein, er war es! Er hat mich eingeladen!" "Nicht schlecht...", murmelte Claire und wickelte sich eine ihrer glänzend brünetten Haarsträhnen um den Finger. Dann hielt sie merklich in ihren Gedanken inne, wandte sich Keira zu und sah ihr nun direkt in die grünen Katzenaugen. "Und? Willst du es ihm sagen?" "Ich will - was?" "Na, ob du es ihm sagen willst?" Sie hob in scheinbar vollkommen beiläufiger Weise ihre Schultern. "Dass du in ihn verliebt bist, meine ich." "Dass ich... Claire, ich weiß nicht, ist... ist es dazu nicht noch ein bisschen... zu früh?" "Zu früh?" Wieder machte Claire große Augen. "Wach auf, du bist keine Zwanzig mehr! Die Zeiten, in denen wir wochenlang Händchen halten und ausprobieren konnten sind vorbei! So ein Mann läuft einem nicht alle Tage über den Weg - charmant, gut aussehend und dann auch Single! Das ist deine Chance, Keira, das kommt nicht so bald wieder. Willst du wirklich als alte Jungfer enden?" "Claire... das ist nicht mehr möglich. Und außerdem... sagtest du nicht eben noch, in unserem Alter hätte man es nicht mehr eilig, von wegen lang genug gewartet et cetera?" "Das ist etwas vollkommen anderes!" "Und was ist, wenn ich ihn total überrumple und dann gleich wieder verscheuche?" Keira schüttelte den Kopf und vergrub das Gesicht in ihren Händen. "Oh Gott, warum muss das eigentlich alles so furchtbar kompliziert sein?!" "So ist die Liebe, Keira." Claire grinste. "Aber weißt du was? Du stehst jetzt auf, gehst vor den Spiegel und schaust dich einmal von Kopf bis Fuß an. Dann sag mir bitte, was du siehst, und sag mir, wie unendlich blöd ein Mann sein muss, der sich das freiwillig entgehen lässt! Immerhin ist er ja auch schon in unserem Alter..." "Vielleicht hast du recht", murmelte Keira. Sie stand auch tatsächlich auf, allerdings nicht, um vor den Spiegel, sondern um vor das Fenster zu treten. Ihr Blick ruhte auf dem Lichtermeer zu ihren Füßen, und mit einem Mal stahl sich ein halb wehmütiges, halb vorfreudiges Lächeln auf ihr Gesicht. "Weißt du... ich kenne da einen wirklich wunderschönen Ort, da könnten wir vor dem Essen noch hingehen. Hinterher natürlich eigentlich auch, aber am frühen Abend ist es dort einfach am schönsten, wenn die Sonne untergeht..." Sie neigte ihren Kopf ein Stückchen weit zur Seite, legte einen Finger an ihre Lippen und wandte sich mit einem fast schon kindlich verschmitzten Lächeln zu ihrer Freundin um. "Was meinst du, Claire... soll ich?" Den Rest der Woche verbrachten Claire und Keira einmal mehr in den zahllosen Läden der Stadt, die sie zuvor schon ausgiebig ausgekundschaftet hatten. Diesmal war jedoch nicht etwa spöttisches bis sehnsüchtiges Anprobieren der Sinn und Zweck ihrer Handelsreise, sondern ein viel konkreteres, ernsthafteres Ziel: Keira für einen Abend zur schönsten Frau auf dem ganzen Planeten zu machen. Nach vielen schweißtreibenden Stunden in engen Kabinen mit barbarisch unvorteilhaften Lichtverhältnissen hatten sich die beiden Frauen schließlich für ein schlichtes, blassgrünes Kleid entschieden, das perfekt zu Keiras Augenfarbe und ihrer bleichen Haut passte. Es war schulterfrei und etwas weniger als knielang, die Taille leicht nach oben versetzt und von einem dunkelgrünen Satinband vorteilhaft in Szene gesetzt. Über dem farbgebenden, leicht schimmernden Stoff des Kleides war noch eine zweite Lage hauchdünnen, beinahe transparenten Stoffes. Keira und Claire waren gleichermaßen begeistert. Nachdem auch noch das passende Make up und Schuhe gefunden worden waren, beschlossen die beiden Frauen, sich eine wohl verdiente Kaffeepause in den Arkaden zu gönnen. Obwohl Keira sich dauerhaft beflügelt fühlte, konnte sie ihre schmerzenden Fußsohlen doch nicht verleugnen, und so freute sie sich ganz besonders auf ein paar ruhige Augenblicke mit einem warmen Getränk in der Hand und ihrer unverschämt gut gelaunten Freundin an der Seite. Die beiden hatten nämlich einen ganz besonderen Zeitvertreib gefunden, der eigentlich lediglich aus der simplen Tätigkeit bestand, auf einer der Bänke am Springbrunnen zu sitzen und die vorbeigehenden Leute zu beobachten. Nur um sie danach einer kritischen Begutachtung zu unterziehen, versteht sich, und diese Mischung aus ein klein wenig Neid und Bewunderung mit einer riesengroßen Portion Lästereien wollte Claire und Keira niemals langweilig werden. Die Stadt bot eine unvorstellbare Menge skurriler, stilloser oder einfach nur latent unvorteilhaft hergerichteter Gestalten, die wiederum einen unerschöpflichen Stoff für Gespräche und Diskussionen über Sinn und Unsinn modischer Trends lieferten. "Kuck dir die mal an!", kicherte Keira und vollführte eine dezente Kopfbewegung in Richtung einer Frau, deren wasserstoffblondiertes Haar mit der grellen Schminke in ihrem Gesicht um die Wette strahlte. "Diese Hose, die war bestimmt sündteuer! Glaub mir - ich hab einen Riecher für so was..." "Aber sicher war die teuer! Und jetzt sag nicht, dass sich diese Investition nicht gelohnt hätte. Selten was gesehen, mit dem man so unglaublich vorteilhaft seinen Hüftspeck betonen kann..." "Ich werde das nie verstehen... dabei ist sie doch überhaupt kein bisschen dick, aber diese hyperengen Hüfthosen bringen doch einfach noch jeden Rettungsring ans Tageslicht. Figurkiller Nummer eins, so was tut man sich doch nicht freiwillig... oh Gott! Claire, schau, da drüben. Schnell! Schnell, bevor sie weg ist! Ist das nicht... hey, nicht so auffällig! Aber was ich sagen wollte: Ist das nicht wie eine dieser bösen Stiefmütter aus den niveaulosen Fernsehserien?" "Neureich lässt grüßen!" Claire rollte mit den Augen. "Sind das überhaupt noch Haare, die sie da auf dem Kopf trägt, oder ist das Beton? Und sieh dir diesen... diesen Hosenanzug an... ein klein wenig overdressed zum Shoppen, oder lieg ich da falsch?" "Ja, total... das trägt man heutzutage eben so... aber was um alles in der Welt hat sie da in ihrem Designer-Handtäschchen? Eine Ratte?" "Das nennt sich Chihuahua, Dummchen. Der letzte Schrei unter den Promis. Jeder, der was auf sich hält, muss heutzutage so ein Vieh mit sich herumschleppen?" "In der Handtasche? Igitt!" "Aber klar doch. Das ist kultig!" "Das ist hässlich!" Keira rümpfte die Nase. "Das Ding sieht aus, als wäre es nackt! Und dann diese ekelhaften, hysterischen Glubschaugen, wie bei einem Frosch..." "Ach was... schlimmer!" Claire grinste. "Aber wo wir die ganze Zeit nur von Frauen reden - jetzt sieh dir doch bitte das mal an. Der Typ ist auf keinen Fall jünger als wir, und dann schleppt er so ein verhuschtes Mäuschen von höchstens zwanzig Jahren mit sich herum, aber behangen wie ein Weihnachtsbaum, frei nach dem Motto: Mehr Klunker geht nicht. Und... oh nein, achte auf ihren Bauch! Wenn da nicht bald ein freudiges Ereignis bevorsteht... und wie er ihr seine Zunge in den Hals schiebt... widerlich, einfach widerlich. Midlife Crisis lässt grüßen!" "Wo denn? Wo?" Keiras grüne Katzenaugen tasteten in hämischer Vorfreude über die Menschenmenge, die sie umgab - und die noch in der nächsten Sekunde schlichtweg einzufrieren und sich anschließend aufzulösen schien. Wo sich eben noch ein perfekt polierter Boden unter ihren Füßen befunden hatte, da tat sich nun mit einem Mal ein riesiger, klaffender Abgrund auf, der sie in eine eisig kalte Tiefe hinabriss. "Keira, was ist los?" Claires Stimme drang wie durch einen Schleier zu ihr hindurch, doch ihre Worte schienen keinerlei Sinn mehr zu ergeben. Auch die Berührung ihres Ellenbogens, der fragende Stoß in Keiras Seite, war nur mehr ein gedämpfter äußerer Reiz, der keinen tieferen Eindruck in ihrer vollkommenen Erstarrung hinterlassen konnte. Langsam, wie in Trance, erhob sich Keira und ging dann mit erstaunlich festen, allerdings mehr mechanischen als wirklich gefassten Schritten auf den Ausgang der Arkaden zu. Dass Claire ihr in sichtlicher (und verständlicher) Besorgnis folgte, registrierte sie bestenfalls noch beiläufig. Und dann, ganz plötzlich und unvermutet, begann sie zu lachen. Sie hatte keinerlei Ahnung, warum sie das eigentlich tat, sie konnte allerdings auch keinen Einfluss darauf nehmen und schon gar nicht mehr damit aufhören. Blicke trafen sie, entsetzte, mitleidige, fürchterliche Blicke, und das war ihr auch keineswegs egal. Es war nur einfach so, dass sie überhaupt gar nichts mehr anderes machen konnte als zu lachen, immer weiter zu lachen und zu lachen, bis sie endlich in die S-Bahn eingestiegen war und sich gemeinsam mit der höchst besorgt auf sie einredenden Claire (von der sie übrigens immer noch keine rechte Notiz nahm) auf einer der Sitzreihen niedergelassen hatte. Da plötzlich begriff sie, dass sie zum ersten Mal seit ihrer Rückkehr in die Stadt den Zauber der glühenden Fensterscheiben nicht miterleben würde, und erst jetzt ging ihr Lachen in ein leises, hilfloses Schluchzen über. "Er ist ein verdammtes Arschloch, Keira!" Claires Stimme klang ebenso genervt wie verzweifelt. "Begreif das doch endlich mal! Wer ein Schulmädchen schwängert, nur um sich in seiner Freizeit noch mit richtigen Frauen treffen zu können, die's ihm dann ordentlich besorgen, der ist ein noch viel größeres Arschloch, als ich hier auf die mir ordinärst mögliche Art und Weise sagen kann!" "Ich... ich weiß, Claire!" Keira zog einen Schmollmund, den ihre Freundin am anderen Ende der nicht vorhandenen Telefonleitung (Keira hatte gerade ihren freien Nachmittag und war noch in der Stadt geblieben, weshalb Claire sie auf ihrem Handy angerufen hatte) freilich nicht sehen konnte. "Ich weiß, ich weiß, ich weiß, das hast du mir in den vergangenen Tagen etwa fünfzigtausendmal gesagt und wirst es mir in den kommenden Tagen sicher auch mindestens noch doppelt so oft sagen, aber... aber... er mochte meinen Hello Kitty-Handyanhänger! Ich... ich habe auf der ganzen Welt noch nie einen einzigen Mann getroffen, der meinen Hello Kitty-Handyanhänger mochte! Alle anderen haben gemeint, ich sei kindisch, aber das ist überhaupt nicht wahr, Claire! Das ist so gemein!" "Keira..." "Und er sammelt Kochbücher, genauso wie ich!" "Keira..." "Und außerdem liest er gerne makabre Märchenbücher, genauso wie..." "Keira!!!" Claire schaubte wütend in den Telefonhörer, was sich als unangenehm lautes Rauschen in Keiras Trommelfell bohrte. "Verdammt noch mal, der Typ hat dir doch nur schön nach dem Mund geredet und sich bei dir eingeschleimt, weil er dich vö... weil er mit dir schlafen wollte. Keira, wach auf! Wer sich so ein junges Ding als nettes Modeaccessoire anschafft, der kann einfach nur eine absolute Niete sein, und zwar in sämtlichen Lebenslagen!" "Er konnte tolle Witze erzählen..." "Keira - ich war mal in einen Typen verknallt, den ich knapp ein halbes Jahr lang für den größten Komiker auf Erden gehalten habe. Etwa ein Jahr später habe ich ihn wiedergetroffen, und ich hätte im Boden versinken können, als ich sein niveauloses Dauergelaber mal sachlich neutral bewerten konnte..." "Er konnte aus mindestens fünfhundert tollen Filmen zitieren!" "Du kennst überhaupt keine fünfhundert tollen Filme, Keira!" Am anderen Ende der Leitung ertönte ein tiefer Atemzug. "Jetzt hör mal zu: Ich muss wieder zurück, die Arbeit ruft nach mir und ich kann mich leider nicht taub stellen. Denk immer dran: Er ist ein Arschloch. Ach so, und - bis nachher." "Ja... bis nachher!" Keira ließ ihren Kopf in den Nacken zurücksinken und fuhr sich mit beiden Händen durch ihr rotes Haar. Die Sonne schien warm auf ihr Gesicht und sie musste die Augen schließen, um nicht geblendet zu werden. Überhaupt war alles viel zu grell, viel zu hell, viel zu bunt und viel zu... fröhlich. Es war nun einmal leider Gottes eine unumstößliche Tatsache, dass ein perfekter Spätsommertag (der allerdings genauso aussah, genauso roch, genauso klang und sich auch genauso anfühlte wie ein perfekter Hochsommertag) alles andere als die perfekte Untermalung für einen Weltschmerzanfall vom Feinsten war, und überhaupt konnte Keira keine lachenden Gesichter mehr in ihrer unmittelbaren Nähe ertragen. Sie war frustriert. Auf die erste hilflose Verzweiflung war erst einmal eine Woge von Wut gefolgt, Wut auf Garrett, Wut auf sich selbst, in erster Linie Wut auf diese boshafte, zynische Macht namens Schicksal, die ihren eben erst schüchtern neu erwachten Mut, die zarten Knospen ihrer lang verwelkten Hoffnung (wenn Keira wütend war, dann neigte sie zu derart pathetischen Metaphern) mit eisern beschlagenen Stiefeln zertrampeln und im Keim ersticken musste, kurzum: Die sie, die doch in den vergangenen Jahren wahrlich genug hatte durchmachen müssen, nun auch noch in die Arme eines verheirateten Weiberhelden mit offensichtlichem Jugendwahn getrieben hatte. Sie hatte sich somit - wenn auch nur kurzfristig - auf das Niveau einer Geliebten, einer unmoralischen Affäre hinabgelassen, und diese Erkenntnis verletzte nicht nur ihre Gefühle, sondern auch ihren Stolz. Tatsächlich war nun, knapp anderthalb Wochen später, von diesem Schwindel erregenden Gefühlstaumel nicht viel mehr als Enttäuschung übrig geblieben, Enttäuschung und ein Gefühl von Verletztheit, das viel tiefer ging, als Keira es sich jemals hatte vorstellen können. Sie wusste ja selbst, dass sie Garrett lediglich viermal getroffen hatte und somit ohnehin noch nicht das Recht besaß, in diesem Fall hochoffiziell von Liebe zu sprechen. Außerdem tat Claire ja nun wirklich ihr Bestes, sie aufzubauen und emotional wieder auf die Beine zu bringen, aber ihre Freundin konnte ja auch überhaupt nicht ahnen, was dieser eigentlich noch recht harmlos scheinende Vertrauensbruch für Keira bedeutete. Sie hatte nach langer Zeit wieder eine Türe geöffnet, die sie für immer verschlossen geglaubt hatte. Sie war bereit gewesen, diesem Mann, den sie kaum (im Grunde genommen ja überhaupt nicht) kannte, das wertvollste Geschenk zu machen, das sie besaß, das sie jemals besessen hatte, und er hatte dieses Geschenk mit Füßen getreten. Unwissentlich zwar, aber das machte die Sache leider nicht besser, und nun fühlte sich Keira, als ob irgendwo in den unendlichen Weiten ihres inneren Universums eine Sonne explodiert wäre. Sie hatte keine Lust mehr zu flirten, sie sah ihren Traum in unerreichbare Ferne gerückt, und wenn sie ganz ehrlich war, dann wagte sie es auch überhaupt nicht mehr, noch einmal ihre Hand danach auszustrecken. "Verdammtes Arschloch!", stieß sie zwischen den Zähnen hervor und beförderte den Pappbecher, der sie mit einer extra großen Portion Eis über ihren Kummer hatte hinwegtrösten sollen, in den nächst gelegenen Papierkorb. "Vielen Dank. Womit habe ich denn das Kompliment verdient?" "Was...?!" Keira schreckte hoch - und blickte direkt in zwei leuchtend blaue Augen, die ihr mit freundlichem Spott entgegenblitzten. "Sorry, ich wollte Ihnen keine Angst einjagen", grinste der zugehörige Mann, und noch während er sprach, spürte Keira, wie ihr ein wohlig warmer Schauder über den gesamten Körper lief. Ihr (offensichtlich alles andere als schüchternes Gegenüber) war gewiss nicht der attraktivste Mann, den sie jemals getroffen hatte, genau genommen sah er sogar ziemlich gewöhnlich aus mit seinen relativ kurzen, dunkelblonden Haaren und dem Look Marke Jeans und T-Shirt, aber... da war irgendetwas in seiner Art zu sprechen... oder in seinen Augen... vielleicht auch einfach nur in seinem unverschämten Grinsen... das Keira so unendlich bekannt vorkam, dass es sie gleichzeitig schwitzen und frieren ließ. Es mochte nur ein ganz, ganz leiser Hauch von Daniel sein, aber es war dennoch mehr als genug, um ihren Herzschlag deutlich zu beschleunigen. "...und ich bin auch kein Geist!" "Äh... was?" Keira blinzelte dem Fremden, ganz plötzlich aus ihren Gedanken gerissen, überaus ratlos entgegen. "Ich sagte nur, dass ich kein Geist bin. Weil sie mich nämlich so angesehen haben. Gut... eine Garantie kann ich darauf natürlich nicht geben, aber... falls ich irgendwann im Laufe der letzten Monate verstorben sein sollte, dann ist es mir zumindest bislang noch nicht aufgefallen." Gegen ihren Willen musste Keira ganz schwach lächeln. "Die Macht der Verdrängung?" "Möglicherweise." Der Mann grinste ein weiteres Mal. "Aber wo wir schon mal beim Thema wären: Was ist eigentlich Ihr Sternzeichen?" "Ähm... mein... was ist denn das für eine merkwürdige Frage? Mal abgesehen davon, dass es Sie nichts angeht - fragte man nicht früher erst einmal nach dem Namen des anderen? Oder können Sie den dann aus meinen Sternen herauslesen?" "Unsinn! Und sehn Sie mich nicht so streng an, sonst krieg ich noch Angst und laufe weg und das darf ich leider nicht." Dennoch machte er demonstrativ einen Schritt nach hinten. "Also, noch einmal: Was ist ihr Sternzeichen?" "Wassermann", entgegnete Keira mit Grabesmiene und zog lauernd eine Augenbraue nach oben. "Und jetzt?" "Jetzt", verkündete der Blonde mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen, "kann ich ihnen eine wichtige Prophezeiung übermitteln, denn ihr Leben ist an einen entscheidenden Wendepunkt gekommen. Das Schicksal hat Großes für sie vorhergesehen, und die Zeit ist reif..." Er stockte, drehte sich um und vollführte einige merkwürdige Bewegungen mit den Händen. Dann sah Keira, wie er in seiner Hosentasche kramte, noch ein wenig fuchtelte und mit irgendetwas herumhantierte, nur um sich dann mit einer schwungvollen Bewegung und einem filmreifen Lachen wieder in ihre Richtung zu drehen. In seiner Hand hielt er ein kleines, violett glänzendes Rechteck aus Papier, auf dem in goldenen, verschnörkelten Lettern irgendein unaussprechlicher französischer Name geschrieben stand. "...der Zukunft ins Gesicht zu sehen. Kommen Sie deshalb jetzt zur Neueröffnung des Jahres, Madame Rouchardeux erwartet Sie und hält für alle Kunden, die sich innerhalb von sieben Tagen melden, ein Gratishoroskop oder auch ein kostenloses Kartenlegen als kleines Willkommensgeschenk bereit. Zögern Sie nicht - denn Ihre Sterne kennen den Weg! Und falls nicht... da ist auch ein kleiner Stadtplan hinten auf den Flyer mit draufgedruckt..." "Ach... so..." Keira musterte das kitschig-mysteriös gestaltete Stück Papier einige Momente lang mit einem Blick, der sich nicht so recht zwischen Verwirrung und Enttäuschung entscheiden konnte. Bevor sie jedoch noch irgendwie reagieren konnte, zauberte der Blonde ein fast schon entschuldigendes, auf jeden Fall aber ungewohnt verlegenes Lächeln auf seine Lippen und beugte sich ein Stückchen weit zu ihr hinab. "Entschuldigen Sie, ich wollte Sie wirklich nicht verschrecken. Ich glaube ja auch nicht in diesen ganzen Astrologie-Kram, es ist nur so, dass... mein kleiner Bruder ist krank geworden, also hab ich mich in meiner unendlichen Hilfsbereitschaft dafür angeboten, seinen tollen Nebenjob hier zu übernehmen. Er studiert, wissen Sie, und er hat's eben nicht so dicke. Für mich heißt das, dass ich den Rest des Tages hier treppauf und treppab laufen darf, bis ich all diese hässlichen Dinger hier losgeworden bin. Nicht unbedingt ein Sprung auf meiner Karriereleiter, aber, wie sagt man so schön? Ich war jung und er brauchte das Geld..." "Wow... die Gutherzigkeit in Person, was?" "Unsinn - wir teilen den Lohn natürlich!" Er lachte und streckte die Hand mit dem Flyer noch ein klein wenig näher zu Keira hin. "Nun nehmen Sie schon - bitte. Tun Sie mir doch diesen einen Gefallen, kostet ja noch nichts." "Gratishoroskop, was?" Keira schüttelte den Kopf, und wieder stahl sich da dieses bösartige Lächeln auf ihre Lippen, das so überhaupt gar nicht ihrem eigenen Willen zu gehorchen schien. "Und dann muss man ein kleines Vermögen bezahlen, um den Laden überhaupt wieder verlassen zu dürfen..." "Unsinn. Man muss lediglich seine unsterbliche Seele an der Rezeption abgeben." Er grinste, dann aber legte sich ein betretener Zug auf sein Gesicht. "Oh... ich glaube, ich sabotiere gerade eben das Geschäft." Keira wollte gerade mit einem weiteren schlagfertigen Kommentar zu ihrem kleinen, wundervoll belang- und sinnlosen Gespräch beitragen, als ihr Blick erneut auf den Werbezettel fiel. Auf dem violetten Grund, knapp unter der pompösen Namensverkündung der Madame Rouchardeux, war mit sehr viel kleinerer Schrift und in vergleichsweise dezentem Schwarz eine Telefonnummer aufgeschrieben worden. Keira musste nicht einmal einen Blick auf die übrigen Flyer werfen, um zu begreifen, dass diese Nummer erst nachträglich hinzugefügt worden war, und diese plötzliche Erkenntnis weckte ein ganz merkwürdiges Gefühl in ihrer eben noch so betrübt schwermütigen Brust. Sie blickte auf, und mit einem Mal war ihr, als ob die Augen ihres unbekannten Gegenübers sogar noch ein kleines bisschen übermütiger Blitzen würden als zuvor. Der Ausdruck auf seinem Gesicht hatte etwas Magisches an sich, weckte tausend Bilder und Gefühle in ihr, und dann spürte sie auch schon, wie sich ihre Hand ganz wie von selbst zu bewegen begann. Sie näherte sich dem an und für sich doch so hässlichen Papier, vorsichtig, bedächtig, während ihr restlicher Körper wie gelähmt zu sein schien. In der nächsten Sekunde presste sie die Lippen fest aufeinander, holte aus und schlug die Finger des Blonden mit einer ruckartigen Bewegung zur Seite, sodass der Werbezettel samt Telefonnummer erschrocken zu Boden segelte. "Ach, verdammt, geh doch heim zu deiner schwangeren Frau und deinen fünf Kindern!" Und noch ehe Keiras Verstand so ganz den Handlungen ihres Körpers zu folgen vermochte, hatte sie sich auch schon die Haare über die Schulter geworfen und war herumgefahren, nur um dann blindlings die Treppenstufen hinabzurennen. "Die sind alle gleich! Die sind wirklich alle ausnahmslos gleich!" Keira stieß geräuschvoll die Luft zwischen den Zähnen hervor und verschränkte missmutig die Arme vor ihrer Brust. "Hält der mir so einen dummen Flyer von irgendeiner dummen Wahrsagerin hin, Madame Schlagmichtot, und meint auch noch, mich beeindrucken zu können, indem er auf ach so unauffällige Weise groß und breit seine dumme Telefonnummer mit draufschreibt. Ach nein, wie originell." "Keira... du projizierst." "Ich projiziere?" "Du projizierst. Und zwar deine unterbewusste Wut auf Garrett auf diesen armen, hilflosen Mann, der extra für dich nur ein klein wenig geistreich und witzig erscheinen wollte." "Umso besser!" Keira verzog ihre Lippen zu dem schönsten Schmollmund, den sie nur irgendwie zustande bringe konnte. "Die sollen mich einfach alle in Ruhe lassen, einen meilenweiten Bogen um mich machen... am liebsten sollen sie alle wegziehen. Auch die, die schon vergeben sind. Ich kann keine Pärchen mehr sehen!" "Jetzt projizierst du schon wieder. Und zwar deine Frustration über dein eigenes Liebespech auf alle armen, hilflosen Pärchen, die doch eigentlich nur..." "Claire, halt die Klappe!" "Und jetzt projizierst du deine Wut, die eigentlich gegen dich selbst gerichtet ist, auf deine arme, hilflose Freundin, die dir doch eigentlich nur helfen und zur Seite stehen möchte..." "Claire!" "Keira!" "Claire! Du machst mich wahnsinnig! Und wenn du mir jetzt noch ein einziges Mal mit deiner Projektionsnummer kommst, ich schwöre dir, ich... ich..." "Du... was?" Claire verzog ihren Mund zu einem amüsierten Lächeln. "Willst du dir dann etwa selbst in den Hintern treten?" "Warum... mir? Claire, wenn ich dir jetzt deine frisch geschnittenen Haare in bonbonrosa-metallic umfärben würde, sag, würdest du dann mir oder dir selbst den Kopf von den Schultern reißen? Gut - um die neue Frisur wieder loszuwerden, das vielleicht, das würde ich verstehen, aber sonst..." "Ach komm, mach mir doch nichts vor! Ich seh doch ganz genau dieses wütende Flackern in deinen Augen, und ich weiß, wem das gilt. Ich kenne diesen Gesichtsausdruck. Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, da wütete gerade eines dieser ultimativ fiesen Sommergewitter, du hattest dein Lieblingskleid an und leider erst in dem Moment festgestellt, als sich die Türen der S-Bahn schon wieder hinter dir geschlossen hatten, dass du deinen Schirm hast liegen lassen..." "Super!" Keira verdrehte die Augen. "Und was bitteschön soll mir diese tiefgründige Sommerregen-S-Bahntüren-Metapher jetzt mitteilen?" "War er süß? Ich meine den Typen mit der Nummer auf dem Zettel." "Was soll die Frage? Nein, war er nicht! Er war unerträglich und er sah nicht einmal wirklich gut aus... langweilig... so was findet man an jeder Straßenecke." "Aber er hat dir gefallen." "Hat er nicht." "Warum knirscht du dann so grimmig-verstohlen mit den Zähnen?" "Ich knirsche nicht mit den Zähnen!" "Tust du doch!" "Tu ich nicht!" "Aber gefallen hat er dir." "Oh, Claire, du bist unerträglich!" Keira blieb stehen, stampfte mit einem Fuß auf dem Asphalt auf und funkelte ihrer... Freundin (denn in ihrem unendlichen Großmut hatte Keira beschlossen, Claire diesen Titel trotz allem doch noch nicht abzuerkennen) wütend entgegen. "Was geht dich das eigentlich an, wer mir gefällt und wer nicht?" "Also hatte ich Recht." "Claire, ich... ich..." Keira stockte, rang mit den Händen - und ließ dann in einem Anfall von Resignation ihren Kopf und den Oberkörper nach vorne sinken. "Ja, verdammt, natürlich hast du Recht! Er... er hat mir gefallen! Er war sympathisch, er... war vielleicht kein Model, aber man konnte ihn zumindest ansehen, ohne sich für den Rest des Tages den Appetit zu verderben, ja, ja, ja, ja!!!" "Meine Güte, Keira, wie charmant du doch bist! Das wandelnde Kompliment sozusagen - jeder müsste unter deinem Liebesgeflüster dahinschmelzen..." "Was denn?", schnaubte Keira und warf sich trotzig ihr kupferrotes Haar über die Schulter. Dann jedoch schloss sie die Augen und stieß einen tiefen Seufzer zwischen ihren Lippen hervor. "Ach Claire, das ist so ungerecht! Erst finde ich einen Mann, der sein noch halb pubertierendes Frauchen mit mir betrügen will, und dann finde ich einen Mann, der bestimmt ganz toll, zärtlich, zuvorkommend, humorvoll und so weiter ist, und ich... ich... ich führ mich auf wie eine dieser melodramatisch vor sich hinleidenden Heldinnen aus irgendeiner miesen Soap Opera! Was soll ich denn jetzt machen?" "Hm... ihn finden?" Claire zuckte mit den Schultern. "Kannst du dich kein bisschen mehr an seine Nummer erinnern?" "Doch... schon..." Als Keira ein freudiges Blitzen in den Augen ihrer Freundin erkennen konnte, zog sie den Kopf ein wenig ein und schenkte ihr ein überaus verlegenes Lächeln. "Na ja, ich... weiß zumindest noch, dass... eine Drei drin vorkam... so irgendwie in der Mitte... und eine Sieben, aber da weiß ich nicht mehr, wo genau die nun stand... am Anfang, glaube ich... könnt aber auch ganz am Ende gewesen sein. Und eine Neun... oder eine Sechs... vielleicht auch... eine Acht..." "Na super! Ruf am besten doch gleich mal bei der Auskunft an, die wissen bestimmt sofort, nach wem du suchst!" "Ganz toll, Claire, streu nur immer weiter Salz in die Wunde hinein, es ist ja nicht so, als ob sie schon genug weh tun würde... ach, wahrscheinlich hat es einfach ni..." "...cht?" Claire zog fragend ihre Augenbrauen hoch. "Was hat was nicht?" "Claire", sagte Keira langsam und mit einer derart feierlichen Stimme, dass es ihr selber kalt den Rücken hinunterlief. "Ich weiß, wo er ist." Und mit diesen Worten tat sie wieder einmal das, was sie scheinbar heute am besten konnte - sie machte auf dem Absatz kehrt und begann zu rennen. Sie rannte so schnell sie nur konnte, ungeachtet ihrer schmerzenden Füße und des sich relativ schnell einstellenden Seitenstechens. Ein Satz hallte ihr durch die Gedanken, und dieser Satz beflügelte sie, obwohl sie eigentlich überhaupt keine Kraft mehr besaß, um noch weiter zu laufen. Für mich heißt das, dass ich den Rest des Tages hier treppauf und treppab laufen darf, bis ich all diese hässlichen Dinger hier losgeworden bin... Den Rest des Tages? Nun, noch war der Tag ja immerhin nicht vorbei, die Sonne war zwar bereits tief gesunken, aber eben doch noch nicht ganz verschwunden, und schon aus ihrer eigenen ablehnenden Haltung gegenüber jeglicher Art von Werbezetteln wusste Keira, dass diese sinnlose Art der Papierverschwendung doch meist eher schleppenden Absatz fand. Für Madame Rouchardeux mochten dies nicht unbedingt glückliche Umstände sein, aber für sie war es möglicherweise doch noch eine Chance, eine winzige, letzte Chance, auf die sie noch vor wenigen Augenblicken kaum mehr zu hoffen gewagt hatte. In Keiras Kopf tickte eine riesenhafte Uhr, die ihr keinerlei Zeit dazu ließ, über mögliche Konsequenzen ihres Handelns nachzudenken. Wahrscheinlich würde der Fremde sie für komplett wahnsinnig erklären, wenn sie ihm erst eine Szene machte und dann wutentbrannt von dannen rauschte, nur um wenige Stunden später mit fliegenden Fahnen und wehendem Haar im Licht der Abenddämmerung in seine Arme zu stürzen. Sollte er doch! In diesem Moment war es Keira sogar vollkommen egal, wenn sie sich bis auf die Knochen, ja bis in die letzte Zelle ihres Knochenmarks hinein blamieren würde. Sie wollte glücklich sein, sie wollte endlich, endlich wieder glücklich sein, und während sie so dahinrannte spürte Keira in der grausamsten Deutlichkeit, dass sie dieses Glück direkt vor Augen gehabt und dann einfach von sich gestoßen hatte. Jede Muskelfaser in ihrem Körper schien sich synchron zu verkrampfen, als sie endlich die große Treppe vor sich auftauchen sah. Sie wagte kaum mehr zu atmen, ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie mit gehetzten Augen die ruhenden, teils essenden, teils lachenden und plaudernden Menschen abtastete, die sich auf den hellen, leicht rötlichen Steinstufen niedergelassen hatten. Als sie dann zwischen all den unbekannten Silhouetten endlich einen blonden Hinterkopf ausmachen konnte, fiel Keira buchstäblich ein ganzes Gebirge vom Herzen. Doch gleichzeitig spürte sie auch, wie ihr Mut der Verzweiflung, der sie in den vergangenen Minuten so unbarmherzig angetrieben hatte, langsam wieder gefährlich gen Keller stürzte. Sie schluckte. Nur mit viel Mühe konnte Keira den Impuls unterdrücken, sich ein weiteres Mal umzudrehen und davonzulaufen, aber sie biss die Zähne zusammen und zwang sich dazu, langsam Stufe um Stufe hinaufzusteigen. Doch dann, auf halbem Wege, geschah mit einem Mal etwas vollkommen Unvermutetes. Der Mann, auf den sie eben noch so (zumindest ansatzweise) zielstrebig zugesteuert war, drehte sich nämlich ein Stück weit zur Seite, sodass sie nun sein Profil erkennen konnte - oder besser gesagt: Nicht erkennen konnte, da sie es nämlich noch niemals zuvor in ihrem ganzen Leben gesehen hatte. Keira blieb stehen. Sie atmete tief durch, ballte tapfer die Hände zu Fäusten und lief suchend auf den Stufen umher, umrundete jede Menschengruppe, warf selbst einen kurzen Blick ins Innere der Kirche hinein. Doch alles, was sie fand, waren fremde Gesichter. Der blonde Unbekannte hatte seinen kurzfristigen Arbeitsplatz auf der Treppe offensichtlich bereits wieder verlassen. Vom Fluss her kam plötzlich ein kühler Wind auf, und so ließ sich Keira auf einer der Stufen nieder und zog die Beine fest an ihren Körper. Zum ersten Mal, seit sie denken konnte, hatte sie keine Lust mehr darauf, sich das Leuchten der Schaufensterscheiben anzusehen. Die Ereignisse dieses Tages und Abends hatten Keira in einem höchst merkwürdigen Gemütszustand zurückgelassen. Das Leben lief unbeeinflusst weiter, aber es lief größtenteils an Keira vorbei, ohne einen Endruck auf sie hinterlassen zu können. Sie war weder wirklich traurig noch wirklich wütend, mehr neutral, furchtbar neutral, und dies war vielleicht die schlimmste emotionale Reaktion, die sie sich überhaupt nur denken konnte. Sie hatte keine Lust mehr, sie hatte einfach keine Lust mehr. Sie hatte keine Lust mehr darauf, sich jeden Morgen viel zu früh aus dem Bett zu quälen, nur um sich dann zur Arbeit zu schleppen. Sie hatte keine Lust mehr auf vollkommen an den Haaren herbeigezogene Kaffeeneuschöpfungen und auch nicht auf ohnehin unverschämt überteuerte Schminkartikel. Am liebsten wäre sie einfach überhaupt nicht mehr aufgestanden, aber da sie auf dieses simple Herumliegen ja im Grunde genommen auch keine rechte Lust hatte, fuhr sie eben wie gewohnt mit ihrem Alltagsleben fort, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Keira stand gerade wieder vor einer der Schaufensterscheiben in den Arkaden und betrachtete ein paar silbrig schimmernde Pumps, allerdings ohne wirkliches Interesse dafür zu empfinden, als sie mit einem Mal spürte, wie ihr jemand von hinten auf die Schulter tippte. Genau in diesem Augenblick erwachte Keira. Sie musste sich nicht einmal umdrehen, um zu wissen, wer da hinter ihr stand. Wie in einem absurden Déjà-vu-Erlebnis schien sich alles zu wiederholen, schien am vermeintlichen Ende alles noch einmal ganz von vorne zu beginnen. Keira erkannte die Berührung sofort wieder, trotz - oder vielleicht gerade wegen ihrer Flüchtigkeit. Sie schluckte. Als sie sich langsam umdrehte, erschien es ihr einen Moment lang so, als ob die zurückliegenden Tage Stück für Stück ausradiert worden wären, ja, als ob es sie niemals wirklich gegeben hätte. Vor ihr stand - natürlich - Garrett, warmherzig lächelnd und Anzug tragend wie eh und je. "Hey", sagte er ruhig, beinahe ungerührt. "Wo warst du denn neulich? Ich habe mir Sorgen gemacht, weil du nicht gekommen bist. Hab lange auf dich gewartet." Keira betrachtete einige Augenblicke lang, die ihr allerdings ewig vorkamen, Garretts Gesicht. Dann antwortete sie, gefasst und wie automatisch, und noch während sie sprach erschien es ihr unbegreiflich, dass sie keinerlei Vorwurf in ihrer eigenen Stimme erkennen konnte. "Ich habe dich gesehen. Hier, beim Einkaufen. Du hattest eine Frau dabei. Das war deine Frau, richtig?" "Meine... Frau?" Garrett zog beide Augenbrauen hoch, zweifelnd, aber auch ein klein wenig amüsiert. Dann hob er seine Hände und streckte sie Keira entgegen. "Siehst du da etwa irgendetwas Goldenes, Rundes, Glänzendes?" "Dann eben deine Freundin." "Ich habe keine Freundin." Er schüttelte den Kopf, und auf sein Gesicht trat fast so etwas wie ein betroffener Ausdruck. "Keira, wann bitte soll denn das gewesen sein?" "Am Mittwoch vor unserer Verabredung." "Ich war an diesem Tag überhaupt nicht in der Stadt. Ich hatte eine wichtige geschäftliche Besprechung. Wenn du mir nicht glaubst, kannst du gerne einen meiner Kollegen anrufen. Ich würde es dir nicht übel nehmen, keine Sorge. Nur zu - ich gebe dir seine Nummer, wenn du das möchtest!" "Nein, ich... ich weiß nicht..." Wieder blickte Keira lange in die schokoladenbraunen Augen, ohne irgendetwas darin lesen zu können. Sie war verunsichert, zutiefst verunsichert. Mehr als nur einmal hatte sie Garrett in den zurückliegenden Tage verflucht und an sämtliche Orte in der Hölle (insbesondere in die Nähe des dort ansässigen obersten Fürsten), in gleich welche Wüste oder auch zum Mond gewünscht, und jetzt, ganz plötzlich, spürte sie doch wieder dieses scheußliche Gefühl mit Namen... Hoffnung in sich aufsteigen. Was, wenn sie sich wirklich nur geirrt hatte? Wenn sie im Rausch ihrer ersten Wut irgendeinen wildfremden Mann, der eben zufällig eine ganz unverschämte Ähnlichkeit mit ihrem vermeintlichen Traumprinzen besaß, schlichtweg mit selbigem verwechselt hatte? Wie leicht konnte doch das Kunstlicht in den Arkaden die Sinne täuschen und das Auge verwirren! Und war nicht Zorn am Ende gar die schlimmste aller Zerrbrillen - außer vielleicht der Liebe? Vor ihr stand Garrett und er lächelte sie an, lächelte so umwerfend, so unschuldig und echt wie eh und je. Der Mann, der selbst über ihre rabenschwärzesten Witze noch herzlich lachen konnte. Der Mann, der sich für Spaghetti mit Tunfisch-Tomatensoße so sehr begeistern konnte, wie andere nur für Fußball oder die neusten Börsennachrichten. Der Mann, der ihren Hello Kitty-Handyanhänger toll fand. Der Mann, der ganz vorsichtig an die Türe zu ihrem scheinbar schon längst verlorenen Traum geklopft hatte und der jetzt vor ihr stand und es ihr nicht einmal verübelte, dass sie ihn im renommiertesten Edelrestaurant der Stadt versetzt und so bis auf die Knochen blamiert hatte. In genau dieser Sekunde, als all diese Gedanken wie ein durchgedrehtes Kettenkarussell durch Keiras Kopf kreisten, da geschah plötzlich etwas höchst Bemerkenswertes. In ihrer hilflosen Überwältigung waren Keiras Katzenaugen nämlich von Garretts Gesicht abgeschweift, um wie versunken über die hektischen Menschenmassen zu gleiten, die sie umgaben, die ungerührt von ihrer ganz privaten Erstarrung im ewig gleichen Takt weiter und weiter hetzten. Und da sah sie mit einem Mal einen blonden Haarschopf aus einer kleinen Menschengruppe herausstechen - was ja an und für sich nichts Ungewöhnliches war, aber eben gleichermaßen auch das bekannte Gesicht einer unbekannten Person mit sich brachte, das Keira niemals wiederzusehen geglaubt hatte. Ein kurzes aber intensives Zittern lief über ihren Körper, und ihre Handflächen fühlten sich mit einem Mal furchtbar klebrig an. War sie eben noch von dem (gar nicht einmal so unangenehmen) Gefühl erfüllt worden, ganz langsam wieder zu sich zurückzufinden, so fühlte sie sich schon im nächsten Moment zerrissener denn je. Sie blickte zu Garrett. Zu dem Blonden. Zurück zu Garrett. Und dann schloss sie Augen, atmete tief durch, und zauberte sich ein Lächeln auf ihr Gesicht, dass sie endlich auch wieder guten Gewissens als solches bezeichnen konnte. "Weißt du, Garrett", sagte sie, und mit einem Mal trat wieder ein beinahe schon vergessen geglaubtes Strahlen in ihren Blick. "Ich glaube, ich habe gerade eben erst verstanden, wie ähnlich wir uns tatsächlich sind. Ich trage ihn nämlich auch immer in meinem Geldbeutel, wenn ich gerade alleine unterwegs bin. Jetzt muss ich dann aber leider wieder gehen, wir können uns ja bei Gelegenheit mal wieder sehen, wenn mein Mann gerade nicht in nächster Nähe ist." Sie schenkte dem Dunkelhaarigen einen so bezaubernden Augenaufschlag, dass sie sich um ein Haar selbst in sich verliebt hätte, dann machte sie eine gekonnte Drehung um die eigene Achse, lief los und hängte sich kurzerhand an den Arm des blonden Unbekannten. "Schatz, da bin ich wieder!", rief sie so laut, dass es noch mindestens die halbe Einkaufspassage, in jedem Fall aber ihr eben erst abgelegter Verehrer hören konnte, und brachte noch in derselben Sekunden den Blonden mit einem flehenden, fast schon verzweifelten Blick zum Verstummen, als sie sah, dass er zu einer erschrockenen bis empörten Reaktion ansetzen wollte. "Retten Sie mich vor ihm, bitte", raunte sie ihm zu und schickte einen kurzen, verstohlenen Blick in Richtung Garrett. "Er stellt mir schon die ganze Zeit nach, ich glaube, er will was von mir. Ich hab ihm gesagt, wir wären verheiratet!" "Ma-machen Sie das immer so?" Der Mann blickte überaus zweifelnd zu Keira hinab, dann jedoch stockte er und machte große Augen. "Moment mal - Sie sind das?!" "Ja, ich bin das!", flüsterte Keira und hielt den Arm des Blonden noch ein klein wenig fester umschlossen. "Ich... habe leider Ihre Nummer verloren, wissen Sie? Aber würden Sie mir vielleicht versprechen, dass Sie mich nicht gleich für verrückt erklären, wenn ich Sie jetzt auf einen Kaffee einlade?" "Sie wollen... jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr." Er schüttelte den Kopf, strich sich mit einer nervösen Bewegung durch seine Haare - und grinste. "Also, so jemand wie Sie ist mir wirklich noch nie begegnet! Aber wissen Sie was? Wenn Sie zugeben, dass Sie doch verrückt sind, dann wäre ich vielleicht unter Umständen sogar bereit, Ihr Angebot anzunehmen." "Na schön, Sie haben Recht. Ich bin verrückt. Wahnsinnig. Durchgedreht. Ich kann Ihnen sogar eine amtliche Bescheinigung davon vorlegen, wenn sie es gerne möchten. Und jetzt sagen Sie endlich, von welchen Umständen Sie da sprechen!" "Nur, wenn der Kaffee auf meine Rechnung geht", entgegnete er mit einem zugegebenermaßen immer noch leicht verblüfft wirkenden Augenzwinkern, dann warf er sich den Kopf in den Nacken und legte Keira wie selbstverständlich einen Arm um die Schulter. "Und jetzt komm endlich Liebling! Die Schuhe kannst du doch auch morgen noch kaufen!" Dann schlenderte er mit einer durch und durch beeindruckenden Gelassenheit auf die ins Freie führenden Schiebetüren der Arkaden zu, freilich ohne seinen Arm wieder zurückzuziehen, und auf seinem Gesicht lag ein unverschämt zufriedenes Lächeln. Das Glas des Ausgangs war jedoch trotz seiner blitzblanken Sauberkeit kaum mehr zu durchblicken, war es doch von einem warmen, tiefroten Glühen erfüllt, und Keira beschleunigte ihren Schritt nur ein ganz klein wenig, kaum merklich, als sie begriff, dass draußen vor der Türe gerade die Sonne unterging, um die Stadt nur ganz kurz und auch nur ein ganz kleines bisschen zu verzaubern. "Jetzt muss ich aber wirklich mit dir schimpfen, Keira", sagte Claire, doch ihre Stimme klang eher neckisch als wütend. "Kaum hast du dir einen neuen Lover angelacht, ist deine alte Freundin Schnee von gestern und vergessene Sache!" "Erstens ist er nicht mein Lover. Zweitens hat er einen Namen, und zwar Kevin. Und drittens kenne ich dich kaum länger als ihn, also komm mir hier bloß nicht an und stell irgendwelche Ansprüche!" "Komm mir hier bloß nicht an und stell irgendwelche Ansprüche!" Keira hörte ein verächtliches Schnauben am anderen Ende der Telefonleitung. "Den Satz werd ich mir merken für den Tag, an dem du das nächste Mal angekrochen kommst, um dich an meiner starken Schulter auszuheulen!" "Oh ja, Claire, an deiner starken, mächtigen Schulter..." Keira kicherte. "Ich dachte immer, wenn man verliebt ist, dann wird man selbst albern, und nicht die beste Freundin." "Weil du ja auch überhaupt kein bisschen albern bist, Keira! Aber das mit der besten Freundin war charmant genug, um dir noch ein letztes Mal zu vergeben." "Zu gütig." "Ich weiß." Keira konnte förmlich hören, wie Claire ihren Mund zu einem Grinsen verzog. "Aber jetzt mal im Ernst: Du gehst ganz schön ran, meine liebe Keira. Eben noch im tiefsten Trauertal des Liebeskummers, und gerade mal drei Wochen später ist alles vergessen und du schmiedest schon wieder fröhlich deine Heiratspläne." "Heiratspläne? So nennt man das also heutzutage, wenn man sich von einem Mann zum Essen ausführen lässt!" "Keira, du redest von nichts anderem mehr! Deine ganzen Gedanken kreisen nur noch ihm! Da ist die Hochzeit ja wohl nur noch eine Frage der Zeit..." "Nicht ganz, aber..." Keira holte tief Luft, dann drehte sie sich auf den Rücken und zog die Beine an ihren Körper. "Ich glaube... ich will es noch einmal wagen... dies soll mehr werden als nur ein einfaches Abendessen... viel mehr..." "Du willst ihn flachlegen?! Geht das nicht ein bisschen schnell nach der letzten Pleite?" "Claire! Wie kannst du es wagen, in meiner Gegenwart solch profane Äußerungen von dir zu geben?! Ich... ich will's ihm doch nur sagen..." "Hey, jetzt mal eins nach dem anderen und ganz langsam - du willst ihm deine Liebe gestehen? So richtig mit Kitsch und Romantik und Herzschmerz?" Claire quietschte entzückt. "Nein, wie süß!" "Doch nicht so... nichts Überzogenes. Weißt du, ich... es mag auf dich vielleicht nicht den Eindruck gemacht haben, aber für mich ist so eine Liebeserklärung wirklich nichts Alltägliches. Wenn... ich einem Mann meine Liebe gestehe, dann ist es so, als ob... als ob ich ihm etwas... unendlich Wertvolles schenken würde, und... ich habe gedacht, ich würde das nie mehr wieder erleben können... ich habe so lange darauf gewartet, Claire, so unglaublich lange... als ich Daniel meine Liebe gestanden habe, da... da dachte ich: Jetzt ist alles perfekt, jetzt hast du das, was du immer gewollt hast, aber... aber dann..." "Du warst wohl ziemlich viel alleine, was, Keira?" Der Ausdruck in Claires Stimme hatte sich mit einem Mal grundlegend verändert. Jeder liebevoll neckische Spott war einer tiefen, aufrichtigen Anteilnahme gewichen, ohne jedoch einen schmerzhaften Unterton von Mitleid mit sich zu bringen. "Mhm", machte Keira, unfähig, noch irgendetwas anderes zu sagen. "Ich kenne das..." Claire seufzte und klang nun noch deutlich resignierter als zuvor. "Erst sind sie umwerfend charmant und zärtlich und liebevoll, und dann plötzlich kippt alles um und du hast die Hölle auf Erden... aber du hältst trotzdem die Klappe und machst gute Miene zum bösen Spiel, weil es immer noch besser ist, als wieder ganz alleine dazustehen und den ganzen Ärger von vorne mitzumachen..." "Nein... nein, so war es ja gar nicht. Unsere Liebe war perfekt, wirklich! Das Problem war mehr... dass der Rest der Welt das wohl nicht verstehen konnte..." "Keira..." "Aber jetzt... jetzt spüre ich bei Kevin wieder genau dieses Gefühl, diese... Sicherheit, die ich auch bei Daniel gespürt habe. Er ist weiß Gott nicht perfekt - nichts ist langweiliger als Perfektion! - aber für mich ist er genau der ideale Partner und ich... ich spüre einfach, dass ich ihm vertrauen kann..." "Genau, und weil du ihm ja so sehr vertraust, hast du mich auch in den vergangenen zwei Wochen gründlich und ausdauernd in seinem Privatleben herumschnüffeln lassen." "Na und?" Keira rümpfte die Nase. "Wie sagt man so schön? Drum prüfe, wer sich ewig bindet. Nach dem letzten Reinfall wollte ich einfach auf Nummer sicher gehen, und überhaupt, wofür habe ich denn solch eine sensationsgeile, hinterlistige, ausgefuchste Reporterin zur Freundin, wenn ich sie dann im Ernstfall nicht benutzen kann?" "Ich sollte versuchen, ihn abzuschleppen!" Claires Stimme klang derart angewidert, dass Keira sich ein Grinsen beim besten Willen nicht mehr verkneifen konnte. "Ich kann mir vor wie eines dieser billigen Flittchen, die sich mit einem Ausschnitt bis knapp unter den Bauchnabel in irgendwelche Talkshows setzen und stolz davon berichten, dass sie's nur mit verheirateten Männern treiben..." "Erstens ist er - wie du ja hoffentlich zuverlässigerweise herausfinden konntest - überhaupt nicht verheiratet, und zweitens... du bist ein billiges Flittchen, Claire!" "Und du bist ein falsches Miststück! Machst hier einen auf große Liebe, aber erst mal lässt du heimlich, still und hinterhältig im Keller deines Angebeteten nach Leichen graben..." "Danke für das Kompliment!", entgegnete Keira in zuckersüßem Tonfall. "Aber jetzt hör mal... ich muss Schluss machen. Ich hab noch einiges zu erledigen und muss morgen früh raus." "Was? Du hast einiges zu erledigen und musst dann auch noch früh aufstehen? Meine Güte, wo arbeitest du denn? Bin ich froh, dass mir solche Arbeitsbedingungen ja vollkommen und gänzlich und überhaupt fremd sind..." Sie lachte, und mit einem Mal kehrte wieder jener warme, fast schon zärtliche Tonfall in ihre Stimme zurück. "Weißt du, Keira, ich... ich hoffe wirklich, dass diesmal alles gut geht mit deinem Kevin... du hast das echt mehr als verdient. Hörst du? Ich wünsche mir, dass du glücklich wirst, meine Süße. Ich wünsche es mir ganz, ganz fest!" Die Woche war viel zu langsam vergangen, hatte sich in Unendlichkeiten gezogen, von denen Keira zuvor nicht einmal geahnt hatte. Jede Stunde schien nicht mehr aus sechzig, sondern aus mehreren tausend Minuten zu bestehen, und jeder Tag setzte sich wiederum aus mindestens fünfzig dieser Endlosstunden zusammen. Aber dann, als Keira die Hoffnung beinahe schon aufgegeben hatte, war mit einem Mal der große Tag gekommen und nun sah sie sich vollkommen neuen Problemen gegenüberstehen. Sollte sie sich ihre Haare hochstecken oder lieber lang und offen über die Schultern fallen lassen? Welcher Lidschatten harmonierte perfekt mit ihrem bislang noch ungenutzten Traumkleid, ohne dabei jedoch allzu harmonisch, sprich: langweilig zu wirken. Und in welcher Tasche konnte sie all ihre unverzichtbaren Habseligkeiten verstauen, ohne durch ein übertrieben protziges Accessoire ihren eleganten Stil einbüßen zu müssen? Sie steigerte sich so sehr in all diese Details hinein, dass sie über den eifrigen Vorbereitungen beinahe die Zeit vergaß, und so musste Keira sich letzten Endes weit mehr beeilen, als ihr das lieb gewesen wäre. Schließlich hatte sie vor ihrer schicksalhaften Verabredung noch etwas unheimlich Wichtiges zu erledigen. Wann immer Keira an das letzte Telefonat mit ihrer lieben Freundin Claire zurückdachte, stieg eine gewisse wehmütige Rührung in ihr auf, die sich nicht so einfach wieder zurückdrängen lassen wollte. Auch wenn er vielleicht nur im Spaß - oder höchstens in halbem Ernst dahingesagt worden war, so geisterte doch ein gewisser Satz auf überaus nervtötend hartnäckige Weise wieder und wieder durch Keiras Gedanken. Kaum hast du dir einen neuen Lover angelacht, ist deine alte Freundin Schnee von gestern und vergessene Sache... Was Keira mehr als alles andere traurig stimmte, war die unschöne Tatsache, dass sie Claire ja nicht einmal wirklich widersprechen konnte. Sie hatte gewiss nicht vor, ihre Freundin in Zukunft einfach links liegen zu lassen, aber ihr war leider nur allzu deutlich bewusst, dass sich mit dem heutigen Abend alles verändern würde. Sie hatte es bereits nach ihrem letzten Liebesgeständnis im verzauberten Licht der Brücke am eigenen Leibe zu spüren bekommen, dass sich eine derart innige Form der Liebe nicht gut mit Freundschaft verbinden ließ. Nach jenem wunderschönen Tag hatten sich selbst ihre engsten Kontakte mehr oder minder rasch im Sande verlaufen, waren eingeschlafen und dann schließlich ganz verebbt. Nun also stand sie vor Claires Wohnung, die Finger der linken Hand fest um einen kleinen Brief geschlossen, so als ob es sich dabei um den wertvollsten aller Schätze handeln würde. Ihr Atem ging keuchend, aber trotz der späten Stunde nahm sich Keira die Zeit, das Stück Papier noch ein weiteres Mal aufzufalten, um die sorgsam geschriebenen Zeilen mit kritischem Blick zu prüfen. "Meine Liebe Claire", stand da mit tiefblauer Tinte geschrieben, weil Blau Claires Lieblingsfarbe war, "obwohl wir uns noch nicht lange gekannt haben, bist du mir doch weit mehr ans Herz gewachsen, als ich das jemals für möglich gehalten habe. Wenn ich die Kraft hätte, mich in zwei Teile zerreißen zu können, würde ich zu gerne weiter mit dir durch die Läden ziehen, Kaffee trinken und die Menschheit beobachten. Aber leider ist mir solch ein Kunststück unmöglich, und ich habe mich nun einmal dazu entschlossen, mich voll und ganz der Liebe hinzugeben, die ich eigentlich schon für verloren geglaubt habe. Ich erwarte nicht, dass du mich verstehst, Claire, aber ich würde mich sehr freuen, wenn du ab und zu an mich denken würdest und es dir dann ein bisschen warm um dein Herz wird. Kevin ist der Mann, auf den ich immer gewartet habe, und ich möchte von nun an ganz ihm gehören. Denk nur immer daran, dass ich dich sehr, sehr lieb habe, und dass ich unsere gemeinsame Zeit niemals vergessen werde. Deine beste Freundin, Keira" Im Nachhinein war sich Keira nicht mehr so ganz sicher, ob ihre Worte nicht vielleicht doch ein klein wenig zu rührselig-pathetisch gewählt waren, aber dann schüttelte sie den Kopf und ließ den sauber gefalteten Brief mit einer raschen Bewegung in Claires Briefkasten gleiten. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie sich das verduzte Gesicht ihrer Freundin vorstellte, wenn diese ihre Botschaft am nächsten Morgen unter Rechnungen und Werbeblättern entdecken würde. Dann jedoch hörte sie in der Ferne das Schlagen der Turmuhr, und das Bewusstsein der Eile begann aufs Neue in ihr zu erwachen. Keira schluckte, hob noch einmal kurz die Hand, wie um sich von ihren eigenen Zeilen... oder auch dem Haus samt einer gewissen Bewohnerin zu verabschieden, dann drehte sie sich um und eilte in Richtung der S-Bahnstation davon. Sie hätte es beinahe nicht mehr geschafft. Als Keira auf die Brücke hastete, da läutete es gerade zur halben Stunde, was ja an und für sich exakt pünktlich war, aber eben nicht Keiras Vorstellungen von ihrer perfekten Verabredung entsprechen konnte. Sie wollte vor Kevin auf der Brücke sein, wollte ihn erwarten, ihm entgegenlächeln, während der zarte Abendwind sanft mit ihrem Kleid und den tiefrot schimmernden Haaren spielte. Einem bloßen Zufall hatte sie es zu verdanken, dass Kevins U-Bahn an diesem Abend ganz genau zehn Minuten Verspätung hatte, und er so erst kurz nach ihr den vereinbarten Treffpunkt erreichen konnte. Der freilich viel mehr war als nur ein gewöhnlicher Treffpunkt, aber das konnte Kevin zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht ahnen. Keira erkannte seine Gestalt sofort, als er ihr ein wenig atemlos entgegengelaufen kam, die Hand schon in weiter Ferne zu einem Winken erhoben, auf dass sie ihn auch ja nicht übersehen und möglicherweise, erbost über seine geringfügige Verspätung, den Schauplatz sofort wieder verlassen würde. Sie winkte jedoch selbstverständlich nicht zurück - keine geheimnisvoll verführerische Frau würde ihren Auserwählten mit einem dümmlich-euphorischen Winken begrüßen! - sondern lehnte sich gegen das schmiedeeiserne Geländer in ihrem Rücken und genoss die Berührung des angenehm warmen Abendwindes, der zärtlich über ihre nackten Schultern streifte. "Keira! Hey, Keira! Hier bin ich!", rief Kevin ihr atemlos entgegen, während er mit beiden Armen solch absurd übersteigerte Bewegungen vollführte, als ob er ein Flugzeug auf die Landebahn lotsen wollte. "Tatsächlich?" Keira schenkte dem blonden Mann ein spöttisches Augenzwinkern. "Da hätte ich dich doch glatt um ein Haar übersehen... oder... überhört..." "Oh..." Kevin machte ein betretenes Gesicht. "War ich zu laut?" "Du hast mich vor der halben Stadt blamiert!" "Und jetzt?" "Was denkst du denn? Ich werde mir natürlich einen anderen suchen." "Was ist mit unserer Verabredung?" "Die nehme ich trotzdem an." "Na dann", verkündete Kevin mit Grabesmiene, "beeilen wir uns, dass du dir schnell deinen reichen, steinalten Ersatzlover angeln kannst!" Ein Grinsen huschte über sein Gesicht, während er sich langsam umdrehte, sich noch einmal durch sein blondes Haar strich und dann seine Schritte in Richtung Innenstadt wandte. Oder besser gesagt - wenden wollte, denn noch bevor er zwei- oder dreimal einen Fuß vor den anderen setzen konnte, da hatte ihn Keira auch schon am Handgelenk gepackt. Kevin blieb stehen, zunächst einmal, ohne sich umzudrehen, und auch Keira verharrte in ihrer Position, schweigend, den Blick starr auf Kevins Rücken geheftet, die Finger fest, aber immer noch sanft um seinen Arm geschlossen. "Bitte warte...", flüsterte sie dann, obwohl Kevin ja eigentlich überhaupt keine Anstalten machte, weiterzugehen. Genau genommen machte er zunächst einmal keine Anstalten zu überhaupt nichts mehr, und erst als Keira langsam wieder auf das Brückengeländer zuging, da wandte auch Kevin sich um und folgte ihr mit gesenktem Kopf. Das Schweigen, das sich zwischen den beiden ausgebreitet hatte, war mehr beschämt als bedrückend, und mit einem Mal fühlte sich Keira buchstäblich und leibhaftig wie in ihre Jugendzeit zurückversetzt. Sie war wieder ein junges, temperamentvolles, aber trotz allem auch sehr unsicheres Mädchen, das nach einer langen Phase des stummen Beobachtens endlich den unvorstellbar tapferen Schritt gewagt hatte, ihrem Liebsten einen Zettel mit der poetisch-romantischen Aufschrift "Willst du mit mir gehen? - Ja - Nein - Vielleicht" (jeweils mit einem kleinen Kästchen zum Ankreuzen, versteht sich) zugeworfen hatte, und sich nun halb ängstlich, halb sehnsüchtig und in banger Erwartung der nahenden Fünf-Minuten-Pause durch die endlos lange Mathematikstunde kämpfte. "Es ist so schön hier...", flüsterte Sie rasch, bevor die jungendliche Hilflosigkeit allzu sehr die Kontrolle über ihren Körper und ihre Emotionen gewinnen konnte. Weit unter ihnen hatte der Fluss erneut zu Brennen angefangen, wälzte sich wie ein träger Strom von Lava und von funkelnden Diamanten an den Märchenwäldern des innerstädtischen Parks vorbei, geradewegs dem glühenden Horizont entgegen. Ganz plötzlich verstand Keira, dass dies in vielerlei Hinsicht ein ganz und gar besonderer Abend sein musste. Sie blickte auf die Skyline der Stadt, und obwohl nicht eine einzige Schaufensterscheibe in ihrem Blickfeld lag, so schien doch wahrlich alles zu leuchten, zu glitzern, von innen heraus zu strahlen. Es war ein verzauberter Abend, und der Wind war so sanft und so warm, als ob er einzig und allein aus dem einen Grund geboren worden wäre, um mit Keiras Haaren und ihrem Kleid zu spielen und sie so noch unendlich viel schöner zu machen, als es jedes noch so teure Schmuckstück hätte fertig bringen können. "Das... ist es wirklich", murmelte Kevin wie gebannt, und ein Hauch von Röte legte sich auf seine Wangen, für den Keira ihn spontan hätte heiraten können. "Ich komme oft hierher", lächelte Keira. "Es ist ein wundervoller Ort, aber so schön wie heute war er... schon lange nicht mehr." "Das ist kein gewöhnlicher Abend, Keira", entgegnete Kevin, ganz so, als ob er eben noch in ihren Gedanken hatte lesen können. Langsam, beinahe ein wenig schüchtern, trat er neben sie und streckte eine Hand dem schmelzenden Sonnenball entgegen. "Schau dir die Stadt an. Das ist wie in einem Film. Der Sonnenuntergang, der Wind, der Fluss. Niemand außer uns kann das sehen, das gehört nur uns." "Unser Abend", nickte Keira, und rückte ein bisschen näher an ihren Begleiter heran. "Aber siehst du da drüben die Turmuhr, Kevin? So ein unscheinbares Ding... ich beobachte sie oft. Den meisten würde sie überhaupt nicht auffallen, schon gar nicht heute, aber nur einen lächerlichen Halbkreis später ist alles wieder vorbei. Der Sonnenuntergang. Der Wind. Der Fluss..." "Das ist bedrückend, Keira. Warum denkst du ausgerechnet jetzt an so etwas? Wir sind doch hier, oder? Und die Sonne wird wohl kaum zum letzten Mal untergehen." "Wieso bedrückend?" Keira hob ihre Schultern und lachte. "Ich finde, dass Zeit etwas unheimlich Faszinierendes ist. Es lag mir fern, dich zu deprimieren, also verzeih mir bitte noch ein letztes Mal, ja? Du solltest nur unseren wichtigsten Gast nicht einfach so übersehen. Du hast Recht, das ist wirklich alles andere als ein gewöhnlicher Abend, aber ohne diese Uhr da drüben wäre es eben doch einer." "Meine Güte, Keira!" Kevin raufte sich die ohnehin nie ganz ordentlich zurechtgemachten Haare. "Hast du heute Morgen etwa einen Philosophen zum Frühstück verspeist?" "Wie meinst du das jetzt - verspeist?" "Nicht so, wie du schon wieder denkst! Ich meine, mit dem Mund. Nein... nein, nein, nein, sieh mich nicht so an! Du weißt ganz genau, wie ich es gemeint hatte - und wie nicht!" "Stimmt", kicherte Keira, "aber es gibt einfach nichts Schöneres, als dich verlegen zu machen!" "Ich sollte dich in den Fluss werfen", grummelte Kevin. "Das wäre Mord." Keira bleckte die Zähne. "Und außerdem - wer hat dir eigentlich erlaubt, mich beim Philosophieren zu stören?" "Hm... wäre es dir etwa lieber, wenn ich mitmache? Also schön..." Er drehte sich einmal im Kreis, setzte eine wichtige Miene auf und hob dann ruckartig seinen rechten Zeigefinger. "Reden wir von der - Zeit. Die Zeit fließt. Die Zeit wird uns geraubt. Die Zeit läuft davon. tempus fugit." "Kein schlechter Ansatz", nickte Keira langsam und gewichtig. "Wirklich gut aus diversen Schulbüchern zitiert. Aber welche Rolle spielt denn jetzt unsere Uhr bei der ganzen Geschichte?" "Die Uhr? Tja... also... die Uhr..." Kevin hielt kurz inne, nur um dann mit beiden Armen eine schwungvolle, raumgreifende Bewegung zu vollführen. "Um das zu begreifen, müssen wir unser Problem von einer höheren Reflexionsebene aus betrachten. Die Uhr, wie wir sie vor uns haben, ist nur ein Symbol... oder eine Art Metapher, und zwar... für den Erdenkreis. Die Erde dreht sich. Der Kosmos dreht sich. Die Zeiger drehen sich. Groß und Klein, alles hängt zusammen. Keiner kann es aufhalten. Keiner kann es beschleunigen. Und früher oder später wird alles und jeder zwischen diesen Kreisen und Kugeln zerrieben." Er ballte die rechte Hand zur Faust und legte eine kurze, dramatische Pause ein bevor er aufs Neue den Kopf hob und Keira erwartungsvoll anblickte. Die schenkte ihm jedoch lediglich ein flüchtiges Lächeln, bevor sie sich wieder den funkelnd roten Fluten des abendlichen Flusses zuwandte. "Irgendwie", sagte sie mit ruhiger, beinahe ein wenig abwesender Stimme, "ist doch jeder Mensch nur wie ein kleines Uhrwerk, das rastlos nach vorne hetzt, ohne Pause und ohne rechtes Ziel, wieder und wieder im Kreis herum, immer die gleichen Fehler und die gleichen Lügen und die gleichen Gesichter. Der Weg in dieser Kreisbahn ist nicht sonderlich abwechslungsreich und hinterlässt auch meist keine nennenswerten Spuren, aber darum kümmert sich das Uhrwerk natürlich nicht im Geringsten, sondern läuft einfach weiter und weiter und immer weiter, bis eben irgendwann die Batterie ausgeht..." Kevin machte große Augen. "Meine Güte, Keira... du solltest wirklich ein Buch darüber schrei..." Er stockte, und als Keira aufblickte, um den Grund dieses Stockens in Erfahrung zu bringen, da fühlte auch sie ein leises Zittern über ihre Körper laufen. Sie hatte nicht geahnt, wie nahe sie Kevin im Laufe ihres Gespräches tatsächlich gekommen war, sie meinte beinahe schon, die Wärme seiner Haut auf ihrer eigenen spüren zu können, aber vielleicht war das ja auch wieder nur der zarte Hauch des Windes, der an ihrem Körper ganz offensichtlich Gefallen gefunden hatte. Ihre grünen trafen seine blauen Augen, und plötzlich war sich Keira gar nicht mehr so sicher, ob die Zeit an diesem Abend auch wirklich einfach so ungerührt weiterlief wie eh und je. "Was meinst du, Keira", flüsterte Kevin, und auf seine Lippen legte sich ein Lächeln, das jeden letzten Zweifel aus Keiras Körper hinfort jagte. "Hat nicht auch ein Uhrwerk ab und an das Recht dazu, nur ein ganz kleines bisschen glücklich zu sein?" Er legte seine Hände auf ihre Schultern und zog sie mit einer zärtlichen Bewegung an sich. Sein warmer Atem streifte Keiras Nacken, seine Arme umschlossen ihren Rücken, als ob er sie nie mehr wieder gehen lassen wollte, als ob in diesem einen Augenblick die Begriffe Raum und Zeit tatsächlich jegliche Bedeutung verloren hätten, als ob es nur noch sie und ihn und ein kleines bisschen Abendwind gäbe, und alles Vergangene war nicht mehr als eine Reihe belangloser Bilder aus irgendeinem merkwürdigen, absurden Traum, der von den ersten Strahlen der Morgensonne hinfort gewischt wurde. Ganz sanft schob Kevin Keira ein kleines Stück weit von sich, um ihr erneut in die Augen sehen zu können, und dann lächelte er - das schönste, wärmste, ehrlichste Lächeln, das Keira jemals in ihrem ganzen Leben gesehen hatte - und strich ihr sanft mit einem Finger über die Wange. Aus den Augenwinkeln sah Keira immer noch das Glitzern des Wassers, das Glühen des Himmels, das Leuchten der verzauberten Stadt, und all das spiegelte sich in dem unendlichen Blau von Kevins Augen wieder. "Ich... ich liebe dich, Keira." Und da, ganz plötzlich und unvermutet, begriff Keira, dass sie nicht etwa jenen längst vergangenen Abend mit Daniel aufs Neue durchleben durfte - sondern etwas ungleich Besseres, Tieferes, Schöneres und - Echteres. Einen Moment lang war sie noch viel zu sehr gebannt von der Zerbrechlichkeit dieses magischen Augenblickes, sodass sie nicht sofort zu antworten imstande war, obwohl sie die Antwort natürlich längst schon kannte, eigentlich schon von jener Sekunde an gekannt hatte, als sie zum ersten Mal in Kevins blaue Augen gesehen hatte. Langsam, ganz langsam und unendlich vorsichtig streckte Keira ihre Hand aus, ohne auch nur eine einzige Sekunde lang den Blickkontakt zu Kevin zu verlieren. Ihre Handtasche war nicht verschlossen, also gab es glücklicherweise keinerlei störenden Laut von sich, als ihre Finger in das seidige Innenleben ihres geliebten kleinen Begleiters eintauchten und sich um den überraschend warmen Plastikgriff des Messers schlossen, das sie bereits in den scheinbar so endlos weit zurückliegenden Mittagsstunden dort verstaut hatte. "Ich liebe dich auch, Kevin", flüsterte sie, während ein unendlich glückliches Lächeln auf ihre roten Lippen trat. Dann stach sie zu. Ihre Hand bewegte sich fast wie von selbst, und eine wunderbare Wärme hüllte ihre Finger ein, während das warme Strahlen auf Kevins Gesicht langsam zu erstarren begann. Er gab keinen Laut von sich, aber das war auch überhaupt nicht mehr nötig, denn der Ausdruck in seinen Augen genügte Keira vollkommen um zu wissen, dass er von diesem Moment an auf ewig ihr gehören würde, dass nichts und niemand auf der ganzen Welt sie jemals wieder trennen konnte. Die Zeiger der Turmuhr mochten Weiterlaufen, die Sonne irgendwann untergehen, aber trotz allem würde dieser eine Abend unsterblich sein, würde auf ewig glitzern und leuchten, selbst wenn der Zauber, der sich auf die Häuser der Stadt gelegt hatte, schon längst wieder verblasst war. Dieser Moment vollkommener Nähe war unmöglich in Worte zu fassen, allerdings verspürte Keira auch überhaupt nicht das Verlangen dazu. Totschlag in einem minder schweren Fall, hatte es der Richter einige Jahre zuvor genannt, nachdem sie Daniel damals ihre Liebe gestanden hatte, aber natürlich war das keine sonderlich treffende oder romantische Bezeichnung. Keira hatte dennoch ihr Bestes getan, die Rolle der misshandelten Frau zu spielen, die ihren gewalttätigen Liebhaber im Affekt erstochen hatte, als dieser ihr wieder einmal Schläge und Schlimmeres androhte. Dabei war keineswegs die Angst vor einer harten Bestrafung ihr Antrieb zu dieser schauspielerischen Meisterleistung gewesen, nein, vielmehr war es so, dass Keira längst schon begriffen hatte, dass der Rest der Welt ihre Liebe zu Daniel einfach nicht würde verstehen können, weshalb sie es dann auch vorgezogen hatte, ein wohl gehütetes Geheimnis daraus zu machen. Keira liebte Geheimnisse. Und während es so dastand, das brennende Wasser unter und die rot-violett-blaue Musterung des endlos weiten Himmels über sich, eingehüllt vom Zauberbann ihrer über alles geliebten Heimatstadt und dem Licht der untergehenden Sonne, eins mit dem kostbarsten Menschen auf der ganzen weiten Welt, da begriff das kleine Uhrwerk mit einem Mal, dass es endlich, endlich doch sein wahres Glück gefunden hatte. Gleichzeitig aber erwachte auch das Bewusstsein in ihm, dass sich dieser Augenblick nicht noch ein weiteres Mal wiederholen konnte, dass die schönste Sekunde in seinem lächerlich kurzen Dasein soeben verstrichen war und dass von nun an alles Weitere nicht einfach nur schlechter, sondern schlichtweg bedeutungslos sein würde. Trotzdem war es Keira ganz und gar unmöglich, in solch einem magischen Augenblick auch nur an so etwas wie Trauer oder Wehmut denken zu können. Dies war ihr Abend, ein besonderer Abend, der nur ihnen allein gehörte, ihr und ihrer großen Liebe. Der Wind war immer noch wunderbar sanft und zärtlich, nicht zu warm und schon gar nicht zu kalt. Eingehüllt von seiner flüchtigen, liebevollen Berührung, war es fast ein bisschen so, als ob sie selbst fliegen könnte, als Keira vorsichtig über das Brückengeländer kletterte. In der Ferne hörte sie das Schlagen der Turmuhr, und Keira musste lächeln, denn der Tag war perfekt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)