Nichts als Reichtum von abgemeldet (~*~) ================================================================================ Kapitel 1: ~*Prolog*~ --------------------- ~*Prolog*~ Mehr als einen ständigen Kampf hat das Leben noch nie für mich dargestellt. Es ist nicht mehr als ein grauer nebliger Vorhang. Es ist wie eine Mauer, die dich allseits umgibt. Eine Mauer, die durchbrochen werden muss. Mit all seinen Kräften stemmt man sich gegen sie und es mag sein, dass man sein gesamtes Leben benötigt, um sie zu Fall zu bringen. Und der Weg dorthin... ja, er ist schwer. Alles muss man sich verdienen, sich erkämpfen. Ohne rasches Handeln kommt man seinen Zielen nicht näher. Ohne Durchsetzungsvermögen bringt man es nicht weit in der heutigen Gesellschaft. List muss man anwenden, um Pläne in die Tat umzusetzen. Hart muss man sein, um nicht weich zu werden. Weich und somit verachtungswürdig. Es ist besser, gewieft und verstohlen zu sein, als eine verachtungswürdige Kreatur darzustellen. In dieser Welt, die so schwer zu verstehen ist, ist man auf sich selbst gestellt. Vertrauen müssen sich Menschen schwer erarbeiten. Niemand hat es bei mir getan, außer eines kleinen Jungen, der wohl der einzige Grund ist, weshalb ich nicht mein Fenster öffne und springe. Und oft bin ich kurz davor. Die Welt wird bevölkert von Egoisten und Einzelgängern. Ich zähle mich zu ihnen. Man muss Egoismus besitzen, Angewiesenheit auf andere Menschen darf nicht bestehen. Mit Hinterlist und Bosheit erklomm ich die Treppe zum Erfolg. Ich handelte rasch, eignete mir Durchsetzungsvermögen an und brachte es dadurch weit. Mit List setze ich meine Pläne in die Tat um. Ich bin hart, um nicht weich zu sein. Gewieft und verstohlen nenne ich mich. Und ich bin egoistisch - auf niemanden angewiesen. Das einzige, auf das ich je angewiesen war, waren meine Fähigkeiten. Jeder kennt mein Leben, jeder weiß, dass ich kämpfte und einen langen Weg hinter mir ließ, bevor ich zu dem wurde, was ich nun bin. Ich glaube, meine Mauer brach schon vor langer Zeit in sich zusammen. Ich bewerkstelligte es, erfolgreich, angesehen und wohlhabend zu werden, schaffte das, wovon viele ihr Leben lang träumen, auf das viele ihr Leben lang hinarbeiten. Und das zumeist erfolglos. Ich habe alles, was man sich wünschen kann. Menschen achten mich, verspüren Furcht in meiner Gegenwart. Menschen kennen mich, hassen oder bewundern mich. Ich habe den Höchststand meines Lebens erreicht... und meine Mauer brach. Doch das, was hinter ihr lag, ließ mich meinen, es sei die gesamte Arbeit nicht wert gewesen. Kein gleißendes Licht umfing mich zärtlich, keine Wärme brachte neue Kraft und den Willen mit sich, weiterzumachen. Weitermachen? Weshalb? Höher kann ich nicht steigen. Nein, nichts dergleichen erwartete mich hinter dem symbolischen Gestein. Es war nur eine Dunkelheit, die ich erblickte. Eine gähnende, schier unendlich erscheinende Leere, die mich innerlich schwach werden ließ. Mein Leben veränderte sich binnen weniger Monate. Zunehmend verfiel ich ernsthaften Grübeleien und letzten Endes wurde ich mir der Tatsache bewusst, dass die einzige, mir verbleibende Möglichkeit darin bestand, mein Leben zur Routine zu machen. Meine Firma florierte. Ich strich Gewinne ein, doch auch das waren seit langem keine Besonderheiten mehr. Ich arbeitete, versuchte meine Technik zu verbessern, bis es nicht mehr möglich war. Und als ich mir meiner Situation schmerzlich bewusst wurde, arbeitete ich noch härter... und auch meine Technik hatte ihren Höchststand bald erreicht. Sie war perfekt, sozusagen. Perfektion - wie ich dieses Wort liebe. Mein Leben ist perfekt, ich bin perfekt... alles ist zu perfekt, beinahe übertrieben und lästig. Der Wunsch tat sich in mir auf, alles einzureißen, das ich je errichtet hatte. Alles zu vergessen und neu zu beginnen. Doch ein neues Leben kann ich nicht kaufen, so reich ich auch bin. Aus irgendeinem mir fremden Grund blieb ich hängen. Ich komme nicht vor, nicht zurück. Oft rette ich mich durch den Gedanken, ich wäre zu intelligent für diese Welt, hätte bereits alles erlebt und müsste auf keine außergewöhnlichen Geschehnisse mehr hoffen. Ich meinte, mit achtzehn Jahren ein alter Mann zu sein, der bereits alles hinter sich gelassen hat. Erfolg, jedoch auch traurige Niederschläge, obgleich ich vergessen habe, wie sich so etwas anfühlt. Es ist zu lange her, als dass ich mich dessen entsinnen könnte. Der Sinn meines Lebens scheint erfüllt zu sein und doch lebe ich weiter, leide unter der Routine und dem Alltag, dem es an jeglicher Farbe fehlt und immer trister und grauer zu werden scheint. Ich hocke nackt in der Finsternis, weiß nicht ein, noch aus. Zusehends wurde ich verbissener. Schnell verachtete ich alles und jeden, der mit mir nicht auf gleicher Stufe stand. Und obgleich ich die weniger erfolgreichen Menschen hasse, genießen sie doch ein besseres Leben als ich. Vielleicht hasse ich sie aus diesem Grund? Sie können sich Zeit lassen, in Ruhe lernen und sich weiterbilden. Ich lernte zu schnell, verstand die schwierigsten Dinge nach kürzestem Hinhören. Ich hatte zu früh begonnen, meinem Ziel entgegenzustreben. Hinzukommend hatte dieses Ziel zu hoch gelegen und doch hatte ich es erreicht. Dieser Erfolg stellte die Tatsache dar, die mein Leben und gleichermaßen mein Wesen veränderte. Verachtet hatte ich andere Menschen schon immer, doch diese Verachtung schlug schnell in Hass um und ich kapselte mich förmlich von der Außenwelt ab. Ich wurde schroff, meine Blicke tödlich und bald wirkte ich wirklich wie ein vergrämter alter Mann, der durch das Leben gezeichnet war und sich nur danach sehnte, endlich abschließen zu können. Mit jedem, mit allem. Am Morgen stehe ich auf und besuche die Schule, die große Lustlosigkeit und Langeweile in mir weckt. Weshalb besuche ich sie eigentlich noch? Diese Frage stelle ich mir oft, ohne auf eine brauchbare Antwort zu stoßen. Vielleicht tue ich es, weil es Routine ist? Weil es zu meinem Leben gehört und ich eine leise Angst tief in meinem Inneren verspüre, wenn ich an mein Büro denke... an diesen großen, kahlen Raum, in dem des Nachts die Computer wie hohle, düstre Kästen wirken. Ich halte mich nicht gern in diesem Zimmer auf, denn stets wenn ich in meinem Sessel sitze und die Unterlagen und Listen, die meine völlige Kontrolle über diese Firma symbolisieren, vor mir sehe, verkrampft sich mein Herz. Und ich kämpfe gegen diese Schwäche, indem ich mein Gesicht zu Eis erstarren lasse und auf die Welt fluche. In der Schule halte ich mich also lieber auf. Doch es scheint mir, als würden die Stunden von Tag zu Tag schneller an mir vorbeiziehen. Sie lästern und höhnen, drängen mich unausweichlich in meine Firma zurück, in der ich in meinem Sessel kauere und mit verbitterter Miene auf einen nicht existenten Punkt starre. Nur wenige Angestellte eilen an meinem Büro vorbei, in angestrengte Arbeit vertieft. Ich erkenne sie durch das saubere Glas meiner Tür und mein Blick folgt jedem. Ich habe mich kaum um etwas zu kümmern und es ist eine unaussprechliche Qual, von allen "Boss" genannt zu werden. Der Boss bin ich auch und eine meiner vorrangigen Aufgaben ist es, zu überprüfen und anschließend den Gewinn einzustreichen, wofür mich viele hassen. Nur zu, der Hass ist gegenseitig. Es gibt Tage, an denen ich meine Firma nicht verlasse. Zu manchen Zeiten greift der Mut nach mir und ich beginne nach Fehlern zu suchen. Fehler, die nur ich ausbessern kann. Doch auch meine Firma ist zu perfekt, als dass sie mir noch Freude bereiten könnte. Und obgleich ich das Gebäude der Kaiba-Corporation ebenfalls zu hassen beginne, verbringe ich jeden Tag dort und fahre erst spät Nachhause. Und ich tue es, weil es Routine ist. In meiner früheren Lebensfreude und nicht zu niedrigen Ansprüchen, habe ich ein großes Grundstück zu meinem Eigentum erklärt. Ein stabiler, hoher Stahlzaun umrandet dieses Grundstück, lässt es beinahe wie ein Gefängnis wirken. Es gibt auch einen gepflegten Garten, der meine Villa zu allen Seiten umschließt, den ich jedoch nie betreten habe. Mein Haus ist sehr groß, zu groß, um allein mit seinem kleinen Bruder und wenigen Angestellten darin zu leben. Ich habe nur drei Zimmer für mich beansprucht, zwei gehören Mokuba und von den restlichen zehn Zimmern stehen acht leer. Für den Fall einer Änderung, sage ich mir immer, die jedoch nie eintreten wird. Dem zehnjährigen Jungen, der wohl der einzige Mensch auf der Welt ist, der mich versteht, lasse ich viele Freiheiten, hüte ihn gleichermaßen aber auch wie einen Schatz, der durch nichts zu ersetzen ist. Ich behalte seine schulischen Leistungen streng im Auge, setze auch viel auf seine Erziehung und oft sehe ich die einzige Herausforderung meines Alltages in der Art und Weise, wie ich mit Mokuba umgehe. Ich liebe ihn, weil er mir vertraut, auf mich angewiesen ist und mir stets Gesellschaft in finsteren Zeiten leistet. Ich liebe ihn, weil er Freude am Leben findet und jeden Morgen lächelnd zur Schule geht. Er wird dort Freunde treffen, interessante Dinge lernen und ebenso glücklich heimkehren, um zumeist vergeblich auf seinen großen Bruder zu warten und ihm mit Anstrengung ein Lächeln zu entlocken, wenn er irgendwann doch eintrifft. Freunde... Noch nie habe ich Freunde besessen. Nie habe ich einen Menschen an mich heran gelassen und ihm Vertrauen geschenkt. Denn kein Mensch ist mit mir gleichgestellt, niemand versteht meine Gefühle oder würde sie je verstehen. Freunde... Ich will sie nicht. Lebensfrohe Jugendliche, die jeden Tag mit einer Freude, die mit der meines kleinen Bruders gleichzusetzen ist, hinter sich lassen, kenne ich viele. Doch niemand wirkt interessant oder gar außerordentlich intelligent auf mich. Sie stehen vor meiner Treppe, ich blicke von oben auf sie herab. ~*to be continued*~ Kapitel 2: ~Kontrolle~ ---------------------- ~*Kapitel 1 - Kontrolle*~ Die Nacht hält noch an, als sich mein Wecker mit seinem gleichmäßigen Piepen meldet und mich schnell aus dem Schlaf holt. Bereits nach dem ersten Geräusch öffne ich die Augen und richte mich auf. Und während die hellen, beinahe schrillen Signale ertönen, blicke ich mich um. Mein Schlafzimmer ist sehr groß, jedoch nicht sonderlich viel möbliert. Es gibt lediglich einen großen leeren Tisch, wenige Stühle und einige Schränke, in denen ich meine privaten Besitztümer aufbewahre. Größtenteils sind es nur Bücher über Geschäftswesen. Es gibt auch ein paar mathematische und naturwissenschaftliche Bücher. Fachwissen regiert, literarische Werke besitze ich kaum. Das saubere und helle Parkett wirkt recht kahl. Es gibt keinen Teppich, der etwas Farbe in diesen Raum bringt. Ich bin zu selten und zu ungern hier, als dass ich daran etwas ändern würde. Außerdem bevorzuge ich es so. Bereits nach wenigen Sekunden bin ich hellwach und mein Wecker verstummt, als wüsste er es. Es ist jeden Tag dasselbe. Ich brauche ihn nicht auszuschalten. Langsam greife ich nach der Decke und ziehe sie zur Seite. Mein Bett ist sehr groß. Zu groß für mich allein. Es steht nicht weit über dem Boden, die Matratze ist angenehm weich und doch halte ich mich nie überflüssig lange auf ihr auf. Nein, das ist nicht meine Angewohnheit. Noch an gleicher Stelle erhebe ich mich, gehe einen Schritt auf die Bettkante zu und bleibe stehen, bevor ich sie erreiche. Die langen dunklen Gardinen, deren Enden sich auf dem Boden ausbreiten, sind zurückgezogen. So wie immer. Durch die hohen breiten Fenster kann ich nach draußen schauen. Die Gegend ist finster, der volle Mond steht noch tief am Himmel. Er wird bald untergehen. Die Krone des Baumes, der nicht weit von meinem Fenster steht, ist schwer belastet mit weißem Schnee, der im grellen Licht des Mondes schimmert. Es ist ein schöner Anblick und doch wende ich mich ab, ohne auf ihn zu achten. Ich steige von dem Bett, lasse alles so wie es ist und verlasse den Raum. Es ist noch zu früh, um aufzustehen. Erst in drei Stunden muss ich aufbrechen, um mich einem neuen Tag zu unterwerfen. Einem neuen Tag voller Routine und Qual. Und doch bin ich schon wach. Bis ich mein Haus verlasse, mache ich nichts. Logisch gesehen ist es sinnlos, zu so früher Stunde das Bett zu verlassen. Als ich in den schmalen Flur der ersten Etage hinaustrete, herrscht Totenstille um mich herum. Die finsteren Türen, die sich in großer Entfernung voneinander an den Wänden entlang reihen, verbergen keine Geheimnisse hinter sich. Nur vier leere Wände und ein kahler Boden. Ich will sie nicht öffnen, habe es noch nie getan, denn diese Zimmer erinnern mich an meine Seele. Leer, kalt und dunkel. Dennoch greife ich nach einer Klinke, kurz nachdem ich nach links gebogen bin und öffne eine Tür. Es ist mein Bad, das ich wie jeden Tag zuerst aufsuche, nachdem ich aufgestanden bin. Als sich das Licht automatisch anstellt, erblicke ich die weißen Fliesen am Boden. Sie ziehen sich auch die Wände empor, bis sie einen Meter vor der Decke einer teuren Tapete den Vortritt lassen. Dieses Zimmer ist sehr kantig und unproportional geschnitten, möchte auf viele Menschen äußerst abenteuerlich und wundersam wirken. Mein Interesse jedoch, hat es schon vor langer Zeit verloren. In langsamen Schritten lasse ich die große Eckbadewanne und die Dusche hinter mir und nähere mich einer breiten Ablage, die vor einem großen Spiegel liegt, sich von einer Ecke zur anderen zieht und von zwei Waschbecken aus Marmor unterbrochen wird. Schon von weitem erblicke ich den jungen Mann, der sich mir langsam nähert und dann bleibe ich stehen, stütze mich ab und lehne mich etwas nach vorn, um mich genau betrachten zu können. Wieder sehe ich die trüben blauen Augen, die nur einen abgestumpften Ausdruck zulassen. Wieder sehe ich die finstere Miene, die verzweifelte und stahlharte Verbissenheit, die sich tief in meinem Gesicht verankert hat, die ich nun nicht mehr loswerde. Ich blinzle, wende den Blick ab und richte ihn auf den Marmor der Ablage. Ihn starre ich an, ohne an irgendetwas zu denken. Das helle, beinahe schon unangenehm grelle Licht der Lampen ist nicht dazu fähig, die Dunkelheit zu verbannen. Die Stille umgibt mich. Wie jeden Tag auch, wirkt sie wie eine undurchdringliche Mauer. Eine Mauer, die auf die erste folgt, die zu durchstoßen ich nicht imstande bin. Meine Augen tasten nun die geschwungenen Muster des Marmors ab. Ich weiß nicht, warum ich es mache, es bringt mir nichts. Als ich mir dessen bewusst werde, lenke ich meinen Blick auf den Spiegel zurück. Zögerlich, beinahe schon verunsichert bleibt er an meiner nackten Brust hängen. Ich betrachte mir die glatte Haut, die leichten Wölbungen meiner Rippengegend. Tiefer sehe ich den flachen Bauch; an ihm entdecke ich keine Wölbungen. Nein, er ist perfekt. Meine Arme. Keine Narben bedecken sie, keine Sehnen stechen hervor. Die Muskeln an meinen Schultern, die Senkungen über meinem Schlüsselbein. Der schmale, beinahe schon zierliche Hals. Ich hebe den Kopf, der junge Mann starrt mich nun direkt an. Nichts ist in seinen Augen zu lesen, nur ein flüchtiges Zucken in seinem Gesicht, das mir verächtlich und zugleich gequält erscheint. Ich wende mich ab, meine Hand streift den glatten Marmor, bevor ich sie sinken lasse. Ich verlasse das Bad, habe keinen Grund, hier zu sein. Wieder trete ich in den Flur hinaus. Er ist noch immer düster und ich will ihn verlassen. In langsamen Schritten steuere ich auf die breite Treppe zu, die mich in das Erdgeschoss meines Hauses führt. Ich fühle mich, als würde ich noch immer schlafen, als wäre nur mein Körper hier. Meine Seele scheine ich zurückgelassen zu haben. Ich weiß nicht, wo. Der weiche Teppich, der über den Stufen liegt, schmiegt sich an meine nackten Füße, verleiht ihnen eine gewisse Wärme. Meine Hand tastet sich an dem kunstvollen Geländer entlang, bis sie dessen Ende erreicht. Ich betrete ein Foyer. Auch diesem Raum fehlt es an Zierde. Ich durchquere ihn, ohne aufzublicken. Einst hatte es prunkvolle Bilder gegeben, die einluden, dieses Haus zu erkunden. Nun gibt es nichts mehr, das auch nur etwas Wärme ausstrahlt. Alles ist kahl, selbst meinem Haus fehlt es an Leben. Ich lasse einen arkadenförmigen Eingang hinter mir, gehe durch einen kleinen Durchgangsraum und betrete die Küche. Deren Ausstattung habe ich gleichgültig dem Mann überlassen, der auch als Koch tätig ist und sich um Mokuba kümmert, wenn ich, der große Bruder, arbeite. Dieses Zimmer ist wohl das einzige, das zum längeren Aufenthalt zwingt. Hier gibt es Bilder, die Schränke und Arbeitsplatten sind in warmen Farben gestrichen. Auch verschiedenfarbige Tassen und Schüsseln sind durch die Glastür eines Schrankes hindurch zu sehen. Auf dem rechteckigen Tisch steht eine Vase. Ein Strauß bunter Blumen fühlt sich in ihr wohl. Ich mag diesen Raum nicht - die Farben sind zu belastend, der Duft der Blüten ist für mich nicht mehr als Gestank. Ich möchte nicht lange hier bleiben. Sicher legt sich meine Hand um den blauen Griff des Kühlschrankes. Ich öffne ihn und schaue hinein. Süßigkeiten von Mokuba nehmen den meisten Platz ein, Gemüse und Salat sind in einer der untersten Schubladen verborgen. Ich sehe grelle Verpackungen, glänzendes Papier. Pralinen, Lakritze, Riegel... ich selbst greife nur nach einer Flasche Wasser, wende mich ab und schließe den Kühlschrank, indem ich mich dagegen lehne. Und während ich dann darauf achte, dass meine Aufmerksamkeit nicht wieder auf die Farben gezogen wird, schließe ich die Hand fest um den Deckel und beginne zu schrauben. Ein Schluck Wasser - das ist mein Frühstück. Mehr vertrage ich nicht, mehr stößt mein Körper ab. Gewohnheit. Ich setze die Flasche an meine Lippen, fühle sofort die kühle Frische an meinen Zähnen, spüre, wie sie durch meinen Hals rinnt und sich in meinem Bauch ausbreitet. Und schon verlangt es mir nach etwas anderem. Ich nehme die Flasche mit und mache mich auf den Rückweg nach oben. Wieder durch das Foyer, die Treppe hinauf. Die Durchquerung des Flurs. Das Erreichen meines Schlafzimmers. Diesmal schalte ich das Licht an; grelle Lampen an den Wänden leuchten auf und ich blinzle. Säuberlich hängt meine Schuluniform über der Lehne eines Stuhls. Die Hose, die Jacke... nach all den Jahren schmerzt dieses Blau in meinen Augen. Es ist widerlich. Ich durchquere den Raum, mein Blick streift diesen Störfaktor nur flüchtig, bevor er sich wieder auf den Boden richtet. Als ich den Tisch erreiche, stelle ich die Flasche auf ihm ab und greife in derselben Bewegung nach einer schwarzen, aufwendig verzierten Schachtel. Ich öffne sie, wende dem Tisch den Rücken zu und lehne mich gegen seine Kante. Wie lange ich dem Tabak schon verfallen bin? Ich weiß es nicht. Ich habe irgendwann angefangen, ohne den Grund dafür zu kennen. Weshalb auch Gründe besitzen, um das eigene Handeln zu rechtfertigen? Ich benötige keine Gründe, was ich mache, das mache ich. Ich ertaste den rauen Filter einer Zigarette und ziehe sie heraus. Sie findet den direkten Weg zu meinem Mund, klemmt kurz darauf zwischen meinen Lippen. Beinahe schon automatisch lege ich die Schachtel auf dem Tisch ab, meine Hand kehrt mit dem Feuerzeug zurück. Es ist eine Prozedur, die ich jeden Morgen durchlaufe. Und ich weiß es genau. Lange werde ich hier stehen, den Rauch gen Zimmerdecke aufsteigen lassen und vor mich hinstarren, ohne einen Gedanken zu verfolgen. Phlegmatisch ist meine morgendliche Beschäftigung. Sinnlos in jeder Einzelheit. Keine Minute zu spät, keine Minute zu früh, sitze ich auf dem Rücksitz des schwarzen Wagens und lasse mich fahren. Heute bin ich allein. Ich bewege mich kaum, schenke der Umgebung, die gemächlich an mir vorbeizieht, keinerlei Aufmerksamkeit. Ich erblicke dieselben Häuser, dieselben Bäume... es läuft vor mir ab wie ein Stummfilm. Jeder Tag trägt seinen Teil zu der Endlosschleife bei. Ich weiß nicht, ob ich mich darüber freue, ohne Gesellschaft hier zu sitzen. Der Mann am Lenkrad, mein Fahrer, starrt auf die Straße und spricht kein Wort, so wie ich es bevorzuge. Es weckt stets eine für mich unverständliche Freude in Mokuba, wenn er länger schlafen kann. Nun, unter anderen Umständen würde auch ich es vielleicht bevorzugen. Der Tag wäre kürzer, den sich stets wiederholenden Plan müsste ich umschreiben. Ich weiß nicht, weshalb ich mich stets so früh von den Träumen losreiße. Meine täglichen Beschäftigungen und meine Routine sind sinnlos. Gegen meinen Willen bleiben meine Augen an einem Geschäft für Kinderspielzeug hängen. Ich kann nichts dagegen tun, es ist immer so. Für kurze Zeit sehe ich die lächelnden Puppen in dem Schaufenster. Sie strecken die Arme nach vorn, als wollen sie sagen: "Nimm mich in den Arm und hab mich lieb.". Die flauschigen Bären mit den Knopfaugen, Figuren aus Holz und Keramik, die meiner Meinung nach, kläglich an dem Versuch, schön auszusehen, scheitern. Die Schaufenster strahlen eine ungeheure Heiterkeit aus, die Verachtung, ja, beinahe schon Übelkeit in mir hervorruft. All das Lächeln, das Lachen, die Unbeschwertheit der leblosen Gestalten. Sie soll sich auf Menschen übertragen. Unrealistische Denkweise ist es in meinen Augen. Die gnadenlose Ausnutzung der menschlichen Angewiesenheit auf Zuwendung, des Unwissens der Kinder. Nicht mehr. Nachdem ich jenes Geschäft hinter mir gelassen habe, wende ich mich von dem leicht verdunkelten Fenster ab. Ich beginne meine Hände zu reiben und sie zu betrachten. Sie stecken in schwarzen dünnen Handschuhen. Und nebenbei zähle ich die Sekunden. Das Ziel ist nicht mehr fern. Der Wagen biegt um die Ecke, dann kommt er zum Stillstand. Noch immer schweigt der Mann, der vorne sitzt. Nicht einmal eine Bewegung ist seinerseits auszumachen. Er wartet und ich lasse ihn nicht lange warten. Meine Hand tastet nach der Tasche, dann öffne ich die Tür. Langsam, beinahe schon träge, setze ich die Sohle meines festen Stiefels in den weißen Schnee, bevor ich aussteige und mich aufrichte. Ein schwarzer Baumwollmantel schützt mich vor dem schneidigen Wind, der mir sofort entgegenpeitscht. Den weiten Kragen habe ich hochgeschlagen, er verdeckt einen Teil meines Gesichtes, das durch die klirrende Kälte etwas schmerzt. Während ich mich flüchtig und desinteressiert umschaue, hebe ich die Hand, erreiche mit ihr die Tür und schließe sie. Und sobald ich dies getan habe, setzt sich der Wagen in Bewegung. Er rollt durch den Schnee davon, ich sehe ihm nicht nach. Ich bleibe noch etwas stehen. Der Gurt der Tasche findet seinen Platz über meiner Schulter, eine scharfe Böe erfasst meinen Mantel. Er bäumt sich auf, eine Gänsehaut zieht sich kalt über meine Beine. Der niedrige, weiß glänzende Zaun des Schulgeländes ragt direkt hinter mir aus dem Boden. Viele Schüler sind hinter ihm zu sehen. Zitternd verbergen sie sich in ihren dicken Jacken, Bewegungen sind ihnen in dieser Kälte unangenehm. Doch lachen können sie. Die belastenden Geräusche mischen sich unter das leise Pfeifen des Windes, dringen an meine Ohren. Ich verberge die Hände in den tiefen Taschen meines Mantels, balle sie zu entspannten Fäusten. Und während ich weiterhin die abscheulich bunten Gardinen mustere, die vor eines der Fenster des gegenüberliegenden Hauses gezogen sind, beginnt es wieder zu schneien. Bewegungen sind am weißen Himmel auszumachen. Sanft legen sich die Schneeflocken auf meine Schultern und als ich das Gesicht hebe und aufblicke, schmilzt eine auf meiner Nasespitze. Ich zwinkere, meine Pupillen wandern nach links. Dort neben mir erstreckt sich der Gehweg bis in weite Ferne. Der Schnee auf ihm ist bereits zertreten; viele Schuhe tragen daran die Schuld. Ich beobachte einzelne Schüler, die herangeeilt kommen, kurz vor mir abbiegen und das Schulgelände betreten. Sie alle warten auf den Einlass, hoffen auf warme Räume. Sie mögen keine Kälte. Mir ist und war es immer gleichgültig. Wärme gar Hitze schadet mir nicht, vor klirrender Kälte scheue ich gleichermaßen nicht zurück. Das Klima ändert nichts an meinem Leben. Wenn man es recht bedenkt, sind es auch die Jahreszeiten, die sich endlos wiederholen. Immer und immer wieder. Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Nur ihre lange Dauer machen sie in gewisser Hinsicht erträglich. Alles auf dieser Welt ist verabscheuungswürdig, denke ich mir und schließe die Augen. Da ertönt die leise Melodie der Schulglocke hinter mir. Diese beruhigenden Töne... sie künden das Grauen an. Jeden Tag meldet es sich zur gleichen Zeit und nichts ändert sich an der Situation. Jeder Tag wird von Beginn an wie der andere. Ich blicke auf. Die Schüler stöhnen in einer großen Erleichterung und beginnen zu drängeln. Ich muss mich nicht umdrehen, um es zu wissen, denn es ist jeden Tag so. Sie benehmen sich töricht und dumm, stellen sich an, als hielten sie es keine Sekunde länger außerhalb des Hauses aus, als würde sie der Tod ereilen, wenn sie sich an den Versuch heranwagen würden. Sie drängeln und schubsen, schieben sich durch die schmale Tür gleich eines jaulenden Hunderudels, das gepeitscht wird. Ihr Benehmen ist unsinnig und primitiv. Ich bleibe stehen und warte, schließe mich ihnen nicht an. Wenn man es recht bedenkt, benehmen sich alle Jugendlichen anormal und lassen aus einer Sinnlosigkeit heraus, Streit entstehen. Sie sind sich darüber bewusst, dass sie sich das Leben erschweren, verschwenden jedoch keinen Gedanken daran und folgen ihrer menschlichen Natur. Die menschliche Natur... ich verstehe sie nicht, denn ihr fehlt es an Perfektion. Hält man sich an sie, ist man wie die anderen. Man verschreibt sich einem Leben voller Fehler und Mängel, man verschreibt sich der Norm. Wo, frage ich mich, ist in dieser Tatsache der Vorteil zu finden. Langsam wende ich mich zur Seite und gehe los. In der Zwischenzeit wirkt der große Platz vor dem weißen kahlen Gebäude leer und trist. Ich sehe nur noch wenige, die die Stufen hinaufeilen und im Vorraum verschwinden, als flüchteten sie vor etwas. Diese Menschen... Ist es die weit verbreitete Primitivität, die sie die Sinnlosigkeit des Lebens nicht erkennen lässt? Viele von ihnen sind in meinem Alter und ihnen sind das falsche Glück und die geheuchelte Freude hold. Ich kenne viele, die stets ein Lächeln mit sich umhertragen. Dieses Lächeln erscheint mir wie eine Maske, die sie sich aufsetzen und des Nachts ablegen. Es erscheint mir unnatürlich und verkrampft. Ich weiß nicht, warum es eine solche Wirkung auf mich hat. Es ist möglich, dass ich ihre Gründe nicht sehe. Und ich sehe sie nicht, weil die Aufgabe, diese Geste zu ergründen, meiner nicht würdig ist. Unrealistisch sind sie alle. Sie besitzen falsches Glück, geheuchelte Freude und meine tiefe Verachtung. In sicheren Schritten überquere nun auch ich das Gelände. Die wenigen Überreste des Schnees knacken unter meinen Stiefeln. Die Flocken fallen nun dichter, dennoch lasse ich mir Zeit. In dem großen Vorraum, an dessen Wände sich die Spinde entlang reihen, stehen nur noch wenige Schüler. Sie unterhalten sich, wechseln Erlebnisse aus, die sie während der Freizeit gemacht haben und verstummen, als ich eintrete. Diese Geste des erschütternden Respekts erlebe ich oft und sie kommt mir gelegen, wirkt angenehm. Ich nähere mich meinem Spind und sie lassen die Stufen hinter sich und betreten, die Gespräche leise wieder aufnehmend, das Schulhaus. Nicht den kleinsten Teil meiner Beachtung widme ich ihnen. Ich ziehe die Hände aus den Taschen des Mantels und bringe den Gurt meiner Tasche mit einer gemächlichen Bewegung dazu, über meine Schulter zu gleiten. Ich stelle sie auf einer der wenigen sauberen Stellen ab, tippe den fünfstelligen Code auf dem kleinen Display und öffne die Tür meines Fachs. Ich blicke einem langen Schultag entgegen, der jedoch auch eine positive Tatsache mit sich bringt. Mir wird weniger Zeit bleiben, mich in meiner Firma aufzuhalten. Ein Termin erwartet mich dort, ein Treffen und ein ausführliches Gespräch mit einem unbedeutenden Geschäftpartner, dem ich dennoch meine Zeit opfern muss. Ich schlüpfe aus meinem Mantel, greife nebenbei nach meinem Bügel und hänge den leicht nässenden Stoff säuberlich darüber. Ordnung ist mir wichtig. Sie trägt einen bedeutsamen Teil zur völligen Perfektion bei. Ich klemme den Bügel über den Haken, trete zurück und hebe die Hand, um mich abzustützen. Meine andere Hand fährt unter das linke Hosenbein, tastet nach dem weit oben liegenden Reißverschluss des Stiefels und zieht ihn hinab. Ich wechsle meine Schuhe, schlüpfe in die weißen Hauspantoffeln und schließe meinen Spind, nachdem ich dies erledigt habe. Bevor ich dann nach meiner Tasche greife und hineingehe, richte ich mich noch einmal auf und betaste den Kragen der Schuluniform. Er ist geschlossen, alles stimmt. Ich richte ihn kurz, meine Hand fährt auch durch mein Haar, bevor sie sich gen Tasche senkt und diese aufhebt. Wieder gehe ich durch die sauberen Gänge. Die Schüler, die eng beieinander stehen, wirken wie ein Haufen gleichfarbener Ameisen auf mich, heben sich lediglich durch die hellblauen oder weißen Pantoffeln voneinander ab. Diese Schule brachte mich bereits oft zum Grübeln. Jeder Klassenraum gleicht dem anderen, es ist unübersichtlich. Jeder Schüler gleicht dem anderen, die strenge Kleiderordnung lässt keine Diskriminierung zu. Die Gänge sind in weißer Farbe gestrichen, nur zwei von ihnen wirken bereits wie ein Irrgarten auf Fremde. Hier gibt es nichts Außergewöhnliches. Alles symbolisiert die völlige Ordnung und Disziplin, ein Symbol der Freude ist nirgends zu sehen. Keine Bilder, lediglich Glaskästen, in denen man die zahlreichen, vor Protz sprudelnden Urkunden der Schule bestaunen kann. Dem Gebäude fehlt es an Leben, außen wie auch innen. Ich fühle mich hier wohl, denn es gleicht meinem Haus. Ich achte auf nichts und niemanden, lasse die plappernden Gruppen hinter mir und steuere auf die Treppe zu. Ein Lehrer kommt mir entgegen, zieht grußlos an mir vorbei. Jeder Schüler verbindet die gnadenlose Härte und Strenge mit ihm, hegt Furcht in seiner Gegenwart. Mit ihm wird jede Unterrichtsstunde zu einem einprägsamen Zuchtprogramm. Der Mann besitzt den größten Teil meiner eher schlicht ausfallenden Sympathie, was die Schule betrifft - so müssen Lehrer sein. Ich erreiche die erste Etage, biege nach rechts und betrete somit das Klassenzimmer. Ein heller Raum mit großer Fensterfront. Müdigkeit beginnt hier erst später zu herrschen. Noch sind die, die ich unwillig als meine Mitschüler bezeichne, bei ausgesprochen guter Laune. Sie haben sich in ihren Gruppen zusammengefunden, kauern auf, an oder neben den Tischen und betreiben Konversation. Niemand senkt die Stimme, als er mich bemerkt. Hier schenkt man mir keine Beachtung, man hat sich längst an mich gewöhnt. Ich lasse den Türrahmen hinter mir, wortlos und unauffällig durchquere ich die Tischreihen. Ich fand meinen Platz in der hintersten Reihe am Fenster. Eliteschüler werden prinzipiell nach hinten verbannt, um den weniger Gebildeten und Aufnahmefähigen das Lernen zu erleichtern. Ich bin froh über meine abgeschiedene Ecke. Keine versteckten Blicke treffen meinen Rücken, der Lehrer spricht mich nur selten an. Ich übe mich darin, den Anschein zu erwecken, als wäre ich für nichts zugänglich, als läge um mich herum ein Schutzschild, der keine Stimmen durchlässt. Abwesend und gedankenverloren mag ich anderen vorkommen, doch ich sehe und höre alles. Meine Bewegungen wirken, als würde ich sie unter strenger Kontrolle durchführen. Jeder Handgriff passt, jeder Schritt ist sicher, doch das alles ist lediglich routiniert und geht automatisch vonstatten. Ich bin perfekt, sogar bis hin in die kleinste, unbedeutende Geste. Ich ziehe meinen Stuhl zurück, lasse mich auf ihm nieder und stelle die Tasche auf meinem Schoß ab. Noch immer schenke ich meiner Umgebung keinerlei Beachtung. Ich weiß wie das Zimmer aussieht, ich kenne das Benehmen meiner Mitschüler bis in das kleinste Detail, ohne es studiert zu haben. Gemächlich, beinahe schon lautlos, lege ich die Bücher auf meinem Tisch ab, lasse die Tasche neben ihm verschwinden und lehne mich zurück, ohne die geringste Entspannung zu finden. Erst dann blicke ich auf. Überprüfend und abwägend tasten meine Augen das Umfeld ab. Größtenteils mit Desinteresse, teilweise auch mit Verachtung, fange ich wenige Worte der einzelnen Gespräche auf. Die Themen, über die man sich unterhält, begründen dieses Desinteresse. Aussageschwach und unbedeutend sind sie allesamt. Sie beweisen ein weiteres Mal, dass es zuviel Freizeit gibt, die für manche negative Auswirkungen hat. Die Jugendlichen, die mich von Tag zu Tag umgeben, führen ein normales, minderbemitteltes Leben und doch sind sie mir ein Mysterium. Ich kenne ihr Benehmen, kann es mir jedoch nicht erklären, es gar begründen. Alles wirkt so sinnlos auf mich. Die Lehrerin tritt ein, mein Blick streift sie nur flüchtig und richtet sich anschließend stur nach vorn. Dort trifft er auf einen bestimmten Punkt und bleibt ausdruckslos an ihm hängen. Vor mir sitzt ein junger Mann, mit dem ich immer wieder zu tun habe, obwohl ich es mit allen mir zu Verfügung stehenden Mitteln verhindern will. Ich gerate oft in Konflikt mit ihm, bin jedoch froh, noch nie von ihm abhängig gewesen, oder gar auf ihn angewiesen zu sein, so wie es bei einem anderen Mitschüler der Fall ist. Ein gewisser Junge, mein persönliches Synonym für das vollständige Nichtskönnen, für die vernebelte Denkweise und die Vorliebe für das Unrealistische. Yugi Muto nennt er sich. Ein Junge, an den ich freiwillig keinen Gedanken verschwenden will. Ich habe ihn nicht angesehen, noch immer ist mein Blick auf den blonden ungekämmten Schopf gerichtet, der sich vor mir hin und herbewegt. Katsuya Jonouchi. Er ist wohl der einzige, der kein Mysterium für mich darstellt. Nein, ich weiß alles über ihn. Viel hat er in seinem tristen Leben nicht zu bieten, das sich erforschen lässt. Er ist durch die Primitivität geschwächt, war noch nie dazu imstande, intelligente Gedanken zu führen. Er symbolisiert den typischen Durchschnittsbürger für mich, mehr nicht. Und selbst mit dieser Einschätzung übertreibe ich vielleicht. Wenn man es recht bedenkt: Jonouchi weiß nichts, Jonouchi kann nichts, Jonouchi ist ein Nichts. Und so wird es immer bleiben. Er ist nicht einmal meines Mitleides würdig. Seine falsche Entschlossenheit und der stetige Optimismus behagen ihm nicht. Seine seelische Weichheit und der übertriebene Sinn für Freundschaft und Zusammenhalt machen ihn für mich schier unerträglich. Ja, früher war er mir ein Dorn im Auge. Er störte meine Konzentration bereits mit einem seiner Atemzüge. Vernahm ich seine Stimme, wuchs der Zorn in mir, wobei es gleichgültig war, ob seine Worte mir galten oder auch nicht. Seine Anwesenheit war der auffälligste Störfaktor in meinem Leben. Doch dieses Problem habe ich behoben. Es stellte eine kurzweilige, jedoch äußerst erfrischende Herausforderung in meinem Alltag dar, über ihn hinwegzukommen und dabei keinen Schaden an mir selbst anzurichten. Wie alles in meinem Leben, glückte auch dieses Vorhaben. Heute beachte ich ihn lediglich mit flüchtigen Blicken, die jedoch sehr aussagekräftig sind. Ich spreche ihn nicht an und gebe auf seine Worte nur selten eine Erwiderung. An manchen Tagen verlangt es mir sogar nach einer Selbstbelügung. Beinahe schon kindisch erscheint mir der Gedanke, Jonouchi sei nicht anwesend sei, obwohl ich ihn deutlich vor mir sehe. Anders ausgedrückt, vertiefe ich mich zu sehr in die völlige Übersehung und Nichtbeachtung des jungen Mannes, als das ich ihn beachten könnte. Mazaki und Honda sind mir zu unbedeutend, als dass ich meine Gedanken an ihnen verschwende. Sie sind nur Anhänger in meinen Augen. Sie begleiten, ohne sich einzumischen oder ihren Teil beizutragen. Mit Otogi hatte und habe ich nichts zu tun und Bakura lerne ich jeden Tag von neuem kennen, so unauffällig und unwichtig ist er. Als eine weitere Melodie den Beginn der Stunde ankündigt, breche ich meine Beobachtung ab. Ich senke den Blick und nagle ihn regelrecht an der weißen Arbeitsfläche meines Tisches fest. Die Tür schließt sich, die Schüler sitzen still und schweigend. Auch ich bewege mich nicht. Und das nicht aus dem Grund, weil ich streng an der Disziplin teilnehme. Nein, die Haltung wirkt gemütlich auf mich und ich betrachte mir die kaum sichtbare Holzmaserung. Die Lehrerin erhebt die Stimme. Sie ist leise, wankt und zittert verunsichert. Sie hat nie die Kraft besessen, eine gewisse Autorität auszustrahlen. Es ist vielmehr Mitleid, welches die Schüler zum Benehmen anregt. Mitleid habe ich mit dieser Frau nicht. Sie ist zu schwach und weich; so etwas braucht die Menschheit nicht und läge die Vollmacht in meinen Händen, wäre sie arbeitslos. Sie spricht über organisatorische Maßnahmen und Veränderungen, dabei knetet sie die Hände ineinander und verlagert das Gewicht von einem Bein auf das Andere. Schwankend steht sie vor der Klasse und wünscht sich, sie wäre woanders. Woanders zu sein, wünsche ich mir auch. Überall, nur nicht in der Firma. Ich brauche mich nicht zu konzentrieren, um jedes ihrer Worte aufzufangen und flink zu verarbeiten. Ich präge mir alles ein, lasse nichts außer Acht, und das bereits unbewusst. Vor mir beginnt sich Jonouchi zu bewegen. Er rutscht auf dem Stuhl hin und her, lehnt sich zurück und streckt die Beine bequem von sich. Er ist gelangweilt und scheut jegliche Anstrengung, diese Tatsache zu verbergen. Ich beobachte ihn nicht, starre weiterhin auf meinen Tisch und dennoch entgeht mir keine seiner schwerfälligen Bewegungen. Nach wenigen Minuten kommt die Lehrerin zu dem Lernstoff. Sie unterrichtet uns in Astronomie. Und das tut sie auf eine Art und Weise, die den Zwang und die Lustlosigkeit deutlich werden lässt. Wieder kommt die triste Routine zum Vorschein, als sie zu erzählen beginnt und sich der Tafel zuwendet. Mit größter Selbstverständlichkeit beginnen sich die Schüler zu regen. Sie öffnen Schreibblöcke, zücken Stifte und machen sich Notizen. Außer der Lehrerin spricht niemand, auch die Disziplin, die hier herrscht, sagt mir sehr zu. Schneller als ich es erwartet hätte, neigt sich die Stunde ihrem Ende entgegen. Jene Melodie ertönt bald und die Lehrerin macht den Anschein, als erfülle sie diese Tatsache mit unbeschreiblicher Freude und Erleichterung. Sie beendet den Satz, den sie begonnen hat, nicht, wendet sich ab und kehrt zu dem Lehrerpult zurück. Ich lasse den Stift zwischen zwei Fingern wippen, während ich mir meine Notizen betrachte. Pure Theorie, niemals wird der Versuch unternommen, das Lernen angenehmer zu gestalten. An mir soll es nicht liegen, alles hier ist erfüllt von meiner Gleichgültigkeit. Während die junge Frau ohne auch nur die leiseste Verabschiedung den Raum verlässt, finden die Schüler zur Sprache zurück. Sie erheben sich und von neuem finden sich die Gruppen zusammen. Ich höre sie stöhnen, als hätte diese Stunde abscheulich an ihren Kräften gezehrt. Sie sehen sich als die Gequälten an, gleichermaßen sind sie sehr bestrebt in der Annahme, die Lehrerin sei für den Lernstoff verantwortlich, der ihnen zu schaffen macht. Ich bewege mich nicht, bin nicht darauf aus, mich der Hektik anzuschließen. Ich lasse mir Zeit und blicke erst auf, als ich eine bekannte Stimmte vor mir wahrnehme. Muto und Honda haben sich zu Jonouchi gesellt. Über ihre heiteren Gesichter brauche ich mich nicht zu wundern. Sie sind beseelt von ungestümer Freude, ganz gleich, was geschieht. Jonouchi jedoch, lässt es sich nicht nehmen, die Arme von sich zu strecken, auf dass ein leises Knacken von seiner Schultergegend ertönt. Er gähnt, lässt sich mit übertriebener Trägheit im Stuhl tiefer sinken und wirft den Kopf zurück. Wie ein Gepeinigter benimmt er sich. Welch ein unsinniges, von Dummheit geprägtes Verhalten. Als er den Hinterkopf in den Nacken legt, genüsslich den Mund öffnet und einen erschöpften Atem ausstößt, fixiere ich den Blick auf seine gesenkten Lider. "Ich finde es traurig, dass Frau Koda so ist", höre ich Muto mit dieser abscheulichen mitleidsvollen Stimme seufzen. Mitleid hat er gegenüber allen Lebewesen. Ich bewege mich nicht, bleibe sitzen wie eine Statue und führe meine Beobachtung fort. Muto fährt fort. "Ich glaube, früher war sie einmal anders." Endlich kehrt das Leben in den gemarterten Körper des Blonden zurück. Seine Lippen beginnen sich zu bewegen, wieder stöhnt er und dann heben sich seine Lider. Seine braunen Pupillen richten sich automatisch geradeaus und unsere Blicke treffen sich, denn noch nie bin ich davor geflohen. Selbst meine Augen drücken eine größere Macht und eine vollkommenere Stärke aus als die Seinen. Es wird nicht viel Zeit in Anspruch nehmen, dann wird er den Blickkontakt abbrechen und ich bin mir des Sieges gewiss. Er sieht mich an und ich lasse mein Gesicht vereisen, hindere es an jeglichen Bewegungen, selbst, wenn es nur ein Zucken ist. Und dennoch mache ich eine Warnung deutlich. Er sieht mich an und auch in seinen Augen erkenne ich neben der Schwäche eine leise Verachtung meiner Person gegenüber. Es sind nur wenige Sekunden, dann flieht er. Er richtete sich auf, rutscht im Stuhl nach vorn und beginnt seinen Platz aufzuräumen, sich für die kommende Stunde vorzubereiten. Er erträgt den Blick nicht, den ich ihm zu Ehren entworfen habe. Er scheint sich regelrecht vor der klirrenden Kälte zu fürchten, die starr und beißend in meinen Augen liegt. Eine andere Erklärung finde ich nicht. Und ich gab mich nie einem Versuch hin, nach ihr zu suchen, denn so gefällt es mir. Ich folge dem Abbruch des Blickkontaktes schnell, beginne mich zu bewegen und greife nach meiner Tasche. "Sie lässt den Unterricht zu keiner besonderen Freude werden", bemerkt Honda, der augenscheinlich ebenfalls von leisem Mitleid befallen ist. "Wir sollten vielleicht mit ihr sprechen", wirft Muto ein. "Mit ihr sprechen?", meldet sich Jonouchi zu Wort. Er wiederholt Mutos Worte überrascht, gleichzeitig mit leisem Hohn, den nur ich in seiner rebellischen Stimme wahrzunehmen scheine. "Bist du wirklich der Meinung, dass ein Gespräch an alledem etwas ändern wird? Yugi, ich denke, wir müssen unsere Sorgen anderen Dingen widmen. Was hätten wir zu tun, wenn wir uns um alles kümmern würden?" Ich lasse die Bücher in der Tasche verschwinden und ziehe andere hervor, ohne der Konversation, die am vorderen Tisch betrieben wird, Beachtung zu schenken. "Aber Katsuya." Muto scheint von dem Desinteresse seines Freundes entsetzt. Er beugt sich nach vorn, stützt sich auf den Tisch und sieht den Blonden eindringlich, beinahe schon flehend an. "Sie ist erst seit kurzem so. Etwas muss passiert sein, das ihren Charakter so verändert hat." "Yugi." Jonouchis Stimme schwankt vor nervlicher Erschöpfung. "Ihr privates Leben hat uns nicht zu interessieren. Sie selbst ist dafür verantwortlich und wenn etwas geschehen sein sollte, dann muss sie selbst Sorge dafür tragen und sich zu helfen wissen." Diese scheinbar vernünftigen Worte wirken sich beinahe schon schmerzhaft auf mein Gehör aus, erscheinen mir nahezu unwirklich. Meinungen dieser Art ist man von Jonouchi nicht gewohnt. Gemächlich schiebe ich die Bücher in die linke Ecke meines Tisches und werde sogleich auf den Mann aufmerksam, der nun den Klassenraum betritt. Und mit seinem Erscheinen ändert sich die Atmosphäre unter den Schülern schlagartig. Sie sprechen leiser, mancher verdeckt seinen Mund gar mit der Hand, als würde er durch die plötzliche Gegenwart des Lehrers Todesangst verspüren. Während die Lautstärke binnen weniger Sekunden sinkt, fixiere ich den Mann unbeeindruckt, beinahe schon gelangweilt und unbeteiligt. Herr Sakuro nennt er sich, unter Schülern ist er jedoch eher unter dem Namen "Teufelsrochen" bekannt, was ich als überaus primitiv und fantasielos empfinde. Er ist nicht der Mann vieler Worte, doch die Worte die er spricht, besitzen eine große Wirkung. Sie lassen die Schüler erstarren, hören sich annähernd sogar nach einem Verbot gegenüber dem Atmen an. Vor ihm scheut sich jeder. Jeder hasst ihn auf angstvolle Art und Weise, mein zurückhaltender Respekt ist der einzige, den er besitzt. Er setzt sich hinter seinen Lehrerpult. Seine Haltung wirkt zusammengesunken und doch stellt er selbst in diesem Moment eine unerschütterliche Autoritätsperson dar. Er senkt das Gesicht, um in seiner Tasche zu wühlen, seine dunklen Pupillen jedoch, heben sich und tasten jeden Zentimeter des Raumes, jeden Schüler mit einer stählernen Härte und einer ebenso unerbittlichen Strenge ab. Seine Hände in der Tasche bewegen sich weiterhin, scheinen nach etwas zu suchen. "Dieser Mann", höre ich Jonouchi feindselig knurren. "Der hat seinen Beruf verfehlt." "Wie meinst du das, Katsuya?" Muto versteht es nicht, solch perfide Gedanken sind ihm gänzlich unbekannt. Der Blonde fasst mit beiden Händen nach seinen Büchern und rückt an ihnen; die Gesten wirken verbissen und angespannt. "Folterknecht", erklärt er leise brummend. "Das passt zu ihm." Taylor grinst in amüsierter Zustimmung, doch Muto ist anderer Ansicht. "Katsuya", sagt er ängstlich und schickt Sakuro einen verunsicherten Blick. "Das ist gemein von dir. Es gibt nun einmal solche Menschen und sicher existiert auch eine Erklärung für sein Benehmen." "Natürlich", erwidert Jonouchi daraufhin mit verächtlicher Ironie. "Sicher hat auch er unter einem schweren Leben zu leiden. Du solltest vielleicht mit ihm sprechen, Yugi. Und wenn du schon einmal dabei bist, kannst du dich gleich um den Rest des Lehrerstabes kümmern. Jeder von denen hat eine dringende Veränderung nötig." Muto kann nur die Stirn runzeln, bevor er beginnt, das Gesagte zu verarbeiten und zu durchdenken. Ich bewahre mich vor einem erschöpften Stöhnen, beuge mich nach vorn und reibe mir die Wangen. Es schmerzt. Einjeden Tag fügt mir das übertrieben soziale und fürsorgliche Verhalten des Jungen psychischen Schaden zu. Ich kann es nicht ertragen, ihn reden zu hören. Ob nun von der Freundschaft, mit der jedes Wunder möglich ist, oder von anderen Themen, die nicht weniger sinnlos sind. Was, frage ich mich ein weiteres Mal, wirkt so sympathisch an diesem Jungen? Welche Erklärung gibt es für den ausgedehnten Freundeskreis, den er sein Eigen nennt? Jonouchi, Honda, Mazaki, Otogi, Bakura... und sie sind nicht die einzigen, die dieser widerlichen Kröte zu Füßen liegen. Selbst Mokuba, mein eigen Fleisch und Blut hegt keinerlei Gräuel gegen ihn. Freundschaft. Ich weiß dieses Wort nicht zu definieren. Es ist mir ein Mysterium, vor dem ich mich scheue, Unverständnis und beinahe schon Angst empfinde. Freundschaft. Sie macht schwach, mehr weiß ich nicht über sie. Jonouchi ist das beste Beispiel für die Befürwortung dieser Behauptung. Er ist ein Nichts und ohne seine Freunde noch weniger. Ich breche mein tagtägliches Sinnieren ab, als sich die raue Stimme des Lehrers erhebt. "Bücher und Hefter in die Taschen", sagt er in einem Befehlston, der keinen Widerspruch zulässt. "Wir schreiben einen zweistündigen Test." Die Schüler verstummen, eine Totenstille bricht aus. Das Entsetzen, welches durch diese wenigen Worte zum Leben erwacht, ist deutlich zu spüren und ich bin wohl der einzige, der sich nicht überrumpelt fühlt. Das Wesen des Mannes ist von unglaublicher Gehässigkeit geprägt. Es ist zu erwarten, jeden Tag eine unangenehme Überraschung zu erleben. Mal beginnt er mündliche Leistungskontrollen, die er streng, beinahe schon ungerecht bewertet. Andere Male kommt er auf Themen zu sprechen, die für die Schüler zu hoch liegen, unverständlich und schwer auf sie wirken. Und damit noch nicht genug. Anschließend überlässt er es uns, dieses Thema zu erforschen und zu verstehen. Ein zweistündiger Test stellt für mich keine Ungewöhnlichkeit dar, nicht einmal ein mulmiges Gefühl weckt er in mir, die Angst vor einer schlechten Note. Ich bin der erste, der sich bewegt und den strengen Befehl befolgt. Die anderen sind bleich und Jonouchi zeigt seinen Gemütszustand deutlich. Er springt auf, der Stuhl rutscht quietschend zurück und stößt gegen meinen Tisch. "Das können Sie nicht machen!", höre ich ihn wütend protestieren. Er hat beide Hände zu Fäusten geballt, bekämpft den Lehrer mit tödlichen Blicken. "Sie müssen Tests ankündigen!" "Einen Teufel muss ich." Sakuro zeigt sich in keiner Weise beeindruckt. Er behält seine gefährliche Ruhe bei, lenkt jedoch einen warnenden Blick auf den blonden Rebellen. "Befolgen Sie meine Anweisungen, Jonouchi. Sonst ist dieser Test nicht das einzige, worunter Sie heute zu leiden haben." Die Worte sind von großer Wirkung. Der Blonde entspannt die Fäuste und lässt den Kopf sinken. Er kapituliert und der einzige Widerspruch, den er sich noch getraut, ist ein leiser Fluch auf den Lehrer und den gottverdammten Rest der Welt. Dann ist er still, seine Hand tastet nach dem Stuhl und er setzt sich. Bewegung kehrt zurück. Stockend und verunsichert lassen sich die Schüler an ihren Tischen nieder und verstauen die Utensilien, in denen sich all das ungelernte Wissen befindet, wie befohlen in ihren Taschen. Sie wechseln missmutige Blicke, die leise angenehme Melodie wirkt wie ein brutales und unbarmherziges Signal, dass das unvermeidliche Ende ankündigt. Die Schüler benehmen sich, als stünden sie vor dem Schafott und sähen dem Tod ins gehässige Antlitz und dabei hätte einjeder mit etwas derartigem rechnen müssen. Ich widme den geängstigten Seelen ein scharfes Grinsen, das verächtlich und zugleich höhnisch durch meine Miene zuckt und verschwindet, bevor es Aufsehen erregt. Doch Aufmerksamkeit schenkt mir nun niemand mehr. Sakuro erhebt sich, die Bewegung wirkt drohend, verbunden mit einer abscheulichen Freude auf das Kommende. In gewisser Art und Weise bin ich mit diesem Mann zu vergleichen. Wir beide genießen es mit größtem Entzücken, die Schüler schwitzen zu sehen. Leises Tuscheln herrscht eine kurze Zeit lang, wird durch ein scharfes "Ruhe!" vonseiten des Lehrers jedoch schnell abgestellt. Und ohne ein weiteres Wort legt Sakuro die Zettel auf den vordersten Tischen der einzelnen Reihen ab. Ich beobachtete die Schüler, wie sie zögerlich nach ihnen greifen und anschließend nach hinten reichen, an Schüler, die eine ebenso tiefe Angst verspüren. In meiner Reihe geht dies recht schnell vonstatten. Ich sehe, wie sich Jonouchi nach vorn beugt, wie er den Kopf senkt, um die Aufgaben kurz zu mustern und sich anschließend zu mir umdreht. Seine Miene ist befallen von purer Wut und er scheut sich nicht, sie an anderen auszulassen. So trifft mich sein lodernder Blick und seine Lippen verziehen sich verbissen. "Erstick dran", faucht er feindselig, während er die Aufgabenzettel auf meinen Tisch knallt und mir kurz darauf wieder den Rücken zukehrt. Ich entgegnete ihm nichts, kann es mir leisten, ruhig und bequem auf meine Genugtuung zu warten. Es wird nicht lange dauern, da wird die Verzweiflung den Platz seiner Wut einnehmen. Ich sehe ihn bereits vor mir, wie er kleiner und kleiner wird, wie er sich hastig durch das wirsche Haar fährt und armselig winselt. Ich werde mich an diesem Anblick ergötzen und getrieben durch diese Vorfreude, überhöre ich diese Provokation gern. Rascheln ertönt, die Aufgaben werden voller Pessimismus durchgeschaut, während sich Sakuro auf seinem Stuhl räkelt und zwei Stunden voller Ruhe auf sich zukommen sieht. Auch ich schiebe die Hand über den Tisch hinweg, auf die Blätter zu, lege jedoch nur den Zeigefinger auf eine der Kanten und drehe sie zu mir um. Anschließend geht meine Hand wieder auf Wanderschaft. Sie greift nach dem schwarzen goldumrandeten Füller und ich beginne zu schreiben. Alles dreht sich um Logarithmusfunktionen und Exponentialgleichungen. Diese Worte klingen in manchen Ohren abscheulich. Sie wecken Vorurteile, lassen alles umso schwieriger wirken. Für mich jedoch, stellen sie keinerlei Geheimnisse dar. Ich habe sie erkundet, beherrsche sie perfekt. Während gedrücktes Schweigen um mich herum herrscht, streifen meine Augen flüchtig die erste Aufgabe und ich löse sie. Ohne auch nur die kürzeste Zeit inne zu halten oder gar zu zögern, erstelle ich drei breite Blöcke. Sie bestehen lediglich aus Zahlen, Buchstaben, Quadraten, Wurzeln, Kommas, Klammern und weiteren Zeichen, die das Erscheinungsbild dieser Gleichungen zu einem unglaublichen Gewirr werden lassen, das scheinbar keinerlei Sinn beherbergt. Für mich ist es alles andere als das. Ich unterstreiche das achtstellige Ergebnis und wende ich dem nächsten Block zu, ohne mein Geschriebenes noch einmal zu überprüfen. Meine Hand bewegt sich automatisch, scheint überhaupt nicht auf mich angewiesen zu sein, Grübeleien sind nicht von Nöten. Die Lösungen sehe ich bereits vor Augen, aus den Aufgaben lese ich wie aus offenen Büchern, die mir alles Wissenswerte verraten. Unbewusst stelle ich Sinne ab, die Geräusche der Umwelt wahrnehmen, vertiefe mich in meine Pflicht. Unter Störungen werde ich so nicht zu leiden haben. Flüssig arbeite ich mich weiter und blättere bald um, um mich der zweiten Seite zu widmen. Insgesamt sind es vier, ich werde wohl die ganze Stunde dafür benötigen. Ich lasse mich nicht unterbrechen, schreibe und zeichne, als folge ich einer routinemäßigen Arbeit. Und mehr als das ist es nicht für mich - Routine. Ich löse erst den Blick von meinem Blatt, als ich fertig bin. Es ging unerwartet schnell, mir bleiben noch wenige Minuten bis zum Stunden-Ende. Ich lege den Füller ab, schiebe meine Arbeit von mir und schließe somit mit ihr ab. Ich blicke auf, nehme mein Umfeld wieder wahr und treffe unausweichlich auf die Augen Sakuros. Er ist auf mich aufmerksam geworden, scheint durch meinen schnellen Erfolg jedoch nicht überrascht zu sein. Warum sollte er auch? Immer bin ich der Erste, immer ist meine Note die Beste. Gleichzeitig wenden wir die Blicke ab, was auf unser gegenseitiges Desinteresse zu schließen ist. Er wendet sich dem Buch zu, welches er liest, ich schaue mich langsam um. Die Verunsicherung, gleichermaßen die Verzweiflung sind lang anhaltend. Die Schüler kratzen sich und rutschen auf den Stühlen von einer Seite zur anderen, vor und zurück, als würden sie der Blamage dadurch entkommen. Sie verstehen nichts, nicht einmal diese einleuchtende Theorie. Ihre Primitivität ist erdrückend, ihre Faulheit dem Lernen gegenüber, ebenso. Man muss kämpfen, um Ziele zu erreichen. Solange sie sich dieser einfachen Regel nicht bewusst werden, verdienen sie die Misserfolge und die darauf folgenden Depressionen. Die Pausenmelodie bringt keine Erlösung mit sich. Die Pause wird durchgearbeitet, was nicht zu bedeuten hat, dass die dritte Stunde früher endet. Der Lehrer blickt auf, schaut durch das Fenster nach draußen und anschließend in die Klasse. "Kaiba", höre ich ihn sagen, einige der Schüler blicken neugierig auf. Dieses Geschehnis stellt eine willkommene Abwechslung für sie dar. Auch ich werde aufmerksam und wieder treffen sich unsere Blicke. "Geben Sie Ihre Arbeit ab und tragen Sie dafür Sorge, dass es bei keinen Betrugsversuchen bleibt." Auf diese Bitte hin, die keinen Widerspruch duldet, verdunkelt sich meine Miene ablehnend. Es ist immer so, wenn man mich darum bittet. Viele Lehrer nutzen die Gelegenheit, um sich zurückzuziehen und ihre Ruhe zu haben. Man überträgt mir Verantwortung, von der mein gesamter Alltag prinzipiell niedergedrückt wird. Dennoch erhebe ich mich bereitwillig und zugleich widerstrebend und mache mich mit meiner Arbeit auf den Weg nach vorn. Viele bewundernde Blicke haften dabei an mir, ich spüre sie regelrecht auf meiner Haut. Noch ehe ich den Lehrerpult erreiche und die Arbeit auf ihm abgelegt habe, ist der Lehrer bereits mit seinem Buch an der Tür, öffnet sie und verlässt den Raum. Mein abfälliger Blick folgt ihm, bis er auf dem Gang verschwindet und sich die Tür hinter ihm schließt. Lustlos und aufgezwungen wirken meine Bewegungen, mit denen ich nach dem gepolsterten Stuhl des Lehrers greife, ihn hinter dem Pult hervorziehe und mich auf ihm niederlasse. Kein warnender Blick ist von Nöten, damit die Schüler die Blicke wieder auf ihre Arbeiten richten. Vor mir haben sie nicht weniger Respekt als vor Sakuro, wenn nicht noch mehr und sie wissen genau, dass ich haarscharf auf sie achte. Die Tatsache, dass sie meine Mitschüler sind und wir eine Gemeinschaft darstellen sollen, hält mich nicht davon ab, Betrugsversuche zu melden und unbarmherzig zu sein. Und im Gegensatz zu Sakuro, der unaufmerksam in sein Buch starrt, sehe und höre ich alles. Alles, ausnahmslos. Ich verschränke die Arme vor dem Bauch, strecke die Beine von mir und musterte die Klasse. Und während ich dort sitze, denke ich, schaut mich an, ich bin das, von dem ihr träumt, es zu sein. Ich habe erreicht, was ihr nie annähernd erreichen werdet. Schaut zu mir auf, ich bin etwas Besseres! Leises Räuspern dringt an meine Ohren, Bleistifte kratzen unentschlossen über das Papier. Ich beobachte Muto, der die Anstrengung nicht scheut, seinen Missmut zum Ausdruck zu bringen. Er seufzt immerzu schwermütig und sitzt die meiste Zeit über reglos auf seinem Stuhl. Auch Hondas Miene wirkt verbissen. Mal und mal schüttelt er den Kopf, mit schnellen Bewegungen streicht er durch. Mazaki kämpft. Entschlossen klammert sie sich an ihr Durchhaltevermögen. Sie scheint weniger Probleme zu haben. Meine Pupillen schweifen nach rechts. Ich erkenne Jonouchi. Seine Lippen formen die stummen Worte bösartiger Flüche, sein Gesicht zuckt, die Hand klammert sich verkrampft um den Bleistift. Aus der Entfernung sehe ich ein Blatt vor ihm, das leicht zerknittert ist und bisher kaum beschrieben wurde. Ich lasse den Kopf sinken, starre auf den Boden. Meine Intelligenz bringt große Vorteile mit sich. Lehrer lieben Eliteschüler, mein allumfassendes Wissen ist ihnen sympathisch, weniger mein Charakter oder ich als Mensch. Ich genieße eine unauffällige höhere Stellung an dieser Schule, besitze in gewisse Hinsicht gleichermaßen mehr Rechte. Ich darf weiter gehen, darf mir mehr erlauben und auf einen Fehler, der von mir nicht zu erwarten ist und auch noch nie vorkam, würde niemand achten. Ich nutze die Vorteile jedoch nicht, leide viel zu sehr unter den Nachteilen, die ebenfalls entstehen. Meine Intelligenz schmerzt mir. Sie ist so hoch, dass mir nichts mehr als Herausforderung erscheint. Bewunderung und Respekt erhalte ich von anderen genug, doch es bringt mich nicht weiter. Nichts ist dazu imstande. Als ich mir ein weiteres Mal über diese Tatsache bewusst werde, verfällt meine Miene einem zunehmend verbissenen Ausdruck und ich fühle mich abscheulich. Ich bin zu gut für diese Welt, weshalb muss ich sie dennoch durchleben? Ich verenge die Augen und der Hass erhitzt regelrecht meinen Körper, als ich von unten aufblicke und meine Mitschüler anstarre. Ich verachte sie! Ich beneide sie! Mein Wesen ist zu kompliziert, als dass ich mich für eines entscheiden könnte. Unerwartet verspüre ich die Lust, aufzustehen und die Schule zu verlassen. Nicht zur Firma, nicht nach Hause. Es kommt mir ein Gedanke und ich überdenke ihn intensiv, breche ihn nach kurzer Zeit ab und lasse ihn verschwinden. Der Alkohol könnte mir das Leben versüßen, wenigstens für einige Stunden, in denen ich dem Vollrausch erläge. Und wieder hindert mich die Verantwortung gegenüber meinem Bruder daran. Ich hänge in einem Netz fest, das ich mir Jahre über Jahre selbst gesponnen habe. Ich begreife jedes Fach, ich verachte jedes Fach. Nichts gibt es an der Schule das mich, wenn auch nur im geringsten, entzückt. Jedes Fach ist wie das andere, nur eine einzige Ausnahme existiert, die ich besonders abstoßend finde. Diese Ausnahme symbolisiert zweifelsohne der Sportunterricht, den ich zweimal wöchentlich über mich ergehen lassen muss. Ich bin im Besitz einer guten Kondition, Ausdauerlauf und Kraftübungen bereiten mir keinerlei Schwierigkeit. Meine Noten in diesem Fach heben sich nicht von den anderen ab und dennoch kann ich den Sportunterricht nicht so recht in meinen Alltag und die Routine integrieren. Jedes Mal ist es anders, jedes Mal ist es noch abscheulicher. Ich setze auf inneres Können, auf Intelligenz und Wissen, die Dinge, die man mir nicht ansehen, nicht an meinen körperlichen Fähigkeiten messen kann. Sport finde ich sinnlos. Meine Aggressionen kann ich auf diesem Weg nicht loswerden, auch beweisen brauche ich mir nichts. In der fünften Stunde stehe ich auf dem Baseballfeld und verfluche mich selbst, nachdem ich mich in der vierten Stunde Klimmzügen und Liegestützen unterziehen musste. Meine Nerven neigen sich ihrem Ende zu. Ich habe mich geweigert, an dem Spiel teilzunehmen, die Erlaubnis des Sportlehrers erhielt ich nach nur wenigen barschen Worten meinerseits. Ihm fällt es schwer, auf einen guten Spieler zu verzichten, meine Mitschüler jedoch, wirken glücklich und zufrieden, während sie werfen, fangen und sprinten. Heute werden sie vor mir bewahrt. Sie müssen keine Todesangst vor Fehlern verspüren und können sich frei bewegen, als wenn sie nicht auch in meiner Anwesenheit dazu imstande wären. Ich stehe in sicherer Entfernung außerhalb des Spielfeldes, habe die Arme vor dem Bauch verschränkt und verfolge das Baseballtraining mit einer Mimik, die jeden und alles verachtet. Ich verachte die Lust am Spiel. Sie ist sinnlos, ebenso wie das Spiel selbst. Ich verachte die Begeisterung, mit der meine Mitschüler an dieser Beschäftigung teilnehmen. Sie verbinden Baseball mit Nervenkitzel und wenn sie um Punkte spielen, sind sie in ihrem Element. Sie schreien, feuern sich an, fluchen und jubeln, als würde es ihnen etwas bringen, den Gewinn einzuheimsen. Nichts bringt es ihnen, die Begeisterung protzt vor Sinnlosigkeit. Und der größte Anteil meiner Verachtung gehört der Sportbekleidung, die zu tragen, alle verpflichtet sind. Ich stehe dort, in der kurzen schwarzen Hose, die knapp ein Drittel meiner Oberschenkel bedeckt und dem T-Shirt, das einen freien Blick auf meine Oberarme gewährt. Ich fühle mich nicht wohl und je mehr der Tag voranschreitet, desto aggressiver und verbissener werde ich. Spätestens nach der sechsten Stunde wagt es niemand mehr, mich anzusprechen. Ob nun Schüler oder Lehrer. Das schrille Geräusch der Pfeife ertönt, die Schüler halten nur ungern in ihren Übungen inne und wenden sich dem Sportlehrer zu, der als einziger das Recht besitzt, lange Hosen zu tragen, was für mich eine entsetzliche Ungerechtigkeit darstellt. Er kündigt ein Spiel an, die Jungen jubeln und besprechen sich untereinander. Und während sie die nötigen Vorbereitungen treffen, driftet mein Blick nach rechts. Nicht weit entfernt erstreckt sich eine Wiese, auf der die Mädchen die beiden Sportstunden verbringen. Sie laufen und kichern leise miteinander, selbst aus dieser Entfernung kann man das schrille Quietschen wahrnehmen. Mein Interesse an ihnen lässt zu wünschen übrig, nach wenigen Sekunden der Beobachtung wende ich mich ab. Die Jungen postieren sich überall auf dem Feld, Jonouchi spielt freudig mit dem harten Ball, während er zu seinem Platz schlendert. Meine Augen folgen ihm phlegmatisch. Und als das Signal aus der kleinen Pfeife ertönt, das den Beginn des Spieles ankündigt, gestehe ich mir ein, dass ich es hier keine weitere Minute aushalte. Die Atmosphäre lässt mich leiden, die Freude der anderen ertrage ich nicht. Mir kommt es nicht einmal im Entferntesten in den Sinn, meinen Entschluss zu überdenken. Ich wende mich ab und kehre in langsamen Schritten zu dem Schulgebäude zurück. Hinter mir ertönen die hitzigen Schreie der Jungen, der dumpfe Knall, als der Ball auf den Schläger trifft - ich will nur weg. Unter diesen Umständen bin ich gern dazu bereit, meine Zeit in der Firma zu verbringen. Die Wände meines Büros drängen sich von Tag zu Tag enger um mich, erdrücken mich regelrecht und nehmen mir die Luft zum atmen. Und doch ist mir der Gedanke lieber, als das heitere Spiel verfolgen zu müssen. Durch eine kleine Tür betrete ich das Gebäude, der Unterricht ist noch in vollem Gange, es herrscht eine angenehme Stille, als ich mich auf den Weg zu den Umkleidekabinen mache. Das verfrühte Verlassen der Schule kann ich nicht als Schwänzen bezeichnen. Ich werde arbeiten. Hinzukommend entschließe ich mich nicht oft dazu. Nur heute, denn meine Nerven und meine seelischen Kräfte neigen sich ihrem kläglichen Ende entgegen. Ich entziehe mich den Qualen, soweit es mir möglich ist. Endlich erreiche ich mein Ziel, öffne die Tür und betrete den großen, mit sauberen Fliesen ausgelegten Raum. Die einzige Besonderheit dieses Tages wird die Einsicht darstellen, dass ich mich weiter auf meinen persönlichen Abgrund, den Tiefpunkt meines Lebens zu bewege. Mir geht es schlecht und nichts besitzt die Fähigkeit, eine Änderung meines Gemütszustandes zu erreichen. In einer Ecke bleibe ich stehen. Seit langem habe ich sie für mich beansprucht, die nahen Kleiderhaufen befinden sich in einem sicheren Abstand auf der hölzernen Bank. Ich vergeude keine Zeit, erwecke den Anschein, mich einer wichtigen Angelegenheit widmen zu müssen. Es gibt keine wichtigen Angelegenheiten in meinem Leben, sie existieren schon lange nicht mehr. Ich knie mich vor die Bank, öffne meine Tasche und suche kurz in ihr. Ich brauche nicht lange zu suchen, werde schnell fündig und ziehe einen Pieper hervor. Dann blicke ich mich flüchtig um, betätigte eine Taste und lasse das Gerät wieder zwischen den Schulbüchern verschwinden. Ich benachrichtige meinen Fahrer, er wird bald hier sein um mich abzuholen und in die Firma zu bringen. ~*to be continued*~ Kapitel 3: ~Fremde Welten~ -------------------------- ~*Kapitel 3 – Fremde Welten*~ Ungewöhnlich früh lasse ich die prunkvolle, aus Glas bestehende Eingangstür des Firmengebäudes hinter mir. Ich betrete das große Foyer und sogleich zieht mir eine angenehme Wärme entgegen. Meine Hände verlassen die tiefen Taschen des wärmenden Mantels, ich ziehe die Handschuhe aus, in schnellen Schritten direkten Kurs auf den Fahrstuhl nehmend. Die Halle ist nicht sonderlich viel begangen, nur hie und da herrscht geschäftige Hektik. Meine Angestellten eilen von einem Gang zum nächsten. Sie balancieren schwere Aktenstapel und als sie mich sehen, laufen sie noch schneller. Sie alle fürchten mich, sie alle fürchten eine fristlose Kündigung, zu der es schnell kommen kann, sollte ich Grund zur Annahme haben, in meiner Firma wird Däumchen gedreht. Viele Menschen verloren bis zum heutigen Tag durch meine grenzenlose Unzufriedenheit ihre Stelle. Ich verlange nicht viel, vertrete auch nicht die Meinung, sie zu überschätzen. Zu dem, was ich schaffen kann, müssen auch sie imstande sein. Andernfalls verdienen sie es nicht, einen Teil zu der Weiterentwicklung dieses Weltkonzerns beizutragen. Meine Firma ist perfekt und für mich stellt sogar ein falsch gebundener Schlips einen Schandfleck auf den weißen Flügeln meines Erfolges dar. Ich besitze dennoch die Kontrolle, ohne viel dafür tun zu müssen, sie wird mir auf einem goldenen Tablett gereicht und ich bin erbarmungslos, sollte mir etwas missfallen. Ich bin ein Chef, vor dem jeder große Furcht und unbeschreiblichen Respekt hegt. Nichts entgeht mir, das Wort "Mitleid" ist mir gänzlich unbekannt. So muss man sein, andere Menschen, die augenscheinlich zu leichtgläubig und anfällig für Mitleid und Gnade sind, sind nicht dazu imstande, eine Firma zu der Nummer Eins der goldenen Liste aufsteigen zu lassen. Dessen bin ich mir sicher, dafür lege ich meine Hand ins Feuer. "Herr Kaiba, Verzeihung." Höflich und zurückhaltend meldet sich der ältere Mann zu Wort, der seinen Platz hinter dem Empfang gefunden hat. Er richtete sich flink auf, rückt an seiner Brille und ringt sich zu einem leisen Räuspern durch. Ich verlangsame meine Schritte, mache kehrt und gehe auf ihn zu. Wortlos reicht er mir einen säuberlichen Zettel und ich nehme ihn an, mustere ihn mit flüchtigem Blick und führe meinen Weg fort, ohne dem Mann die geringste Beachtung zu schenken. Er nimmt wieder auf seinem Stuhl Platz und setzt seine Arbeit am Computer fort. In säuberlicher Schrift ist ein Anruf notiert, der vor kurzem hier eingegangen ist. Mein Termin am heutigen Tag verlangt nach einem frühzeitigen Telefonat. Vor einem der Fahrstühle bleibe ich stehen, lasse die Handschuhe in meiner Manteltasche verschwinden und warte. Die Kabine trifft ungewöhnlich schnell im Erdgeschoss ein. Es scheint, als wüsste sie genau, wer sie zu benutzen wünscht. Die Türen öffnen sich lautlos, ich trete ein und wende mich um. Beiläufig tasten meine Fingerkuppen nach dem Schalter mit der Aufschrift „43“, die Türen schließen sich und die Kabine beginnt sich zu bewegen, ohne dass man es spürt. Ich schicke dem Zettel einen erneuten Blick, lasse ihn dann sinken und bearbeite meine Unterlippe mit den Zähnen. Mir verlangt es danach, mich in sinnlose Arbeit zu stürzen, die als einzige dazu fähig ist, andere Gedanken aus meinem Kopf zu entfernen, sie regelrecht abzutöten. Später dann, werde ich die Niedergeschlagenheit, die ich nur mit einer leblosen und finsteren Miene auszudrücken vermag, mit offenen Armen empfangen. Nun werde ich mich von ihr losreißen, sie bekämpfen, auf dass sie mich heute Abend mit verstärkter Kraft heimsucht, mich tiefer und tiefer in die Verzweiflung hineindrängt, als würde auch sie mich hassen und es genießen, mich zu verspotten. Als die Kabine am Ziel innehält und sich sogleich die Türen öffnen, blicke ich auf, kehre in die Realität zurück und werde mir darüber bewusst, von neuem abgedriftet zu sein. Ich verfange mich in Wunschvorstellungen. Sie halten an, bis ich wieder zu mir komme und die wahre Welt erblicke, durch die ich wie in einem Alptraum wandle… die mich nicht loslassen will, obgleich wir beide für den anderen von keinem Nutzen sind. Ja, Alpträume… Ich erliege ihnen tagtäglich. Jedes Gesicht, jedes Wort lässt einen düstren Nebel in mir aufsteigen, der mir das Gefühl verleiht, kein Teil von dem Ganzen zu sein. Richtig, ich bin ausgegrenzt von allem, ganz gleich wo ich mich befinde. Ich verlasse die Kabine, betrete einen breiten, hell erleuchteten Flur. Hier wirkt alles ebenso trostlos. Weiß bedeckt die Wände, nur das schimmernde Laminat lässt ihn edel wirken, weniger die Lampen. Sie sind teuer, jedoch uninteressant. Auf meinem Weg ziehe ich an vielen Türen vorbei. Hinter ihnen befinden sich lediglich Archive, Bibliotheken und Lagerräume. Die oberste Etage gehört mir allein, sie symbolisiert meinen Platz an der Spitze. Hier hat es keine Büros zu geben, unter mir wird gearbeitet. Gleichermaßen möchte ich Gedränge und Hektik in meinem Umfeld vermeiden. Nur wenige Angestellte betreten den 43. Stock, um Besorgungen von Material vorzunehmen. Ich biege nach links, kann bereits die Glastür meines Büros erkennen, was mich nicht mit Freude erfüllt. Als ich mich dem Raum nähere, gestehe ich mir ein weiteres Mal ein, dass ich mehr zu tun hätte, hätte ich mich nicht hier oben verkrochen. Es ist zu spät, um eine Änderung vorzunehmen, außerdem gefällt mir diese Abgeschiedenheit. Sie ist gleichsam eine Versicherung, dass man mich nur mit dem Nötigsten belästigt. Und genau das stellt mein Problem dar. Ich drücke die Klinke hinab, öffne die Tür und betrete mein Reich, mein Gefängnis. Ist diese frühere Planung als Fehler anzusehen? Würde es mir besser gehen, wenn ich mir den Zentralpunkt für mein Büro gewählt hätte? Im zwanzigsten Stock. Wäre ich ausgeglichener, wenn ich meinen Angestellten die Erlaubnis erteilt hätte, mit jeder Unklarheit zu mir kommen zu dürfen? Ich kann diese Fragen nicht beantworten, unbefriedigt spuken sie in meinem Kopf umher. Mein Büro ist wesentlich größer, als die durchschnittlichen Arbeitsräume dieses Gebäudes, jedoch gleichermaßen auch lebloser und abschreckender als sie. Im Gegensatz zu dem kahlen Schreibtisch, auf dem der Computer, zwei Laptops und einige Telefone stehen, wirken die weißen leeren Wände erfrischend und belebend. Das Laminat verliert in dieser Konstellation ebenfalls seinen Reiz. In den wenigen Regalen sind lediglich Akten zu sehen, Dateikarten und andere Dinge, die für mich wichtig sind, jedoch selten benutzt werden. Es gibt hier nichts, das ein privates Leben beweist. Ich habe ein Bild von Mokuba, ja, doch dieses verbirgt sich in der untersten Schublade meines Schreibtisches, obgleich ich es mir oft betrachte. Ich hasse diesen Raum - er stellt mein Leben dar und diesem kann ich nicht entfliehen. Ich hasse mein Leben. Sobald ich den Raum betreten habe, werde ich ruhiger und verliere einen großen Teil meiner Eile. Vor anderen Menschen bin ich stets unbewusst darauf aus, beschäftigt zu wirken. Doch hier, wo mich keine Menschenseele stört, brauche ich mich nicht zu verstellen. Ich schlüpfe aus dem Mantel, werfe ihn über die Lehne des Stuhles, der hinter dem Schreibtisch steht und lasse mich anschließend auf ihm nieder. Er ist gemütlich. Zuerst lehne ich mich zurück, dreh mich samt Stuhl zu der großen Fensterfront um und blicke hinaus, blicke über Domino. Ich könnte diese Stadt verlassen, weggehen, an einen Ort, an dem mich niemand findet. Ich könnte von neuem beginnen, mich gegebenermaßen vielleicht auch einem anderen Fach zuwenden. Einem Fach, das ich nicht mit größter Perfektion beherrsche. Doch welche Möglichkeiten hätte ich? Ich weiß es und sie gefallen mir nicht. Sie alle würden mich nicht weiterbringen. Schule abschließen und studieren? Was studieren? Dinge, die mehr oder weniger wichtig sind, lernte ich bereits. Der Rest der Welt interessiert mich nicht. Und diese, mir fremden Richtungen einzuschlagen, stellen meine einzigen Möglichkeiten dar. Hoffnungslose jedoch... es ist sinnlos. Nichts und niemand zerreißt das Netz, in dem ich erbarmungslos hänge. Ich hebe die Hand, neige mich zur Seite und stütze den Ellbogen auf die gepolsterte Armlehne des Stuhles. Ich reibe mir den Mund, blinzle unbewusst und schließe kurz die Augen. Mich für andere Berufe bewerben... Jeder würde mich einstellen, ohne dass ich viel dazu beitragen müsste. Ich würde alles erreichen, mit dem Bekanntheitsgrad und dem hohen Rang, den ich mir erarbeitet habe und seit langem besitze. Doch es ist unter meiner Würde, mich zu bewerben. Hier erreiche ich alles mit einem lässigen Fingerschnippen, hinzukommend lässt mein Interesse zu Wünschen übrig. In nehme ein leises Geräusch wahr, lasse die Hand sinken und blicke auf. Die Tür meines Büros öffnet sich, ein Junge tritt ein, mich mit einem strahlenden und unbesorgten Lächeln begrüßend. Und sobald ich ihn erblicke, setze ich eine schmerzhafte Maske auf. Ich hasse sie, und doch besteht eine unbeschreibliche Angewiesenheit zu ihr. Ich spüre, wie sich meine Miene erhellt, wie beinahe schon krampfhaft und zuckend ein sanftes Lächeln an meinem Mundwinkel zerrt. Es kämpft gegen die Verbitterung an, worauf diese nur um ein Stück zurückweicht um mir diesen kurzen Augenblick zu gönnen. "Mokuba?" Ich richte mich langsam auf, bin ehrlich gesagt überrascht von seinem unerwarteten Erscheinen. Mein Bruder löst die Hand von der Klinke und sie verbirgt sich wie die andere auch, hinter seinem Rücken, als er auf mich zukommt. Er ist bei ausgesprochen guter Laune, was keine Seltenheit seines Wesens darstellt. Er ist immer glücklich und eine alles überschwemmende Freude durchflutet sein junges zierliches Gesicht, wenn ich ihm mit einem Lächeln begegne. Er schenkt dieser Geste Glauben und ich danke seiner unschuldigen Naivität. "Du fragst dich sicher, weshalb ich nicht mehr in der Schule bin." Vor meinem Schreibtisch bleibt er stehen, legt verspielt den Kopf schief und zwinkert. "Ich hatte gaaanz viel Ausfall und bin in die Firma gekommen, weil ich etwas für dich habe." Daraufhin kichert er voller Vorfreude, kneift die Augen zu und zeigt mir seine Zähnchen. Ich starre ihn an. Zugegeben, ich bin verwirrt. "Willst du wissen, was es ist?", fragt er mich verspielt, bevor auch nur ein einziges Wort über meine Lippen kommt. Dann dreht er sich zur Seite, wandert an dem Schreibtisch vorbei und kommt direkt vor mir zum Stehen. Noch immer hält er beide Hände auf dem Rücken versteckt. Und er beginnt zu erzählen, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. "Alsooo", er rollt mit den Augen, während ich vor ihm sitze und sein Verhalten ein weiteres Mal mit purer Irritierung studiere, "ich habe lange darüber nachgedacht, denn du magst ja keine Geschenke. Aber trotzdem möchte ich dir eines machen." Ich lehne mich langsam zurück, das Leder knackt unter diesen Bewegungen. Richtig, Geschenke sind sinnlos, ich verachte sie und er weiß es genau, weshalb er sich mit seiner Großzügigkeit mir gegenüber auch zurückhält. Und nun? Ich kann es nicht verhindern, das Misstrauen ergreift mich. "Es mangelt an deinen schulischen Leistungen", spreche ich meine logische Schlussfolgerung aus und Mokuba erschrickt. Er weitet die Augen, schüttelt kurz darauf jedoch in einer hektischen Verneinung den Kopf. "Das ist nicht wahr!" Das Temperament ist aus seiner jungen Stimme deutlich herauszuhören. Nur selten hat er unter schlechten Leistungen zu leiden und solche Vorwürfe fasst er mit bitterer Empörung auf. "Eine andere Begründung sehe ich nicht", erwidere ich erbittert in dem Versuch, entspannt zu wirken. "Ich liebe dich, Seto!" Er bläht die Wangen auf, seine Augen beginnen zu funkeln und kurz darauf wird sein Gesicht rot. "Ist das vielleicht ein Grund für ein Geschenk?" Ich wende mich ab, flüchte vor dem Blick eines Kindes. Solche Missverständnisse liegen an der Tagesordnung. Er ist ein zu gutherziges Wesen, als das ich ihn verstehen könnte und eine leise Beschämung bricht in mir aus. Mokuba ist als einziges dazu imstande, eine solche Reaktion in mir wachzurufen. "Ich habe mir Mühe gegeben und lange nachgedacht." Er beginnt sich zu bewegen. Er zieht die Hände hervor und ich starre noch immer auf den Boden. "Hier." Er reicht mir entschlossen einen Flyer und endlich blicke ich auf. Ich betrachte ihn mir nur flüchtig, greife nach ihm und schenke ihm meine vollendete Aufmerksamkeit. Und während ich schweigend lese, spüre ich regelrecht den erwartenden Blick meines kleinen Bruders auf mir. Ich muss mich nur kurz in den Flyer vertiefen, um zu verstehen, worum es sich handelt. Alles dreht sich um die nobelste Kureinrichtung weltweit. Das Gebäude ist sehr groß und besteht vollends aus Marmor; an ihm sind keinerlei Mängel auszumachen. Es befindet sich auf einer der kleinen Inseln, die zu den Philippinen gehören. Um es zusammenzufassen: Ein Treffpunkt des reichen Standes, der nach Verwöhnung und Erholung giert. Menschen des normalen Standes werden sich auch nur drei Tage Aufenthalt nimmer leisten können. Gleichermaßen wären sie nicht dazu imstande, den Wert eines solchen Geschenkes zu begreifen. Es läge außerhalb ihres Vorstellungsvermögens, und ich, dem diese Möglichkeit nun offen steht, wirke nicht sonderlich begeistert und bin es auch nicht. Es stellt keine Außergewöhnlichkeit für mich dar, hinzukommend sehne ich mich nicht nach Verwöhnung und Erholung. Den puren Luxus, der dort überall zu finden ist, empfinde ich nicht als Besonderheit und der Gedanke, zwei Wochen keinen Finger krumm machen zu müssen, erfüllt mich mit bloßem Entsetzen. Ich runzle die Stirn, scheue mich nicht, meine Meinung über all das zum Ausdruck zu bringen. Dann blicke ich auf. Mokubas Augen sind trotzig auf mich gerichtet und er erhebt die Stimme, bevor ich auch nur daran denke. "Es ist die letzte Schulwoche", sagt er, und er ist sicher in seinem Entschluss. "Dann haben wir zwei Wochen Ferien." "Daran liegt es nicht." Ich werfe den Flyer auf meinen Schreibtisch und atme tief durch. Ich habe noch keinen Gedanken an diese Möglichkeit verschwendet. Alles in mir sträubt sich dagegen, aus welchem Grund auch immer. "Dir ist bekannt, wie ich zu solchen Dingen stehe. Wenn du dir allerdings eine Kur wünscht, dann erteile ich dir meine Erlaubnis." "Ich?" Er hebt die Augenbrauen, wirkt überrascht. "Ich möchte dort überhaupt nicht hin! Du brauchst Entspannung!" "Ich brauche keine Entspannung", widerspreche ich, ohne das Gesagte auf mich einwirken zu lassen. Mokuba verschränkt die Arme auf dem Bauch; auf eine Diskussion dieser Art will er sich nicht einlassen, denn stets ist er es, der mir meinen Glauben lassen muss. "Weißt du, was ich machen musste, um dir dort einen Platz zu sichern?", sagt er stattdessen. "Stets ist es ausgebucht, denn für die zwei Kurwochen werden jeweils nur zwanzig Teilnehmer zugelassen. Dort herrschen sehr strenge Regeln und ich habe es trotzdem geschafft." "Du meldest mich an, ohne dass ich meine Zustimmung gab?" Ich zeige mich unbeeindruckt, beinahe schon gelangweilt und desinteressiert. "Denkst du, dadurch würde ich meine Meinung ändern?" "Seto." Er erwidert meinen Blick unbeeindruckt und beginnt wie ein Erwachsener zu sprechen, was in vielerlei Situationen vorkommt. "Ich richte mich nicht oft mit Bitten an dich. Und wenn ich es mache, dann sind es Bitten nur zu deinem Besten. Und immer lehnst du ab! Kannst du mir nicht wenigstens einmal einen Gefallen tun? Kannst du dich nicht ein einziges Mal zusammenreißen und nur an dich denken? Denk nicht an die Arbeit, denk nicht an die Schule. Erhol dich und kehre gestärkt nach Domino zurück." Über die Worte des Jungen, die mit aller Ernsthaftigkeit ausgesprochen wurden, bin ich gezwungen, zu schmunzeln. Nur an mich denken, zieht mir ein Gedanke sarkastisch lachend durch den Kopf. Jeden Tag denke ich nur am mich, bade in meinem Egoismus und verfluche meine Mitmenschen. Ich sinniere auch wenig über die Schule und meine Arbeit, obgleich mein Leben lediglich aus diesen zwei Faktoren besteht. Es erscheint mir sinnlos, dies zu tun. Schule und Arbeit schließen sich zusammen und bilden mein Leben. Und mein Leben ist sinnlos, meiner Gedanken nicht mehr würdig. Selbst Erholung ist nicht dazu befähigt, etwas daran zu ändern. Entspannung - eines der wenigen Dinge, die ich nicht beherrsche. Während meine Augen gedankenverloren auf einem nicht existenten Punkt verweilen, muss ich strikt darauf achten, meine Gesichtszüge vor der brutalen Kälte zu schützen. Keine Sekunde lang darf meine Maske an Kraft verlieren. Ich bin auf sie angewiesen und halte aus genau diesem Grunde stand. "Wie auch immer", reißt mich Mokubas heitere Stimme aus meiner Abwesenheit. Ein verunsichertes Lächeln huscht über mein Gesicht, ich weiß mit der geheuchelten Freude nicht umzugehen. Meinem kleinen Bruder gelingt dieses Lächeln besser als mir. Er kratzt sich am Kopf und lacht leise. "Du kannst ja darüber nachdenken. Ich gehe jetzt jedenfalls in die Cafeteria und hole mir mein Mittagessen. Nachher komme ich dich noch einmal besuchen, klar Seto?" Beinahe automatisch und reflexartig wirkt das Nicken, mit dem ich ihm antworte. Er kehrt in schlendernden Schritten und feixenden Bewegungen zur Tür zurück, öffnet sie und dreht sich noch einmal zu mir um, bevor er das Büro verlässt. "Aber denk auch wirklich darüber nach", bittet er eindringlich und wieder nicke ich ohne zu zögern. Diese schlichte Geste scheint ihm zu genügen. Ich sehe ihm nach, wie er die Tür schließt und in eiligen Schritten auf den nächsten Querflur zusteuert, hinter dessen Ecke er letztendlich verschwindet. Und sobald dies geschehen ist, gerät der Flyer in Vergessenheit und ich wende mich erneut dem Fenster zu, um hinauszuschauen. Was habe ich heute zu tun? Ich werde einige Anrufe tätigen, anschließend fahre ich in mein Labor. Das beschließe ich mit unüberlegter Spontanität. Die Hoffnung erwacht in mir zum Leben, dort etwas zu finden, womit ich mir die Zeit vertreiben kann. Von dieser Zeit habe ich zuviel. Ich sollte einige Angestellte entlassen, denke ich mir, während ich mich wieder meinem Schreibtisch zuwende und nach dem Kärtchen greife, dann bliebe mir mehr Arbeit. Meine andere Hand schiebt unbewusst den Flyer bei Seite, denn er ist im Weg. Anschließend ziehe ich eines der Telefone zu mir. Jener Termin wird abgesagt und es kommt mir gelegen. Die restlichen Anrufe bringe ich schnell hinter mich und nachdem ich das letzte Mal aufgelegt habe, erhebe ich mich. Ich möchte nicht trödeln, obgleich ich die Zeit in rauen Mengen besitze. Ich werde mich nicht setzen, um zu essen, ich werde keine Pause einlegen, denn diese Eile entspricht meiner Gewohnheit. Ich ziehe mir den Mantel über, ergreife meine Tasche und bin bereits dabei, mein Büro zu verlassen, als ich inne halte. Ich drehe mich um, unweigerlich fällt mein Blick auf den Flyer. Er liegt nahe der Kante des Schreibtisches, wirkt nicht wie ein Störfaktor und dennoch will ich ihn beseitigen. Ich kehre zu dem Tisch zurück, greife nach ihm und lasse ihn in den Papierkorb fallen. Der Vorschlag meines kleinen Bruders hat nie mein Interesse geweckt, ich verwarf seine Worte, sobald sie über seine Lippen kamen. Somit verlasse ich den Raum und begebe mich auf den Weg nach unten. Der Schnee knackt unter meinen Stiefeln. Ich gehe zu langsam; aus meinem Unterbewusstsein steigt die Angst empor, etwas verpassen zu können. Ich vergeude Zeit. Meine Hände verweilen angespannt in den Taschen meines Mantels, der kühle Wind zerzaust mein Haar. Ich bin nicht im Labor, nein, ich gehe durch den Park. Neben mir läuft Mokuba. Er lacht, versucht die Flocken mit den Händen zu fangen. Ich weiß nicht, welcher Teufel mich reitet, ich weiß kenne den Grund meines Aufenthaltes in diesem Park nicht. Er bat mich und das mechanische Nicken zwang mich zur Einwilligung. Ich bin verwirrt, bis in meines tiefstes Ich verunsichert. Ich fühle mich hier nicht wohl. Die Umgebung glänzt und schimmert in reinem Weiß; es erscheint mir trügerisch, gleich einer Landschaft, die aus Träumen geboren wird. Es ist eintönig, der Wind pfeift in meinen Ohren. Der Winter ist widerlich. Ich schaue mich um, misstrauisch, als würde hinter jedem Baum ein Feind lauern. Mokuba kauert sich in den Schnee und formt einen Schneeball. Ich bleibe stehen. Ich fühle mich, als würde ich durch einen Traum wandeln, alles scheint unwirklich und grau. In meinen Augen nimmt der Schnee düstre Farben an. Die Flocken, die durch die Böen des Windes tanzen, formen sich zu abscheulichen Fratzen. Die kahlen Äste der Bäume krümmen sich wie Totenfinger. Ein Lachen wird durch den Wind zu mir getragen. Er lacht mich aus. Hohn und die bloße Irritation drücken mich nieder. Ich gehe nicht durch den Park, ich gehe nicht spazieren, nicht mit Mokuba. Ich sehe ihn an, er richtete sich auf und zeigt mir seine Kreation. Ich nicke anerkennend, Worte stehen mir nicht zur Verfügung. Lob kann ich nicht ausdrücken, nicht einmal Zufriedenheit, da ich sie nie verspüre. Mokuba wirft den Schneeball weg, zieht eine meiner Hände aus der Tasche und umfasst sie stürmisch. Er eilt weiter, ich lasse mich ziehen. Weshalb bin ich hier? Dies ist nicht Teil meiner Gewohnheit. Ich drehe mich um, schaue zurück. Unendlich wirkt der Weg, den ich bereits hinter mir ließ. Ich erblicke die weiße Ebene, dann versperren die Schneeflocken meine Sicht. Es gerät außer Kontrolle. Ich weigere mich, diese Einsicht anzuerkennen und doch entspricht sie unweigerlich der Realität. Dinge geschehen außerhalb meines strikten Planes. Ich wollte in das Labor, nun bin ich hier und weiß nicht damit umzugehen. Ich bin verwirrt und fühle mich abscheulich in dieser Situation. Mokuba zieht mich weiter, ohne ein genaues Ziel vor Augen zu haben. Sein Benehmen ist sinnlos, mir unerklärlich. Ich erreiche das Ende des Waldweges und wieder schweifen meine Augen über eine weite weiße Fläche. Im Winter findet man nirgends Unterschiede. Nur wenige dunkle Bäume bilden einen unauffälligen Kontrast, das Schneetreiben verliert an Kraft, der weiße Himmel an Leben. Ich blinzle, noch immer hält der kleine Junge meine Hand. Orientierend mustert er die Umgebung, ihn fasziniert deren Glanz. Dann juchzt er auf und zieht mich über den Schnee, der das Gras unter sich begrub. Ich liebe ihn - er liebt mich. Doch was, frage ich mich, ist liebenswertes an mir? Ich erschuf meine eigene Welt, eine Tür, die ich hinter mir schließe, die anderen das Eintreten verwährt. Selbst mein Bruder vermag sie nicht zu öffnen. Wir sehen uns zu selten, mein Blick ist zu gefühllos, als dass wir sich liebende Brüder darstellen könnten. Er sieht mein Lächeln… er sieht es wie jeder andere auch, doch hinter diesem Lächeln verbirgt sich ein zweites Gesicht, das er nicht imstande ist, zu erkennen. Er empfindet eine kraftvolle brüderliche Liebe gegenüber des Mannes, auf dem ein Fluch lastet. Hinter ihm steige ich einen Abhang hinab; er führt mich geradewegs zu einer eisbedeckten Fläche. Vor kurzem befand sich hier ein See. Ich folge ihm bis zu dem Ufer, er möchte mich weiterziehen, doch ich bleibe stehen, mache ihm verständlich, dass ich das Eis nicht betreten werde. Er lässt meine Hand los, ohne mich anzusehen, läuft weiter und rutscht über den glatten Boden. Dabei rudert er mit den Armen und lacht. Es sind nicht viele hier, die es ihm gleichtun. Kleine Kinder trafen sich, sie tollen, lassen ihrer Freude freien Lauf. Ich ertrage das heitere Lachen nicht, es schmerzt in meinen Ohren. Mokuba läuft weiter, der See ist nicht groß, er erreicht seine Mitte schnell und dreht sich schlitternd zu mir um. Wieder hebt er die Arme und winkt, meine Miene gewinnt nicht an Ausdruck, als er juchzend meinen Namen ruft. Ich beobachtete ihn, ohne seine Gesten wahrzunehmen. Mehr erwartet Mokuba nicht von mir, er wendet mir den Rücken zu, um weiterzulaufen, doch während er sich dreht, stößt er mit einem Anderen zusammen, der sich ebenfalls über das Eis kämpfte. Der Berührung fehlt es an Kraft und doch verlieren beide das Gleichgewicht und stürzen. Und als Mokuba auf dem Eis aufschlägt, erwache ich aus der Abwesenheit. Ein schmerzhaftes Zucken fährt durch all meine Glieder und reißt mich in die Realität zurück. Ich erschrecke, verabscheue den Gedanken, Mokuba verletzt zu sehen. Eng beieinander bleiben beide liegen und ich gehe los. Ich gehe schnell, doch meine Schritte sind zu sicher, als dass ich ausrutschen könnte. Ich gehe ohne zu wanken und als ich kurz davor bin, Mokuba zu erreichen, richtet sich dieser auf und reibt sich den Hinterkopf. Auch der andere beginnt sich zu regen, doch ich schenke ihm keine Aufmerksamkeit. Ich fixiere mich auf meinen kleinen Bruder, bin zu besorgt, als dass ich den Schuldigen rügen könnte. Während sich dieser auf den Knien aufrichtet, hocke ich mich vor Mokuba, betrachte mir kurz sein Gesicht und wische ihm den Schnee von den geröteten Wangen. Er lächelt mir zu - es geht ihm gut. Ich erhebe mich, greife nach seiner Hand und ziehe ihn vorsichtig auf die Beine. Er lacht und rückt an seinen Handschuhen, ich befreie auch seine Jacke von dem Schnee, bearbeite sie vorsichtig, stets darauf achtend, ihm nicht wehzutun. Er genießt meine Fürsorge und die Aufmerksamkeit, die ich ihm widme, tätschelt meinen Schopf, als ich mich nach vorn beuge und auch seinen Rücken abwische. Ich möchte nicht, dass er unter einer Influenza zu leiden hat. Schnell ist der Schnee entfernt und ich richte mich auf, um ihn erneut zu mustern. Während dieser Bewegung schweifen meine Augen zur Seite und ich erblicke Katsuya Jonouchi. Er kauert dort auf dem Boden, stützt sich ab und blickt zu mir auf. In seinen Augen liegt eine leise Angst. Ihm ist meine Schwachstelle bekannt. Die Liebe zu meinem kleinen Bruder, gleichermaßen die verzweifelte Angewiesenheit, die zu ihm besteht. Das wichtigste in meinem Leben ist er, der Grund zu leben... er. Er weiß um meine Wut, die durch jede Fehlhandlungen in Bezug auf Mokuba entsteht, so klein und unbedeutend sie auch sein mag. Quälen darf man nur mich, nicht ihn. Doch neben der Angst fällt mir auch eine gewisse Verwunderung auf, die in den trotzigen Augen des blonden Rebellen schimmert. Was, fragt er sich, tut Seto Kaiba an solch einem Ort? Nie zuvor sah man mich hier, nie sah man mich mit Mokuba einen Spaziergang unternehmen. Einen Spaziergang ohne Grund und Ziel. Nicht nur ihn beschäftigt diese Frage, nein, auch ich stelle sie mir, ohne die leiseste Hoffnung zu hegen, auf eine Antwort zu treffen. Wir sehen uns nur kurz an, Mokuba tastet nach meiner Hand und Jonouchi reißt sich los. Er grinst verunsichert und klopft meinem kleinen Bruder auf die Schulter. "Tut mir leid, Mokuba", entschuldigt er sich auf tiefstem Herzen ohne meiner Reaktion Beachtung zu schenken. "Ich habe dich nicht gesehen." Er hockt dort wie ein geprügelter Hund und duckt sich in reger Angst vor folgenden Strafen. Und ich stehe vor ihm und blicke auf ihn herab. Noch immer gewannen meine Augen nicht an Ausdruck. Ich betrachte ihn mir emotionslos, studiere sein Verhalten und aus meinem Unterbewusstsein steigt ein Fluch auf, den ich ihm zur Last lege. Mokuba lacht, winkt ab und zerrt vergnügt an meinem Arm. "Kein Problem, ist ja nichts passiert." Ich möchte hier nicht verweilen, ich möchte fort, denn die Anwesenheit des heiteren jungen Mannes, der unter keinen Problemen zu leiden scheint, verunsichert mich umso mehr. Bald, befürchte ich, werde ich nicht mehr dazu imstande sein, mein Verhalten zu kontrollieren. Meiner Gedanken bin ich schon seit langem nicht mehr Herr. Doch die Situation spitzt sich zu und das allein durch das Erscheinen zwei weiterer Menschen. Muto und Mazaki eilen über das Eis auf Jonouchi zu. Sie balancieren mit den Armen, bewegen sich nur langsam und erreichen uns dennoch zu schnell. Ein flüchtiger Blick von Seiten Mazakis trifft mich, dann beugt sie sich zu Jonouchi hinab und fasst ihn am Arm. "Komm schon", schnauft sie und ist ihm behilflich. Schnell kommt Jonouchi auf die Beine, kämpft kurz um Balance und schüttelt sich den Schnee aus den Haaren. Ich habe mich nicht bewegt, starre ihn noch immer an und bin mir dessen kaum bewusst. Mokuba blickt zu mir auf, Muto hebt die Augenbrauen und Jonouchi wird endlich wieder auf mich aufmerksam. Er sieht mich an und seine Miene befällt ein trotziger Ausdruck, nachdem er die meine studiert hat. "Hey, es tut mir leid", wiederholt er mit deutlichem Nachdruck. "Komm auf den Boden zurück, es war wirklich keine Absicht. Willst du mich jetzt umbringen?" Ich verstehe keines seiner Worte, zu abwesend bin ich. Das einzige, das Jonouchi erreicht, ist, mich aus der Geistlosigkeit zurückzuholen. Ich drifte zu oft ab. Ich bemerke es nicht und als ich blinzle und die Situation wahrnehme, erschrecke ich vor mir selbst. Ich entfremde mich mir. Ich wende mich wortlos ab und ziehe Mokuba mit mir. Er winkt und verabschiedet sich, während ich seine Hand halte und mir die Bewegungen betrachte, die sich im glatten Eis widerspiegeln. Auch diesen Tag durchlebte ich erfüllt von Verbitterung, geplagt von düstren Fantasien fand ich des Nachts in den Schlaf. Grausam ist dieser Tag gewesen, unerträglich. Er symbolisierte zweifellos den Beginn des Endes, falls ich dies nicht zu verhindern weiß. Ich hatte eine zurückhaltende Erleichterung verspürt, als ich mich niederlegte und die Augen schloss. Jener Tag lag nun hinter mir, andere würden folgen. Tage, die unter meiner vollkommenen Kontrolle stehen, dessen bin ich mir sicher. Nie wieder wird es geschehen, dass ich von dem Plan abweiche. Stärker muss ich werden, noch stärker. Stärker, um mich auch vor den unauffälligsten Fehlern zu schützen. Die Perfektion, die mir so wichtig ist, darf nicht leiden, sie darf nicht schwinden - dies wäre der letzte Schritt. Der letzte Schritt, den ich in die Leere setze, auf dass ich in den dunklen Abgrund stürze. Nie befand ich mich in solch einer Gefahr. Doch auch als jenes Piepen mich weckt und ich die Augen öffne, fühle ich mich nicht besser. Ich richte mich auf und schaue mich um. Die Verunsicherung, die durch den vergangenen Tag entstand, lässt mich noch immer nicht los. Ein unbeschreibliches Gefühl durchflutet mich, die Angst gleichermaßen. Die beklemmende Angst, weitere Fehler zu begehen. Vorsichtig muss ich sein, noch aufmerksamer, damit dies nicht geschieht. Ich stehe auf, achte mit strenger Genauigkeit auf meine Bewegungen. Ich folge dem Plan, setze konzentriert ein Bein vor das andere, als ich die Treppe hinabsteige, auf dem Weg in die Küche, um meine Pflicht zu tun. Die bunten Farben der Schränke und des Geschirrs, ich fixiere mich zu sehr auf die Flasche, als dass ich sie beachten könnte. Ich öffne den Kühlschrank, erblicke die Flasche und greife nach ihr. Und als ich sie in der Hand halte, den Kühlschrank schließe und mich abwende, richtet sich mein Blick auf die große Uhr, auf den dünnen Zeiger, der in gemächlicher Ruhe die Zahlen hinter sich lässt. Ich starre auf ihn, meine Hand tastet nach dem Flaschenhals und beginnt den Deckel zu drehen. Tick tack, tick tack... geht es in einem Zug. Eine Uhr, ja. Ich wende beinahe schon flüchtend den Blick ab und verfolge die Arbeit meiner Hand. Der Zeiger zieht Runde um Runde, ohne etwas anderes zu tun. Eine Endlosschleife, selbst in der kältesten Mechanik vorzufinden. Schnell setze ich die Flasche an den Mund und trinke. Alles ist so wie immer, sage ich mir, als ich die kühle Frische in meinem Hals genieße. Es ist ein Tag wie jeder andere auch. Ich lasse die Flasche sinken und als ich den Deckel hebe, werde ich mir einer grausamen Tatsache bewusst und halte sogleich in der Bewegung inne. Ein Fehler… Schon jetzt beging ich einen Fehler! Ich kann mich nicht bewegen, es scheint, als verweigerten all meine Glieder ihren Dienst. Meine Augen weiten sich vor Entsetzen und meine Hand gibt den Deckel frei, lässt ihn zu Boden fallen. Ich besuchte nicht das Bad, nachdem ich aufgestanden bin! Ich ging nicht hinein, um phlegmatisch in den Spiegel zu starren und nach einem Grund meines Aufenthaltes zu suchen. Ich habe mich nicht betrachtet, nicht unter den Augen gelitten, die mich kalt und erbarmungslos anstarren. Ich kann es nicht vergessen haben, der Besuch des Bades ist ein wichtiger Teil meiner Routine. Und wichtig ist er, weil er ein Teil des Ganzen ist - ein bedeutsamer Teil der Perfektion. Was soll ich tun? Ich lasse den Blick sinken und betrachte mir den Deckel zu meinen Füßen mit einer Miene, die bodenlose Erschütterung widerspiegelt. Drei Minuten verbringe ich tagtäglich damit, vor dem Spiegel zu stehen und nichts zu tun. In diesen Sekunden sollte ich dies tun. Hätte ich den Plan befolgt, würde ich nun im Bad stehen. Doch ich bin hier. Andere Menschen würden diesen Vorfall als eine "Unaufmerksamkeit" bezeichnen, doch für mich ist es weitaus mehr. Ich befürchte eine Änderung des gesamten Tages. Drei Minuten zu früh an der Schule, längeres Warten. Ich will den Plan nicht ändern! Ich will perfekt sein! Ich sitze auf meinem Stuhl, um mich herum herrscht reges Treiben. Ich bin in der Schule und die Fäden, mit denen ich mich und die Geschehnisse meiner Umwelt steuere, gleiten mir aus den Händen. Ich bin unruhig, bewahre mich davor, aufzublicken. Die Befürchtung, man könne die Verunsicherung in meinen Augen lesen, brennt lodernd in mir. Unsicherheit bedeutet Schwäche, doch ich bin nicht schwach! Ich bin es nicht gewesen und werde es nie sein. Ich verachte die Schwäche! Verwirrte Gedanken beherrschen mich, Kummer und Zorn gleichermaßen. Ich denke an das Bad, ich kämpfe um meine stählerne Fassung. Ich sitze nicht still, der Tisch vor mir ist leer. Ich habe nicht ausgepackt, ein Fehler, den mir die Grübeleien zu erkennen verbieten. Ich denke nach, ein Fehler den mir die Unsicherheit zu erkennen verbietet. Ich denke nie nach, wenn ich hier sitze. Ich mustere meine Umgebung, verachte meine Mitschüler mit missfälligen Blicken und genieße meine geistige Sicherheit, meine stolze Haltung, die keinen Zweifel an mir zulässt. Meine Bewegungen, ich brauchte sie nicht zu kontrollieren um sie perfekt erscheinen zu lassen. Nun schenke ich ihnen nicht einmal mehr Beachtung, ich bin abgelenkt und sie laufen fehl. Unter dem Tisch reiben sich meine Hände aneinander, mein Atem fällt schnell, ich vermag ihn nicht zu beherrschen, bin wehrlos. Ich bin nicht hier, nicht in der Schule, ich nehme mein Umfeld nicht wahr, vernehme kaum die Worte, die Jonouchi an seine Freunde richtet. Nur gedämpft und sonderlich leise dringen sie zu mir. Es scheint, als befände sich eine Mauer zwischen uns. Ein Fehler, der mir nicht hätte passieren dürfen, löst eine Kettenreaktion aus. Ich vergaß das Bad aufzusuchen, nun geht es mir noch schlechter und ich fühle mich, als wäre ich ein anderer Mensch. Nicht Seto Kaiba. In dieser Verfassung bin ich es nicht wert, mich so zu nennen. Die Verwirrung steigert sich, bis sie unerträglich wirkt und ein erschrockenes, beinahe schon schmerzhaftes Beben zieht durch meinen Körper, als ich die leise Melodie wahrnehme. Ich blicke auf, tauche nur langsam in die Realität ein und nehme flinke Bewegungen wahr. Meine Mitschüler kehren an ihre Plätze zurück und setzen sich, Gespräche werden eingestellt und die Stille tritt ein. Eine Stille, die leblos und zermürbend erscheint, sobald die Melodie verstummt. Die Lehrerin tritt vor die Tafel, faltet die Hände ineinander und nickt den Schülern begrüßend zu. Ich erkenne sie und ohne dass ich es meinem Körper befehle, richtet er sich auf. Ich lasse ihn gewähren, stütze die Ellbogen auf den Tisch und hole Atem. Und während die junge Frau die Stimme erhebt, klammere ich mich verbissen an die stählerne Härte. Ich lernte es, meine Miene den inneren Gefühlen nicht gleichkommen zu lassen. Ich muss mich konzentrieren, um zu bewerkstelligen, dass mein Gesicht zu Eis erstarrt, dass kein Muskel mehr zuckt und meine Augen die gnadenlose Kälte aufweisen. Erst dann bin ich wieder ich selbst und der Kampf, der rasant und unerbittlich in meinem Inneren tobt, lässt sich nicht im Entferntesten erahnen. Ich sitze dort, meine Augen fixieren sich auf die junge Frau, folgen jeder Bewegung, jeder Geste, die sie ausführt. Ich starre sie an und doch dringt keines ihrer Worte zu mir durch. Ihre Lippen bewegen sich lautlos, ich höre ihr nicht zu. Lange steht sie dort vorne, Handgesten schenken ihren Worten Ausdruck und des Öfteren streift ein Lächeln ihr Antlitz und sie lacht. Die Schüler wirken in ihrer Gegenwart entspannt. Sie genießen den Geschichtsunterricht, lassen die Heiterkeit der Lehrerin auf sich einwirken und sind zufrieden. Gleichermaßen beginnen sie auch leise Gespräche zu führen. Sie flüstern miteinander - die Lehrerin ist zu freundlich, als dass sie sie dafür rügen könnte. Auch Freundlichkeit macht schwach, denke ich mir, als ich den Blick abwende. Die Schüler wiegen sich in zu großer Sicherheit, die Disziplin verliert an Kraft, der Unterricht augenscheinlich an Erfolg. Wieder beginne ich mich auf dem Stuhl zu bewegen, ich schiebe mich zurück, meine Hände falten sich auf meinem Schoß ineinander und ich senke den Kopf, um sie zu betrachten. Ich nehme ein leises Brummen wahr, Jonouchi richtet sich aus der müden Haltung auf, seine Hände durchstreifen das blonde Haar, bevor sie hinabsinken und in geschäftiger Heimlichkeit unter dem Tisch verschwinden. Ich betrachte meine Finger und doch entgeht mir keine seiner Regungen. Er lehnte sich zur Seite, seine Füße verankern sich im Gestell des Stuhles, geben ihm Halt. Leise spricht er Muto an, der an der danebenliegenden Bank seinen Platz fand. Er tarnt das Wort mit einem leisen Husten, räuspert sich und duckt sich etwas. "Yugi", höre ich ihn wieder flüstern, als sich der Angesprochene nicht regt. Endlich wird Muto auf ihn aufmerksam und ich blicke auf, um das Geschehen mit scharfem Blick zu verfolgen. Schweigen soll er, der Bastard! Die wenigen Worte, die er sprach, sind störend und ich begegne ihnen mit unerfindlicher Aggression. Nicht so wie sonst. Ich bin zu angespannt, als dass sie ich sie überhören könnte. Der Junge dreht das Gesicht zur Seite, schickt Jonouchi einen fragenden Blick. Dieser ist vorerst nicht dazu imstande, zu antworten. Zu sehr konzentriert er sich in diesen Sekunden auf die Lehrerin. Diese wendet sich alsbald der Tafel zu und sogleich erhebt er die Stimme. Er spricht flüsternd und hinter vorgehaltener Hand. "Besuchen wir heute den Laden?", fragt er leise und dennoch werde ich auf die Aufregung aufmerksam, mit der er sich erkundigt. "Ich will in den Laden. Gehen wir?" Muto nickt, auch er wirkt freudig in Bezug auf dieses Vorhaben. Er wirft einen prüfenden Blick nach vorn, lehnt sich dann in Jonouchis Richtung und die beiden stecken die Köpfe zusammen. "Es wird bestimmt ein schöner Tag. Wir gehen alle gemeinsam." Jonouchi lacht leise, stimmt mit einem beinahe schon übertrieben wirkenden Nicken zu und richtet sich etwas auf. "Mensch", sagt er. "Wir nahmen es uns so lange vor und heute ist es endlich so weit." "Ja." Yugi lächelt und beide nehmen wieder Haltung an, als sich die Lehrerin kurz umdreht. Somit ist die Unterhaltung beendet, der Unterricht wird fortgesetzt und ich nehme wieder meine Hände in Augenschein. Ich bin gereizt. Gereizt durch mein Versagen. Ich wende mich nicht dem Unterrichtsstoff zu, ich mache mir keine Notizen, werde nicht auf den weiteren Fehler aufmerksam, auf das Versäumnis. Und so bleibt mein Tisch leer bis die Stunde endet und ich habe mich kaum bewegt. Erst als sich die junge Frau verabschiedet und das Leben in den Klassenraum zurückkehrt, richte ich mich auf und mustere meine Umgebung. Jonouchi und Muto finden sich zusammen, auch Honda und Mazaki leisten ihnen kurz darauf Gesellschaft und wieder wird freudig und heiter über jenen Laden diskutiert. Ich greife nach meiner Tasche und hebe sie auf meinen Schoß, ohne zu bemerken, dass die Bücher, die ich für die vergangene Stunde benötigt hätte, sie nicht verlassen hatten. Ich schicke ihr nicht einmal einen Blick, öffne sie lediglich und taste nach den Büchern, die ich für den kommenden Literaturunterricht brauche. Und während ich sie hervorziehe, stößt sich Jonouchi mit seinem Stuhl ab. Er lacht laut, hält sich den Bauch und die Lehne seines Stuhls donnert gegen die Kante meines Tisches. Dieser schlittert zurück, die gegenüberliegende Kante rammt sich in meine Rippen und die Bücher entgleiten meinen Händen, als ich zusammenzucke. Jonouchis Stuhl verliert an Widerstand, der junge Mann versucht sich mit den Armen auszubalancieren und rettet sich vor dem Sturz, indem er sich an meinen Tisch krallt, worauf sich der Druck der scharfen Kante auf meine Rippen sogleich erhöht. Gleich eines Vulkans bricht die Wut aus mir heraus, ich verabscheue primitives Benehmen und unüberlegtes Handeln und noch mehr verabscheue ich Katsuya Jonouchi! Mit voller Wucht stoße ich den Tisch von mir und ebenso schnell schlittert Jonouchi mit seinem Stuhl nach vorn und macht ebenfalls unweigerlich Bekanntschaft mit der Kante seines Tisches. Und während er ein erschrockenes Keuchen ausstößt, komme ich auf die Beine, lehne mich über meinen Tisch hinweg und greife nach vorn. Ich bekomme seine Schulter zu fassen, meine Hand schlägt sich in den Stoff der Schuluniform und ich zerre ihn zu mir. Er rutscht über seinen Stuhl und ich presse seinen Oberkörper auf meinen Tisch hinab. Dort räkelt er sich verwirrt, versucht sich abzustützen. Und ich stehe vor ihm, halte ihn unten und beuge mich nach vorn, bis ich ihn von oben herablassend anstarren kann. "Jonouchi!", zische ich und verlagere mehr Gewicht auf meinen Arm, auf dass er erneut keucht und das Gesicht zur Seite wendet. Seine Finger klammern sich um die Kante meines Tisches, rutschen in ihrer Hektik jedoch ab. "Wage es noch einmal und ich reiße dir beide Arme ab und schlage dich mit ihnen tot!" Worte, die in solch einer unkontrollierbaren Wut ausgesprochen werden, ist man von mir nicht gewohnt. Missfällige zugleich verachtende Blicke, jedoch nie Brutalität gegenüber einem anderen. Ich selbst bin von mir entsetzt, lasse jedoch nicht von ihm ab. Auch Jonouchi wirkt entrüstet. Er windet sich, sucht nach Worten und Honda ist es, der ihn letztendlich aus der misslichen Lage befreit. Er erscheint neben mir, seine Hand legt sich auf meinen Arm, der Jonouchi auf dem Tisch hält. "Hey...", er ist verunsichert, spricht nur leise auf mich ein, "...er hat es nicht mit Absicht getan, Kaiba. Es tut ihm leid." Jonouchi öffnet unentschlossen den Mund, das einzige, das über seine Lippen kommt, ist jedoch ein schneller Atem. Und ich lasse ihn los. Es ist nicht Honda zu verdanken, nein, ich wurde mir meines Handels bewusst und klammere mich an meine Fassung, um keine Fehler zu begehen, die noch schwerwiegender sind. Honda tritt zurück und Jonouchi richtet sich auf, sobald er spürt, wie sich meine Hand von seiner Schulter löst. Und sobald er dazu imstande ist, trifft mich sein Blick. Nur flüchtig streift er mich, bevor er sich fest auf meine Augen richtet. Ich glaube eine leise Enttäuschung in dem funkelnden Braun zu erkennen, nur unauffällig blitzt sie hervor und verschwindet so schnell, wie sie gekommen ist. Sie weicht dem Entsetzen, das sich flink in Verunsicherung wandelt. Ich verenge die Augen, meine Hand tastet hinterrücks nach dem Stuhl und Jonouchis Lippen bewegen sich stumm. Kein Zucken seiner Gesichtszüge, keine feindliche Geste. Es ist das blanke Entsetzen, das ihn beherrscht. Nur langsam wendet er sich ab, seine Augen haften noch lange an mir, bevor er mir den Rücken zukehrt und ungläubig den Kopf schüttelt. Nicht ein Wort richtet er an mich, weder ein Wort der Verzeihung, noch ein Wort des sturen Widerstandes. Er ist so kleinlaut, wie man es nicht von ihm zu erwarten hat. Auch ich verliere das Interesse an ihm, lasse mich nieder und rücke meinen Tisch zurecht. Ich schenke Muto, Mazaki und den anderen keinerlei Aufmerksamkeit, doch eine gespenstische Stille herrscht in dem Raum, die nicht einmal von dem unauffälligsten Geräusch durchschnitten wird. Ich weiß es genau, sie bewegen sich nicht und starren mich an, bis in ihr Innerstes erschüttert über das Vorkommnis, dessen sie soeben Zeuge wurden. Es ist mir gleichgültig. Ihre Meinung über mich ist mir gleichgültig. Ich bücke mich nach meinen Büchern, Mazaki räuspert sich geängstigt und Jonouchi brummt verunsichert. Er beginnt seinen Tisch aufzuräumen; er ist nervös. "Guten Tag." Ein korpulenter Mann betritt den Raum, steuert zielstrebig auf den Lehrerpult zu und legt seine Tasche ab. Und mit seinem Eintreten beginnen sich die Schüler zu bewegen. Sie beginnen auch zu flüstern und allmählich kehrt die gewohnte Atmosphäre zurück. Honda und Mazaki wechseln flüchtige Blicke, dann wenden sie sich ab und kehren zu ihren Plätzen zurück. Nur Muto, er tätschelt Jonouchis Schulter und schickt mir einen beschwichtigenden Blick, bevor er es ihnen gleichtut. Jene Melodie ertönt, ich mustere die Bücher, bevor ich mich zurücklehne. Den Zorn, der aus diesem weiteren Fehler heraus entstand, verbannte ich in mein Unterbewusstsein, bevor er dazu fähig war, meine Gedanken zu kontrollieren. Ich werde mich nicht ablenken lassen, werde mich ihm später zuwenden, wenn ich mich der geliebten Einsamkeit hingeben, und die ungestörte Ruhe genießen kann. Der Lehrer beginnt sogleich mit sturer Theorie. Es dreht sich um einen berühmten Deutschen - Nietzsche, der in unserem Unterricht Erwähnung findet. Das Wesen dieses Mannes ist mir sympathisch. Ich beschäftige mich gern mit ihm, denn er sieht in den Menschen das, was sie wirklich sind. Er schreibt über sie in höchst interessantem Maße. Ich zwinge mich dazu, nicht einen einzigen Blick zu Jonouchi zu werfen, fixiere mich auf den Lehrer, der erneut über das Leben jenes bedeutenden Mannes spricht. Bewegung kommt auf, die Schüler schreiben. Auch ich schlage mein Notizbuch auf und notiere wichtige Fakten. Obgleich ich vor kurzem nicht ich selbst war, habe ich nun das Gefühl, die Kontrolle über meinen Körper und Geist zurückerlangt zu haben. Grübeleien unterdrücke ich, mein Interesse gilt lediglich dem Lernstoff, mein Gehör den Worten des Mannes. Außer ihm spricht niemand - er ist streng. Nach kurzer Zeit wendet er sich der Tafel zu, meine Augen haften an seiner rechten Hand. Er führt die Kreide flink. Und während er schreibt, spricht er weiter, unter anderem bittet er darum, gewisse Bücher aufzuschlagen. Ich lasse den Füller sinken, greife nach einem Buch, das in einen goldenfarbigen Umschlag gehüllt ist und öffne es. Zarathustra. Ein Meisterwerk ist es in meinen Augen. Ein Erfolg, der niemand imstande ist, auf jede nur erdenkliche Art und Weise zu wiederholen. Dennoch lese ich es nur während des Unterrichts, wenn es mir aufgetragen wird. Ich beschäftige mich nicht mit Büchern, ich finde Interesse an ihnen, was fehlt, ist die Zeit. "Wir wenden uns dem nächsten Kapitel zu." Der Lehrer legt die Kreide nieder, setzt sich hinter seinen Pult und überprüft anhand eines flüchtigen Blickes, ob die Schüler seiner Bitte Folge leisten. Erst dann öffnet er sein eigenes Buch und beginnt zu blättern. Ja, in der letzten Zeit lesen wir viel... "Seite 80 bis 83." Er befeuchtet seinen Zeigefinger mit der Zunge, blättert um. Geraschel ertönt, die Schüler tun es ihm gleich. Ich lese die Überschrift des Kapitels und sogleich erwacht das Bedürfnis in mir zum Leben, zu erfahren, was Nietzsche über dieses Thema schrieb. Er war ein Mann harter Worte und ich bete, dass er auch das am Menschen verurteilt, worüber das Kapitel handelt. Der Lehrer blickt auf, seine Augen schweifen suchend durch die Reihen. "Kaiba", vernehme ich seine Stimme. "Sie lesen." Gut, ich lese. Diese Aufforderung ist zu unbedeutend, als dass ich widersprechen dürfte. Ich zögere nicht, erhebe mich und greife nach dem Buch. Und sobald ich stehe, verstummt jeder Laut und ich beginne. "Vom Freunde." Ich räuspere mich. "Einer ist immer zu viel um mich, also denkt der Einsiedler, immer einmal eins das gibt auf Dauer zwei. Ich und Mich sind immer zu eifrig im Gespräche: wie wäre es auszuhalten, wenn es nicht einen Freund gäbe?" Ich lese weiter und je mehr ich lese, desto mehr zürne ich Nietzsche, dass er die Freundschaft guthieß. "Unser Glaube an andere verrät, worin wir gern an uns selber glauben möchten. Unsere Sehnsucht nach einem Freunde ist unser Verräter. Und oft will man mit der Liebe nur den Neid überspringen. Und oft greift man an und macht sich einen Feind, um zu verbergen, dass man...", ich zögere mit den nächsten Worten, ohne mir darüber bewusst zu sein. Ich lese, meine Lippen bewegen sich stumm, bevor wieder ein Ton über sie kommt, "... angreifbar ist." Jonouchi beginnt zu sich zu bewegen. Langsam dreht er sich zu mir um. "Sei wenigstens mein Feind. So spricht die wahre Ehrfurcht, die nicht um Freundschaft zu bitten wagt. Will man einen Freund haben, so muss man auch für ihn Krieg führen wollen und um Krieg zu führen, muss man Feind sein können. Man soll in seinem Freunde noch den Feind ehren. Kannst du an deinen Freund dicht herantreten, ohne zu ihm überzutreten? In seinem Freunde soll man seinen besten Feind haben. Du sollst ihm am nächsten mit dem Herzen sein, wenn du ihm widerstrebst. Du willst vor deinem Freunde kein Kleid tragen? Es soll deines Freundes Ehre sein, dass du dich ihm gibst, so wie du bist? Aber er wünscht dich darum zum Teufel." Wieder stocke ich in meinen Worten. Der Text ist von hohem Schwierigkeitsgrad, selbst mir fällt es schwer, ihn zu verstehen und ich benötige kurze Zeit, um mir des Inhaltes annähernd bewusst zu werden. Und während ich schweige, blicke ich auf und erkenne Jonouchis Augen vor mir, die direkt und unausweichlich auf mich gerichtet sind. Ich starre sie an, versuche in ihnen zu lesen. Er erweckt den Anschein, mir einen leisen Vorwurf entgegenbringen zu wollen, so funkeln seine Augen. Er sieht mich an und ich höre seine Stimme in meinem Kopf, wie sie sagt: "Siehst du?" Ich wende mich dem Buch zu und lese weiter und er dreht sich nach vorn. "Sahst du deinen Freund schon schlafen, damit du erfahrest, wie er aussieht? Was ist doch sonst das Gesicht deines Freundes? Es ist dein eigenes Gesicht auf einem rauen unvollkommnen Spiegel. Sahst du deinen Freund schon schlafen? Erschrakst du nicht, dass dein Freund so aussieht? Oh, mein Freund, der Mensch ist etwas, das überwunden werden muss." Ich lese. Und während ich Wort um Wort ausspreche, fühle ich mich unwohl. Dieses Kapitel ist mir ein Rätsel, das ich ergründen muss. Freundschaft, ich weiß dieses Wort noch immer nicht zu definieren und obgleich Jonouchi sich nicht mehr regt, spüre ich genau, wie er dieses Kapitel mit mir verbindet und sich denkt: >Freundschaft... dazu bist du nicht fähig, Kaiba. Sie ist zu bedeutend, als dass du sie verstehen könntest.< Ich lese weiter, sehne mir das Ende des Kapitels herbei. "Das Mitleiden mit dem Freunde berge sich unter einer harten Schale, an ihr sollst du dir einen Zahn ausbeißen. So wird es seine Feinheit und Süße haben. Bist du reine Luft und Einsamkeit und Brot und Arznei deinem Freunde? Mancher kann seine eignen Ketten nicht lösen und doch ist er dem Freunde ein Erlöser." Mutos leises Seufzen dringt an meine Ohren. Er genießt diese Worte wie kein Anderer. "Bist du ein Sklave? So kannst du nicht Freund sein. Bist du ein Tyrann? So kannst du nicht Freunde haben. Allzu lange war im..." Ich verstumme, als ein Geräusch verrät, dass sich die Tür öffnet. Ich blicke auf, die Schüler blicken auf, der Lehrer lässt das Buch sinken. Eine junge Frau betritt den Raum. Ich kenne sie. Sie ist die Sekretärin des Schulleiters. "Ja, bitte?" Der Lehrer rückt an seiner Brille, die Störung missfällt ihm augenscheinlich. Die junge Frau blickt sich um. "Katsuya Jonouchi?" "Ja?" Der Angesprochene hebt die Hand und die Frau bittet mit einem knappen Nicken darum, sie zu begleiten. "Ein dringendes Telefonat liegt für Sie vor“, meint sie anschließend. "Was?" Jonouchi hält in der Bewegung inne, soeben wollte er aufstehen. "Ein Telefonat?" "Ja." Die Sekretärin hebt die Hand, winkt ihn zu sich. Sie ist eine geschäftige Frau, hat keinerlei Zeit, die sie verschwenden kann. Nur zögerlich kommt Jonouchi auf die Beine, wirft Muto einen knappen Blick zu und zuckt mit den Schultern. Ich beobachte ihn nicht, als er nach vorn geht, an der Sekretärin vorbeizieht und so den Raum verlässt. Jonouchis Angelegenheiten liegen außerhalb meines Interessenbereiches. Und mein Interesse ist zu knapp, als dass ich sie an jeden und alles verschwenden könnte. Mein Blick richtet sich auf das Buch und die Tür schließt sich. Kurz darauf kehrt das Schweigen zurück und ich hole Atem. Ich überspringe einen Absatz, hoffe, dass es nicht auffällt. "Oh über eure Armut, ihr Männer, und euren Geiz der Seele! Wie viel ihr dem Freunde gebt, das will ich noch meinem Feinde geben, und will auch nicht ärmer damit geworden sein. Es gibt Kameradschaft - möge es auch Freundschaft geben." Somit lasse ich das Buch sinken und setze mich, ein zufriedenes Brummen vonseiten des Lehrers, damit ist es also abgeschlossen. Ich lege das Buch ab, lehne mich zurück und betrachte mir mit Zufriedenheit den leeren Stuhl vor mir. Ohne die Anwesenheit Jonouchis fühle ich mich wohler. Eine Tatsache, an die ich mich gewöhnen könnte. "Was will uns Nietzsche damit sagen?" Der Lehrer erhebt sich, steht erwartungsvoll vor der Klasse und verschränkt die Arme vor dem Bauch. Mein Blick trifft ihn. Er verlangt die versteckte Botschaft zu wissen? Wie töricht ist sein Glauben, auf eine zutreffende Antwort zu stoßen! Der Inhalt der Worte ist selbst mir ein Mysterium. Und wenn mir die Antwort verschlossen bleibt, so sind auch meine Mitschüler weit von ihr entfernt. Ich wundere mich nicht über die Totenstille, die auf diese Frage folgt. Der Lehrer wartet und ich kann mit fester Sicherheit behaupten, dass selbst er es nicht weiß. Zögerlich hebt sich eine Hand, der Lehrer nickt dem Schüler zu. "Dass... der Freund eigentlich der Feind ist...?" Wenn es so einfach wäre! Ich unterdrücke ein verächtliches Brummen und reibe meine Stirn. Die Freundschaft selbst ist mir mit jeder ihrer komplizierten Einzelheiten etwas Unbegreifliches. Man erwartet von mir die Antwort, ein erwartender Blick des Lehrers trifft mich, nachdem dieser verneinend den Kopf geschüttelt hat. Erwartet nichts, denke ich mir daraufhin und senke den Blick, ich vermag nichts dazu zu sagen. "Nun gut." Der Mann wendet sich ab und greift nach der Kreide, ohne seine Version zum Besten zu geben. Ich will nicht unverschämt sein und ihn darauf aufmerksam machen, dass er uns eine Antwort schuldet. Das Recht dazu besitze ich, doch bin ich nicht auf sinnlose Konfrontation aus. Also blättere ich in meinem Buch um und beginne das Kapitel erneut zu lesen. Währenddessen schreibt der Lehrer an die Tafel, murmelt etwas von Hausaufgaben und bittet anschließend, die Bücher zu schließen. Ich bewege mich nicht, starre auf die Worte und grüble. Ich nehme es mir nicht vor, auf die Lösung zu stoßen, habe eingesehen, dass es sinnlos ist, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. Schämen brauche ich mich meines Unwissens in diesem Gebiet nicht. Es ist nicht wert, ergründet zu werden. Freundschaft macht schwach und verletzlich. Das ist es, was ich weiß und mehr brauche ich nicht zu wissen. Die Stunde geht weiter. Wieder kommt der Lehrer zur Theorie zurück, erzählt vom Leben Nietzsches und seinen bedeutsamen Werken. Ich höre nicht zu und blicke erst auf, als sich die Tür des Klassenzimmers erneut öffnet. Jonouchi kehrt zurück ich wende mich desinteressiert meinem Buch zu. Doch ich bewerkstellige es nicht, mich wieder darin zu vertiefen, denn ich sehe mich dazu gezwungen, wieder aufzublicken und Jonouchi genauer zu mustern. Während die Sekretärin neben dem Lehrer stehen bleibt und mit ihm flüstert, kehrt er zu seinem Platz zurück. Nur langsam und stockend setzt er ein Bein vor das andere, die Schultern sind kraftlos gesenkt, ebenso das Gesicht. Er bewegt sich, als hätte sich Eis in all seine Glieder gefressen, als wäre er kaum dazu imstande, sie großer Belastung auszusetzen. Er wirkt wie ein alter Mann, der das Leben hinter sich hat, dem es an Stärke mangelt. Ich betrachte mir sein Gesicht. Es hat jegliche Farbe verloren, erscheint totenblass und eingefallen. Es wirkt wie das Gesicht eines Menschen, der kurz davor ist, vor Kummer und Verzweiflung in die Knie zu gehen. Ich erkenne ihn nicht wieder, dennoch zeigt meine Miene keine Regung. Kurz bevor er seinen Platz erreicht, blickt er auf. Er scheint jegliche Sicherheit verloren zu haben, nervös und fahrig starrt er um sich, seine Augen richten sich hilfesuchend auf leblose Gegenstände, nicht etwa auf Schüler. Dann bleibt er stehen und stützt sich auf seinen Tisch, als wären seine Knie weich… als würde er schwach zu Boden gehen. Er schwankt wirklich, richtet sich jedoch auf und tastet nach seinen Büchern. Ich verfolge jede seiner Bewegungen genau. Sein Blick ist auf das Fenster gerichtet, während er die Utensilien zu sich zieht, er ist abwesend, als er in die Knie geht und nach seiner Tasche greift. Wieder erhebt sich leises Flüstern, nicht nur ich beobachte Jonouchi. Er starrt noch immer nach draußen, als er die Tasche öffnet und einzupacken beginnt. Er lässt alles in ihr verschwinden, lässt sich dabei jedoch Zeit. Er trödelt nicht, nein, er ist nicht dazu fähig, sich zu beeilen. Aus seinem Benehmen schließe ich, dass das Telefonat nichts Positives zutage gebracht hatte. Nach genaueren Möglichkeiten suche ich nicht, es interessiert mich nicht. Endlich zieht er sich den Gurt der Tasche über die Schulter und betrachtet sich seinen Platz. Er bleibt noch stehen, seine Fingerkuppen gleiten stockend über das glatte Holz des Tisches. Er betrachtet sich auch seinen Stuhl, streckt nach einem kurzen Zögern die Hand nach ihm aus und rückt ihn zurecht. Dies alles tut er mit größter Exaktheit und Vorsicht, so als würden ihm diese leblosen Gegenstände etwas bedeuten. Dann wendet er sich ab, seine Hand streift die Kante des Tisches, bevor er in denselben unsicheren Schritten nach vorn geht. Ich werde auf die Sekretärin und den Lehrer aufmerksam. Der Mann verzieht die Augenbrauen, rückt an seiner Brille und mustert Jonouchi eindringlich. Die Sekretärin richtet sich auf, macht sich auf den Weg zur Tür. Jonouchi folgt ihr kurz, hält jedoch inne, als er vor der Klasse steht. Ich schaue zu Muto. Der Junge sitzt reglos dort. Ich schaue zu Honda. Mit geweiteten Augen starrt er nach vorne. Ich schaue zu Mazaki. Besorgnis spiegelt sich in ihrer Miene wieder, sie hält die Hand vor den Mund, ist kurz davor, die Stimme zu erheben. Ich drehe mich nach vorn und Jonouchi wendet sich zögernd der Klasse zu. Seine Hand klammert sich um den Gurt der Tasche, die andere krallt sich in den Stoff der Hose. Stockend hebt er das Gesicht, mit bebendem Atem lässt er den Blick über seine Freunde schweifen, mich ignoriert er gänzlich. Die Sekretärin wartet, plötzlich scheint sie Geduld zu besitzen. Jonouchi senkt den Blick, zusammengesunken und wankend steht er dort vorne und sucht nach Worten. Stille herrscht, nur wenige Schüler bewegen sich auf ihren Plätzen und auch ich warte. Und ich warte lange, bis Jonouchi endlich die Stimme erhebt. Sie zittert, dringt nur gedämpft an meine Ohren. "Ich...", seine Hand, die den Gurt hält, entspannt sich kurz, klammert sich kurz darauf jedoch wieder in ihm fest, "Ich... muss weg", sagt er endlich und beißt sich auf die Unterlippe. Er kämpft mit sich, es fällt ihm schwer, die Fassung nicht zu verlieren und ich bin nicht der Einzige, dem dies auffällt. "Ich komme... erst einmal nicht mehr zur Schule." "Katsuya!" Muto fährt in die Höhe, der Stuhl rutscht quietschend zurück. "Was ist passiert?!" Jonouchi blickt erschrocken auf, trifft auf den Blick des Jungen und entflieht ihm sogleich wieder, als könne er ihn nicht ertragen. Er verkrampft sich zusehends, macht den Anschein, laut schreien zu wollen. Seine Hände zittern, er verschluckt sich am eigenen Atem, bevor er antwortet. "Ich bleibe nicht lange weg", sagt er beinahe schon flehend und schließt die Augen. "Ich... komme wieder." Auch Mazaki kommt auf die Beine, bringt es jedoch nicht fertig, etwas zu sagen. Ihre Lippen bewegen sich kurz, bevor sie sie mit beiden Händen verdeckt. Honda bewegt sich nicht, scheint zu Stein erstarrt zu sein. Und während Jonouchi verbissen schweigt und Muto verzweifelt nach Worten sucht, denke ich mir: Lügner! Er wird nicht zurückkommen, ich weiß es. Er kommt nicht wieder, aus welchem Grund auch immer. Es ist nicht schwer zu erraten, wenn man sein Verhalten studiert. Noch einmal blickt Jonouchi nicht auf, er nagelt den Blick am Boden fest, sein Gesicht zuckt, als er kurz die Hand hebt. "Ich komme wieder." Seine Stimme ist nicht mehr als ein gebrochenes kraftloses Hauchen, als er sich abwendet und in schnellen, beinahe schon fliehenden Schritten zur Tür geht. Und ohne sich ein letztes Mal umzuschauen, verlässt er den Raum. ~*to be continued*~ Kapitel 4: ~ Trügerische Stille~ -------------------------------- ~*Kapitel 4 – Trügerische Stille*~ So ging Katsuya Jonouchi von uns. Ich vermisse ihn nicht, nicht ein einziges Mal grüble ich über seine Abwesenheit, wenn ich den leeren Stuhl vor mir betrachte. Er ist fort, zurück ließ er leidende Freunde. Tagtäglich klagen sie über seinen Verlust, vermögen nicht, es zu realisieren. In den Pausen sitzen sie beisammen. Muto kauert vor dem Tisch, hält die Arme auf ihm verschränkt und blickt mit traurigen Augen aus dem Fenster. Honda schweigt die meiste Zeit über und Mazaki schüttelt den Kopf. Sie will es nicht wahrhaben. Auch Otogi und Bakura betreten oft den Klassenraum, um sich dem niederdrückenden Schweigen anzuschließen. Nur selten sinnieren sie laut über das Verschwinden des blonden Rebellen, suchen verbittert nach einer Antwort und fragen immer wieder: "Warum?" Warum? Die Lösung dieses Rätsels ist mir gleichgültig, ich vertiefe mich angestrengt in den Versuch, die gesamte Konzentration auf mich zu lenken. Ich will mich nicht an ihren Grübeleien beteiligen, der Verlust kommt mir gelegen, ich fühle mich wohler ohne Jonouchi. Ich sehe ein gelöstes Problem in seinem mysteriösen Verschwinden. Doch diese Erleichterung ist nichts. Sie erlischt wie eine schwache Flamme im Wind, denn binnen der nächsten Tage spüre ich deutlich, wie weitere Perfektion und Kontrolle mein Leben verlässt. Ich besuche das Bad und verlasse es erst, wenn der angemessene Zeitpunkt eingetroffen ist. Ich halte mich strikt an meinen Plan, meine Routine und für kurze Zeit bringt mir diese Tatsache innere Sicherheit. Ich fühle mich gestärkt, bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich zu einer grausamen, alles zerschmetternden Einsicht komme. Ich grüble zuviel über mein Tun und Lassen. Und es verlangt mir viel Anstrengung ab, um mich perfekt zu fühlen. Früher war ich es, ohne darauf zu achten. Die Perfektion war allgegenwärtig, ohne dass ich sie an mich binden musste. Nun beherrsche ich sie nur schwerlich und genau dies stellt das Problem dar, die Angst, die mich gleich eines heißen Feuers zerfrisst. Seit ich mich diesen Mühen hingebe, herrscht eine noch größere Anspannung in meinem Körper und es fällt mir schwer, mich auf mehrere Dinge gleichzeitig zu konzentrieren. Das Ende nähert sich krauchend und ich bin zu schwach, um mich davor zu schützen. Ich bin wehrlos und stelle mir erneut die Frage, ob ein Weg existiert, der mich zum Glück führt. In diesem Fall bin ich nicht anspruchsvoll. Ein kleine Veränderung sähe ich als ausreichend an. Vor Veränderungen scheute ich mich stets, da ich meinen routinierten Alltag besaß, dem ich sorglos folgen konnte. Diese Routine verliert nun jedoch an Kraft, ich gerate ins Schwanken, alles in meinem Leben wirkt plötzlich so unsicher. "Warum?", frage nun auch ich. Warum geschieht dies? Jonouchis Verschwinden scheint all dies auszulösen, ohne dass ich ihn damit in Verbindung bringe. Es liegt nicht an ihm, nichts aber auch gar nichts hat er damit zu tun. Zwei Geschehnisse schnitten und überlagerten einander, mehr nicht. Reglos sitze ich auf dem Stuhl und starre auf meine Finger. Sie haken sich ineinander, falten und lösen sich kurz darauf. An den Schultagen hat sich nichts verändert. Es ist wie eh und je, nur die Trauer, die von jener einst so heiteren Gruppe ausgeht, ist zu spüren. Sie seufzen, finden nicht die Kraft zu lächeln und ich grinse, genieße die Schadenfreude, die mich befällt. Zu selten sind sie niedergeschlagen, als dass ich es nun nicht genießen könnte. Katsuya ist nicht zu Hause, Katsuya geht nicht an das Telefon, drei Tage ist es nun her und sie sprechen noch immer davon. Immer und immer wieder. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis der blonde Rebell in Vergessenheit gerät. Ich hätte es bereits bewerkstelligt, würde ich nicht täglich seinen Namen hören. Tage vergehen, die Schulzeit neigt sich dem Ende entgegen und jeder spricht erfüllt von Freude von den Ferien. Nun, meine Freude hält sich in Grenzen. Der Unterricht beginnt. Gleich einer Folter mag diese letzte Stunde voller Mathematik auf die Schüler wirken und ich bin fester Überzeugung, dass Sakuro sie zu einem unvergesslichen Erlebnis werden lässt. Während er auf die völlige Ruhe wartet, schmiedet er perfide Pläne. Deutlich ist dies an seinem Blick zu erkennen, der stets eine gewisse Heimtücke ausstrahlt. Als er dort vorne steht und keiner der Schüler es wagt, sich zu bewegen, streift sein Blick den leeren Platz vor mir und richtet sich anschließend direkt auf mich. >Oh, Ihre Gedanken sind mir kein Geheimnis<, denke ich und falte die Hände vor mir auf dem Tisch, >Nichts an Ihnen ist mir ein Mysterium<. Jonouchi brachte wohl als einziger den Mut oder besser gesagt, die Sturheit auf, in Widerspruch zu gehen, Widerstand zu leisten, obgleich es sich um eine unbedeutende Angelegenheit handelte. Nicht zu übersehen war der stille Kampf, der seit dem ersten Tage zwischen ihnen herrschte. Jonouchi, der Rebell, der sich gegen alles und jeden auflehnte und tagtäglich seine Primitivität unter Beweis stellte. Durch ihn stellte der Mathematikunterricht stets ein spannendes Erlebnis für so manchen Schüler dar. Jonouchi vertrat ihre Interessen, sprach die Worte aus, an die sie durch die Furcht nicht einmal zu denken wagten. Nun widerspricht niemand und in den Mienen der Anwesenden erkenne ich deutlich die Niedergeschlagenheit. Sie vermissen diesen Schurken, obgleich er ihnen nichts als Schande brachte. Die Stimmung Sakuros brachte er lediglich mit Worten auf den Tiefstand. Unter dieser Stimmung hatte anschließend jeder zu leiden. Er war es auch, der die Klasse 3a zu einer Berühmtheit werden ließ, denn sie beherbergte den faulsten Schüler, der stets einen außerordentlich unterdurchschnittlichen Notenbescheid vorzuweisen hatte. Jonouchi ist ein unbedeutsames Staubkorn in der Wüste gewesen, ein Tropfen Nässe im Meer. Er selbst war unbedeutend und geprägt von außergewöhnlichem Nichtskönnen. Und doch vermissen sie ihn. Es fällt mir schwer, diese Tatsache nicht als störend zu empfinden. Auf den Wunsch des Lehrers hin, öffne ich mein Buch und betrachte mir die Aufgabe, die er an die Schüler stellt. Wahres Können und Intelligenz erscheint unwichtig in den Augen der heutigen Jugend. Ich kenne meine Mitschüler. Niemand von ihnen achtet auf solche Eigenschaften, ausschlaggebend sind für sie andere Eigenschaften wie Freundlichkeit, Humor und Teamgeist. Keines dieser Worte sehe ich als die Definition für das menschliche Wesen an. Durch Freundlichkeit, Humor und Teamgeist erreicht man keinerlei Ziele, vorausgesetzt, dass man welche vor Augen hat und die Entschlossenheit, sich ihnen zu nähern. Ich, Seto Kaiba und Jonouchi bilden die besten Beispiele für die Befürwortung dieser Behauptung. Ich öffne einen Block und beginne mit der Lösung der Aufgabe. Jonouchi ist, nein war es nicht wert, mit mir verglichen zu werden. Er stellte nie etwas dar und ich arbeite daran, ihn in Vergessenheit geraten zu lassen. Er symbolisierte einen kurzen Störfaktor in meinem Leben, somit hat er seine Aufgabe erfüllt. Ich bin ihn los und ich sehe den Gedanken, nein, das Hoffen, dass er nicht zurückkehrt, nicht als boshaft an. Es ist mein Empfinden und dieses verschweige ich nicht. Wieder beginne ich fließend zu arbeiten, konzentriere mich auf die Aufgabe und bekämpfe Gedanken, die sich nicht in meine jetzige Tätigkeit einordnen lassen. Nach wenigen Minuten lasse ich den Füller sinken und richte mich auf. Die anderen arbeiten noch immer und ich richte meinen Blick auf das Fenster. Ein abscheulich grauer Himmel präsentiert sich mir. Es hat nicht geschneit, nur die Überbleibsel der vergangenen Tage haften auf Straßen und Gehwegen. Heute Morgen hat es geregnet, Erde wurde zu Schlamm, Schnee zu Eis. Domino wirkt wie eine Stadt, die aus einem Alptraum geboren wurde. Düster und unangenehm ist alles, angenehm erscheint mir der unrealistische Gedanke, vor all dem fliehen zu können. Weg… weg von Domino. Wieder träume ich von jenem Ort, an dem mich niemand finden kann. Nur Mokuba und ich. "Kaiba." Die raue Stimme Sakuros lässt mich wach werden. Er steht neben seinem Pult, reibt die Kreide in der Hand und ich wende mich ihm zu. "Sie haben die Aufgabe bereits gelöst?" Ich nicke und er bittet mit einer knappen Kopfbewegung darum, nach vorn zu kommen. "Ich befürchte, Sie sind der Einzige, der die Aufgabe versteht." Seine Stimme nimmt einen scharfen Ton an; er versteckt einen Vorwurf in ihr, einen Vorwurf an die Schüler. Ich erhebe mich, greife nach meinem Buch und gehe nach vorn. "Ihr seid also der Meinung, ich würde es unverständlich erklären? Gut, dann wird Kaiba nun die Aufgabe an der Tafel vorrechnen, auf dass ihr endlich dahinter kommt!" Durch meine Abwesenheit muss ich mir entgangen sein, dass der Lehrer in Konflikt geraten ist. In Konflikt mit seinen Schülern, die plötzlich ebenfalls den Mut zu besitzen scheinen, ihre wahre Meinung kund zu geben. Die letzten Worte stößt er beinahe schon schreiend aus, bevor er sich auf seinen Stuhl setzt, die Arme vor dem Bauch verschränkt und sich umblickt, als wäre er kurz davor, einen seiner perfiden Pläne in die Tat umzusetzen. Die Schüler ducken sich, als sie den Blick Sakuros spüren. Sie bevorzugen, die Aufgabe nicht zu verstehen, als sich den Zorn des Mannes aufzulasten. Es herrscht eine Totenstille, als ich nach der Kreide greife und mich der Tafel zuwende. Und auch ich spüre eine rege Wut in mir. Ich trage nicht die Schuld am Unverständnis meiner Mitschüler und doch ist es nun meine Aufgabe, den Schaden zu beheben. Ich hätte widersprechen können, doch mir mangelt es zurzeit an Durchhaltevermögen, um mich auf ausgedehnten Streit zwischen Schüler und Lehrer einzulassen. Ich besitze die Kraft, um mich durchzusetzen, doch prinzipiell ist es der Fall, dass der Lehrer über mehr Rechte verfügt, als der Schüler. Sein Wort ist Befehl, das Wort des Schülers jedoch, ist ein offensichtlicher Frevel am Unterricht und wird schnell als persönliche Beleidigung aufgefasst. Ich beginne zu schreiben und liefere nebenbei eine ausführliche Erklärung meiner einzelnen Schritte zum Lösen der Aufgabe. Dem Lehrer gegenüber verspüre ich an diesem Tag Mitleid, mit den Mitschülern jedoch nicht. Und ich ergreife die Möglichkeit, meiner Gehässigkeit freien Lauf zu lassen. Ich spreche und spreche, es mag auf die Zuhörer wirken, als hätte ich einen Text studiert, den ich nun vortrage. Ich drehe mich nicht um, mache keine Pause und bemühe mich unterdessen, viele Fremdwörter einzubauen. Ich bringe es dazu, dass niemand meine Worte versteht, unterrichte in Fachchinesisch, wie man so schön zu sagen pflegt und Sakuro grinst. Ich schaue ihn nicht an und dennoch weiß ich es. Unbewusst schmeichle ich ihm. Auch ich kann erklären, doch im Gegensatz zu meiner Version, wirkt die des Lehrers beinahe übertrieben jugendfreundlich und verständlich. Nach kurzer Zeit unterstreiche ich das Ergebnis, schließe das Buch und lege die Kreide ab. Die Stille hält an und als ich mich umdrehe, erkenne ich geweitete Augen, die auf mich gerichtet sind. Ohne ihnen Beachtung zu schenken, mache ich mich auf den Weg zu meinem Platz und Sakuro erhebt sich. Als ich mich setze, komme ich zu der Einsicht, dass ich etwas vermisste, während ich dort an der Tafel stand. Giftige Bemerkungen dringen zumeist leise aus der hintersten Ecke an meine Ohren, wenn ich mich auslasse und meine Mitschüler quäle. Doch heute? Mein Blick richtet sich auf jenen leeren Stuhl. Ein zufriedenes Grinsen zeichnet sich auf meinen Lippen ab, dann schließe ich mein Buch und lehne mich zurück. Die Türen des Fahrstuhls öffnen sich, ich verlasse ihn und durchquere den kahlen Flur. Ich brachte weitere Tage hinter mich und am morgigen Tag erwartet mich der letzte Schultag, darauf folgend: die Ferien. Ich betrete mein Büro, lege den Mantel ab und setze mich. Ich lehne mich zurück, reibe mein Kinn und starre auf den schwarzen Bildschirm des Computers. Ich verbinde die Ferien mit einer regen Furcht. Was soll ich tun, wenn ich auf die Schule verzichten muss? Ich schließe die Augen, lasse die Hand auf die gepolsterte Armlehne hinabsinken und verbleibe reglos. Ich graue mich davor, hier zu sitzen und nichts zu tun, jeden Tag, von früh bis spät. Ich beginne nachzudenken, nach einer Lösung zu suchen, die sich vor mir verbirgt. Sie existiert, es ist lediglich eine Frage der Zeit, bis ich auf sie stoße. Lange verharre ich in dieser Haltung, dann erhebe ich mich. Ich möchte hinuntergehen und einen Kaffee trinken. Wenige Minuten bleiben mir noch, bis ich einen Geschäftspartner in meinem Büro erwarte. Hinzukommend werde ich mich um die alljährliche Kontrolle kümmern müssen. Mich erwartet Arbeit und obgleich stets eine Erleichterung nach mir greift, wenn ich einen strikten Plan vor Augen habe, widme ich dieser Tatsache keinen Gedanken. Zu sehr sorge ich mich um die Tage, die auf mich zukommen, als dass ich mich damit befassen könnte. Ich verlasse mein Büro und suche die Cafeteria auf. Nur wenige Mitarbeiter haben an den Tischen Platz genommen, um sich kurz zu stärken und sobald ich den großen Raum betrete, senken sie ihre Stimmen und nehmen Haltung an. Übertriebener Respekt in diesem Fall, den ich dennoch genieße. Zügig gehe ich an ihnen vorbei, Blicke haften an mir, folgen mir. Nicht oft verlasse ich das oberste Stockwerk, selten betrete ich andere Räume, als mein Büro. Ein mancher hat den jungen Mann, unter dem er arbeitet, noch nie zuvor gesehen. Ich erreiche einen Automaten und betätige eine Taste. Ich nehme meine Umwelt nicht wahr, konzentriere mich noch immer auf jenes Problem. Fragen über Fragen befallen mich und ich wünsche mir, dass Ferien nicht existieren. Diese besonderen Freiheiten stören meine Routine, oft quäle ich mich mit diesem Problem und sehe mich dazu gezwungen, einen Plan für die Ferien auf die Beine zu stellen. Noch tat ich es nicht, ohne zu wissen, weshalb. Ich greife nach der Tasse, meine Miene versteinert in einem angespannten Ausdruck, meine Augen funkeln verbissen. Ich verachte Probleme! Ich möchte nicht über Dinge sinnieren, die aus meiner Unaufmerksamkeit heraus, geboren wurden. Ich möchte sie alle verleugnen! Ich wende mich ab, blicke mich flüchtig um und kehre in mein Büro zurück. Was soll ich anfangen, mit der Zeit, die mir gegeben ist? Die mir im Überfluss gegeben ist, sobald die Schulzeit endet? Auf welchem Weg soll ich es bewerkstelligen, meiner Routine zu folgen, ohne sie unter strenger Kontrolle durchzuführen? Die Fragen brennen in meinem Kopf, hallen gnadenlos wider und wider. Wie soll ich mein Leben in die geregelten Bahnen zurückleiten, wie soll ich die Kontrolle zurückerlangen, die Fähigkeit, mich mehreren Tätigkeiten zuzuwenden, ohne über sie zu sinnieren und mich großer Anstrengung auszusetzen? Stets war ich im Stande dazu. Was hindert mich nun daran? Was steht mir im Wege? Was muss ich zerstören, um meine Fähigkeiten zurückzuerlangen, auf die ich stets großen Wert legte? Die mich zu einer angesehenen Persönlichkeit werden ließen? Nun, in der Einsamkeit meines Büros, beginne ich unter diesen Fragen zu leiden und wieder stürze ich mich in Arbeit, um sie zu verbannen. Ich wende mich den Mitarbeiterlisten zu, überschaue ihre Leistungen und die einzelnen Auszeichnungen, ohne dadurch etwas zu erreichen. Kurz darauf betritt ein älterer Mann mein Büro und ich unterbreche meine Überprüfungen, die von Sinnlosigkeit geprägt sind. Ich empfange jenen Geschäftspartner mit zurückhaltender Freude, die ich nicht zum Ausdruck bringe. Er wird mich ablenken, ich habe viel mit ihm zu besprechen, als dass ich mich nebenbei dem Sinnieren zuwenden könnte. Lange sitzen wir zusammen, tauschen Material aus und besprechen wichtige Fakten. Ich zeige mich ihm professionell, beherrsche mein Handwerk und stehe manchen Entscheidungen streng gegenüber. Herr Chan arbeitet seit langer Zeit mit der Kaiba-Corporation zusammen. Er liefert Materialien, wirkt gleichermaßen auch an so mancher Herstellung mit. Ich kenne seine Wesenszüge gut, sie zeigen sich deutlich in der Art, zu spricht und sich zu bewegen. In manchen Augen ist er ein freundlicher, einfühlsamer Mensch, ich jedoch, neige oft dazu, auch ihn als schwach anzusehen. Und dennoch genießt er bemerkenswerte Erfolge, eine Tatsache, die mich verwirrt. Er wirkt zu höflich und bescheiden, in keiner Weise ehrgeizig und durchtrieben und doch kann man ihn durchaus als guten Geschäftsmann bezeichnen. Ja, seine Geschäfte florieren. Ich folge meinem strikten Plan, arbeite wichtige Punkte ab und komme nach knapp zwei Stunden zum Ende. Wir verlängern die Verträge und er wünscht uns auch weiterhin gute Zusammenarbeit. Somit verstaut er seine Unterlagen in seinem Koffer, erhebt sich und lüftet seinen Hut. "Herr Kaiba", sagt er, während er den Stuhl zurechtrückt. "Sie wirken etwas abgelenkt und besorgt auf mich. Sehen Sie es bitte nicht als Unverschämtheit an, doch ich weiß einen erholsamen Urlaub zu schätzen. Er verleiht mir stets neue Kräfte, ich fühle mich meinen Aufgaben gewappnet und das Grübeln fällt mir leichter. Ich kann mich nicht entsinnen, je von einem Urlaub gehört zu haben, den Sie unternahmen. Glauben Sie mir, auch Ihnen würde es zu Gute kommen. Sie besitzen meine Ehrerbietung, meine Bewunderung gleichermaßen. Ich halte sie für einen außergewöhnlichen Geschäftsmann, doch…", er macht eine Pause, ein warmes Lächeln schenkt seinem Gesicht Ausdruck, "… die Kaiba-Corporation würde nicht an Einfluss, Macht und Erfolg verlieren, würden Sie Ihrem Körper und Geist Erholung zukommen lassen. Legen Sie die Verantwortung, die so schwer auf Ihnen lastet, in vertrauenswürdige Hände und entspannen Sie sich. Die Ferien beginnen bald, wenn ich mich nicht irre." Mit diesen Worten nickt er mir zu und wendet sich ab. Ich starre ihn an, weiß nichts zu antworten. Die Tür schließt sich hinter ihm und ich bewege mich nicht. Wie tief… frage ich mich, als ich ihm nachsehe, bin ich gesunken, dass andere in der Lage sind, meinen Gemütszustand zu erkennen? Verlieren meine Masken an Kraft? Mokuba erkannte es zuerst, worüber ich mich nicht zu wundern brauche. Er ist mein Bruder, nimmt oft an meinem Leiden teil. Doch Chan? Es ist eine Seltenheit, dass wir uns begegnen. Wie also, wurde er darauf aufmerksam? Ich lasse mich lange durch ein Zögern aufhalten, dann jedoch, erhebe ich mich, nähere mich einem Spiegel und bleibe vor ihm stehen. Ich betrachte mein Gesicht. In meinen Augen, die starr und eisig wirken sollen, erkenne ich ein unauffälliges Entsetzen über den Ratschlag Chans. Sah er dieses Entsetzen, als er sprach? Ich betaste meine bleichen Wangen, sie erscheinen kränklich, selbst meine Lippen verlieren ihre weiche rosige Farbe. Ich lasse die Hand sinken, blinzle und lasse den Kopf sinken, wobei die Augen des jungen Mannes stets auf mich gerichtet bleiben. Und ein grausiger Gedanke befällt mich. Verliert meine Firma, die einen der erfolgreichsten Weltkonzerne darstellt, durch mein Befinden an Einfluss, Macht und Erfolg? Treibe ich sie in den Ruin, in dem ich zulasse, dass sich mein seelischer Zustand verschlechtert? Nimmt sie Schaden an meiner Unsicherheit, die durch wenige Fehler heraus entstand? Beinahe schon flüchtend wende ich dem Spiegel den Rücken zu, ich kreuze die Arme vor dem Bauch, lege die Hände auf meinen Hüften ab und starre auf den Boden. Selbst auf diese Fragen finde ich keine Antworten und wieder fürchte ich mich davor, noch unsicherer zu werden. Ich würde alles tun, um zu verhindern, dass meine Firma an Erfolg und Bedeutung verliert. Sie stellt mein Leben dar und ohne eine Änderung rückt mein Leben weiterhin in die Dunkelheit, bis es völlig in ihr verschwindet. Chans Ratschlag rüttelt mich wach und ich wende mich anderen Fragen zu. Wie bewerkstellige ich es, zur Entspannung zu finden? Wie kann ich lernen, mich zu erholen? Welche Möglichkeiten stehen mir offen? Es ist wahr. Nichts würde sich ändern, würde ich mir Urlaub nehmen. Meine Angestellten genießen geregelten Urlaub und freie Tage. Auch ich besitze dieses Recht und ebenso gut wie phlegmatisches und tatenloses Sitzen in meinem Büro ist meine Abwesenheit. Es fällt mir äußerst schwer, zu dieser ehrlichen Einsicht zu kommen. Auch ich habe Urlaub verdient, doch noch nie machte ich Gebrauch von diesem Recht. Nein, noch nie. Stets schützte ich mich auch nur vor dem bloßen Gedanken. Ein Leben ohne Erholung ist meine Routine, die Angst besteht lediglich daraus, etwas an meiner Routine zu ändern. Der Atem stockt mir, als ich mir darüber bewusst werde, mich einer neuen Richtung zuzuwenden. Eine Veränderung meiner Routine? Was steht dem im Wege, wenn es mir das Leben erleichtern würde? Erholung macht nicht schwach, nein, sie stärkt. Unbewusst schaue ich nach rechts und mein Blick fällt auf den Papierkorb. Ich starre ihn lange an, bevor ich die Arme sinken lasse und mich ihm nähere. Ich erblicke den Flyer, den Mokuba mir gab und zögerlich beuge ich mich hinab und greife nach ihm. Ist dies nicht die perfekte Möglichkeit? Wieder betrachte ich mir das prunkvolle Gebäude, dann klappe ich ihn auf und beginne zu lesen. Das erste Mal vertiefe ich mich in dieses Angebot. Und noch während ich lese, bin ich sicher, das Geschenk meines kleinen Bruders anzunehmen. Ich kann nichts verlieren, nur an Kraft gewinnen. Und Kraft benötige ich, um mein Leben zu fristen, das von solcher Dunkelheit und Qual geprägt ist. Ich schließe den Flyer, lege ihn auf meinem Schreibtisch ab und setzte mich in meinen Stuhl. Ich greife nach einem Telefone, flink tippen meine Finger eine Nummer und dann warte ich. Vor kurzem endete Mokubas Unterricht und ich hoffe, dass er noch nicht Zuhause ist. Ich möchte, dass er zu mir kommt. Es klingelt und ich warte lange, bevor sich die heitere Stimme des Jungen meldet. "Seto? Bist du's? Was ist?" Im Hintergrund ertönt das Lachen anderer Kinder. "Wo bist du?", erkundige ich mich. "Ich bin noch vor der Schule", antwortet er. "Wir sitzen hier noch etwas herum und..." "Warte bitte kurz? Ich lasse dich abholen." Währenddessen greife ich nach einem anderen Telefon und ziehe es zu mir. "Ich möchte, dass du in die Firma kommst." "Wenn du willst?" Mokuba lacht, er genießt dieses Telefonat sichtlich. Nicht oft rufe ich ihn an, zumeist schweigt sein Handy. "Dann warte ich eben." "Gut, bis gleich." Somit lege ich auf und betätige die Taste des anderen Telefons. Bei diesem muss ich bei weitem nicht so lange ausharren, nach wenigen Sekunden meldet sich ein junger Mann. "Holen Sie Mokuba von der Schule ab. Sofort." "In Ordnung, Herr Kaiba." Wieder lege ich auf und lehne mich zurück. Mein Blick schweift zu einer Wanduhr und kurz darauf erhebe ich mich wieder. Mit wenigen Handgriffen fahre ich den Computer hinunter, räume Akten von meinem Schreibtisch und schaffe eine gewisse Ordnung. Den Flyer umgehe ich, er bleibt direkt auf meinem Schreibtisch liegen, dort, wo ich ihn sehen kann. Und bevor ich mich wieder setze, erscheinen drei meiner Angestellten in dem Flur und steuern auf mein Büro zu. Sie balancieren Berge von Unterlagen. Ich blicke nur kurz zu ihnen auf, wende mich wieder einem der Telefone zu und bestelle mir zwei Kaffee in mein Büro. Währenddessen bleiben die drei Angestellten vor meinem Schreibtisch stehen, grüßen mich höflich und entledigen sich der schweren Last. Ich zücke einen Füller und überfliege einen Vertrag, den man mir kurz darauf vorlegt. Ich überprüfe ihn genau, bevor ich meine Unterschrift setze und ihn zur Seite lege, worauf sofort eine dicke Mappe folgt. Ich öffne sie, wieder werfe ich einen Blick zu der Uhr. Dann blättere ich durch, setze meine Unterschriften und arbeite mich flink weiter. Ich benötige eine lange Zeit. Die Berge, dir mir gegenüber abgelegt worden sind, verlieren nur langsam, der Berg neben mir, gewinnt nur langsam an Höhe. Geduldig lasse ich mir den nächsten Zettel reichen und während ich ihn mustere, öffnet sich die Tür meines Büros erneut und trödelnde Schritte ertönen. Ich blicke nur flüchtig auf, erkenne Mokuba und wende mich meiner Arbeit zu. Mit einer knappen Kopfbewegung bitte ich ihn zu mir und so bleibt der Junge schunkelnd neben mir stehen und wartet ebenso geduldig. "Das noch einmal überprüfen." Ich reiche einem der Angestellten eine Liste und unterschreibe die Nächste. "Mokuba, ich habe über deinen Vorschlag nachgedacht", murmle ich nebenbei und richte mich kurz auf. "Ich verstehe schon." Er seufzt und ich lege eine Akte vor mir ab. "Einen Versuch war es wert." Ich antworte nicht, blättere durch und suche nach einem Artikel. "Dann werde ich wohl absagen müssen, hm?" "Das verstehst du falsch." Ich erreiche die letzte Seite und unterschreibe. "Ich werde an dieser Kur teilnehmen." "Was...? Wirklich...?" Er ist überrascht, reagiert nahezu ungläubig. Ich nicke und schließe die Akte, um auch sie zur Seite zu schieben. Daraufhin schweigt der Junge und ich rücke den Stapel neben mir zurecht, bevor ich den Füller ablege und mich zurücklehne. "Ich bin dir dankbar für diesen Einfall." Ich greife nach der Tasse und leere sie mit wenigen Schlücken, dann schaue ich ihn an. "Nun frage ich mich nur, wie du die Ferien verbringen wirst." Ich warte auf eine Antwort, doch Mokuba starrt mich nur an. Sein Mund ist leicht geöffnet, seine Augen geweitet. Und dann streckt er den Kopf vor und verzieht die Augenbrauen. "Ich dachte, du willst es nicht?", fragt er misstrauisch. "Ich änderte meine Meinung." Ich atme tief durch, beuge mich wieder über den Schreibtisch und arbeite weiter. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Es ist jedoch auch nicht nötig, denn Mokuba wagt es nicht, weiterhin nach einem Grund zu suchen. Viel zu groß ist die Angst in ihm, ich könne mich erneut umentscheiden. Und wirklich, er schweigt eine geraume Zeit und lässt die Stille mit einem leisen Räuspern enden. "Dann... dann ziehe ich zu einem Freund", sagt er. "Zu welchem Freund", frage ich in die Arbeit vertieft. Es ist mir wichtig, zu erfahren, mit welchen Menschen Mokuba seine Freizeit verbringt. "Zu... Yasojiro?", antwortet er noch immer leise. Es wird lange Zeit in Anspruch nehmen, bis er sich von diesem Schrecken erholt hat. "Yasojiro, und weiter?" Ich nehme die nächsten Zettel entgegen, Mokuba zieht mit dem Fuß Kreise auf dem Boden. "Yasojiro... Wakaba?" "Yasojiro Wakaba." Ich nicke. Auch die Familie Wakaba besitzt einen hohen Bekanntheitsgrad in Domino. Der Vater leitet eine große Firma, die Mutter arbeitet als erfolgreiche Staatsanwältin. Dort ist Mokuba in guten Händen. "Sicher erscheinen Herr und Frau Wakaba bei dem morgigen Elternabend. Ich werde es dort mit ihnen besprechen." Ich schicke Mokuba einen prüfenden Blick. Der Junge wirkt noch immer überrascht, gleichermaßen jedoch auch erleichtert und zufrieden. Ich mustere ihn streng, hebe die Augenbrauen. "Entspricht diese Planung deinen Vorstellungen?" "Öhm... ja, ja natürlich!" Sein Gesicht erstrahlt. "Jetzt freue ich mich richtig auf die Ferien!" Ich wende mich ab. Ich auch, denke ich mir dabei. Ich auch... Als ich am folgenden Tag wieder in der Schule sitze, fühle ich mich verunsichert, denke bereits daran, in Domino zu bleiben. Es stellt keine Herausforderung für mich dar, Domino, ja, sogar Japan zu verlassen. Oft führen mich Geschäftsreisen in andere Länder. Doch diese Geschäftsreisen sind stets von kürzerer Dauer. Nun frage ich mich, ob die Vorbereitungen, die ich traf, korrekt sind. In den Mann, den ich zum stellvertretenden Leiter der Kaiba-Corporation erwählt habe, setze ich das nötige Vertrauen. Während meiner Abwesenheit wird er die Firma führen. Oft tat er dies bereits und stets fand ich bei meiner Rückkehr nichts vor, das mich unzufrieden stimmte. Recht bedacht existieren keinerlei Unklarheiten, einjeder ist über meinen Entschluss informiert und bereits am späten Abend dieses Tages werde ich Domino verlassen. Ich gräme mich dennoch und sinniere über mögliche Probleme, die auftauchen könnten. Letzten Endes jedoch, breche ich dieses Sinnieren strikt ab und wende mich dem Unterricht zu. Als es bereits zum Abend dämmert, fahre ich in Mokubas Schule und nehme an der Besprechung teil. Anwesende Eltern haben sich an mich gewöhnt, an mich, den jungen Mann, der Mokuba ein Bruder und gleichsam Vater sein will. Ich bin stolz und streng wie immer, lasse mir nichts anmerken, das Misstrauen oder gar Skepsis erregen könnte. Ich sitze an einem Konferenztisch, um mich herum Eltern, mir gegenüber, ein Lehrer. Mokubas Lehrer. An diesem Abend erfahre ich nichts Unerfreuliches über die Leistungen meines kleinen Bruders. Kurz darauf lausche ich der organisatorischen Rede des Elternsprechers. Es ist Herr Wakaba. Auch er ist eine achtungswürdige Persönlichkeit, er besitzt meinen Respekt und die verdiente Anerkennung. Er unterbreitet uns Vorschläge, an deren Auswertung ich mich beteilige. Es ist mir wichtig, in welchem Umfeld Mokuba lernt, was er lernt, wie er lernt. Ebenso interessieren mich Schulaufführungen, an denen er teilnimmt. Ich durchdenke die Worte ausführlich, bevor ich mich im Stuhl aufrichte und den Anwesenden meine Meinung mitteile. Sie nicken und doch diskutieren wir eine lange Zeit, bevor es zu einer Einigung kommt. Als ich das Gebäude verlasse, herrscht um mich herum bereits finstre Nacht. Ich führe ein kurzes Gespräch mit dem Ehepaar Wakaba, komme auch mit ihnen zu einer schnellen Einigung und fahre anschließend Nachhause. Wieder betrete ich das leblose Foyer, öffne meinen Mantel und nähere mich der Treppe, über die ich in das erste Stockwerk gelange. Ich gehe durch den endlos erscheinenden Flur. Viel Zeit bleibt mir nicht, bis ich mich auf den Weg machen muss. So kurz vor der Abreise vergeude ich keinen Gedanke mehr mit Skepsis, diesem Vorhaben gegenüber. Ich habe es geplant, ich führe es durch. Der Mantel findet seinen Platz über meinem Arm, dann bleibe ich stehen, wende mich zur Seite und greife nach der Klinke einer Tür. Ich öffne sie und trete ein. Mokuba liegt auf seinem Bett, hat das Kinn in einem weichen Kissen vergraben und verfolgt das Treiben, das sich in einem großen Fernseher abspielt, der in der gegenüberliegenden Wand des Raumes eingebaut ist. Sein Zimmer mag freundlicher wirken. Auf seinem Schreibtisch steht ein Computer, um den sich bunte Stifthalter und Mappen scharen. Der Raum ist farbenfroher, die Gardinen schimmern bläulich, weinrote und verzierte Teppiche bilden einen geradlinigen Pfad auf dem Boden. In seinen Schränken stapeln sich bunte Bücher jeder Art, eines liegt auf dem blauen Drehstuhl, der zumeist inmitten des Raumes steht. Computerkonfigurationen. Mir ist es zu farbenfroh, würde ablenkend und unberuhigend auf mich wirken. Mein Blick streift das große, in einen teuren Rahmen eingefasste Bild, das über dem Bett Mokubas angebracht ist. Es zeigt zwei Kinder, die sich in einer liebevollen Rangelei versuchen, ein Eis zu klauen. Dieses Bild symbolisiert einen der Gegenstände, die mich an unseren Aufenthalt in jenem Kinderheim erinnern. Ich wende den Blick ab und sobald Mokuba mich bemerkt, richtet er sich auf, schenkt dem Fernseher kein weiteres Interesse und springt von dem Bett. Ich bleibe vor der Tür stehen, den Mantel eng an mich gerafft, warte ich auf ihn. Ich betrete seinen Raum nicht oft, und wenn ich es tu, dann halte ich stets an dieser Stelle inne, als würde ich mich vor diesem Zimmer ängstigen. Mokuba lacht, rudert mit den Armen und zupft an dem Mantel, als er vor mir zum Stehen kommt. "Und?", sagt er sogleich, seine Augen sind erwartungsvoll auf mich gerichtet. "Ist alles in Ordnung?" Ich nicke, bin kurz davor, mich umzudrehen. "Morgen früh wird man dich abholen. Es wird keine Komplikationen geben." Somit trete ich in den Flur zurück und Mokuba folgt mir. Wieder genießt er eine fröhliche Laune, lacht und begleitet mich auf den Weg zu meinen privaten Räumen. "Bist du aufgeregt?" Er versteckt tollpatschig seine Hände hinter dem Rücken und lugt zu mir, unsere Blicke treffen sich flüchtig. "Freust du dich auf die Kur?" Freude? Empfinde ich Freude? Ich verfalle dem Schweigen. Ich weiß es nicht. Selbst der Grund dieses Entschlusses wirkt mit jeder Minute fremder und unverständlicher auf mich. Erhoffe ich mir, Entspannung zu genießen und wieder zu Kräften zu kommen, auf die ich seit langem verzichte? Glaube ich wirklich, die Kunst der Erholung zu erlernen? Ich befürchte, dass ich in jedem Versuch scheitern werde. Und doch… Versuche sind es wert. Eine weitere Befürchtung besteht darin, dass ich auch die Kur damit verbringen werde, tatenlos zu sein. So würde diese Kur meinem Alltag entsprechen und nichts hätte sich verändert. "Ob ich mich freue?" Ich erreiche mein Büro und öffne die Tür. "Nun, ich würde es eher als Neugierde bezeichnen." Dies genügt Mokuba. Er lacht und ich trete ein. Mein kleiner Bruder leistet mir hier des Öfteren Gesellschaft, obgleich er stets den Anschein macht, als würde dieser kahle Raum ihn abschrecken. Ich gehe zu dem Schreibtisch, hänge meinen Mantel über dessen Lehne und fahre mir durch den Schopf. Mokuba nähert sich mir und lässt sich letzten Endes auf dem gepolsterten Stuhl nieder. Er baumelt mit den Beinen und betrachtet sich die Umgebung. Ich greife währenddessen eine Zigarette aus einer goldenen Halterung und klemme sie zwischen meine Lippen. Meine Hand tastet nach dem Feuerzeug und mein Blick streift die Uhr. Sich in Arbeit zu stürzen, wäre nicht lohnenswert, mir fehlt die Zeit. Ich verbrenne den Tabak, nehme einen langen Zug und gehe in langsamen Schritten auf eines der großen Fenster zu. Mokuba beobachtet mich, ich spüre es, schaue jedoch nicht einmal zu ihm, als ich stehen bleibe. Jener Baum wirkt nun wieder düster und unbelebt. Heute Morgen erst erstrahlte er in heiligem Glanze. Ich betrachte ihn mir, meine Hand hält die Zigarette zwischen zwei Fingern. Gleich einer Säule steigt der weiße Rauch auf, beginnt erst zu zittern, als ich die Schultern hebe und sie kurz darauf sinken lasse. Mir ist diese Atmosphäre unangenehm. Ich und Mokuba, ja, und er beobachtet mich, ohne dass ich seine Gedanken kenne. Die Reise, die kurz darauf folgt, zehrt nicht an meinen Kräften. Sie verläuft strikt nach Plan, ich habe nichts zu bemängeln. Eine Limousine trifft ein, ein Reisebegleiter der Kureinrichtung trägt mein Gepäck. Während ich auf dem weichen Polster sitze und aus dem Fenster schaue, denke ich nicht an Mokuba, ich denke nicht an meine Firma. Nein, ich denke an mich selbst und stelle mir immer wieder die Fragen: Was geschieht, sollte diese Kur mich nicht verändern? Was ist, wenn sie keinerlei Einfluss auf mich hat und ich mich gezwungen sehe, in mein abscheuliches Leben zurückzukehren, weiterhin unter dem grauen und leblosen Alltag zu leiden? Ich hoffe auf eine Veränderung, ich habe Angst vor meinem Leben. Diese Angst ist tief in mir verankert, doch auch sie sehe ich allmählich als Bestandteil meines Lebens an. Dennoch will ich sie loswerden, ich möchte mich ihr entreißen und einen neuen Weg einschlagen. Ja, einen neuen Weg, ohne etwas an meinen Tätigkeiten zu verändern, denn diese sind von großer Bedeutung, das ist nicht zu bestreiten. Nach einer Stunde erreichen wir einen Privatflugplatz. Er ist Eigentum des Mannes, der die noblen Kuren veranstaltet. Ein luxuriöser Jet wartet dort, ich betrete ihn, ohne der Einrichtung, die nichts zu wünschen übrig lässt, Beachtung zu schenken. Und als die Maschine startet, habe ich das Gefühl, das die Kur bereits ihren Anfang gefunden hat. Der Reisebegleiter erkundigt sich, ob ich Wünsche habe und als ich verneine, zieht er sich zurück. Beinahe wirkt es so, als würde er genau wissen, wann er mich anzusprechen hat, wann ich jedoch auch meine Ruhe dringend benötige. Ich bin nicht der erste erschöpfte Geschäftsmann, dem er Gesellschaft leistet. Ich sehe es nicht als störend an, dass er in einer der Ecken sitzt und in einer Zeitschrift blättert. Ich schließe die Augen, lehne mich gegen das weiche Polster und harre so aus. Ich sitze bequem, es existieren keinerlei störende Geräusche, die Motoren der Maschine arbeiten leise, machen nur durch ein leises Summen auf sich aufmerksam, das jedoch eher eine beruhigende Wirkung auf mich hat. Und doch entspanne ich mich nicht. Ich versuche es, doch sobald ich meine, es bewerkstelligt zu haben, spüre ich, wie sich meine Muskeln verhärten. Ich bin auf dem Weg zu einer Kur, die durch ihre Einrichtung, dem Luxus und den Angeboten unübertroffen ist, und ich sitze in dem weichen Sessel, als säße ich vor meinem Schreibtisch, abwesend und verbissen in die Arbeit vertieft. Ich öffne die Augen, schaue aus einem der kleinen Fenster, hinter denen sich die endlose schwarze Nacht erstreckt. Die Befürchtung erwacht in mir zum Leben, das meine Neugierde nicht etwa dem Gefühl der Entspannung gilt, sondern vielmehr der Art und Weise, wie man versuchen wird, mir Erholung zukommen zu lassen. Vielleicht verschließe ich mich unbewusst davor, wer weiß. Nach kurzer Zeit überfliegen wir den pazifischen Ozean. Dreitausend Kilometer gilt es zu überwinden. Mir liegt das Reisen nicht und ich sehe die Tatsache, dass dieser Jet lediglich drei Stunden für diese Strecke benötigen wird, als überaus erleichternd an. Ich verbringe diese Zeit damit, stillzusitzen. Nur manchmal bewege ich die Beine und rege mich im Sessel. Ich äußere keine Wünsche, zu nachdenklich bin ich, als das ich dazu im Stande wäre. Jener Mann stört meine Ruhe nicht und erhebt erst das Wort, um mich über die Landung zu informieren, die kurz bevorsteht. Dann setzt der Jet auf dem Rollfeld auf, lediglich durch einen unauffälligen Ruck ist dies zu spüren. Durch das Fenster sehe ich hohe Laternen, die flink vorbeiziehen. Hinter ihnen erstreckt sich Dunkelheit. Bewegungen sind auszumachen, Pflanzen und Bäume wiegen sich im Winde. Der Mann erhebt sich und nach kurzer Zeit kommt die Maschine zum Stillstand. "Ich hoffe, dieser Flug war nach Ihren Vorstellungen", sagt er. "In wenigen Minuten werden wir unser endgültiges Ziel erreicht haben. Darf ich Sie bitten, mich nun zu begleiten?" Ich erhebe mich und werfe einen flüchtigen Blick auf meine Uhr. Es ist kurz vor Mitternacht. Ich folge dem Mann durch den schmalen Flur und bevor ich die Tür erreiche, ist er bereits damit beschäftigt, sie zu öffnen. Er betätigt einen Hebel, ein leises Zischen ertönt und noch während sich die Tür öffnet, fährt sich eine Treppe aus. Der Mann tritt zur Seite und ich steige sie hinab. Ich verlasse den Jet und bleibe stehen, um mich umzuschauen. Zu meinen Seiten erstreckt sich die breite Rollbahn, zu deren Seiten ragen die Laternen auf. Sie reichen weit, enden erst nach einem Kilometer. Vor mir erkenne ich dichtes Buschwerk, auch Palmen sind darunter, deren Blätter sich wie Gespensterschatten im Licht des Mondes bewegen. Nicht weit entfernt parkt eine Limousine. Es ist warm, der Wind, der mich umspielt, angenehm. Das Klima ist nicht mit dem zu vergleichen, das in diesen Monaten in Japan herrscht. Kühle Trockenzeit nennt es sich von November bis April. Kühl, das bedeutet, es herrschen des Nachts 20°C. Mein Mantel lässt es noch wärmer erscheinen, doch ich öffne ihn nicht. So ist es mir angenehm. Und ich zeige mich von der Umgebung nicht beeindruckt, obgleich ich die Philippinen noch nie zuvor besuchte. Meine Miene zeigt keine Regung, obwohl die Umstände zufrieden stellend sind. Während ich die Umgebung flüchtig mustere, holt der Reisebegleiter mein Gepäck und eilt zu der Limousine, um es dort zu verstauen. Ich folge ihm in langsamen Schritten, ohne dazu aufgefordert werden zu müssen. Hier gibt es nichts zu sehen, weitere Beobachtungen sind sinnlos. Somit trete ich den letzten Teil meiner Reise an. Ich sitze allein im hinteren Teil des Wagens, der Reiseführer gesellte sich vor zum Chauffeur. Wir fahren über eine schmale Straße, hindurch durch den dschungelartigen Wald. Ich schenke ihm kein Interesse, betrachte mir meine Hände und bewege mich nicht. Die Fahrt endet, bevor ich mich durch Sinnieren quälen kann. Wieder kommt der Wagen zum Stehen und ich blicke auf. Neben mir erkenne ich einen prunkvollen Eingang, ein roter Teppich führt zu ihm. Zwei Portiers fanden ihren Platz zu seinen Seiten. Beinahe schon übertrieben edel und galant sind sie gekleidet, rot, gold, sie strahlen vor Sauberkeit und Disziplin. Ich mustere sie nur flüchtig, wie sie flink auf die Limousine zueilen und mir die Tür öffnen. Ich steige aus. Das Gebäude jener Kureinrichtung wirkt in der Realität noch edler und nobler auf mich, als auf dem Flyer. Es ist wahrlich ein imposantes Gebäude, das den Anschein erweckt, aus den Träumen eines Kaisers geboren zu sein. Es ist unproportional geschnitten, hier und da ragen verschiedenförmige Terrassen und Balkone aus den hohen, ebenen Wänden. Vergoldete Geländer, selbst sie sind von unschätzbarem Wert. Ich erkenne ebenso breite Fensterfronten und Wölbungen. Das Gebäude wird von allen Seiten bestrahlt, der gepflegte Marmor glänzt im matten Licht. Vor dem Eingang wiegen sich zwei kleinere Palmen. Die Portiers begrüßen mich mit übertriebener Förmlichkeit, sie benehmen sich, als stünde eine Majestät vor ihnen. Ich kann diese Geste nicht schätzen und kehre ihnen den Rücken. Daraufhin tragen sie mein Gepäck und der Reiseleiter tritt an meine Seite, um mich meinen flüchtigen und desinteressierten Beobachtungen anzuschließen. Es bereitet mir keinerlei Probleme, sie vorschnell zu beenden. Ich gehe auf den Eingang zu, jene drei Männer folgen mir, als sähen sie in sich devote Diener. Einer der Portiers öffnet mir die große, aus Glas bestehende Tür und ich ziehe an ihm vorbei. Die harten Absätze meiner Stiefel schallen auf dem Marmor wider, als ich den Empfangssaal betrete. Er ist sehr groß, kunstvolle Säulen aus Marmor ragen auf der linken Seite vor den Wänden empor. Sie verbergen gemütlich erscheinende Sitzecken hinter sich. Die marmornen Wände zieren lediglich die geschwungenen und mehrfarbigen Muster des teuren Gesteins. Goldene Kronleuchter, die hoch an der Decke liegen, vermitteln der Halle eine angenehme Helligkeit. Viele Türen sind zu erkennen, in der Mitte des Saales führt eine breite Treppe hinauf in die erste Etage. Dort wird der Saal vorerst von einer runden Plattform unterbrochen, hinter deren Geländer sich außergewöhnliche Tische und Stühle befinden. Nur wenige Menschen sitzen dort. Gekleidet in lange seidene schwarze Mäntel, blättern sie in Zeitschriften oder gönnen sich einen teuren Drink. Sie alle werden auf mich aufmerksam, bedenken mich mit flüchtigen Blicken und wenden sich ihren Beschäftigungen zu. Auch ich zeige kein großes Interesse an ihnen, der Reisebegleiter führt mich zur Rezeption, die rechts liegt. Der Anmeldetisch gleicht einem Tresen, erstreckt sich knapp durch den halben Saal. Hinter ihm stehen eine junge Frau und ein Mann. Erstere trägt eine säuberliche dunkelblaue Uniform und vertieft sich in einen Computer, der Herr ist in einen modischen Anzug gekleidet und bringt mir sofort Aufmerksamkeit entgegen. "Herr Kaiba." Er nickt mir anerkennend und höflich zu und auch die junge Frau blickt auf, um es ihm gleichzutun. "Es ist mir eine Ehre, Sie hier begrüßen zu dürfen." Ich erwiderte die Gesten nur knapp und mit der mir eigenen Gleichgültigkeit und bleibe stehen. Die Portiers stellen mein Gepäck ab und kehren in langsamen Schritten zu dem Eingang zurück. "War die Anreise nach Ihren Vorstellungen?" Der Mann lächelt routiniert und zieht einige Unterlagen hervor, die er mir über das glänzende Holz zuschiebt. "Ich hoffe doch, dass dem so war. Nun erwarten Sie zwei Wochen voller Entspannung und Erholung." Er redet weiter und ich höre ihm nicht mehr zu. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, das ich verspürte, als ich diesen Saal betrat. Ich weiß es nicht zu definieren, erkläre es mir vorschnell mit meiner typischen Verachtung allem gegenüber, das nicht perfekt zu sein scheint. Hier erlebe ich übertriebenen Luxus, von allen Seiten glänzt und strahlt es. Kein Staubkorn ist zu finden und die Einrichtung, die ich mir bisher betrachtet habe, passt zu dem Marmor, der allseits zu bestaunen ist. Dieses Gebäude grenzt an Perfektion, ja, doch die Menschen, die sich in ihm befinden, sind weit davon entfernt. Nicht nur Können kann zur Perfektion getrieben werden, nein, meiner Meinung nach, ist das Verhalten ebenso dazugehörig. Ich nehme einen glänzenden Füller entgegen, ziehe eine der Unterlagen hervor und setzte meine Unterschrift. Der Mann redet noch immer, er besitzt nicht die Höflichkeit des Reisebegleiters und ich hoffe, nicht viel Zeit mit ihm verbringen zu müssen. Ich schiebe ihm das Blatt zu, schlage meinen Mantel zurück und ziehe meine Geldbörse aus der hinteren Tasche meiner Hose. Kurz darauf reiche ich ihm eine der Kreditkarten und endlich schweigt er, um sich in einen Computer zu vertiefen. Er tippt schnell und ich wende mich zur Seite. Ein Page in einer ebenso blauen Uniform eilt die Treppe hinunter und nähert sich mir. In dieser Sekunde erhalte ich die Karte zurück und der Page bückt sich nach meinem Gepäck. "Wünschen Sie sofort schlafen zu gehen oder verlangt es Ihnen nach einer Stärkung?" Ich greife nach den Unterlagen und danke mit einem leichten Kopfschütteln ab. "Nun gut." Das aufgesetzte Lächeln des Mannes hält an. Ich erkenne die Routine, die in ihm liegt. Ich selbst besitze solch eine Maske, brauche sie hier jedoch nicht zu benutzen. Hier kann ich sein, so wie ich bin. "Die Tagespläne liegen bei, Herr Kaiba. Von ihnen erfahren Sie alles. Der Page wird Sie in Ihre Suite führen. Ich wünsche Ihnen einen erholsamen Schlaf." Ich wende mich ab und folge dem Pagen, der mein Gepäck trägt. Er steuert direkt einen der drei Fahrstühle an, die sich direkt neben der Empfangsstelle befinden. Er betätigt eine Taste und ich bleibe stehen. Ich unterteile reiche Menschen in drei Kategorien... Die einen besitzen unvorstellbaren Reichtum, den sie geerbt oder selbst verdient haben. Und sie suhlen sich in ihrer Eitelkeit wie Schweine im Schlamm. Ihnen ist nichts gut genug und ich verachte sie, denn sie sind verkommene Wesen, weit entfernt von der Realität und auch Menschen sind sie in meinen Augen nicht mehr. Auf sie werde ich hier treffen, dessen bin ich mir sicher. Die Türen des Fahrstuhls öffnen sich, ich trete ein und der Page folgt schweigend mit meinem Gepäck. Die Kabine ist mit Spiegeln ausgestattet, wodurch sie größer erscheint, der Boden besteht aus Marmor, die Wände und die Decke aus schimmerndem Ebenholz. Die anderen besitzen ebenfalls Reichtum, doch im Gegensatz zu der ersten Kategorie der Reichen, ist ihnen diese Tatsache nicht von überaus großer Wichtigkeit. Es existieren Dinge in ihrem Leben, die bei weitem bedeutsamer sind. Solch ein Luxus, wie er hier vorzufinden ist, kommt in ihrem Leben nicht übermäßig vor, wird jedoch auch nicht ausgelassen. Er gehört einfach dazu, ohne dass ihm viel Aufmerksamkeit gewidmet wird. Zu dieser Kategorie zähle ich mich selbst. Mir sind meine Perfektion und mein Können wichtig, das Geld ist lediglich eine Definition des Erfolges und trägt dazu bei, die Ziele zu erreichen. Ich weiß nicht, ob ich hier Menschen treffen werde, die mir gleich sind. Gleich, was diese Einstellung, nicht etwa mein Können, betrifft. Mein Können erreichen nur wenige. Und die, die es besitzen, sind doch ganz andere. Ich betrachte mir die Zahlen auf dem Display, die sich schnell ändern. Eins, zwei, drei, vier... die Kabine hält und die Türen öffnen sich. Der Gang, in den ich nun hinaustrete, besteht ebenfalls auf purem Marmor. Er ist breit, ein roter Teppich ziert den Boden. An den Wänden hängen teure Gemälde und gepflegte Pflanzen verleihen der Umgebung eine angenehme Atmosphäre. In manchen Augen mag dieser Gang kahl und trist erscheinen, doch trotz der wenigen Schmuckstücke und Verzierungen, ist auch er geprägt von großem Luxus. Der Page biegt nach rechts und ich folge ihm. Die Reichen der letzten, der dritten Kategorie, sehen folgendermaßen aus... Sie besitzen Reichtum, haben jedoch eine Abneigung dagegen. Sie unterscheiden sich immens von den ersten beiden und dennoch verachte ich auch sie. Sie können nichts für ihren Reichtum, haben ihn nicht verdient. Und doch ist er allgegenwärtig. Die sind die einzigen Menschen, die ich hier nicht antreffen werde. Sie geben das Geld nicht für etwas Derartiges aus, sie fühlen sich hier nicht wohl. Nach einem nicht all zu langen Weg hält der Page vor einer Tür inne, zieht eine Karte hervor und zieht sie durch das automatische Türschloss. Flink greift er nach dem Knauf, öffnet die Tür und tritt bei Seite. Ich zögere nicht, ziehe an ihm vorbei und betrete die Suite, in der ich nun zwei Wochen leben werde. Sie erinnert mich an die Empfangshalle. Alles hier besteht aus Marmor. Vor mir tut sich ein sehr großer Raum auf, der in zwei höher liegende Ebenen geteilt ist. Sie sind mit einer oder mehreren Stufen zu erreichen. Auf der ersten Ebene, der, auf der ich mich nach dem Eintreten befinde, steht ein Tisch und mehrere Stühle, außerdem eine Vitrine, auf der eine goldene Schale steht, gefüllt mit den außergewöhnlichsten Früchten. Ich stehe auf einem blauen, kunstvoll gewebten Teppich. Auf der zweiten, der größten Ebene, erkenne ich eine große Sitzecke. Zwei Sofas, zwei Sessel, mehrere Sitzkissen. Sie sind zu einem Halbkreis aufgestellt, in der Mitte ein flacher Tisch, im typisch japanischen Stil. Gegenüberliegend ein großer flacher Fernseher, der in der Marmorwand eingearbeitet ist. Auf der dritten Ebene, die ebenfalls einen Halbkreis beschreibt, steht eine hölzerne Bar. Hinter ihr befinden sich verspiegelte Regale, in denen viele Flaschen und Gläser stehen, vor ihr zwei Barhocker. Zu ihren Seiten erstrecken sich große Fenster. Während ich mich umsehe, stellt der Page mein Gepäck ab und legt die Karte deutlich sichtbar auf die Vitrine. Somit verbeugt und verabschiedet er sich. Ich schaue ihm nicht nach, als er meine Suite verlässt. Ich wende mich ab und steure auf die Tür zu, die sich in großer Entfernung von der Vitrine befindet. Hinter ihr liegt das Schlafzimmer. Es ist ein kleinerer Raum. Dunkelblaue Wandlampen schenken ihm einen beruhigenden Schein. Das Bett ist mit meinem zu vergleichen. Es ist sehr groß und quadratisch, die Decke und die vielen Kissen sind mit weißer Seide bezogen. Sonst gibt es zwei Nachtschränke und zwei große Kleiderschränke, Teppiche und einen Spiegel. Ich schaue mich nur kurz um, bevor ich den Raum wieder verlasse. Als ich in den Aufenthaltsraum zurückkehre, schenke ich der Einrichtung keinerlei Aufmerksamkeit mehr. Ich ziehe meinen Mantel aus, hänge ihn über die Lehne eines Stuhls und steige zur Bar hinauf. Ich weiß nicht, ob ich es bereue, mich für diesen Aufenthalt entschieden zu haben. Von dem übertriebenen, allgegenwärtigen Luxus lasse ich mich nicht blenden und zufrieden stellen. Er ist unbedeutend, wichtig ist der Grund meines Hierseins. In langsamen Schritten geselle ich mich hinter die Bar, greife zielstrebig nach einer der Rotweinflaschen und stelle sie auf dem Tresen ab. Ich ziehe eines der Schubfächer auf, suche kurz nach einem Korkenzieher und öffne die Flasche. Und als ich mich nach einem geeigneten Glas umschaue, nehme ich ein Geräusch wahr und blicke kurz auf. Zwei Zimmermädchen, gekleidet in den typischen schwarz weißen Trachten, betreten meine Suite und verbeugen sich. "Dürfen wir uns um Ihr Gepäck kümmern, Herr Kaiba?" Fragt die eine. Ich antworte ihr mit einem gleichgültigen Nicken und wende mich meiner Beschäftigung zu. Sie tragen mein Gepäck in das Schlafzimmer und beginnen meine Kleidung einzuräumen. Ich schenke ihnen keine Beachtung, verlasse mit dem Glas die Barebene und lasse mich in einem der Sessel nieder. Die Zimmermädchen beenden ihre Aufgabe schnell und lassen mich allein. Doch durch ihr Verschwinden ändert sich nichts. Ebenso gut hätten sie umherlaufen können, gemeinsam mit zehn anderen. Um mich herum herrscht vollkommene Ruhe. Doch diese Ruhe habe ich auch in meiner Villa, wenn ich auf einem der Stühle sitze und schweige. Sie ist zu gewöhnlich, als dass ich sie genießen könnte. Der Wein ist exzellent, nur durch ihn verspüre ich eine zurückhaltende Zufriedenheit. Ich leere das Glas, ohne etwas zu tun, ohne an etwas zu denken, lege ich mich nieder und schlafe. Wie immer schlafe ich ruhig. Ich bewege mich kaum und der Rest der finstren Nacht zieht flink an mir vorbei. Das Bett ist bequem, mein eigenes ist es auch, und auch daheim stehe ich sehr früh auf. Diese Routine hat sich in mich gefressen und kein Wecker ist von Nöten, damit ich erwache. Wie immer vergeude ich keinerlei Zeit, richte mich auf und erkenne die ungewohnte Umgebung. Ich schaue mich kurz um, mein Blick streift flüchtig eine Wanduhr und ich steige aus dem Bett. Es ist sechs Uhr, keine Minute zu früh, keine Minute zu spät. Seit Jahren stehe ich um diese Uhrzeit auf. Vorerst bleibe ich stehen, reibe meinen nackten Bauch und fahre mir durch das Haar. So beginnt also der erste Tag der Kur. Ich bin neugierig auf die Angebote, die man mir machen wird. Ich verlasse das Schlafzimmer. Vor den Fenstern meiner Suite liegt bereits die morgendliche Helligkeit des Tages. Gleißendes Licht fällt durch das dünne Glas und wirft interessante Formen auf den marmornen Boden. Ich lasse den Raum hinter mir, steure auf die Tür zu, hinter der das Bad liegen muss. Ich öffne sie und werde nicht enttäuscht. Das Bad ist bei weitem größer als das Schlafzimmer. Und hier fand man die Gelegenheit, alles aus Marmor bestehen zu lassen. Die Waschbecken, die Eckbadewanne, die Dusche, Ablagen... selbst Fächer sind in den Wänden eingearbeitet. Ich gehe auf den Spiegel zu, stütze mich auf einem der Waschbecken ab und betrachte mir den jungen Mann, wie jeden Morgen auch. An seiner Miene ist keine Veränderung auszumachen. Wie zu Eis erstarrt wirkt sie, emotionslos, selbst mein Gesichtsausdruck ist vor allem und jedem verschlossen. Die Augen, die effektivste Abwehrwaffe, die ich besitze. Ich musterte sie streng, beuge mich etwas nach vorn und betrachte mir die feinen Strukturen der blauen Pupillen. Lange stehe ich dort, bevor ich mich abwende und mich entkleide. Ich dusche. Die Kabine besteht lediglich aus drei marmornen Wänden, das Wasser wird durch eine kleine Anhöhe gehindert, sich im gesamten Zimmer auszubreiten. Ich dusche kalt, um auch die letzte Benommenheit des Schlafes aus meinem Körper zu verbannen und als ich mit einem Handtuch um der Hüfte das Bad verlasse, werde ich auf die Unterlagen aufmerksam, die noch immer auf der Vitrine liegen. Ich greife nach ihnen, besorge mir ein Glas Wasser und lasse mich in einen der Sessel sinken. Ich überfliege die Tagespläne, gehe die Angebote durch. Massagen, Erholungsbäder, Saunen, Aufenthalte in Whirlpools, einer der Schwimmhallen und Thermalbädern, sportliche Betätigungen, Ernährungsberatungen und Solarien. Die freie Entscheidung steht mir offen, ich kann alles tun und das so oft ich will. Ein strenger Plan besteht nicht und ich bin mir nicht sicher, ob ich diese Tatsache mit Freude auffassen soll, denn ich benötige vorgeschriebene Pläne. Ich bin an die Routine gewöhnt, noch nie stellte ich mir einen anderen Plan auf. Ich lasse die Unterlagen sinken, sehe mich um und hebe das Glas zum Mund. Das Wasser ist kühl, ich genieße jeden Schluck. Kurz darauf blättere ich um. Selbst die Entscheidung, wann ich frühstücken will, wird mir überlassen. Frühstücken? Ich frühstücke nie. Ich kann schlafen so lange ich will, ich könnte selbst den Tag durchschlafen, ohne etwas zu verpassen oder gar gerügt zu werden. Und selbst des Nachts habe ich das Recht auf die Angebote. Ich muss nicht schlafen, ich kann mich aufhalten wo ich will und sogar das Gebäude für mehr als einen Tag verlassen! Wie soll ich damit umgehen, dass jede Entscheidung in meine Hände gelegt wird?! Zu viele Freiheiten behagen mir nicht. Ich schließe die Augen und brumme erschöpft. Was mache ich hier? ~*to be continued*~ Kapitel 5: ~Begegnungen~ ------------------------ ~*Kapitel 5 – Begegnungen*~ Ich bleibe nicht lange sitzen, bald erhebe ich mich und kehre in das Schlafzimmer zurück. Dort öffne ich einen der Schränke und erspähe einen schwarzen Yukata, einen Baumwollkimono. Ich greife nach ihm und betrachte ihn mir. Die Kleidung ist das einzige, das vorgeschrieben ist. Bequem soll es sein und das ist es sicher auch. Ich bin einverstanden, schlüpfe in Shorts und streife den Yukata über. Der Stoff ist angenehm auf der Haut, weich und wärmend. Ich schnüre ihn eng um meinen Körper, binde auch den langen Gürtel und werde daraufhin auf Wajaris aufmerksam, die in einem der Fächer ihren Platz fanden. Es sind zwei Paare. Je für den Aufenthalt innerhalb und außerhalb des Gebäudes geeignet. Ich greife nach den Ersteren und schlüpfe hinein. Je nach Nationalität werden verschiedene Kleider angeboten. Ich bin Japaner, gekleidet im typisch japanischen Stil. Ich kaure mich vor den Koffer, öffne die Vordertasche und greife nach der Zigarettenschachtel. Anschließend verlasse ich den Raum, verlasse die Suite und trete auf den Flur hinaus. Die Tür schließe ich, die Karte lasse ich sinken und dann schaue ich mich um. Ich möchte mich hinsetzen, an einem Ort, an dem ich nicht allein bin. Den Weg zum Fahrstuhl finde ich problemlos und schnell gelange ich so in das Erdgeschoss, in den Empfangssaal. Und dort erlebe ich die erste Unerfreulichkeit des Tages. "Sie sind bereits wach, Herr Kaiba?" Der Mann, der stets hinter der Rezeption steht, wird auf mich aufmerksam. Jenes Lächeln erscheint und ich widme ihm einen warnenden Blick. Ich bin nicht auf ein Gespräch aus, noch weniger auf geheuchelte Freundlichkeit. Nun, ich mache mir nicht erst die Mühe, sehe keinen Grund dazu. Entweder übersieht er meine Abneigung oder er ist im Besitz eines sturen Verlangens, auf sich aufmerksam zu machen. Wortlos setze ich meinen Weg fort, der zur Treppe führt. "Herr Kaiba." Er folgt mir und ich halte gezwungenermaßen inne. Störungen, die bereits am frühen Morgen auftreten, begegne ich mit großem Hass und eben solcher Verachtung. Durch die Umstände bin ich derzeit sehr reizbar. Ich schließe die Augen und der Mann erreicht mich. Nun setzt er eine flehende und behutsame Maske auf, tritt händeringend vor mich. "Sie teilten uns noch nicht mit, wann Sie gedenken, Ihr Frühstück zu sich zu nehmen", meint er. "Bevorzugen Sie tagtäglich eine gewisse Zeit? Möchten Sie sofort frühstücken? Ich lasse es anrichten, wenn Sie es möchten." Der triftige Grund, den er für diese Störung vorzuweisen hat, beschwichtigt mich und ich betrachte ihn mir nachdenklich. Ich grüble, er wartet geduldig und letzten Endes antworte ich: "In einer Stunde." Sofort nickt er. "Ich habe mich um vielerlei Dinge zu kümmern. Ich nahm mir vor, Sie aufzusuchen, sobald Sie aufgestanden sind. Doch da ich Sie nun hier antreffe... hätten Sie etwas dagegen, mir nun Auskunft über Ihre besonderen Wünsche zu geben?" Ohne auf eine Antwort zu warten, zieht er einen Notizblock und einen Füller hervor. Ich starre ihn an und er spricht sofort weiter. "Sind Sie Diabetiker? Vegetarier? Veganer? Allergiker? Haben Sie eine Abneigung gegen verschiedene Lebensmittel? Befinden Sie sich in einer Diät? Benötigen Sie besondere Speisen?" Er lässt den Block sinken und blickt mich an. "Frühstücken Sie überhaupt?" Ich hole Atem, schließe kurz die Augen und schüttle den Kopf. "Es genügt, wenn man es essen kann", murmle ich dann, bevor ich an ihm vorbeiziehe und die Treppe besteige. "Herr Kaiba", höre ich ihn rufen. "Ich bitte Sie, so geht das doch nicht." Ich gehe weiter und als ich die Plattform erreiche, verstummen seine Rufe. Ich achte nicht auf ihn, es ist mir gleichgültig, ob er nun dort unten kauert und in seiner Verzweiflung versinkt. Ich erlebe die erste Kur meines Lebens und werde dafür Sorge tragen, dass ich während dieser vierzehn Tage unter keinerlei Störungen und geistigen Anstrengungen zu leiden habe. Und dieser Mann... von ihm werde ich mich wohl fernhalten. Ich lasse mich an einem der kleinen runden Tische nieder, nahe dem Geländer, so dass ich hinunterschauen kann. Ich habe gern den Überblick; Vorgänge in meinem Umfeld sollen nicht unbemerkt bleiben. Ich lehne mich zurück, lege die Zigarettenschachtel und die Code-Karte auf dem Tisch ab und schließe kurz die Augen. Und es vergeht nur eine kurze Zeit, bis ich die nächste Störung erfahre. Ein Luftzug erfasst mich und ein Mann bleibt neben mir stehen. "Guten Morgen, Herr Kaiba. Möchten Sie etwas trinken?" Meine Hand tastet nach der Zigarettenschachtel und noch während ich sie zu mir ziehe, nicke ich. "Einen Kaffee. Schwarz." Er nickt. "Welche Marke?" "Egal", erwidere ich und er geht. Über diese anstrengende Genauigkeit schüttle ich den Kopf und hebe eine Zigarette zum Mund. Ich hoffe inständig, dass es nicht so bleibt. Angenehm wäre es, das man jeden Wunsch von meinen Augen abliest, ohne dass ich etwas zu sagen brauche. Ich entzünde den Tabak, nehme einen langen Zug und strecke die Beine von mir. Anschließend schaue ich in den Saal hinunter. Jener Mann eilt umher, er telefoniert, tippt an dem Computer und führt eine temperamentvolle Diskussion mit der beistehenden jungen Frau. Und während ich mir diese abscheuliche Hektik betrachte, bereue ich meinen Entschluss, an keinen abgelegenen und ruhigen Ort zu verschwinden. Ich höre die Stimmen der Angestellten an der Rezeption, sehe ihre hastigen Handgesten und bald ertrage ich den Anblick nicht mehr und starre auf den Tisch. Der einzige Luxus, den ich bisher zu schätzen weiß, ist die Schnelligkeit, mit der man mir meinen Kaffee serviert und der bittere Geschmack des Getränks. Ich genieße jeden Schluck und für kurze Zeit verspüre ich eine leise Zufriedenheit. Auch der Lärm an der Rezeption verebbt bald und außer den schallenden Schritten herrscht eine angenehme Stille. Ich leere die Tasse schnell und der Kellner erscheint daraufhin, als hätte ich ihn gerufen. Beinahe wundert mich diese Tatsache und ich verlange nach einem weiteren Kaffee. Dieser trifft ebenso schnell ein und ohne dass sich es bemerke, zieht eine halbe Stunde an mir vorbei. Der aromatische Duft des Kaffees zieht mich dabei so in den Bann, dass ich auch nicht auf meine versteifte und unbequeme Haltung achte. Ich lasse die zweite Zigarette zum Aschenbecher sinken und werde auf einen Mann aufmerksam, der in ein schwarzes Gewand gekleidet ist, das einem Morgenrock ähnelt. In Pantoffeln betritt er den Saal und steuert auf die gegenüberliegende Seite zu. Ich tippe die Asche in den Aschenbecher, schabe mit den Zähnen über meine Unterlippe und wende mich ab. Das, was ich soeben gesehen habe, scheint der Stil der Amerikaner zu sein, die an dieser Kur teilnehmen. Er ist unverkennbar, Amerikaner sind mir sympathischer als alle anderen Menschen verschiedener Nationalitäten. Wieder nehme ich einen Zug, lege den Hinterkopf in den Nacken und blicke zum Kronleuchter auf. Durch meine Untätigkeit bin ich nicht nervös, auch Langeweile plagt mich nicht. Nur die Verspanntheit macht darauf aufmerksam, dass die Kur von Nöten ist. Und während ich mir den kunstvollen Kronleuchter betrachte, denke ich an meine Firma. Ich denke an mein Büro, an die Angestellten, mit denen mich nichts verbindet, außer der Tatsache, dass sie unter mir arbeiten. Ich denke an alles und obgleich es mir selbst vor den Vorstellungen graut, vermisse ich all dies nach dieser kurzen Zeit. Mein Aufenthalt hier ist zu außergewöhnlich, als dass ich es nicht tun könnte. Wieder schaue ich nach unten und erspähe fünf Zimmermädchen, die, beladen mit Handtüchern, Bettbezügen und Decken, durch den Saal eilen und in einem der Fahrstühle verschwinden. Der unsympathische Mann wendet sich einem Telefonat zu, nachdem er die Angestellten mit fahrigen Handbewegungen zur Eile angetrieben hat. Es liegt etwas Undefinierbares in der Luft, ich spüre eine äußergewöhnliche Eile und Hektik. Jener Mann lässt seinem Temperament freien Lauf, beugt sich hastig über den Tresen und schaut zur Tür. Dann schüttelt er den Kopf, fährt sich über die Stirn und beginnt lauter zu sprechen, noch lauter, bis es erneut störend auf mich wirkt. Unfreiwillig erfahre ich, dass es sich um eine Unregelmäßigkeit des Planes handelt. Etwas Unvorhergesehenes, wie er meint. Ich runzle die Stirn, drücke die Zigarette aus und verschränke die Arme vor der Brust. Ich bin kurz davor, aufzustehen und diesen Ort zu verlassen. Die Atmosphäre missfällt mir. Ich betrachte mir die Tasse, greife nach einem langen Zögern nach ihr und nehme die letzten wohltuenden Schlücke. Während ich die Tasse sinken lasse, nehme ich erneut Bewegungen in dem Saal wahr und schließe unzufrieden die Augen. Ich rümpfe die Nase, reibe mir die Stirn und stelle die Tasse auf den Tisch zurück. An diesem Ort bin ich weit von Entspannung entfernt! Als sich die Eingangstür öffnet, ertönt ein leises Geräusch, ich schenke dem keine Beachtung und lasse den Kopf sinken. Kurz darauf nehme ich Schritte wahr. Es sind viele Schritte, sie hallen wider, beinahe wirkt es wie das Getrabe mehrerer Pferde. Meine Pupillen schweifen zur Seite und ich erblicke eine große Schar von Männern, die sich auf die Rezeption zubewegt. Ein wahres Getümmel aus schwarzen Anzügen und Krawatten, zwanzig sind es wohl an der Zahl. Langsam richte ich mich auf, vertieft in eine Musterung, die durch Neugierde und Verwunderung entstand. Wer sind diese Menschen, frage ich mich. Sie wirken wie eine noble Gesellschaft aus erfahrenen und strengen Geschäftsmännern. Ihre Mienen erkenne ich nicht, doch dies ist nicht nötig. Ich werde auf einen Mann aufmerksam, der die Gruppe anführt, stolz aufgerichtet und in großen Schritten. Er ist von starker stämmiger Statur, gekleidet in einen Smoking, hebt er sich von den anderen ab. Um seinen Hals ist locker ein weißer Seidenschal geschlungen. Ihm schenke ich einen besonderen Teil meiner Aufmerksamkeit und ein zuckender Schmerz durchfährt meinen Leib, als ich mir einer Tatsache bewusst werde. Dieser Mann. Seine Gangart, das arrogante Auftreten und die stolze Haltung. Er erinnert mich an den Mann, der einen bedeutsamen Teil an meinem Leben beitrug. Er erinnert mich an den Mann, der sich mein Stiefvater schimpfte. Er erinnert mich an... Gousaboru. Ich starre ihn an. Er ist sein genaues Ebenbild, ich muss ihn nicht ausführlicher mustern, um mir dessen bewusst zu werden. Die Männer folgen ihm untertänig und halten inne, als er vor der Rezeption stehen bleibt. Er wird anders begrüßt. Der Mann, der die Schuld an den öfter vorkommenden Störungen trägt, verbeugt sich mehrmals, sein automatisches Lächeln schnellte hervor, sobald die Gruppe den Fuß in diesen Saal setzte. Er muss eine hohe Persönlichkeit sein, dessen bin ich mir sicher. Durch ein arrogantes Kichern macht die Frau auf sich aufmerksam, die sich um seinen Arm klammert. In hohem Maß übertrieben erscheint ihre Liebe für den stolzen Mann. Ebenso übertrieben ihr Auftreten. Einjede ihrer Bewegungen strahlt eine solche Eitelkeit aus, dass ich sie binnen weniger Sekunden hasse. Protziger Schmuck verstärkt dieses Gefühl. Goldketten um Hals und Handgelenken, schwere Ohrringe und mehrere Ringe an den Fingern, die sich so vernarrt in den Stoff des Anzuges klammern. Oh, ich kenne diese Frauen. Sie sind die, die man die "neuen Frauen" nennt. Sie lieben die Männer und noch mehr lieben sie deren Geld. Für diese Lebewesen habe ich nichts als Verachtung übrig. Ein ernsthaftes Gespräch beginnt zwischen dem Mann der Rezeption und dem hohen Gast. Ich verstehe ihre Worte nicht, denn sie sprechen nicht außergewöhnlich laut. Ich verfolge das Szenario weiterhin. Sind diese Gäste der Grund für die "Unregelmäßigkeit des Planes"? Nach kurzer Zeit wendet sich der Mann im Smoking um, ich spüre deutlich, wie sein scharfer Blick durch die Reihen der stehenden Männer schweift. "Josem!" Seine gewaltige Stimme erhebt sich gewaltig, hallt durch den Saal und lässt selbst mich erschaudern. Ich hegte stets Respekt vor Gousaboru, die Stimme war das einzige, das mich übertraf. Ich blinzle, atme tief durch und erspähe einen jungen Mann, der sich nun aus der Menge löst. Was die Kleidung anbelangt, hebt auch er sich von den Männern ab. Er trägt eine graue Kaschmirhose und ein schwarzes Seidenhemd. Auf seiner Nase sitzt eine Sonnenbrille, die Hände hält er in den Hosentaschen verborgen. Er wirkt gelangweilt und lustlos, so wie er nach vorn geht und in sicherer Entfernung zu jener Frau stehen bleibt. Der Mann wendet sich bereits wieder seinem Gesprächspartner zu. Nachdenklich drehe ich mich im Stuhl. Meine Hand nähert sich der Tasse, ich rücke an ihr, drehe sie. Und ich blicke auf, als ein Page an mir vorbeieilt, die Treppe hinab läuft und nachdem er einen respektvollen Bogen um die Männer nahm, durch den Eingang verschwindet. Meine Augen folgten ihm, bis er die Treppe betrat, nun richten sie sich wieder auf die Tasse. Unten wird weiterhin diskutiert und ich grüble, wohin ich mich zurückziehe, nachdem ich gefrühstückt habe. Kurz darauf werde ich auf den Pagen aufmerksam, der mit einem großen Koffer zurückkehrt und in der Nähe der Gruppe wartet. Die Frau kichert, der hoch gewachsene Mann spricht und der Jüngere steht dort und rollt mit den Schultern. Dann nickt der Mann hinter der Rezeption und sogleich kehrt Bewegung in die Gruppe zurück. Das augenscheinliche Oberhaupt wendet sich an den jungen Mann, die anderen Anwesenden machen sich gemächlich auf den Rückweg zur Tür. Die Frau betrachtet sich ihre Fingernägel, während ihr Gatte mit dem jungen Mann spricht. Seine Handgesten verraten mir, dass es sich nur um Vater und Sohn handeln kann. Der Sohn nickt ohne zu antworten und gleichzeitig wenden sie sich voneinander ab. In stolzen Schritten folgt der ältere Mann den anderen und verlässt das Gebäude, tänzelnd begleitet die Frau ihn. Der Jüngere jedoch steuert auf den Pagen zu und dieser bückt sich sogleich nach dem Koffer und geht los. Er nähert sich der Treppe, der junge Mann folgt ihm in schlendernden Schritten. Noch immer verbirgt er die Hände in den Hosentaschen, der Kopf ist gesenkt. Er lässt Stufe um Stufe hinter sich, bald wird er direkt an mir vorbeiziehen. Auch diese Art von Mensch ist mir bekannt. Verzogene, arrogante Söhne, denen nichts rechtzumachen ist. Verwöhnt und eingebildet sind sie allesamt, ihre Anwesenheit ist mir unerträglich! Sie zähle ich zu der ersten Kategorie der reichen Menschen. Der Kategorie, die den größten Teil meiner Verachtung besitzt. Eisig und verstohlen sind meine Augen auf ihn gerichtet, doch er blickt nicht auf. Erst als er kurz davor ist, das Ende der Treppe zu erreichen, verlässt eine seiner Hände die Hosentasche. Ein goldener Ring schmückt den Mittelfinger seiner gepflegten Hand. Lässig greift er nach der Mitte des Brillengestells und ebenso flink hebt er die Brille an, zieht sie über die Stirn und schiebt sie in das blonde Haar. Er lässt die Hand sinken, zielstrebig verschwindet sie in der Hosentasche und er blickt auf. Desinteressiert schweifen seine Augen durch die Umgebung... bevor sie sich direkt auf mich richten. Und ich halte den Atem an. Augenblicklich verliert sich all die Wut aus meinem Gesicht und beinahe schon schmerzhaft befällt mich das pure Entsetzen. Ich wage es nicht, mich zu bewegen, mein Mund öffnet sich, ohne dass ich auch nur auf den Gedanken komme, etwas zu sagen. Doch nicht nur ich reagiere perplex, nein, die braunen Augen des jungen Mannes mit den strohblonden Haaren weiten sich. Seine Schritte, mit denen er die Stufen hinter sich lässt, verlangsamen sich, bis er beinahe zum Stehen kommt. Das Entsetzen ist beiderseitig, ein kalter Schauer durchläuft fließend meinen Körper, ich spüre ein unangenehmes Zucken in meiner Halsgegend. Unsere Blicke bleiben aneinander hängen, es scheint, als würde auch die Zeit still stehen. Dieses unerwartete Geschehnis wirft mich aus der Bahn, ich verliere die Kontrolle, all meine Masken zerbröckeln binnen kürzester Zeit. Ich war nicht darauf vorbereitet, nun ist es geschehen und ich erlebe diese Tatsache mit einer solchen Betäubung, dass ich nicht fragen kann: Warum? Wieso? Es geschieht und ich werde nicht damit fertig. Der junge Mann schluckt, nicht ein einziges Blinzeln bringt er zu Stande, als er meinen Blick erwidert. Doch sein Körper scheint schneller darüber hinwegzukommen, als der meine. Er setzt sich wieder in Bewegung, lässt die nächste Stufe hinter sich und erreicht kurz darauf die Letzte. Er zieht an mir vorbei, seine Schritte wirken sicher, während sich in seiner Mimik unbeschreibliche Ungläubigkeit widerspiegelt. Ich sehe ihm nach, unsere Blicke haften aneinander, solange es möglich ist, dann reißt er sich los und indem er mir den Rücken zukehrt und in einem der Gänge verschwindet, zerreißt er gleichermaßen die Atmosphäre, in der keine Uhr tickt, in der kein Puls schlägt. Er zerreißt sie und ich schnappe nach Luft, als tauchte ich aus dem Meer auf. Ich atme schnell, meine Gesichtszüge zucken und ich starre noch immer auf die Ecke, hinter der er soeben verschwunden ist. Ein Trugbild! Es kann nichts anderes als ein Trugbild gewesen sein! Ich rutsche im Stuhl nach vorn, meine Hand findet meine Stirn und reibt sie. Der Schock verankert sich in meinem Körper, frisst sich durch all meine Glieder und nachdem ich die Hand wieder sinken gelassen habe, versteinere ich in meiner Haltung und stoppe meinen Atem. Was tut Katsuya Jonouchi in der nobelsten Kureinrichtung der Welt?! Ich bleibe sitzen und immer wieder erwische ich mich dabei, wie ich den Blick auf jene Ecke richte. Soeben sah ich ihn noch... den strohblonden Schopf. Soeben sah ich ihn noch... Katsuya Jonouchi... und dennoch will ich mir nicht eingestehen, dass wirklich er es war! Es ist mir unbegreiflich, ich kann es mir nicht erklären. Ich starre auf die Ecke und von einer Sekunde auf die andere durchfluten Gedanken und Fragen beinahe schon schmerzhaft und störend meinen Kopf. Es sind zu viele, als dass ich mich einer einzigen zuwenden könnte. Ich bin verwirrt, Katsuya Jonouchi raubte mir lediglich mit seinem Erscheinen die Kontrolle über meinen Körper und die Sinne. Erst nach langer Zeit gelingt es mir, mich loszureißen, mich in die mysteriöse Realität zurückzuquälen. Und ich empfinde nichts als Verstörung. Keine Wut, keine Verwunderung. Ich habe nicht damit gerechnet, ihn je wieder zu sehen. Ich wünschte mir bereits, dass es nicht vorkäme. Ich habe ihn aus meinem Leben gelöscht, so wie ein Dokument aus einer Datei. Er war fort und nun ist er zurückgekehrt. "Herr Kaiba!", vernehme ich plötzlich eine aufgeregte Stimme. Und somit stoße ich auch den Rest der Benommenheit von mir und wende mich zur Seite. Der Mann von der Rezeption... winkend eilt er auf die Treppe zu. Ich sehe ihn nur kurz an und mein Körper handelt aus einem neu erlangten Reflex. Ich greife nach der Zigarettenschachtel, nach der Karte, erhebe mich und gehe, bevor er mich erreicht. Ich kann mich nicht auf ihn einlassen, soeben verstricke ich mich in einen Kampf mit mir selbst. Ich höre ihn noch einmal rufen, bevor ich um eine Ecke biege und in die Kabine eines Fahrstuhles trete, die offen steht, als wisse sie von meiner Flucht, als wolle sie mir Schutz gewähren. Und ebenso schnell schließt sich die Tür. Ich drücke eine Taste, irgendeine, es ist mir gleich. Ich möchte nur weg. Die Kabine setzt sich in Bewegung, ich wende mich zur Seite, zu einem der Spiegel. Ausdruckslos werde ich angestarrt, ausdruckslos betrachte ich mir das blasse Gesicht des jungen Mannes, der reglos dort steht und nicht weiß, was er denken soll. Er hebt die Hand, stockend bewegt sie sich durch den brünetten Schopf und verbleibt auf dem Nacken. Dann öffnet er den Mund, zwinkert und schüttelt stumm den Kopf. Obgleich die Vorkommnisse als Unplanmäßigkeit bezeichnet werden können, verschwende ich keinen Gedanke daran, erneut Fehler begehen zu können. In diesen Sekunden bin ich nicht mehr Seto Kaiba, jegliche Kontrolle verlor sich aus meinem Körper, doch die Verwirrung ist stärker, drückt diese Tatsache nieder, macht mich erst gar nicht auf sie aufmerksam. Die Kabine stoppt, die Türen öffnen sich und ich kehre dem Spiegel den Rücken zu. Ich weiß nicht, wohin ich gehe, welches Ziel ich zu erreichen gedenke, ich setzte nur einen Fuß vor den anderen und gehe einen Flur entlang. Den Blick nagle ich an den Boden, meine Hand hält das leichte Gepäck fest umklammert. Katsuya Jonouchi... ist er mir doch ein Mysterium? Ich glaubte, alles über ihn zu wissen... irrte ich mich? Ich, Seto Kaiba, ließ mich fehlleiten?! Ich bleibe stehen, hebe den Kopf und betrachte mir abwesend das Bild, das ich erblicke. Und es gelingt mir, einen Gedanken festzuhalten, mich inniger mit ihm zu beschäftigen. Ich habe das Recht dazu, Wut zu verspüren, wenn man es bedenkt. Jonouchi ist und war in meinen Augen nicht mehr als ein unbedeutendes Lebewesen, das seine Existenz fristet. Ein Leben, das sich von meinem extrem unterschied. Und unsere Leben wagte ich nie zu vergleichen, die Abgründe zwischen uns sind zu tief. Und wenn ich ihn ein weiteres Mal vor mir sah, wie er auf seinem Stuhl saß und seinem sinnlosen Treiben nachging und wenn ich dann begann, dennoch Gedanken dieser Art zu verfolgen, dann bot sich mir stets dasselbe Bild. Eine Schlucht... Ich, der auf dem höchsten Abhang steht und das warme, gleißende Licht der Sonne genießt und er... in der kalten Dunkelheit der Schlucht. Gelang es ihm, sich aus dieser Schlucht zu erheben? Sich mir zu nähern?! Er hat nicht das Recht dazu, denn er ist unbedeutsam, unfähig und primitiv! Wie könnte ich es ertragen, einen ebenbürtigen Menschen in ihm zu sehen?! Reichtum, Intelligenz und hohes Ansehen nenne ich mein Eigen. Kommt er mir in einer dieser Eigenschaften gleich? Ist es der Reichtum? Dies ist die einzig erkennbare Erklärung für seinen Aufenthalt in diesem Haus. Ist... er reich? Ich verdiente mein Geld, schlägt mir die hassvolle Erkenntnis entgegen! Ich verdiente es mir durch harte Arbeit und die exzellenten Fähigkeiten, die ich besitze! Doch er? Was tat er? Oft erfuhr ich unwillig von seinen Plänen, die er lauthals ausposaunte, obgleich er sich ihrer schämen müsste! Er ging Freizeitbeschäftigungen nach, die an Sinnlosigkeit nicht zu übertreffen waren! Er saß zu Hause, ohne sich zu bewegen, suhlte sich in Faulheit wie ein Esel im Dreck! Nein, er hat es nicht verdient, hier zu sein! Und sollte er auch Reichtümer besitzen und stolz auf sie sein... nie wird er den düstersten Grund der Schlucht verlassen! Nie wird er zu mir aufsteigen und im demselben Licht baden! Das ist jedoch nicht der einzige Gedanke, den ich fasse. Ich drehe mich zur Seite, betrete den nächsten Flur. Würde ich die Lust verspüren, mich mit Katsuya Jonouchi zu befassen, hätte ich es bereits getan. Doch mir fehlt die Zeit, gleichermaßen werde ich mich nicht auf seine Stufe hinabgesellen. Der Hass ist eine der Schranken, die mich zurückhält. Es hat sich nichts geändert. Materialismus verachte ich. Jonouchi mag Geld besitzen, Verstand kann er sich jedoch nicht erkaufen. Mehr als Reichtum bleibt ihm letzten Endes nicht. Arroganz verachte ich. Seine Schritte... nicht die Schritte eines unbegabten Schülers, nein, die Schritte eines verzogenen Erben! So sehe ich sie, nicht anders. Ganz gleich, wer er sein mag - mein Hass ist nicht vergänglich. Infolge dieser Einsichten sehe ich mich nicht dazu gezwungen, ihm in der nächsten Zeit Beachtung zu schenken. Ich werde mich auch heute nicht mit ihm befassen. Kurz war er entschwunden, nun kam er wieder. An meinem Leben ändert sich nichts. Der Bastard war und ist nun wieder gegenwärtig. Meine Grübeleien widme ich nur Dingen, die von großer Wichtigkeit sind und mir Erfolge bringen. Jonouchi ist nichts davon, verschafft mir nichts davon. Meine Gedanken sind mir zu teuer. Ich bin ein geschäftiger, ernsthafter Mann, meine Würde ist mir ein Heiligtum, hinzukommend bin ich hier, um Erholung zu finden. Katsuya Jonouchi besitzt nicht die Fähigkeit, mich an diesem Vorhaben zu hindern. Nein, diese Fähigkeiten besaß er noch nie. Ich schüttle den Kopf, um mich von dem Sinnieren loszureißen und mustere meine Umgebung. Ich stehe in einem großen Vorraum. Viele Türen knüpfen an ihm an, hie und da verstecken sich gemütliche Sitzecken. Auf dem Marmorboden erstreckt sich ein kunstvoller Teppich, ich betrachte ihn mir nur flüchtig, bevor ich auf ein vergoldetes und geschmücktes Schild aufmerksam werde, das über einer Tür prangt, die sich von ihrer Größe von den anderen unterscheidet. Das Ziel, an dem ich angelangt bin, ist der Speisesaal. Ich blicke mich um und gehe auf ihn zu. Ich werde frühstücken. Das soeben Erlebte verlangt nach einer Ablenkung. Ich umfasse die schwere Klinke, drücke sie hinab und öffne die Tür. Ein Saal tut sich vor mir auf, der mich beinahe in Staunen versetzt. Man glaubt nicht, dass ein solcher Saal existiert. Er erstreckt sich weit, acht Kronleuchter tauchen ihn in festlichen Glanz. Runde Tafeln sind unterschiedlich voneinander entfernt, in ihm verteilt. Bedeckt sind sie mit vielerlei Speisen. Pflanzen reihen sich an den Wänden entlang, in der Mitte des Saales plätschert ein marmorner Springbrunnen. Mir bleibt nur kurze Zeit für die Musterung, denn ein Kellner in einer säuberlichen weißen Uniform, tritt an mich heran. "Guten Morgen, Herr Kaiba. Wünschen Sie zu frühstücken?" Ich erwidere seinen Blick nur flüchtig und nicke. "Folgen Sie mir bitte, es ist bereits angerichtet." Er führt mich durch den Saal, vorbei an besetzten oder noch kahlen Tischen, vorbei an Teilnehmern der Kur, die in ihren Roben vor gefüllten Tellern sitzen. Blicke treffen auf mich, haften an, und lösen sich kurz darauf von mir. Das Desinteresse ist beiderseitig. Eitle Damen rücken an vergoldeten Brillen, Diamanten glitzern an ihren knochigen Fingern, hakige Nasen, verzerrte Lippen. Augen, die beweisen, dass von der Realität nichts mehr gespürt wird. Ich halte mich nicht gern unter ihnen auf, ihre Gesellschaft ist mir lästig! Wir erreichen einen gedeckten Tisch, der Kellner zieht mir den Stuhl zurück und tritt zur Seite. Ich lasse mich nieder, ohne auf die Speisen zu achten, rücke an dem Yukata und lehne mich zurück. "Entspricht es Ihren Vorstellungen?", erkundigt sich der Kellner sogleich. Die übertrieben Fragen zur perfekten Verwöhnung sind störend, ich winke ihn fort und er befolgt meinen Befehl schweigend. Ich sobald ich alleine bin und mich wohler fühle, schenke ich mir Kaffee ein und nippe an der Tasse. Erst dann werde ich auf die Speisen aufmerksam. Nun, sie reichen für vier Männer stattlicher Statur, die Tage mit Fasten zubrachten. Zu viel für mich, der sich morgens mit wenigen Schlucken Wasser und einer Zigarette zufrieden gibt. Übertriebener Luxus missfällt mir, denn er ist sinnlos. Und zufrieden wäre ich auch mit weitaus weniger. Ich stelle die Tasse ab, strecke die Hand nach einer Obstschale aus und löse eine Weintraube von dem Stängel. Während ich sie unentschlossen im Mund bewege, werde ich auf einen korpulenten Mann aufmerksam, der an einem Tisch, nicht weit von mir, Platz nahm. Eine Schale köstlichen Bratens hat er zu sich gezogen. Er beugt sich über sie, schmatzt und benutzt die Hände als Besteck. Ich runzle die Stirn. Er ist Italiener und er ist ein Mafiosi, das erkenne ich sofort. Nimmt diese Einrichtung selbst Mörder und Verbrecher auf? Ich wende mich ab, denn es hat mich nicht zu interessieren. Der Kaffee und wenige exotische Früchte sind das einzige, das ich mir in den nächsten Minuten schmecken lasse. Nebenbei lausche ich unfreiwillig dem Schmatzen des Italieners, auch verschnupftes Räuspern der hochnäsigen Damen dringt an meine Ohren. Morgen werde ich in meiner Suite frühstücken. Ein weiteres Mal öffnet sich die große Tür und sogleich kehrt Bewegung in den Saal zurück. Einjeder der Anwesenden blickt auf, um auch diesen neuen Gast mit verzogener Strenge zu mustern. Und auch ich blicke kurz auf. Es ist kein anderer als Jonouchi, der nun eintritt. Ohne zu zögern macht sich der Kellner auf den Weg zu ihm und währenddessen blickt sich der junge Mann um. Er betrachtet sich den Springbrunnen, hebt das Gesicht auch zur Decke, um die Kronleuchter zu bestaunen - er ist in den amerikanischen Stil gekleidet. Das lange schwarze Gewand liegt straff um seinen Leib, die Pantoffeln wärmen seine Füße. Der Kellner erreicht ihn. Ich weiß, dass er seinen alltäglichen Spruch aufsagt. Und noch während sich seine Lippen bewegen, wende ich mich meinem Kaffee zu. Die anderen beobachten den Neuankömmling länger und inniger, ich weiß es. Durch seine Anwesenheit in diesem Saal ändert sich nichts, den Kaffee kann ich noch immer genießen, ebenso die kurzzeitige Stille, die sich auflöst, sobald der Kellner Jonouchi zu dem vorgesehenen Tisch führt. Nicht einmal dem schenke ich Beachtung. Das Schmatzen kehrt zurück, leise Geräusche ertönen und ich strecke die Beine aus und beginne über die heutige Planung zu grübeln. So schütze ich mich vor Grübeleien anderer Art. Weshalb der amerikanische Stil? Nicht von Bedeutung. Ich leere die dritte Tasse, erhebe ich nach einem halbstündigen Aufenthalt und verlasse den Tisch, der beinahe unberührt blieb. In langsamen Schritten durchquere ich den Saal. Ich beeile mich nicht, habe keinerlei Grund dazu. Wieder spüre ich, wie sich Blicke auf mich richten, raffe den Yukata enger und lasse mir von dem Kellner die Tür öffnen, der mir automatisch einen wundervollen und vor allen Dingen erholsamen Tag wünscht. Nun nehme ich mir vor, frische Luft zu tanken, bevor ich eines der Angebote wähle. Und Angebote muss ich wählen, um Ablenkung genießen zu können. Die Trennung von meiner Arbeit schmerzt mir. Die Gänge und Flure des Hauses sind unkompliziert gebaut. Ich finde schnell den Weg zu einer der Treppen und kehre in das Erdgeschoss zurück. Durch eine Tür gelange ich in den Empfangssaal, den ich durchquere, ohne mich von einem Zögern aufhalten zu lassen. Dieses Benehmen hat seinen Grund. "Herr Kaiba!" Der Mann hinter der Rezeption hebt die Arme, als ich kurz davor bin, den rettenden Ausgang zu erreichen. "Herr Kaiba, bitte warten Sie kurz!" Ich verlangsame meine Schritte, bleibe stehen und wende mich ihm langsam zu. Meine Miene verfinstert sich, die Wut erwacht in mir zu neuem Leben. Verbittert sehe ich ihn näher kommen und wieder bleibt er händeringend vor mir stehen. "Ihre Anmeldung erfolgte recht kurzfristig, Herr Kaiba. Der Leitung dieser Kur sind Ihre besonderen Wünsche unbekannt. Sind Sie bitte so freundlich und sagen mir, ob Sie Beschwerden oder Fragen an jemanden richten wollen? Verstehen Sie die Inhalte der einzelnen Angebote? Wissen Sie, dass nicht weit entfernt ein Privatstrand liegt, den Sie jederzeit benutzen dürfen?" Ich hole tiefen Atem, ein verlangendes Schaudern durchfährt meinen Körper, doch letztendlich hebe ich nur die Hand, hebe den Zeigefinger und räuspere mich leise. "Ich bin auf Erholung aus und ganz bestimmt dazu imstande, Fragen oder Beschwerden an jemanden zu richten. Ich richte Fragen an jemanden, niemand richtet sie an mich, haben Sie das verstanden?" Ich lasse die Hand sinken und der Mann öffnet den Mund, um zu antworten, was ich flink verhindere, indem ich fortfahre. "Sie allein tragen die Schuld daran, dass mir bisher keinerlei Erholung zukam! Und ich rate Ihnen, mich kein weiteres mal zu stören." Mit diesen Worten mache ich einen Bogen um ihn und führe meinen Weg fort. "Herr Kaiba", höre ich hinter mir die verzweifelte Stimme. "Ihre speziellen Vorlieben..." "Existieren nicht", antworte ich und verlasse das Gebäude. Eine gesunde Natur präsentiert sich mir dort. Sie ist schön zu betrachten und doch versetzt sie mich nicht in Bewunderung. Grün sind die langen Blätter der Palmen, stark ihre Stämme. Sauber der schmale Weg, der zu dem besagten Strand hinabführt. Die Portiers stehen still, nur flüchtig streifen mich ihre Blicke, bevor sie sich nach vorn richten. Ich schenke ihnen keine Beachtung, bleibe stehen und blicke mich um. Es ist sehr warm, meine Kleidung scheint dem Wetter perfekt angepasst. Eine milde Brise durchkämmt meinen Schopf und ich hebe die Hand, um die Strähnen zurückzustreifen, die mir in die Stirn fallen. Ich befinde mich wirklich an einem Ort, von dem vielerlei Menschen träumen. Und sicher könnten sie ihr Glück nicht glauben, wären sie hier. Ich jedoch, nun, es bedarf großer Umstände, um mich in Erstaunen zu versetzen. Langsam nehme ich die frische Luft in mir auf, verschränke die Arme und blicke auf. Ich mustere das Gebäude, am helllichten Tag ist die Beobachtung leichter. Weit oben befindet sich die große Terrasse, auf der man die vollendete Stärke der Sonne auf sich einwirken lassen und sich entspannen kann. Ich lege den Hinterkopf in den Nacken, um zur Kante des Daches aufsehen zu können. Soweit ich weiß, ist nichts dort oben, keine Liegen, nichts bietet den Besuchern der Kur dort Aufenthalt. Wieder wende ich dem Gebäude den Rücken zu. Ich kann nicht begründen, weshalb ich nun hier stehe. Möglich ist, dass ich all dem Trubel entgehen möchte. Hier spricht niemand mit mir und erkundigt sich nach meinen Wünschen, hier ist es still. Nicht lange bleibe ich an diesem Ort. Er bringt mir nichts, keine Einsichten, keine Erholung. Ich verlasse ihn, kehre in das Gebäude zurück und entscheide, mich für eines der Angebote herzugeben. Und das viel mehr gezwungen als freiwillig. Ich möchte nicht untätig stehen und gehen, so schnippe ich mit dem Finger und sogleich befinde ich mich in einer Kabine. Auf einer Liege lasse ich mich nieder. Der kleine Raum ist angenehm warm, ein Duft umgibt mich, der zu unauffällig und schwach ist, als das er mich stören könnte. Die Wände, sie sind sauber gekachelt, kunstvoll geschmückt, jedoch zu aufdringlich sind die Farben. Ich lege mich nieder, lege mich auf den Bauch und spüre das weiche Tuch unter mir, das straff über das Polster gespannt ist. Nur ein Handtuch dient mir als Bekleidung. Ich rücke nicht umher, so ist es bequem. Während die Masseuse ihre zierlichen Hände in den öligen Inhalt einer Schale eintaucht, betrachte ich mir die Muster. Ich achte nicht auf meine Umwelt, keine Neugierde besteht im Bezug auf die erste Massage meines Lebens. Ich warte und bald tritt die junge Frau neben mich. "Entspannen Sie sich", bittet sie, während sie das Haar aus meinem Nacken streift und die Hände auf meine Schultern legt. Ich zwinkere, ihre Hände beginnen sich zu bewegen, üben Druck auf meine Muskeln aus. Sie sind angespannt und hart. Dieses Muster, schon einmal sah ich es. Langsam verschränke ich die Arme unter meinem Kopf. Was ist es? Art Deco? Oder Jugendstil? Gern möchte ich darüber nachdenken, die Massage zieht mich nicht in ihren Bann. Die Bewegungen der Hände bringen nichts mit sich, das sich auch nur im Entferntesten mit Entspannung gleichsetzen ließe. Die Masseuse reibt meine Schultern, sie knetet härter, bearbeitet auch meinen Nacken und förmlich kann ich die Verzweiflung spüren, die sie in diesen Minuten empfindet. Sie ist der erste Mensch, der diese Stellen meines Körpers berührt, doch diese Tatsache ist von keiner Bedeutung für mich. Es sind kalte Berührungen. Hände auf meinem Rücken... ist das Entspannung? Ich spüre nichts, das ich nicht kenne. Nichts nehme ich wahr, das man als angenehmes Gefühl definieren könnte. Lange bearbeitet mich die junge Frau, verteilt Essenzen auf meiner Haut und verreibt diese mit großen Mühen. Viel versucht sie und doch ist es das Muster, das mich binnen dieser Minuten interessiert. Enttäuschung empfinde ich nicht, von Massagen habe ich mir nicht viel versprochen und diese Bestätigung tut mir gut. "Herr Kaiba." Sie löst die Hände von meinem Rücken, meine Augen tasten einjeden Zentimeter des Musters ab. "Verzeihen Sie... Sie sind zu verspannt, als dass eine Massage ihre Wirkung zeigen könnte. Wenn es Ihnen danach ist, gehen Sie schwimmen. Es ist die bewährteste Art, die Muskeln zu entspannen." Ich antworte ihr nicht, rolle mich auf die Seite und richte mich auf. Gut, ich werde schwimmen gehen. Wie gleichgültig mir das alles doch ist. Ich erhebe mich und sie bearbeitet meinen Rücken kurz mit einem weichen Tuch, bevor sie sich erneut entschuldigt und mir erneut zu dem Schwimmen rät. In langsamen Schritten durchquere ich die Gänge, bin auf dem Weg in die dritte Etage, in der sich das Herrenbad befindet. Wenn ich es recht bedenke, wirkt das verzweifelte Mühen der Masseuse belustigend auf mich. Auch das Arrangement des Herren, der an der Rezeption seinen Dienst tut, ist amüsant. Mein Leben besteht aus viel Arbeit, die Erfolge zeigt, deren Leben jedoch... ist ein Wirbel um nichts und wieder nichts. Ich befolge die Bitte der Masseuse aus höhnischer Neugierde. Das Resultat ist mir bereits bekannt. Ich verzichtete zu lange auf Entspannung, als dass ich sie nun erlernen könnte. In den Angestellten sehe ich nicht mehr als eine Horde wilder Affen, die schreiend und zappelnd versucht, an eine Frucht zu gelangen, die zu hoch am Baum liegt, als dass sie sie erreichen könnten. Entzückend, wirklich entzückend. Reine Idiotie. Ich betrete eine Halle. Ihre Wände, die gewölbte Decke, überall erblicke ich den bekannten Marmor. Hinter hohen Arkaden erstrecken sich saubere Gänge, zwischen den Säulen finden bequeme Liegen Platz. Ein breites unproportionales Becken nimmt beinahe die gesamte Halle ein. Ein einziger Schwimmer zieht träge Bahn um Bahn, das saubere Wasser wirft kleine Wellen, die sich bewegenden Strukturen spiegeln sich gleich eines Kunstwerkes an der hoch liegenden Decke wider. Hier ist es still, das leise Glucksen wirkt nicht störend auf mich. Noch während ich mich der Musterung hingebe, nähert sich mir ein Mann und ohne mir Zeit zu lassen, erhebt er die Stimme. Sie klingt schrill und aufdringlich, das Personal fällt mit jeder weiteren Stunde tiefer in meine Missgunst. Wäre es nicht vorhanden, wäre all das erträglicher. "Wünschen Sie zu schwimmen, Herr Kaiba? Gedulden Sie sich bitte kurz, ich komme gleich wieder." Ohne auf meine Antwort zu warten, dreht er sich um und eilt davon. Ich komme zu der Einsicht, dass die hier herrschende Atmosphäre bei weitem schwerer zu ertragen ist, als die, die in meiner Firma herrscht. Kleinigkeiten sind dort Selbstverständlichkeiten. Sie werden erledigt, ohne dass zuvor Fragen gestellt werden. Hier jedoch... hier ist alles anders und ich beginne meinen Entschluss zu bereuen. Durch meinen Aufenthalt in dieser Kureinrichtung wird sich nichts ändern. Ich werde nicht entspannt zurückkehren, weitere Fehler werde ich nicht zu verhindern wissen. Oh, wie graut es mir schon vor dieser Vorstellung! Beging ich vielleicht bereits einen Fehler mit dem Entschluss, das Angebot meines kleinen Bruders anzunehmen? Ich schließe kurz die Augen, die Hände verberge ich in dem Yukata. "Herr Kaiba." Jene Stimme reißt mich aus meiner Einsamkeit. Der Mann kehrt zurück, trägt ein Bündel mit sich, das er mir reicht. Es sind ein seidener Bademantel und zwei Handtücher, die ich mit trägen Bewegungen entgegennehme. "Machen Sie es sich doch auf einer der Liegen bequem, wenn Ihnen danach ist, zu schwimmen, finden Sie dort Umkleidekabinen." Er weist auf die gegenüberliegende Seite der Halle. "Möchten Sie etwas trinken oder eine Stärkung zu sich nehmen, läuten Sie nur. Sie können sich hier aufhalten, so lange Sie möchten und wenn sie gehen wollen, dann..." Unsere Blicke treffen sich, er verstummt. Dieses Gerede... wie das ausgeleierte Band eines Tonträgers! Diese geheuchelte Freundlichkeit! Obgleich sich noch nie ein Mensch mit wahrer Freundlichkeit an mich wandte, ertrage ich sie nur schwerlich. Ich fixiere den Mann stumm. Ich kenne ihn nicht und doch entwickle ich schon Hass auf ihn, da er diese Worte sagte. Er starrt mich an und so als würde er meine Gedanken lesen, verbeugt er sich knapp, macht kehrt und geht. Genau das wünschte ich mir. Ich sehe ihm nach, bis er hinter den Arkaden verschwindet. Ich bin kein Mensch, der nach einem goldenen Glöckchen greift, wenn er Wünsche auf dem Herzen hat! Ebenso bin ich dazu imstande, sinnvolle Schlüsse zu ziehen, zu überlegen und gewisse Sachen zu durchdenken, anders wohl als dieser Mann! Er braucht mir nicht eine genaue Anleitung zu liefern, ich werde herausfinden, was es herauszufinden gibt und das auf einem wesentlich entspannenderen Weg. Ich gehe los, wähle den Gang hinter den Arkaden und erreiche so schnell die andere Seite der Halle, an deren Wand sich viele Türen aneinanderreihen. Die erste öffne ich und trete in eine kleine Kabine. Selbst die kurze Hose für das Wasser, die man mir beilegte, besteht aus Seide. Nur ungern ziehe ich sie an. Dies alles ist so nobel, dass es bereits billig und kitschig wirkt! Letzten Endes streife ich mir den dünnen Mantel über, klemme die Handtücher unter meinen Arm und verlasse barfuss die Kabine. Ich suche mir eine Liege. Glücklicherweise sagte man mir ja, dass ich dieses Recht besitze! Ich lasse mich nur kurz nieder, sitze grundlos dort und streife den Mantel ab, bevor ich mich erhebe und auf das Becken zugehe. Der Mann, der seine Runden zog, verharrt nun am Rand. Er wirkt recht entspannt und zufrieden, so wie er sich dort treiben lässt. Ich beobachte ihn nur flüchtig und steige die Stufen hinab, die mich tiefer und tiefer in das Wasser führen. Es hat eine angenehme Temperatur. Ich steige tiefer und halte inne, als ich die Wärme bereits unter meiner Brust spüre. Weshalb soll ich schwimmen gehen? Ich wüsste nicht, dass diese Tätigkeit jegliche Freude in mir wecken könnte, hinzukommend ist sie sinnlos, besteht nur, um Zeit zu vergeuden. Ich soll schwimmen, um meine Muskeln zu entspannen. Meine Muskeln entspannen sich nicht durch das Schwimmen und dennoch steige ich auf die nächste Stufe hinab. Ich habe nichts zu verlieren. Auch die Massage ließ ich über mich ergehen, ohne auf Erfolge zu hoffen. Das Wasser steigt höher, steigt über meine Schultern und bevor es mein Kinn erreicht, lasse ich mich sinken, tauche unter. Und als ich mich langsam wende, leicht abstoße und mich in der warmen Schwerelosigkeit dahingleiten lasse, öffne ich die Augen. Ich höre nichts, völlige Lautlosigkeit umgibt mich. Die Strukturen des Wassers... auch auf dem ebenen Boden sind sie zu sehen und für einige Sekunden verliert das Wort 'Zeit' an jeglicher Bedeutung. Es ist, als würden die Uhren stehen bleiben, als befände ich mich in einer anderen Welt, in der nichts existiert, das störende Auswirkungen hat. Ich öffne den Mund, langsam strecke ich die Arme von mir. Wirbelnd steigen die Luftbläschen auf, kitzelnd streifen sie meine Wangen. Doch diese Sekunden enden zu schnell, ich gleite langsamer nach vorn, verliere den Schwung und steige auf. Gemächlich lasse ich mich von dem Wasser nach oben tragen, tauche auf und atme tief ein. Mit gemächlichen Bewegungen halte ich mich oben, lasse mich dann nach hinten fallen und auf der glatten Oberfläche treiben. Wieder sehe ich die Strukturen über mir. Die dünnen Fäden, die sich von einer Seite zur anderen bewegen, sich ineinander verschlingen und so ein unerfindliches Gewirr bilden. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, ich brauche keines meiner Gelenke zu beanspruchen, nicht Gebrauch von meiner Kraft machen, und doch bewege ich mich. Nichts gibt es hier, das mich stört... und doch sehe ich auch diese Zustände nicht als Erholung an. Kurz darauf beginne ich zu schwimmen, ziellos einige Bahnen hinter mir zu lassen. Größtenteils bewege ich mich unter Wasser, die Schwerelosigkeit sagt mir zu. Flink bewege ich mich voran, ich erreiche den Rand des Beckens, drehe mich und stoße mich zurück. Nach wenigen Minuten jedoch verliert auch diese Beschäftigung ihren Reiz und so kehre ich zu der Treppe zurück, ertaste Boden unter meinen Füßen und richte mich auf. Schmale Rinnsäle klaren Wassers schlängeln sich von meinen Schultern, rinnen über mein Gesicht und ich wische sie fort. Gleichzeitig steige ich hinauf, das sanfte Plätschern begleitet mich. Ich verlasse das Becken, steige hinaus und lasse neue Rinnsäle über meinen Rücken laufen, indem ich mir über den Schopf fahre. Das Wasser tropft in schnellem Takt von meiner Nase, mein Blick tastet sich über den sauberen Boden, tastet sich nach vorn und stößt auf Füße, die sich plötzlich vor mich setzen. Sogleich bleibe ich stehen und blicke auf. Dort steht er wieder, der blonde Rebell. Direkt vor mir, nun gleichermaßen reglos. Wie ein Schatten verfolgt er mich! Ich werde ihn nicht los, so schnell ich auch laufe. Vermutlich fing ich ihn auf seinem Weg zu dem Schwimmbecken ab, denn auch er trägt jene Kleidung. Unsere Blicke finden einander, bleiben aneinander hängen, ohne dass sie sich einen gewissen Ausdruck entgegen bringen. Wir stehen voreinander, unentschlossen und schweigend und ich wäre dazu imstande, mich sofort umzudrehen und zu verschwinden, ein weiteres Mal vor ihm flüchten, doch ich zögere, ohne den Grund zu kennen. Jonouchis Gesichtszüge gewinnen an Regung, er reißt sich los von der Atmosphäre, die bei jeder Begegnung entsteht, seine schmalen Brauen verziehen sich, so als könne er es nicht glauben, vor mir zu stehen. Ich weiß, er möchte etwas sagen, ich spüre, dass etwas auf seiner Seele lastet, ein schweres Gewicht, das er anhand weniger Worte loszuwerden gedenkt. Dieses Gebäude ist groß, viele Möglichkeiten der Entspannung in verschiedenen Etagen versprechen, dass wir uns nicht sehen und dennoch taucht er an den Plätzen auf, an denen ich mich niederlasse. Widerstrebend vergleiche ich ihn mit einem Magneten, einem Gegenpol, der mich immer und immer wieder anzieht, gegen meinen Willen, gegen jegliches verbissene Wehren. Jonouchi hebt unentschlossen die Hände, lässt sie sogleich sinken und ballt sie zu Fäusten. Seine Lippen bewegen sich hastig jedoch stumm, als befürchte er, dies wäre die letzte Gelegenheit, sich an mich zu wenden. Ich wünschte, dem wäre so. Mir verlangt es nicht danach, mit ihm zu sprechen, meine Ohren wollen seine Stimme nicht hören, meine Augen ihn nicht sehen. Ich lasse das Gesicht sinken, meine Hand gleitet flink über mein Gesicht, um die zurückbleibende Nässe zu bekämpfen. Erklärungen sind von niedrigster Wichtigkeit, meine Neugierde stelle ich auf unterste Stufe. Noch immer interessiert mich der Grund seines Aufenthaltes nicht und ich wende mich ab, bevor er sie mir aufdrängen kann. Ich drehe mich einfach um und gehe. Niemand kann mich zwingen zu warten. Deutlich spüre ich, wie sein Blick meinen Rücken streift, wie er verunsichert dort steht, sich seine Miene weiterhin verzieht. Und auch mein Gesicht wird befallen von einer düstren Wut, ohne dass ich es ihm befehle. Wie hätte ich ihn nun mit meinen Worten verletzen, mich vor weiteren Begegnungen sichern können. Nur ein Blick, die Verachtung, die auf ihn einschlägt, ihn in die Knie zwingt. Ich vermag es zu bewerkstelligen, es verlangt mir nicht viel ab. Doch er würde mir antworten und seine Stimme ertrage ich nicht! Ohne mich zu ihm umzudrehen, beuge ich mich zu der Liege hinab, sammle meine wenigen Habseligkeiten ein und kehre zurück zu den Kabinen. Schnell zieht der Rest des Tages an den Fenstern meiner Suite vorbei, nur dort kann ich seinen Verlauf verfolgen, denn erneut gehe ich nicht hinaus. Ich bleibe dort, zurückgezogen und versunken in Grübeleien, die unnötig entstanden. Ich kaure auf dem Sofa, erhebe mich nur, um zu der Bar hinaufzusteigen. Ich trinke und das mehr als gewöhnlich. Mir ist unwohl und bis mich jenes Telefonat erreicht, denke ich daran, nach Domino zurückzukehren. Weg von all der geheuchelten Freundlichkeit, die mich quält, weg von Katsuya Jonouchi! Dann ergreife ich das Telefon, Mokuba ruft an. "Wie geht es dir?", erkundigt er sich, seiner Stimme kann ich große Behaglichkeit entnehmen. "Hast du dich entspannt? Bist du stark und erholt?" Den Champagner im schlanken Glas schwenkend, lasse ich mich nieder und blicke mich um, als fühlte ich mich beobachtet. "Sollte es dir entfallen sein", antworte ich. "Ich bin erst seit gestern hier." "Ja." Er lacht. "Und? Bist du entspannt?" Was soll ich darauf antworten, geht es mir durch den Kopf. Seine Stimme klingt so heiter wie selten zuvor. Ich möchte ihn nicht verletzen durch eine zu ehrliche Antwort. Zuviel hat er darauf gesetzt, mir hier einen Platz zu sichern. Diese Kur wird auf diesem Weg zu einem Zwang. "Ja", sage ich nach einem kurzen unauffälligen Zögern. "Mir geht es gut." "Und noch besser wird es dir gehen, wenn du weitere Tage dort bleibst. Das war erst der Anfang, also lass es dir gut gehen, Seto." Der Anfang? Der Anfang vom Ende. "Gewiss." Ich nicke und fühle mich erschöpft dabei. Somit würde ich das Telefonat gern beenden, doch Mokuba fährt fort. "Heute Morgen ging ich mit Bikky durch den Park und traf Yugi", erzählt er mir, seine Stimme verändert sich, sie wirkt nachdenklich. "Er ist sehr niedergeschlagen, ich habe ihn bisher noch nie so gesehen. Er sagte… weißt du es schon, Seto? Katsuya ist verschwunden." Ich blicke auf, betrachte mir den dunklen Bildschirm des Fernsehers und nicke stumm. "Seto?" Ungeduldig spricht Mokuba weiter. "Er meinte, er wäre gegangen, ohne Abschied, ohne auch nur ein Wort zu verlieren. Er sorgt sich sehr." "Du kennst mich." Ich setze das Glas an die Lippen, leere es mit wenigen Zügen. "Mutos Probleme liegen außerhalb meiner Interessen. Weshalb erzählst du mir all das. Ich nahm an der Kur teil, um mich davon zu lösen." "Es tut mir leid", antwortet er schnell. "Ich wollte nur... wollte nur, dass du es weißt." "Ich weiß es, gut? Nun mach dir einen schönen Tag und lasse dich nicht von den Problemen anderer belasten. Sie haben dich nicht zu interessieren." Ich zögere kurz. "Jonouchi… hat dich nicht zu interessieren." Mokuba schweigt. "Die Menschheit nimmt keinen Verlust an seinem Verschwinden. Genieße die Ferien, ich komme bald wieder." "Tschüss Seto." "Tschüss." Ich lasse das Telefon sinken, schließe entkräftet die Augen und lehne mich zurück. Es ist wohl besser, hier zu bleiben... Wie ich es mir vornahm, nehme ich das Frühstück am Morgen des nächsten Tages in meiner Suite zu mir. Somit entgehe ich nicht nur der äußerst unangenehmen Gesellschaft, sondern auch der Anstrengung, den Weg dorthin zu bewältigen. Ich möchte mich nicht übermäßig bewegen und genieße die Ruhe während ich frühstücke, abgeschieden von allen Menschen, die mir lästig sind. Und ich lasse mir Zeit. Während ich mir die Speisen, die meinen Wünschen zufolge, diesmal eher gering ausgefallen sind, schmecken lasse, beginne ich zu planen, nachzudenken, wie ich diesen Tag überstehen kann. Es sind nur noch zwölf, die mich von Domino, meiner Heimat und meinem Alptraum, trennen. Man legte mir einen neuen Yukata zurecht und nachdem ich mich geduscht und angekleidet habe, verlasse ich meine Suite und begebe mich zu einer der Saunen, deren Nutzung mir zur Verfügung steht. Nicht lange sitze ich auf den kunstvollen Holzbänken - Saunen behagen mir nicht, sie sind zu heiß und stickig, etwas Derartiges stelle ich mir nicht unter Erholung vor. So besuche ich also eines der Thermalbäder, die sich, in typisch japanischem Stil, in der obersten Etage befinden. Dort bin ich allein und fühle mich recht wohl. Während ich mich zurücklehne, steigt Wasserdampf auf. Das Wasser ist warm, die Temperatur des riesigen Raumes hingegen so kühl gehalten, dass es einen vorzüglichen Ausgleich schafft. Ich verbringe lange Zeit an diesem Ort und wiederum beginne ich nachzudenken. Seit zwei Tagen tat ich keinen Finger krumm, bekam nicht einmal einen Computer oder einen Berg von Akten zu Gesicht. Und der einzige Grund, weshalb ich nicht darunter leide, mag der sein, dass ich mich übertrieben dem Sinnieren hingebe. Ich grüble über dieses und jenes, wie gerade auch. Vieles beschäftigt mich. Jedoch ist es nicht die Arbeit und die Firma, die daran die Schuld tragen. Ja, ich will Jonouchi keine Beachtung schenken, doch seit ich ihm am gestrigen Tag erneut begegnete, ist eine Veränderung eingetreten. Ich überlegte bereits, aus welchem Grund er hier ist und kam zu dem Entschluss, mich nicht weiterhin dafür zu interessieren, um diese Kur genießen zu können. Doch nun? Ich, als ein Mensch, der in einjeder seiner Bewegungen und Handlungen perfekt ist, schäme mich nicht für meine Neugierde, nun, viel eher kommt sie mit einem verhassten Misstrauen gleich. Neugierde ist bei weitem kein Anzeichen für Schwäche, sie beweist das Interesse an anderen Dingen. Jonouchi ist beileibe keine Besonderheit, ist es, wenn man es recht bedenkt, nicht würdig, näher ergründet zu werden. Der Meinung bin ich, doch die Neugierde entfaltete sich erst in mir, als ich mir jene Fragen stelle: Wenn er mir annähernd gleichgestellt ist, was das Wohlhaben anbelangt, wie steht es mit seinem Einfluss? Hat er das, was ich habe? Ich möchte wissen, ob auch er hohes Ansehen genießt, ob er sich wirklich reich nennt. Und wenn dem so ist, warum? Wenn ich es weiß, werde ich ihn umso mehr hassen können. Ein äußerst verlockender Gedanke, wie ich finde. Ich erinnere mich daran, wie er vor mir stand, wie seine Augen an mir hafteten und er sich für kurze Zeit nicht bewegte. Er wollte etwas sagen, dessen bin ich mir sicher und einen weiteren Vorteil bringt mir sein Verhalten. Ich werde mich nicht zu ihm herablassen, ihn zur Rede stellen müssen und somit den Anschein erwecken, mich für seine Persönlichkeit zu interessieren. Ich muss lediglich zuhören und diese Herablassung nehme ich gern in Kauf. Der mögliche Gewinn ist zu verlockend, als dass ich anders denken könnte. Ich beschließe, das Mittagessen früher zu mir zu nehmen, ein langer Aufenthalt hier ist zu gefährlich und allmählich bin ich es leid, hier zu sein. Also steige ich auf den kunstvollen Holzboden hinaus, streife mir einen bereitliegenden schwarzen Bademantel über und steige in die Wajaris. So begebe ich mich auf den Weg zu jenem Speisesaal. Es ist zu früh für ein Mittagessen, doch ich werde ungestört sein. Und während ich das Thermalbad verlasse, erwacht der Wunsch in mir, Jonouchi anzutreffen. Ich werde nicht zuvorkommend sein, stelle mir vor, wie er winselt und fleht, bevor ich ihm mein Gehör leihe. Ja, dies wird er tun müssen, bevor ich mich ihm zuwende, meine Zeit mit ihm verschwende. Das Glück scheint mir an diesem Tage hold. Der Saal ist leer, als ich eintreffe und binnen kürzester Zeit bereitet man mir mein Essen zu und serviert es. Ich achte weniger auf den Geschmack, denn ich verfange mich erneut in ungewollten Grübeleien. Ich esse zügig, nehme mir keine Zeit für den Genuss und verlasse den Saal nach wenigen Minuten, ich möchte mich in die Empfangshalle setzen, einen dieser Kaffees trinken, die mich mit ihrem würzigen Aroma betören. Hinzukommend ist dies der Ort, an dem man viel erlebt, mehr als irgendwo anders. Vorerst kehre ich jedoch in meine Suite zurück und ziehe einen anderen Yukata über. Nur wenige Menschen kommen mir entgegen. Den Italiener sehe ich telefonierend an einer Ecke stehen, misstrauisch und gefährlich wirft er Blicke nach allen Seiten. Als er mich erspäht, unterbricht er das Gespräch und wartet lauernd, bis ich an ihm vorbeiziehe. Eine ältere Frau steht vor einem wahrhaften Kunstwerk, bearbeitet mit den langen Fingernägeln das Kinn und streichelt ihre faltige Haut mit abscheulichen Diamanten. Ich gehe schneller. Zwei korpulente Deutsche haben es sich in einer abgeschiedenen Sitzecke gemütlich gemacht, sie mustere ich nur flüchtig aus den Augenwinkeln. Sie rauchen dicke Zigarren, verpesten die Luft mit deren bitteren Gestank. Erst als ich mich an einem der Tische niederlasse und hinunter in den Empfangssaal schaue, fühle ich mich wohler. Nur selten eilen Bedienstete von einer Seite zur anderen. Der Mann an der Rezeption bemerkt mich zwar, scheut sich jedoch davor, mich ein weiteres Mal zu belästigen. Wieder genieße ich den Luxus, der lediglich aus der Aufmerksamkeit des Kellners besteht. Sogleich ist er bei mir und kurz darauf kehrt er zurück. Ich hole tief Luft, lehne mich zurück und betrachte mir die Zigarettenschachtel, die ich mit dem Zeigefinger von einer Seite zur anderen bewege. Ich drehe sie, greife bald nach ihr und öffne sie. Ich ziehe mir eine Zigarette heraus, klemme sie zwischen meine Lippen und hebe das Feuerzeug. Ich hebe es nur langsam, meine Augen tasten die Umgebung ab. Als ich die Stimme jenes Mannes von unten höre, entfache ich die kleine Flamme und verbrenne den Tabak. Glücklicherweise bin nicht ich es, nachdem er verlangt. Ich schaue zur Seite. Vielmehr ist er damit beschäftigt, einen Angestellten zu rügen. In die Beobachtung vertieft, nehme ich einen langen Zug, greife mit der anderen Hand nach der Tasse und hebe sie zum Mund. Lange sitze ich ungestört dort, genieße den Kaffee und interessiere mich gezwungener Weise in unnatürlichem Maße für meine Umgebung. Ich besehe mir den Marmor, verfolge die Strukturen und suche nach ihrem Ausgangspunkt. Ich betrachte mir auch die Kronleuchter, versuche, deren Wert zu schätzen. Und dann kommt mein Glück erneut zum Vorschein, denn unten in dem Saal tut sich etwas. Die kunstvolle Eingangstür öffnet sich und ein hünenhafter Mann tritt ein. Es ist eine Wohltat, als der lästige Mann der Rezeption endlich die Stimme senkt, um von dem Angestellten abzulassen und sich dem Besucher zuzuwenden. Ich beobachte ihn nachdenklich, Männer seiner Art bekam ich erst gestern zu Gesicht. Gemächlich kratze ich über den dünnen Filter der Zigarette. Der Hüne kommt vor der Rezeption zum Stehen und sogleich lehnt sich der Mann nach vorn. Sie sprechen miteinander, wenn auch nur kurz. Sie sprechen zu leise, ich kann es nicht hören, um nicht zu sagen, dass mich der Gesprächsstoff außerordentlich interessiert. Schnell nickt der Mann von der Rezeption und greift nach einem Telefon. Flink tippt er und wartet. Und nach wenigen ruhigen Worten legt er auf und nickt dem Besucher ergeben zu. Dieser erwidert die Geste nur knapp, seine Hände verschwinden in den tiefen Taschen des teuren Jacketts und in gemächlichen großen Schritten beginnt er einen Spaziergang durch den Saal. Ich wende mich ab und greife nach meinem Kaffee. Allmählich nähert sich der Mann der Treppe, die zu meiner Etage hinaufführt. Vor ihr bleibt er stehen, hebt verspannt die Schultern und besieht sich das kunstvolle Geländer mit düstrer Miene. Er betrachtet es sich lange, jedoch desinteressiert und erst als sich die Türen des Fahrstuhls öffnen, wendet er sich ab. Auch mein Blick streift gezwungen zu jenem Platz und ich erspähe Jonouchi. Eilig tritt er aus der Kabine, zieht den Mantel fester um seinen Leib und fährt sich durch den Schopf. Er wirkt, als hätte er sich beeilt, als er auf den Mann zugeht. Er fixiert sich nur auf ihn und so bleibe ich unerkannt. Unbeteiligt behalte ich ihn im Blick, als er vor ihm stehen bleibt und die Arme vor dem Bauch verschränkt, als würde es ihm frösteln. Der Hüne räuspert sich mit strenger geschäftiger Miene, bevor er das Wort erhebt. "Your father is really concerned about you, Mr. Brown", sagt er, nicht darauf bedacht, es leise zu tun. Seine Stimme hat einen scharfen Klang. Mir scheint sogar, als drücke sich Misstrauen in ihr aus. Jonouchi bläht die Wangen auf, schüttelt den Kopf und starrt auf den Boden. Er wirkt überfordert in jeder seiner Bewegungen. "He wants to have a surety, so I'm here to shelter you from dangers." So knapp und gefühllos seine Worte auch sind, ich entnehme ihnen eine gewisse Ehrfurcht, um nicht zu sagen, eine Ergebenheit. Somit verbleibt die Miene des Mannes streng und reglos. Jonouchi schüttelt erneut den Kopf, ich höre ihn lachen, wobei er nach einem überaus sarkastischen Ton greift. "You want to shelter me?" Er richtet sich auf. "Dont you mean supervise?" Jonouchi bedient sich akzentfrei und fließend der englischen Sprache. Es scheint, als hätte er nie etwas anderes getan. Diese Tatsache versetzt mich dennoch nur minder in Erstaunen. Soll er doch diese Sprache beherrschen, ich beherrsche sie gleichermaßen und nichts macht ihn dadurch zu etwas Besserem! Er fährt fort, drohend und verbissen, als müsste er sich mit all seiner Kraft zur Wehr setzen. "I dont need a attender, a babysitter or a shadow behind me! What the hell he's thinking about, there are nowhere dangers!" Er wird lauter, die Anwesenheit des Mannes missfällt ihm augenscheinlich gänzlich. "I said no! The only thing I really want is my calmness and not more, do I make too great demands?! Go back and tell him, I’ll survive the time inside this prison without protection!" Er verengt die Augen, lehnt sich verbissen nach vorn und wartet auf eine Antwort. Die Mimik des Mannes zeigt keine Regung und er gibt die Antwort, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. "It's an order", sagt er nur. "An order, sure! What else?" Jonouchi hebt die Arme. "Who the hell are you?! His little abject dog?! I don't want this crap, so leave me alone!" "Much as I sympathize, I can't do that", erwidert der Hüne mit unberührbarer Kälte. Jonouchis Worte, so drohend und demütigend sie auch sind, scheinen seine eiserne Ummantelung nicht im Geringsten anzukratzen. Jonouchi starrt ihn an und für eine kurze Zeit verfällt er der Sprachlosigkeit. Seine Lippen zucken unentschlossen, verzweifelt auf einer hastigen Suche nach gleichkommenden Worten, seine Miene verfinstert sich und seine Hände ballen sich zu Fäusten. Seine Lunge sehnt sich augenscheinlich nach einem lauten Schrei, doch rechtzeitig krallt er sich an die Vernunft, entspannt sich und bringt ein leichtes Nicken zustande. Es scheint eine Macht zu existieren, gegen die er nicht ankommt. Er kapituliert. "Terrific", höre ich ihn sarkastisch murmeln. "That's really great." Mit diesen Worten schüttelt er erneut den Kopf, wendet sich ab und kehrt zu dem Fahrstuhl zurück. Der Mann folgt ihm wie ein Schatten und ich sehe ihnen nach, bis sich die Türen des Fahrstuhles hinter ihnen schließen. Ich muss zugeben, dieses Erlebnis stärkt meine Neugierde, denn ich verstehe all die bestehenden Zusammenhänge nicht. Weder den Sinn dieser Unterhaltung noch das Benehmen des blonden Rebellen. Nur eines verstehe ich: Josem Brown - so wird er genannt. ~*to be continued*~ Kapitel 6: ~Identitäten~ ------------------------ ~*Kapitel 6 - Identitäten*~ Nach diesem Erlebnis lasse ich mich zu einem Aromabad hinreißen. Nun, um ehrlich zu sein, wäre mir jeder ruhige Ort genauso recht gewesen. Ein ruhiger Ort, an dem ich nachdenken kann, ungestört bin. Die Düfte, die aufsteigen, scheinen eine betäubende Wirkung zu haben. Zu Beginn rochen sie lediglich äußerst angenehm, doch nach wenigen Minuten fallen mir die Grübeleien schwerer, klare Gedanken vermag ich nur schwer zu fassen und meine Glieder fühlen sich an, als bestünden sie aus Blei. Ich bin mir darüber bewusst, dass ich einen Fehler beging, indem ich glaubte, 'Jonouchi' wäre mir kein Mysterium, nichts dergleichen stellte er dar. Nun jedoch häufen sich die Ereignisse, die Verwirrung steigt, die Neugierde gewinnt an Stärke und besteht, um der Verwirrung ein Ende zu setzen. Ich hebe die Hand aus dem warmen Wasser, räkle mich in dem kunstvollen Marmorbecken und betaste mein Gesicht. Nicht nur ich, sondern auch meine Gedanken erscheinen verwirrt, ich breche sie ab, bevor es schlimmere Ausmaße nehmen kann und lasse mich von jenen Düften in den Bann ziehen. Dieses Bad... es fühlt sich merkwürdig an, die Ruhe, die mich umgibt, die Muskeln, die ich nicht anzuspannen brauche, die Gedanken, die still liegen, ich, umhüllt von gedämpftem Licht und wenigen flackernden Kerzen. Ich schließe die Augen, denn meine Lider werden schwer und als ich tief einatme, breitet sich ein wohliges Gefühl in meinem Körper aus. Es müssen Drogen sein, unter denen ich stehe. Dieser Gemütszustand ist mir unbekannt. Nichts zu tun, nichts zu fühlen... ist das Entspannung? Ich denke, an diesem Tag gelang es mir, die Definition dieses Wortes zu finden, sie am eigenen Leib zu erfahren. Ich verbringe lange Zeit in Reglosigkeit, mein Atem fällt langsam und gleichmäßig und mein Kopf ist so frei von jeglichem Sinnieren, das es in ihm rumort - Faulheit zählt nicht zu einer seiner Gewohnheiten, noch weniger zu den Meinen. Doch als ich irgendwann aus dem Becken steige, auf den geheizten Fliesen stehen bleibe und mich umblicke, spüre ich eine merkwürdige Ruhe in mir, beinahe beängstigend erscheint mir der Gedanke, der Bewusstlosigkeit nahe zu sein. So etwas kann nicht der Normalität entsprechen. Als ich die Arme von mir strecke und die Finger spreize, lastet kein Gewicht auf meinen Schultern, ich fühle mich leicht. Erst jetzt? War ich bis heute gegen Erholung resistent? Ober bemerkte ich es nur nicht? Ich zögere, verharre lange auf dem Fleck und wende mich meinen sympathischen Grübeleien zu. Ich stellte sie für kurze Zeit ab und nun, da ich sie wieder in Anspruch nehme, scheinen sie mir leichter zu fallen. Gedanken streifen geordnet durch meinen Kopf, an ein undefinierbares Wirrwarr aus Erinnerungen und Ängsten ist nicht zu denken. Und gut fühle ich mich mit der Bestätigung: Katsuya Jonouchi ist nicht, und war nie dazu imstande, mich an der Erholung zu hindern. Er ist anwesend, er ist allgegenwärtig, es ist meine Gewohnheit und in jenen Minuten bin ich zu entspannt und ruhig, um dieses Thema zu vertiefen. Ich fühle mich gut und kann nicht damit umgehen. Auch daran werde ich mich gewöhnen müssen. Ich trockne mich kurz ab, streife meinen Yukata über und begebe mich auf den Weg zu meiner Suite. Mir verlangt es nach einem ruhigen Abend, wie eine Herausforderung erscheint mir der Gedanke, einen Film zu schauen. Mit dem Fernsehen habe ich mich nie konfrontiert gefühlt, es kann mir nichts bieten, das ich nicht schon habe. Heute jedoch wüsste ich nicht, was ich sonst unternehmen sollte, dem Abendbrot werde ich mich fernhalten, in meinem Magen besteht ein unerklärliches Gefühl der Sättigung. Ich ziehe vorbei an jenen alten Frauen, die eingebildet kichern und mit den Händen, die dürr wie Todesklauen sind, Gesten ausführen, während sie sinnlosen Gesprächsstoff austauschen. Ich beachte sie nicht, gehe weiter. Wieder treffe ich auf Deutsche und ihre Zigarren. Ich zerreise einen stillen Rauchfetzen, der Gestank interessiert mich nicht. Kurz darauf erreiche ich einen der Fahrstühle und verharre geduldig, während er zu mir hinunter kommt. Dann ertönt eine leise Glocke und die Kabine hält. Die Türen schieben sich auseinander und ich blicke auf, um einzutreten, halte jedoch inne, bevor ich zum zweiten Schritt ansetzen kann. Dort steht er. In seinem langen schwarzen Mantel... Was, frage ich mich, während ich ihn anstarre, kann der Grund für unser häufiges Begegnen sein? Auch er hob das Gesicht, wieder fanden sich unsere Blicke und wir stoppen die Zeit, indem wir uns nicht bewegen. Mein plötzliches Erscheinen mag ihn diesmal nicht recht entsetzen, ganz anders als am gestrigen Tag. Aus der zusammengesunkenen Haltung zieht er sich nicht zurück, in seinen Augen erwacht kein Leben, keine Angst, als sie sich auf mich richten. In seiner rechten Hand hält er ein seidenes Tuch, die andere ist in der tiefen Tasche des Mantels verborgen. Ich bewahre mein Gesicht davor, jeglichen Ausdruck anzunehmen, ich bin stark, werde mich nicht von innen nach außen kehren, mich ihm preisgeben. In dem Bruchteil der ersten Sekunde, die ich ihn sah, meinte ich, einen alten Mann vor mir zu haben. Müde und schwach steht er dort, mit gesenkten Schultern und einer Miene, die sich vor jedem verschlossen hält. Er wirkt wie ein Duplikat meiner Person. Ich möchte diese Atmosphäre nicht unnötig verlängern, langsam beginne ich mich zu bewegen, gehe vorwärts. Zu kindisch wäre es, einen anderen Fahrstuhl zu wählen. Ich werde nicht vor ihm fliehen, habe es nie getan! Als ich die Kabine betrete, brechen wir gleichzeitig den Blickkontakt ab. Seine Augen richten sich lahm auf den Boden, das einst so lange blonde Haar ist kürzer, verdeckt nicht mehr seine Stirn, wenn er das Gesicht senkt. Flüchtig betätige ich einen Knopf, wende ihm dem Rücken zu bleibe stehen. Die Türen schließen sich, die Geräusche des Flurs verstummen und zurück bleibt eine Stille. Sie ist kalt, gnadenlos und reich an Spannung... so muss es sein, ich jedenfalls, spüre nichts dergleichen. Ich bin ruhig, entspannt und dennoch voller Stärke. Ich richte den Blick geradeaus, meine Haltung wirkt gelockert, im Gegensatz zu der des anderen. Geschwind verändern sich die roten Zahlen auf dem goldumrandeten Display, die Kabine bewegt sich schnell hinauf. Deutlich spüre ich Jonouchis Anwesenheit, jedoch keinen Blick, der, wenn auch nur zögerlich, meinen Rücken streift. Nichts, wir schenken einander keine Beachtung. Auch Bewegungen nehme ich hinter mir nicht wahr. Ich möchte in meine Suite, dieser Zwischenfall wird nichts an meinem Vorhaben ändern. Ich warte geduldig, bis ich mein Ziel erreiche. Die Kabine stoppt und sogleich öffnen sich die Türen. Ich lasse mir Zeit, denn wie ein Gräuel wäre es, eine Flucht vorzutäuschen! Ich trete aus der Kabine, trete hinaus in den Flur und wende mich zur Seite. "Kaiba." Wie ein Blitz zerstört dieses Wort die Totenstille und ich bleibe stehen. Die Stimme nannte meinen Namen nur leise, vielmehr als ein kraftloses Flüstern war es nicht und doch erschien es laut und tosend. Ich betrachte mir eine kunstvolle Vase, bevor ich das Gesicht zur Seite drehe, langsam, um zu dem Fahrstuhl zurückzublicken. Jonouchi hält den Kopf gesenkt, nur seine Hand ist ausgestreckt, sein Zeigefinger liegt auf einem der Knöpfe. Ich warte, betrachte ihn mir ausdruckslos und meine, ein unsicheres Blinzeln zu erkennen. Er starrt nach unten, der Arm senkt sich und die Hand kehrt lahm in die Tasche zurück. Dann richtet er sich auf und in mir erwachen Zweifel an dem Blinzeln. An seiner Miene hat sich nichts geändert. Sie ist leblos und müde, seine Augen tot. Weder ein rebellisches Funkeln, noch ein freudiges Glänzen ist in ihnen zu finden. Lange sieht er mich an, ohne den Anschein zu erwecken, in jeglicher Hinsicht nervös und angespannt zu sein. Dann beginnen sich seine Lippen zu bewegen. "Hasse mich für das, was ich getan habe", flüstert er matt. "Hasse mich für das, was ich gesagt habe. Aber...", er zögert, ein unauffälliges jedoch verzweifeltes Zucken zerreist seine ausdruckslose Miene, "... hasse mich nicht für den, der ich bin." Ich schweige, suche konzentriert nach weiteren Anzeichen, die seinen Gefühlszustand verraten, sein Inneres widerspiegeln. "Wie könnte ich dich dafür hassen", antworte ich knapp. "Ich weiß nicht, wer du bist." Somit wende ich mich ab und gehe. Daraufhin erwidert er nichts. Das einzige Geräusch, das ich hinter mir wahrnehme, ist das leise Schaben, als sich die Türen schließen. Als ich meine Suite betrete, weiß ich nicht, ob ich dieses Treffen mit Freude betrachten soll. Es hat mir nichts gebracht, hören tat ich nur wenige Worte, aus denen sich kein Gespräch erschließen kann. Ich nehme mir vor, mich nicht daran festzuhalten und auf den nächsten Tag zu warten. Jonouchi wird wiederkommen und ich werde ihn mit Hochgenuss betteln lassen. Wie ich es mir vornahm, durchsuche ich die lange Liste der Filme, nachdem ich es mir gemütlich gemacht habe. Ich bin auf nichts Besonderes aus und wähle blind einen Film, dessen Titel mir überhaupt nichts sagt. Es ist das erste Mal, dass ich mich langlege, gemächlich in einem exzellenten Cocktail rühre und auf den Bildschirm starre, auf dem sich viel zuträgt. Hätte man mir früher einmal erklärt, dass ich dies tun würde, hätte ich den Erzähler ohne zu zögern als Lügner bezeichnet und hinausgejagt. Und dass ich mir so einen Film anschauen würde...? Der Film, und es ist ein sehr langer Film, handelt von einem jungen Mann, der Tiere schützt, um deren Fortbestand kämpft und sich gegen Wilderer zur Wehr setzt, und dann, in den letzten beiden Stunden, lernt er eine junge Frau kennen und verliebt sich in sie. Ich bezeichne dieses Geschehnis als Gefühlsduselei, stelle den Fernseher jedoch nicht ab. Geistesabwesend haften meine Augen auf der großen Fläche, lahm und lustlos verfolge ich die Szenen. Der Tatsache, dass dies eine neue Erfahrung darstellt, schenke ich keine Beachtung. Ich gähne des Öfteren, werde nur hellhörig, wenn jener Mann seinem Wissen über Computern freien Lauf lässt. Dann denke ich nach, nicke zustimmend oder murmle Kritiken. Das Ende des Films soll vermutlich recht tragisch wirken. Der Mann findet heraus, dass die Frau zu den Wilderern gehört, worauf viel geschrieen und geheult wird. Und dann... dann erschießt die Frau ihren Geliebten und wildert weiter. Ich muss ehrlich zugeben, viel verpasste ich ohne das Fernsehen nicht, es ist lediglich eine Spiegelung der Realität, nur im übertriebenen Maß. Und viele der Filme entbehren höchstwahrscheinlich jeglicher Logik. Das Fernsehen ist nur eine der vielen Möglichkeiten, die Zeit hinter sich zu bringen. Zeit habe ich nun zuviel und da ich keinerlei Müdigkeit verspüre, als ich mir den Abspann betrachte, bestelle ich mir einen zweiten Film. Diesmal schaue ich genauer, vertiefe mich in die Titel und suche nach etwas Interessantem. Horrorfilme? Ich suche einen Titel, der mir etwas sagt, nicht zu primitiv und platt wirkt und erfahre die Lehre, dass man sich nicht an den Titeln orientieren darf. Der Film ist eine Enttäuschung. Blut spielt die Hauptrolle, zusammenhangslose Szenen quälen mich und unverhofft taucht eine Kreatur auf, die die Charaktere auf äußerst fantasievolle Art und Weise tötet. Unter den schrillen Schreien, dem eisernen Donnern und dem Rasseln der Kettensägen muss ich dann eingeschlafen sein. Nachdem ich am nächsten Morgen mein Frühstück zu mir genommen habe, beschließe ich, an den Strand zu gehen. Strände sind mir nicht sympathisch, stets bringe ich sie mit Menschenmassen in Verbindung, die sich wie Ameisen tummeln, wie Hyänen schreien und mit größter Freude ihre Primitivität in die Welt aussenden. Früher bin ich einmal an einen größeren See gefahren, folgte dem sehnlichen Wunsch meines Bruders und verfluchte mich selbst, als ich das Versprechen einlöste. Unästhetische Menschen, die ihre Körper, die sie mit Scham belasten müssten, großzügig zur Schau stellen. Kinder, die nie in den Genuss einer strikten Erziehung gekommen sind. Sie benehmen sich nicht. Gedränge, belastender Lärm und lästige Blicke von allen Seiten. Diese Augen, in denen sich hochnäsige Kritik einnistete wie ein Virus in die Festplatte eines Computers! Sie lassen Übelkeit in mir aufsteigen und stets sehe ich neue Beweise in diesen Erlebnissen, Gründe, weshalb ich Menschen meide. Der Privatstrand jedoch, ist leer, als ich ihn nach einem kurzen Fußmarsch erreiche. Niemand ist hier, nur ein kleiner Krebs gleitet mit den Wellen über den hellen Sand und führt seinen Weg auf dem Trockenen fort. Zwischen den zahlreichen Palmen und dem kristallklarem Wasser liegt nicht all zu viel Freiraum. Bequeme Liegen sind in sicherer Entfernung voreinander in dem warmen Sand aufgestellt. Lange verbleibe ich an diesem Ort, der Wert der Zeit scheint nichtig. Die Sonne kitzelt mein Gesicht, die Liege unter mir ist bequem, das gleichmäßige Rauschen der über den Sand rollenden Wellen einschläfernd, es befriedigt die Nerven, tötet gedankliche Anstrengungen ab und ist dazu imstande, mich flink der Welt nahe zu bringen, in denen keine Störungen, keine negativen Erlebnisse und belastende Geräusche existieren. Ja, ich glaube, ich bin eingeschlafen, denn als ich meine Augen öffne, bemerke ich, das die Sonne, die doch vor kurzem noch so hoch und heiß am Himmel stand, gesunken, und dem Horizont näher gekommen ist. Das Licht hat abgenommen, hinter mir rauschen die Palmen im zärtlichen Wind. Ich strecke mich aus, verschränke die Arme unter dem Kopf und blicke zum Himmel auf, der Himmel, der unübertrefflich in seiner Endlosigkeit ist, Geheimnisse vor Menschen verbirgt, die selbst ein kluger Intellekt nicht imstande ist aufzudecken. Ich denke nicht daran, über solche Weitentfernten, unlösbaren Nichtigkeiten zu grübeln und betrachte ihn mir, ohne nachzudenken. Ich lasse seine Farbe auf mich einwirken, erspähe kurz darauf eine einsame Wolke weit über mir. Meine Augen folgen ihr, beobachten, wie sie vorüber gleitet. Es ist spät geworden, ich möchte zurück in meine Suite. So setzt die Wolke ihren Weg fort, ohne dabei beobachtet zu werden und ich verlasse den Ort, der mir ein weiteres Mal Entspannung brachte. Ich steige hinauf, erreiche über den gepflegten Weg die schmale Straße und erblicke kurz darauf das Gebäude, das, gleich eines Riesen, über den Palmen aufragt. Ich verberge die Hände in den Umschlägen des Kimonos, gehe bequem und betrachte mir meine Umwelt. Vögel, die ich noch nie zuvor sah, hüpfen zwitschernd durch das grüne Geäst, undefinierbare Laute dringen allseits an meine Ohren. Sogar einen Leguan meine ich auf einem schrägen Stamm zu entdecken. Als ich ihn sehe, verlangsame ich meine Schritte, trotte nun vielmehr, als dass ich gehe. Ich drehe ihm das Gesicht nach. Er wirkt wie eine Statue, reglos verharrt er an Ort und Stelle. Ich wende mich nach vorn und erreiche mein Ziel. Ebenso reglos wie der Leguan, halten die Portiers ihre Stellung am Eingang. Mit ihren Hüten und den Uniformen ähneln sie den Vögeln, die munter miteinander zwitschern und sich ihres Lebens erfreuen. Ich steuere auf sie zu, dann jedoch, schweift mein Blick zur Seite und wieder gehe ich langsamer, beinahe bleibe ich stehen. In zusammengesunkener Haltung kauert Jonouchi zwischen zwei Palmen im Gras. Er hält die Beine angewinkelt, lehnt sich mit dem Rücken gegen die blanke Wand des Gebäudes und bewegt die Hände zwischen den zierlichen Halmen. Sein Gesicht ist gesenkt. Mir bleibt kein außergewöhnlicher Vorsprung, fast gleichzeitig blickt er auf und bemerkt mich. Wie so oft auch in letzter Zeit, treffen unsere Augen aufeinander und er hält in jeglicher Bewegung inne. In dieser Sonne kauert er, hinter seinem Rücken strahlt der Luxus, sanfte Brisen ziehen erfrischend vorüber, der muntere Gesang der Tiere ist allgegenwärtig... Und er wirkt kränklich und schwach, zermürbter und bleicher, als ich ihn am gestrigen Tag erlebte. Glasige Augen richten sich auf mich, keine Emotionen schenken dem blassen Gesicht Ausdruck, keine Kraft spendet die Sonne dem schwachen Körper. Nur in seinen Augen lese ich etwas, das sich mit den Gefühlen eines Todgeweihten gleichsetzen lässt. Neben diesen Gefühlen nehme ich ein gewisses Desinteresse wahr, das er bestätigt, indem er den Kopf sinken lässt, die vorherige Haltung einnimmt und wie in einem geistesabwesenden Zustand die Finger im Gras bewegt. Gleichzeitig drehe ich mich nach vorn, erreiche den Eingang und durchquere ihn. Ohne dass ich diese Sekunden des Augenkontaktes überdenken kann, betrete ich die Vorhalle, denn sogleich steht mir jener Mann gegenüber. Der Mann, der gestern eintraf. Er spielt die Rolle des treuen Wachhundes exzellent, scheint sich nicht weiter als zehn Meter von Jonouchi zu entfernen. Für ihn interessiere ich mich nicht, also mache ich Anstalten, an ihm vorbeizugehen. Doch er spricht mich unverhofft an. "Mister Kaiba." Vernehme ich seine Stimme und halte sogleich inne. Er nickt mir respektvoll zu und nimmt Haltung an. Und mir bleibt nichts anderes übrig, als abzuwarten. Währenddessen beflügelt mich leises Misstrauen, denn Menschen, die mir unbekannt sind, haben mich nicht anzusprechen. An diesen Mann kann ich mich nicht erinnern. "Nice to see you again." Mehr nicht. Er wendet sich der Tür zu, somit ist es für ihn beendet und ich führe meinen Weg fort, skeptische Blicke zurückwerfend, langsam und zugleich irritiert. Kam er mir doch schon einmal unter die Augen? Früher als gewöhnlich lasse ich mir das Abendessen auf meine Suite bringen und verzehre es in aller Seelenruhe. Dazu benötige ich eine lange Zeit und nachdem ich mir den unangenehmen Schweiß des Tages vom Körper gewaschen habe, komme ich in den Genuss eines exzellenten Cocktails. Was das Mischen anbelangt, handle ich nach Intuition. Meine Intuition lässt mich nie im Stich. Lange sitze ich auf dem bequemen Sofa, strecke die Beine von mir, dann schalte ich den Fernseher ein und gebe mich einer Stunde voller primitiven Gesprächen und Handlungen hin. Ich schicke dem Bildschirm nur selten Blicke, ich rühre in meinem Getränk und beobachte, wie die Sonne ihre letzten Strahlen Gen Erde schickt, sich der Himmel vor den großen Fenstern verdunkelt und kurz darauf die Nacht beginnt. Im Fernsehen beginnt eine unästhetische, überaus hässliche Frau, schallend zu lachen und ich nehme dieses lästige Geräusch als Zeichen, mein untätiges Hiersitzen zu beenden. Ich stelle das Glas auf dem Tisch ab, lasse die Frau lachen und verlasse die Suite. Bis die Müdigkeit nach mir greift und mich dazu bringt, diesen Tag dem Ende entgegenkommen zu lassen, möchte ich mich ein letztes Mal an meinen Tisch setzen und mich dem vorzüglichem Kaffee zuwenden. Koffein verfehlt bei mir die Wirkung, Kaffee macht mich nicht wacher als ich bin, putscht mich auch nicht auf, was ich stets als großen Nachteil ansah, wenn ich mich in die Arbeit meiner Firma vertiefte. Dass mich lediglich mein schwarzer Bademantel kleidet, lasse ich außer Acht, denn selbst unter diesen Umständen bin ich dazu imstande, mein Ziel zu erreichen. Mit sinnloser Arbeit will ich mich nicht belasten. Mit dem Fahrstuhl fahre ich nicht bis in das Erdgeschoss, ich stoppe in der ersten und betrete das Plateau, nachdem ich einen Gang hinter mir ließ. Die Empfangshalle, die ich von hier oben recht gut im Blicke habe, wirkt verlassen. Kein Mann an der Rezeption, keine gehetzten Angestellten oder andere Gäste. Die Lampen der Kronleuchter leuchten matt, strahlen nur einen gedämpften Schein aus. Jeden Abend wird dies getan, aus ist man auf eine harmonische Atmosphäre, die man auf diesem Weg schnell erreicht. Doch ich kann ihr nicht viel Aufmerksamkeit zukommen lassen, denn sogleich als ich mein Ziel erreiche, nehme ich etwas wahr, in dessen Genuss meine Ohren noch nie zuvor kamen. Ich blicke mich um, suche nach der Geräuschquelle und steuere in langsamen Schritten auf meinen Tisch zu. Flink bewegen sich meine Pupillen von einer Seite zur anderen, meine Ohren versuchen die Richtung auszumachen, aus der die Geräusche zu mir dringen. Geräusche? Nein, es sind nicht nur Geräusche. Vor dem Stuhl bleibe ich stehen. Eine langsame, tragende Melodie zieht durch die edle Halle. Ein Klavier wird gespielt, hier in der Nähe, so muss es sein. Ich stoppe meinen Atem, konzentriere mich. Dunkle Klänge, langsamer Rhythmus, es erscheint nicht all zu schwer, solches zu bewerkstelligen und doch muss ein Meister am Werk sein, denn das Werk eines Meisters ist auch dieses Stück. Mit Klassik fühlte ich mich nie konfrontiert und dennoch erkenne ich die Mondscheinsonate Beethovens wieder. Ja, sie ist es. Mir gefallen diese Klänge, die auf eine düstre, schauernde Stimmung schließen und eine verlassene Gegend vor dem geistigen Auge erkennen lassen. Eine düstre Gegend und am mitternächtlichem Himmel... der Mond. Langsam wende ich mich zur Halle, mein Zeigefinger streift den Tisch und in bedächtigen Schritten ziehe ich an ihm vorüber. In dieser Sekunde stört ein Geräusch die fesselnde Stille, die einsame Atmosphäre dieses Stückes. Eine Tür öffnet sich, ich sehe sie nicht. Schritte ertönen, nähern sich mir. Und kurz darauf erblicke ich den breitschultrigen Amerikaner, der dort unten erscheint und in schnellen Schritten auf die Eingangstür zusteuert. Er hält ein Handy am Ohr, vertieft in eine impulsive Diskussion, bemerkt er mich nicht. Noch immer ertönen die leisen Klänge und neben dieser Hektik, die dieser Mann ausstrahlt, wirken sie ironisch, umso tragischer und erweichend. Ich gehe weiter und als ich die Treppe erreiche, verlässt der Mann die Halle und verschwindet. Langsam steige ich die Stufen hinab, meine Hand tastet sich an dem Geländer entlang. Ich bewege mich mit den Klängen, fühle mich gebannt und angezogen. Ich steige tiefer, erreiche das Ende der Treppe und werde auf eine breite Tür aufmerksam. Unter dem Plateau führte die Halle verborgen weiter, führte durch einen kleineren Saal und endet an jener Tür. Sie ist nicht geschlossen, lehnt an. Durch den kleinen Spalt dringt die Melodie zu mir und ich gehe auf sie zu. Mit jedem Schritt wird sie lauter, macht mich neugierig auf die Quelle. Ich durchquere die kleinere Halle und je näher ich der Tür komme, desto langsamer gehe ich. Bevor ich sie erreiche, komme ich beinahe zum Stehen. Nun nehme ich sie deutlich wahr, höre einen jeden Klang, der die Hauptmelodie begleitet. Kurz lausche ich ihr, verfolge sie und hebe die Hand. Als würde ich zögern, tasten sich meine Finger um die Kante der Tür und ich öffne den linken Flügel. Ich erblicke einen majestätischen Saal, gleich einer Opernhalle ist er geschnitten. Lange Sitzreihen erstrecken sich vor der Bühne, deren Vorhang zurückgezogen wurde. Nur einer der Kronleuchter spendet Licht. Eine Gänsehaut schleicht sich über meinen Rücken, ein kalter Schauer folgt ihr. Lautlos trete ich ein. Bestärkt durch die Mondscheinsonate, wirkt die Dämmerung in diesem Raum wie eine schaurige Melancholie. Sie zieht mich in ihren Bann, ohne dass ich je versucht hätte, mich davor zu schützen. Zu schnellen Bewegungen bin ich nicht imstande, scheinbar schwerfällig tasten meine Hände nach dem dünnen Mantel und ziehen ihn straffer. Auf der klassischen Bühne steht einsam ein Klavier, bedächtig bearbeiten zarte Hände die Tasten, entlocken dem Instrument die schwerfälligen Töne und lassen es zum Leben erwachen. Aufrecht sitzt ein junger Mann auf dem Schemel. Sein Gesicht ist gesenkt, die Hände bewegen sich, als entwickelten sie ein Eigenleben, abwesend und darauf bedacht, die Trauer auf einem Weg auszudrücken, wie es keinen besseren gibt. Bedächtig neigt er sich nach vorn, sein Körper bewegt sich, verschmolzen mit der Melodie, in Einklang mit der Atmosphäre. Kein anderer als Jonouchi ist der Meister, der dieses Werk zustande bringt. Kein anderer ist es, der mich anlockte und mich nun im Bann gefangen hält. Ich starre ihn an. Kein anderer als Jonouchi besitzt eine Fähigkeit, die ich nicht mein Eigen nenne. Tastend und abwägend setze ich einen Fuß nach vorn, gehe durch die breite Mittelreihe und bewege mich auf die Bühne zu. Lautlos und bedächtig. Die Melodie steigert, die Töne heben sich und bevor man dies auf sich einwirken lassen kann, kehren sie zum tragenden zurück. Er lässt das Stück zu einem endlosen Spiel werden, beginnt von neuem, ohne dass es auffällig ist. Ich nähere mich ihm weiterhin, erkenne sein Gesicht. Es ist entspannt, die Augen geschlossen. Als befände er sich in Trance, lehnt er sich zur Seite, lehnt sich zurück und anschließend wieder nach vorn. Ich bewältigte erst die Hälfte meines Weges und doch halte ich inne und bleibe stehen. Diese Töne töten meine Gedanken ab, ich höre sie, neben dem ist mir nichts anderes möglich. Ausdruckslos sind meine Augen auf ihn gerichtet, mir gelingt ein Schlucken, etwas Schweres setzte sich in meinem Hals fest. Ich öffne den Mund, atme ein... und die Melodie verstummt. Sie bricht ab, die Finger auf den Tasten verbleiben reglos, ebenso wie Jonouchi selbst. Mit geschlossenen Augen verharrt er und ich habe das Gefühl, brutal aus einer wärmenden Ummantelung gerissen zu werden. Die Atmosphäre erlischt. Die Stille kehrt zurück und der Saal erscheint mir in einem anderen Licht. Groß, kahl und reglos, selbst der matte Schein... auch er verliert seinen Reiz. Ich wage es nicht, mich zu bewegen, bitte unbewusst, dass er weiterspielt, denn diese Stille wirkt unangenehm, brachte sie etwas anderem doch soeben noch ein Flair, das alles bestimmte, die Situation zu etwas Besonderem werden ließ. Langsam heben sich Jonouchis Schultern unter einem tiefen Atemzug. Die Hände rutschen von den Tasten, sinken auf den Schoß hinab und verbleiben dort. Und nach wenigen Sekunden erkenne ich ein müdes Lächeln, das an den hellen Lippen des Blonden zieht, ohne dass er die Augen öffnet oder den Kopf hebt. "Ich mag dieses Stück", höre ich ihn leise sagen, seine Stimme schwelgt verträumt in Erinnerungen und anderen Zeiten. "Es bringt zum Ausdruck, was sich mit Worten nicht definieren lässt. Götter müssen uns die Musik geschenkt haben. Uns Menschen." Nun regt er sich. Seine Lider heben sich etwas, er dreht das Gesicht zu mir, beobachtet mich hintergründig, beinahe verstohlen aus den Augenwinkeln und hält das Lächeln aufrecht. "Findest du nicht auch, Kaiba?" Irritiert über diese plötzlichen Worte, diesen schnellen Wandel der Situation, bin ich nicht dazu imstande, gleich zu antworten. Doch ich gehe weiter, setze meinen Weg in Schritten fort, als wolle ich das Eintreffen hinauszögern. Und er sieht mich näher kommen, mit einer Miene, die viel erwartet und dem leichten Lächeln, das so aufgesetzt wirkt. Beinahe kommt es mir so vor, als habe er vor, mich auf die Probe zu stellen, einem Test zu unterziehen, der es ihm ermöglicht, Geheimnisse zu lösen und in das zu blicken, das verborgen hinter der Finsternis liegt. Doch keinesfalls nervös. Ich erreiche die Bühne, bleibe vor ihr stehen und blicke zu ihm auf. Und nun bin ich nicht nur irritiert, nein, verwirrt kann man mich nennen, überfordert mit allem. Ich spreize die Finger und suche nach Worten, während ich seinen herausfordernden Blick zerstreut erwidere. Ich möchte etwas sagen, irgendetwas... etwas, durch das ich mehr erfahren werde. "Wer bist du." Meine Stimme... sie ist nicht mehr als ein kraftloses Hauchen. Meine Miene verzieht sich. Bis hierher und nicht weiter. Meine Geduld neigt sich ihrem Ende entgegen. Ich will, nein, ich muss es nun erfahren. Alles über ihn! Das alles erscheint mir wie ein unlösbares Mysterium. Geschehnisse weiß ich nicht einzuordnen, Ausdrücke nicht einzuschätzen. Nun jedoch sitzt die Lösung meiner Grübeleien vor mir und ich scheue keine Mittel. Lange sieht er mich an und während er dies tut, verliert das Lächeln kurz an Kraft, um als skeptisches Grinsen zurückzukehren. Und während sich seine Lippen verziehen, wendet er sich wieder den Tasten zu. Gemächlich hebt sich die linke Hand, die Finger setzen sich zielstrebig auf die Tasten und erneut beginnt er die Mondscheinsonate zu spielen. Langsam… langsamer aus gewöhnlich. "Willst du das wirklich wissen?", fragt er und betrachtet sich das kunstvolle Holz. "Willst du mich noch mehr hassen? Ist dir dein Hass so wichtig, Kaiba?" "Wer bist du", wiederhole ich und bin erleichtert, meine Stimme kraftvoller, beinahe schon drohend zu hören. Unbeeindruckt spielt er weiter und lässt sich Zeit, bevor er antwortet. "Ich bin etwas, wofür ich mich selbst hasse. Und mein Selbsthass…", ich spüre, wie sich seine Augen flüchtig auf mich richten, abschätzend und prüfend, "… ist bei weitem größer als deine Menschenverachtung. Ebenso meine Angst, gehasst zu werden. Dir ist das alles gleichgültig, nicht wahr?" Seine Finger tasten sich weiter, die milden Töne verleihen seinen Worten stärkere Wirkung, begleiten sie. "Hasse mich nicht für das, was ich bin. Das übernehme ich schon selbst." Mir verlangt es danach, ihm erneut zu drohen, zur Eile anzutreiben und ihm Worte zu entlocken, die mich interessieren. Doch als ich Luft hole und ansetze, mischt er einen nicht dazugehörigen hohen Klang in die Melodie. Erschreckend sticht er hervor und meine Lippen bewegen sich nur stumm. "Du lerntest einen Menschen kennen, der nie existierte." Er spielt weiter, seine Haltung verbleibt entspannt und ich höre zu, sauge einjedes seiner Worte förmlich in mir auf. "Katsuya Jonouchi... er ist aus einem Hirngespinst entstanden." Er schüttelt den Kopf, spricht langsam, leise und doch thematisch. "Es hat ihn nie gegeben. Nur Josem Brown, den gibt es. Er sitzt vor dir. Josem ist nicht achtzehn, nein, er ist neunzehn Jahre alt, wurde in Amerika geboren und kam im Alter von siebzehn Jahren nach Domino." Das Grinsen kehrt zurück. "Ich kenne deinen Fluch, Kaiba. Oh, ich kenne ihn wirklich und wünschte, es wäre nicht so. Ich bin durch eine Flucht nach Japan gekommen. Eine Flucht vor mir selbst. Die Dinge, die du besitzt, besitze ich auch und sie fügen mir Schmerzen zu, die du nicht erahnen kannst. Vermutlich, sage ich, denn das einzige, was ich von dir weiß, ist, dass du genau der Mensch bist, zu dem ich nicht werden will." "Was redest du da!", unterbreche ich ihn scharf, doch er spielt ungerührt weiter. "Verwirr mich nicht mit aussageschwachen Worten! Vergleiche dich nicht mit mir!" Ich werde lauter, denn so uninformativ seine Worte auch sind, sie erzürnen mich. "Bilde keine Zusammenhänge und schinde keine Zeit! Wenn es wahr ist, was du sagst, dann berichte von den Hintergründen, gib mir Fakten!" "Fakten?" Er wirkt erstaunt, als er aufblickt und sich die rötlichen Vorhänge betrachtet. Seine Augenbrauen verziehen sich und er wirft mir einen zweifelnden Blick zu. "Du scheinst Fakten zu lieben, nicht wahr? Ich gebe sie dir. Mein Vater ist Multimillionär, der fünfte Familienerbe der XanexxBrown-Corporation. Ich bin der Sechste, freut mich. Ist es das, was du hören wolltest?" Getrost wendet er sich dem Klavier zu und verleiht dem Stück Temperament. Und ich habe das Gefühl, Eis würde sich durch all meine Glieder fressen, als würde sich mein Herz verkrampfen und meine Brust schmerzen. So immens treffen mich diese Neuigkeiten. Meine Augen weiten, mein Mund öffnet sich, ohne dass ich auch nur daran denke, meine Stimme einzusetzen. Das pure Entsetzen ergreift von mir Besitzt, kriecht gefrierend und kaltblütig durch meinen gesamten Körper und macht mich der Bewegung unfähig. Ich will meinen Ohren keinen Glauben schenken, kämpfe dagegen, Jonouchi Glauben zu schenken! Es ist zu unglaublich, es ist unmöglich!! Die XanexxBrown-Corporation ist eine der führenden Weltkonzerne! Ihren Hauptsitz hat sie in Amerika, Tochterfirmen in jedem Land der Welt. Mit der besonders genialen Entwicklung von Computersystemen erlangte die amerikanische Familie Brown unglaublichen Ruhm und Reichtum. Einjeder kennt sie. Die Generationen, durch deren Hände die Firma ging und von Generation zu Generation wurde sie erfolgreicher, ein Limit scheint nicht zu existieren. Ich machte Geschäfte mit dieser Firma, ohne je auf den Inhaber zu treffen. Ich hörte von ihr, informierte mich über sie und gestand mir oft ein, dass die XanexxBrown das erreicht hat, worauf auch ich zu Beginn aus war. Weltweite Bekanntheit und Tochterfirmen. Meine Kaiba-Corporation ist eine der Spitzen Japans... Doch im Gegensatz zu dieser Firma...? Ich spüre ein schauriges Zittern in all meinen Gliedern. Ich möchte mich setzen, die Kraft in meinen Knien scheint nachzulassen, doch ich kann mich nicht rühren. Den klavierspielenden jungen Mann starre ich an, als sei er ein wahres Schreckensbild. Ihn sah ihn also vor wenigen Tagen: Oudrey Brown - Inhaber und Leiter! Vater!! Sein Vater?! Hastig und irritiert bewege ich die Lippen und schüttle den Kopf. Ich will es nicht realisieren, wehre mich mit allen Kräften dagegen. Katsuya beendet das Stück, beginnt nicht von neuem. Er lässt den letzten Ton verstummen und erhebt sich, als hätte er sich zu etwas entschlossen. Gemächlich verschwinden seine Hände in den tiefen Taschen des langen schwarzen Mantels und er nähert sich in trödelnden Schritten der Kante der Bühne. Meine Augen folgen ihm, ich kann sie nicht von ihm lösen! Ebenso wenig kann ich aus seinem Gesicht lesen. Es wirkt ausdruckslos, als er stehen bleibt und lässig mit den Schultern zuckt. "Du wirkst entsetzt, verwirrt? Nur zu, ich lasse dir Zeit, deine Gedanken zu ordnen. Verzeih die Enttäuschung, es war ganz sicher nicht meine Absicht, dich zu irritieren." Er steht dort oben und blickt auf mich herab. Seine Stimme klingt kühl und emotionslos und er spricht, als erzähle er von belanglosen Dingen. Doch das sind sie nicht! Nicht für mich! "Ändert diese Tatsache etwas an unserer derzeitigen Situation? Hättest du mich nicht wie Abschaum behandelt, hättest du meine wahre Identität gekannt?" Wieder sieht er mich abwägend an, doch auf eine Antwort scheint er nicht zu hoffen, denn mit einem leichten Sprung verlässt er die Bühne, kommt vor mir zum Stehen und neigt sich nach vorn, auf dass sich unsere Gesichter beinahe berühren. Ich weiche nicht zurück, starre in die braunen Augen, die mir Hohn entgegenzubringen scheinen. Die schmalen Braunen verziehen sich, er mustert mich eindringlich. "Unser gemeinsamer Fluch ist der Reichtum, Kaiba", flüstert er beinahe lautlos, ohne den Blickkontakt auch nur kurz zu lösen. "Vor ihm floh ich nach Domino. Dort war das Paradies, dort fand ich mein Glück. Und nun?" Er legt den Kopf schief, seine Stimme nimmt einen scharfen Vorwurf an. Einen Vorwurf, jedoch nicht gegen mich. Er klingt verbittert, die feinen Züge seines Gesichtes beginnen unauffällig zu zucken. "Nun zerrt man mich in die Hölle zurück, der ich entkam. Ich leide! Doch du?" Ich bemerke nicht, wie der den Fuß nach hinten setzte, doch plötzlich tritt er zurück und schüttelt den Kopf, mich ansehend, als hätte er etwas vor sich, das er aufgegeben hatte, für das es sich nicht zu kämpfen lohnte. "Du... kennst das Paradies gar nicht, Kaiba." Somit presst er die Lippen aufeinander, schüttelt den Kopf und zieht an mir vorbei. Ich sehe ihm nicht nach, starre auf den Punkt, an dem soeben noch seine Augen waren. Ich höre nicht seine Schritte, lausche in die Stille und zucke innerlich zusammen, als ich die Tür höre, wie sie sich schließt. "... er ist wohl der einzige, der kein Mysterium für mich darstellt. Nein, ich weiß alles über ihn, viel hat er in seinem tristen Leben nicht zu bieten, das sich erforschen lässt. Er ist durch die Primitivität geschwächt, war noch nie dazu imstande, intelligente Gedanken zu führen. Er symbolisiert den typischen Durchschnittsbürger für mich, mehr nicht. Und selbst mit dieser Einschätzung übertreibe ich vielleicht. Wenn man es recht bedenkt, Jonouchi weiß nichts, Jonouchi kann nichts, Jonouchi ist ein Nichts. Und so wird es immer bleiben..." Was ist geschehen? Was sagte er? Ich stehe dort, die Hände in den langen Ärmeln verborgen, die Augen leblos nach vorn gerichtet. Verzweifelt versuche ich mich zu entsinnen, zu konzentrieren, doch Wortfetzen, seine Stimme, die Mimik seines blassen Gesichtes, alles zieht mir ungeordnet durch den Kopf. Ich fühle mich schlecht, verwirrt und hilflos, bin mit der Situation überfordert und weiß nicht mit ihr umzugehen. Ich sehe seine Augen noch vor mir, das scharfe Funkeln, das mir entgegen stach, seine Lippen, die sich verbissen bewegten. Und ich benötige eine lange Zeit, um zu mir Selbst zu finden, zu klaren Gedanken imstande zu sein. Andererseits weigere ich mich auch, es zu verstehen, fürchtete mich vor der Einsicht. Katsuya Jonouchi kenne ich seit zwei Jahren. Wir alle trafen aufeinander, als wir die Domino Highschool besuchten, wir betraten den Raum, musterten einander und zogen unsere Schlüsse aus den Eindrücken. Er trug eine billige, unsaubere Schuluniform, wechselte sie nicht ein einziges Mal binnen dieser Jahre. Sein Haar… stets stand es ihm ungepflegt zu Berge. An Intelligenz schien es ihm stets zu mangeln, seine Leistungen waren schlicht und ergreifend dürftig und die Wortwahl... das alles trug zu dem Gesamtbild bei. Ein armer Köter aus der untersten Bevölkerungsschicht, unwürdig, mich anzusprechen. Seine Freunde, ein weiterer Grund meiner Abneigung. Ich habe ihn verachtet - immer! Ich bin etwas Besseres, ich stehe über ihm. Ich auf der Treppe, er vor der untersten Stufe, im Dreck kauernd. Seine Schlussfolgerungen entbehrten jeglicher Logik, sein Handeln - geistlos und primitiv. Seine Gefühle, sein Zustand - er war leicht zu durchschauen, ich las in ihm wie aus einem offenen Buch. Er war keine Bereicherung der Menschheit, niemand war auf ihn angewiesen, außer Muto und den anderen, die nicht einmal dazu imstande sind, ihre eigenen Probleme zu lösen. Ich genoss einjedes Wort, je brutaler und kaltblütiger desto befriedigender. Mit größter Lust gab ich mich dem Versuch hin, ihn zerbrechen zu lassen. An ihm, an seinem Wesen gab es nichts mehr, das es zu verteidigen lohnte. In meinen Augen ist er stets der Verlorene gewesen, der Abschaum der Welt, der bedauerlicherweise zu dieser dazugehört. Ich spielte mit ihm, seine Wut amüsierte, seine Verzweiflung erfreute mich. Ich hatte meinen Spaß mit ihm, ließ erst von ihm ab, als ich die Lust verlor, ihn sonderlich zu beachten. Ließ ich mich zwei Jahre irreleiten? Fiel ich wie die anderen auch, auf das herein, was er mir vorgaukelte? Der Gedanke, er hätte den Primitiven nur gespielt, erfüllt mich mit einer leisen Angst. Ließ er sich gehen? Bedeutete es ihm je etwas, zufriedenstellende Noten zu erzielen? Weil er es nicht nötig hatte? Spielte er mit uns? Mit mir? War nicht ich es, sondern er, der die Macht in den Händen hielt, am längeren Hebel saß? Das Spiel leitete? War ich vielleicht nur ein Teil seines Theaters, eine Belustigung für ihn? Übernahm ich unbewusst eine Rolle? Während er vor Zorn schrie... lachte er innerlich über meine Bosheit? Während er sich vor mir duckte... amüsierte er sich über meine Worte? Während er verzweifelt auf die Arbeiten starrte... schmunzelte er über deren Leichtigkeit? Schwieg er, obgleich er neben mir als Einziger die korrekte Lösung fand? Ist er... intelligent? Ist er gebildet? Streng erzogen? Beherrscht er jegliche Benimmregeln? Es graut mir!! Während ich auf meinem Thron saß, hockte er neben mir auf der Armlehne und streckte faul die Beine von sich? Befand er sich nie vor der untersten Stufe der Treppe? Ich fühle mich benutzt! Zu einem Spiel gezwungen, zu dem ich nicht bereit war! Vielleicht beging ich Fehler, die nur er bemerkte? Versprecher, unkorrekte Schritte einer Gleichung? Durchschaute er mich? Erforschte er mich, während er sich von mir fernhielt?? Ich lasse mich in einen der Stühle sinken, fühle mich matt und leide unter dem Entsetzen, das ich verspüre. Ist der Köter meiner ebenbürtig? Steht er gar höher?! Ich verspüre Scham, Selbstverachtung. Weshalb bemerkte ich nichts? Gesten, Mimiken, die auf sein wahres Ich schließen lassen. Ein verwöhnter Millionenerbe kann sich nicht von einem Tag zum anderen wandeln, um einhundertachtzig Grad wenden! Menschen, die Gold haben können, geben sich nicht mit Silber zufrieden! Bis ins Letzte bin ich entsetzt und erschüttert. Wankend und strauchelnd verlasse ich bald den Saal. Und während ich mich gegen die Tür des Fahrstuhles stütze, erinnere ich mich an seine Worte. Sie hallen in meinem Kopf wider und wider, als würde er sie in diesem Moment aussprechen. "Domino war das Paradies, dort fand ich mein Glück. Und nun? Nun zerrt man mich in die Hölle zurück, der ich entkam. Ich leide! Doch du? Du kennst das Paradies gar nicht, Kaiba." Paradies? Zittrig taste ich nach den Knöpfen, rufe die Kabine. Mein Gesicht zuckt verbissen, meine Muskeln verkrampfen sich, als ein Schauer des Zorns durch meinen Körper fließt. Es gibt kein Paradies auf dieser Welt! Nirgends ist hier Glück zu finden! Glück? Was soll das schon sein?! Ein Gefühl, das aus den Wunsch- und Wahnvorstellungen der Menschen aufersteht?! Glück! Es existiert nicht. Ich kenne kein Paradies, denn auch das ist nicht vorhanden! Jonouchi sprach verworren und sinnlos daher! Weshalb floh er?! Weshalb um alles in der Welt ist Reichtum ein Fluch?! Reichtum macht stark, Reichtum macht mächtig! Vor Reichtum scheut man sich nicht, man leidet nicht unter ihm! Reichtum ist ein Mittel, um zum Ziel zu gelangen!! Wie kann ein Leben, das von Reichtum geprägt ist, als Hölle bezeichnet werden?! Ohne den Reichtum wäre ich nicht da, wo ich heute bin! Ich bin Seto Kaiba! Auf Glück oder Paradiese bin ich nicht angewiesen!! Die Türen des Fahrstuhles öffnen sich und ich trete ein, meine Schritte sind unsicher, mein Atem rast, je mehr ich über dieses Erlebnis grüble, desto mehr zittere ich, desto mehr wächst der Zorn in mir. Woher nimmt Jonouchi das Recht… wie kann er sich anmaßen, so mit mir zu sprechen?! Respektlos trat er mir gegenüber, brachte mir das Gefühl entgegen, ich sei nichts Besonderes! Ein Mensch wie jeder andere, der Schwächen besitzt! Aber ich besitze keine Schwächen! Ich bin perfekt!! Keuchend neige ich mich nach vorn, lehne die Stirn gegen das kunstvolle Holz und schließe die Augen. Ich spüre nicht, wie ich die Kontrolle verliere, mich fallen lasse und alle Hüllen abwerfe, um der Wut freien Lauf zu lassen. Mit geballten Händen schlage ich gegen die Wand, zische zwischen den zusammengebissenen Zähnen und räkle mich in meiner Haltung. Dies ist ein Alptraum, keine Realität, nichts dergleichen. Zu grausam ist es, um wahr zu sein! Dieser Hohn! Diese Respektlosigkeit! Noch nie zuvor behandelte mich ein Mensch derartig, noch nie zuvor nahm sich ein Mensch die Frechheit, Kritik an mir zu üben!! "Ich kenne deinen Fluch, Kaiba. Oh, ich kenne ihn wirklich und wünschte, es wäre nicht so. Ich bin durch eine Flucht nach Japan gekommen. Eine Flucht vor mir selbst. Die Dinge, die du besitzt, besitze ich auch und sie fügen mir Schmerzen zu, die du nicht erahnen kannst. Vermutlich, sage ich, denn das einzige, was ich von dir weiß, ist, dass du genau der Mensch bist, zu dem ich nicht werden will." Oh Jonouchi, du wirst nie werden, wie ich! Magst du auch Reichtum besitzen, ist dein Vater auch einer der mächtigsten Männer der Welt! Die Schlucht besteht noch immer! Die Schlucht, die uns voneinander trennt! Verleugne sie nicht und spreche nicht von Flüchen, die auf mir lasten! Ich habe Geld, ich habe Macht! Keine Flüche, nein, das sind die Dinge, die meinem Leben einen Sinn geben! Leide doch, zerbreche doch, hasse dich selbst! Und quälen möge dich auch mein Hass, der auf dir lastet, stärker denn je! Nur du bist verflucht! Nur du!! Ein stark alkoholisches Getränk in der Hand, beginne ich durch meine Suite zu spazieren. Ich gehe schnell, ziehe Kreise und starre immer und immer wieder in die Finsternis der Nacht, die sich vor meinen Fenstern erstreckt. Ich weiß nicht, ob ich in meinem Leben je schon einmal solche Wut verspürte. Hat der Zorn je derartig meinen Kopf vernebelt? Ich fluche, ohne konkrete Gedanken zu verfolgen und trinke. Ich trinke zuviel, schenke mir immer wieder nach und finde in dieser Nacht keinen Schlaf. Er sprach mit mir, als würde er Mitleid verspüren!! Als wäre ich eine leidende Kreatur! Leide ich? Nein! Ganz sicher nicht. Ich bin perfekt und nenne Reichtum mein Eigen! Ich bin gefürchtet, erfolgreich! Das Leiden findet in meinem Leben keinen Platz! Mir geht es gut... Ich bin zufrieden... Und ich trinke. Als die erste Stunde des neuen Tages beginnt, ist mir schwindelig und ich fühle mich kraftlos. Ich lasse mich in einen der Sessel sinken, eine Flasche des weltbesten Whiskys leistet mir dabei Gesellschaft. Vor kurzem fühlte ich mich entspannt und gelockert. Dinge, die mir zuvor lästig erschienen, störten mich weniger und ich tat Dinge, die nicht zu meinem planmäßigen Leben gehören. Ich ließ mir mit allem Zeit, genoss mein Frühstück und nutzte die Erholungsangebote. Ich muss die Entspannung gelernt haben und grübelte weniger. Doch nun? All dies scheint vergessen, ich habe es nie erlebt und ich fühle mich abscheulich. Noch abscheulicher als ich mich vor dieser Entscheidung fühlte. Weshalb, frage ich mich, während der Inhalt der Flasche stetig abnimmt. Jonouchis Worte haben mich nicht zu interessieren, ich muss sie nicht mit mir in Verbindung bringen, mich nicht angesprochen fühlen. Auch wütend muss ich nicht sein, denn seine Worte waren leer und unbedeutend. Sie treffen nicht auf mich zu! Doch der Zorn verliert während der gesamten Nacht nicht an Kraft und bald bin ich zu betrunken, um mich weiterhin damit zu beschäftigen. Reglos verharre ich in dem Sessel, die leere Flasche Whisky baumelt von meiner Hand, die matt über der Lehne liegt. In meiner Suite herrscht reges Chaos, ich wütete. Kissen liegen auf dem Boden verteilt, eine Vase ging zu Bruch. Ich achte nicht darauf, meine Augen sind starr und leblos auf die Fenster gerichtet und Stunde um Stunde verbringe ich damit, auf die Helligkeit des Tages zu warten. Eines Tages, von dem ich nicht weiß, was er mir bringen wird. Bald wandelt sich das nächtliche Schwarz des Himmels in ein leichtes Blau, das flink heller wird. Und kurz darauf erscheint die Sonne und meine Suite erstrahlt in leuchtendem Glanz. Es erscheint mir, als wären die Stunden zu Minuten geworden, alles geht zu schnell, die Nacht habe ich schnell überstanden. ~*to be continued*~ Kapitel 7: ~Abhängigkeit~ ------------------------- ~*Kapitel 7 – Abhängigkeit*~ Lahm trete ich in den Flur hinaus, taste hinter mir nach der Klinke und schließe die Tür. Nach einer einstündigen Dusche, der Einnahme verschiedener Medikamente und einem ausgewogenen Frühstück, fühle ich mich besser. Müdigkeit plagt mich prinzipiell nicht, wenn ich eine Nacht nicht mit Schlaf verbringe, mein Körper ist es gewohnt, hat sich bereits darauf eingestellt. Ebenfalls gelang es mir, meine Gedanken zu ordnen und nun ist es mir wichtig, einen ungestörten Ort aufzusuchen, ich sah den Strand dafür vor. Ich will nachdenken, denn tief in meinem Inneren machte sich während der einsamen Stunden ein drückendes Gefühl breit, steigt direkt aus meinem Unterbewusstsein empor und irritiert mich. Ich vermag meinen Zustand nur schlecht zu beschreiben, noch nie fühlte ich derartiges. Neben der Aggression, die der Mann zu spüren bekam, der mir das Frühstück servierte, existiert ein anderes Befinden, das ich nicht zu definieren weiß. Ich möchte nicht sprechen oder mich mit jeglichen Dingen beschäftigen. Ich möchte niemanden sehen und alleine sein. Mit trägen Schritten gehe ich durch den Flur, bin auf dem Weg zum Fahrstuhl. Ich erreiche ihn schnell, meine Suite ist nicht weit von ihm entfernt. Bald biege ich langsam um eine Ecke und erblicke zwei Frauen, der extravaganten Art, die ebenfalls auf den Fahrstuhl zu warten scheinen. Lästig schlägt mir das hysterische Kichern entgegen, die Diamanten und der weitere Goldschmuck blenden mich. Ich gehe weiter, steuere auf sie zu, ohne das ich vorhabe, gemeinsam mit ihnen, die Kabine zu betreten. Nein, ich werde wohl die Treppen nutzen. Die Anstrengung nehme ich gern in Kauf, um meine Ohren und die geschwächten Nerven zu schonen. Sie beachten mich nicht, schütteln ihr Haar und krächzen wie Krähen. Gemächlich verstaue ich die Zigarettenschachtel im Umschlag meines Yukatas, während ich mit gesenktem Kopf an ihnen vorbeiziehe. Kurz darauf ertönt hinter mir die leise Glocke und die Frauen betreten den Fahrstuhl. Ich selbst erreiche einen luxuriösen Aufenthaltsraum. Die Deutschen scheinen sich nicht nach Erholung zu sehnen. Wie jeden Tag auch, sitzen sie lachend in einer Ecke und rauchen. Im Gegensatz zu den beiden Frauen, werden sie auf mich aufmerksam und sie verstummen, bis ich die kunstvolle Treppe erreiche und gemächlich auf ihr verschwinde. Kurz darauf nehme ich das Gelächter wieder wahr. In meinem Kopf breitet sich ein stechender Schmerz aus und also taste ich nach dem Geländer, um sicherer hinabsteigen zu können. So erreiche ich den Aufenthaltsraum der zweiten Etage, der dem oberen in jedem kleinsten Punkt ähnelt. Ihn muss ich wieder durchqueren, um die Treppe zu erreichen, die mich in die erste Etage führt. Ich steige von der letzten Stufe, meine Augen richten sich auf den Boden und ich mache mich auf den Weg. Dieser Aufenthaltsraum ist leer, nur ein Angestellter huscht von einer Tür zur anderen. Kurz darauf erreiche ich die Treppe, fasse nach dem Geländer und steige sie hinab. Ich sehne mich nach dem Fahrstuhl, unter den Folgen des übertriebenen Alkohols leidend, lässt sich der Weg schwerer bewältigen. Ich betrachte mir die kunstvollen Stufen, betrachte mir auch meine Füße, wie sie sich auf ihnen absetzen. Meine Schultern heben sich unter einem tiefen Atemzug und mit jedem Schritt sehne ich mich mehr nach der Stille. Ich will dieses Haus verlassen, mein Befinden ängstigt mich. Ich nähere mich dem Ende der Treppe, neben deren Geländer erscheint bereits der Aufenthaltsraum der ersten Etage. Ich komme meinem Ziel näher und blicke auf, als ich plötzlich eine leise Stimme wahrnehme. Der erste Eindruck dieser Stimme missfällt mir. Sie klingt scharf und streng, wirkt gnadenlos und eiskalt. Sie dringt aus der Ferne zu mir und ich drehe mich zur Seite, um von der Treppe in den Raum blicken zu können. Meine Augen beginnen zu suchen und kurz darauf erblicke ich jenen Mann, der, stolz aufgerichtet, in einem der wegführenden Gänge steht. Seine Haltung wirkt unumstößlich, steinern... eisern! Ebenso strahlt sie pure Verzogenheit und Arroganz aus. Meine Hand verbleibt auf dem Geländer, ich trete näher an dieses heran, lege auch die zweite darauf ab. Ich erkannte ihn sofort. Es ist kein anderer als Oudrey Brown, der Inhaber der XanexxBrown-Corporation. Ich starre ihn an, vernehme seine Stimme weiterhin. Er spricht schnell, die einzelnen Worte vermag ich nicht zu verstehen. Er spricht schnell und streng, beinahe schon drohend zu dem blonden jungen Mann, der vor ihm steht. Jonouchi! Er hält die Arme vor dem Leib verschränkt, starrt zu Boden und schüttelt langsam den Kopf, während er den Worten seines Vaters gnadenlos ausgeliefert ist. Und im Gegensatz zu diesem gibt er eine wahre Witzfigur ab, scheint hinzukommend außerdem an Größe zu verlieren. Ja, er wird kleiner und kleiner, seine Schultern senken sich und als sein Vater die Stimme hebt und seine vermutliche Wut zum Ausdruck bringt, bettet er das Kinn auf dem Schlüsselbein und schließt die Augen. Unausweichlich erinnert mich dieser Anblick an meine Vergangenheit. Seto, der kleine Junge, der sich unter den Beschimpfungen Gousaburos duckt, sich wünscht, taub zu sein und diesen Ort zu verlassen, der unter jenen kalten Worten leidet und doch nicht entfliehen kann. Seto, der einer alles dirigierenden Macht untersteht und sich beugen muss. Seto Kaiba, der darunter leidet und doch dazu gezwungen ist, weiterzumachen. Diese Geschehnisse ähneln sich, hinzukommend finde ich keinerlei Unterschiede zwischen Gousaburo und Oudrey Brown. Nur Unterschiede zwischen Jonouchi und mir. Ich ließ all dies hinter mir, er jedoch, hat es vor sich... Plötzlich wandelt sich das drohende Zischen zu einem zornigen Schreien und ich kehre schlagartig in die Realität zurück. Oudrey Brown tritt an seinen Sohn heran und gestikuliert mit den Händen, worauf Jonouchi zur Seite tritt, um sich Freiraum zu verschaffen. Er weicht zurück und Oudrey Brown schleicht ihm nach, wie eine Hyäne, die ein verletztes Kalb erspähte. Und er schreit weiter, nun ist es deutlich zu hören. Er konfrontiert seinen Sohn mit schweren Schuldzuweisungen und Vorwürfen, beleidigt und demütigt ihn auf eine Art und Weise, die mir bisher fremd war. Namen fallen, die ich nicht einordnen kann, gleichermaßen erinnert er Jonouchi an Vorfälle und Geschehnisse, in denen er höchstwahrscheinlich regelwidrig gehandelt hat. Jonouchi erreicht eine Wand, mürbe und kraftlos lehnt er sich gegen sie. Ich erkenne es, sein Leiden, denn vor langer Zeit war es auch meines. Oudrey Brown fährt dennoch fort. "You'd be a nobody without me!!", höre ich ihn schreien. "I'm your father. You have to take orders and..." "You're not my father", fällt Jonouchi ihm leise ins Wort. Ich vernehme seine Stimme lediglich gedämpft, dennoch erkenne ich das Zittern in ihr und den Respekt, der beinahe mit einer Angst gleichzusetzen ist. "You're an absolute ruler, not more." "You have to obey without contradiction!!" Oudrey Brown fährt fort, ohne auf die Worte seines Sohnes einzugehen. Oh, auch das kenne ich zur genüge. "I’ve nourished you! Because of me you've a home, because of me you are intelligent, because of me you visited the best schools! I gave you everything, always! I insinst on obedience!!" Dazu verpflichtet, gehorsam zu sein...? Ich wende den Blick ab, schließe die Augen und hole Atem. Geben, was nötig... mehr bieten, als das, was normal ist. Aus Selbstverständlichkeit heraus handeln und anschließend Gegenleistungen erwarten, nein, fordern? All dies erscheint mir wie ein schlechter Film. Langsam hebe ich die Lider, meine Pupillen driften zur Seite und erneut verfolge ich das Spektakel. Nun, Oudrey Brown verstummt. Jonouchi löste sich währenddessen von der Wand, steht nun aufrecht und sicher vor seinem Vater. Noch immer ist sein Kopf gesenkt und für wenige Sekunden scheint er gebrochen, verletzt und gern dazu bereit, aufzugeben. Stille kehrt ein, beide schweigen, doch dann ballt Jonouchi die Hände zu Fäusten und seine Schultern heben und senken sich unter einem schwerfälligen Atemzug. Er zögert kurz, bevor sich seine Lippen bewegen und er leise Antwort gibt. Er murmelt, ich verstehe seine Worte nicht. Es sind nicht viele, die er ausspricht und er ist nicht dazu imstande, sie zu beenden, denn plötzlich jagt die große Faust seines Vaters hervor und schmettert ihn zurück. Ein schmerzhaftes Zucken durchfährt meinen Körper, als Jonouchi seitlich gegen die Wand schlägt, sich kurz auf den Beinen hält und anschließend kraftlos an ihr hinabrutscht. Er bricht zusammen, bleibt zusammengesunken auf dem Boden kauern und regt sich nicht. "You’ll obey me!!" Oudrey baut sich vor ihm auf wie der Herrscher vor einem unwürdigen Sklaven, erweckt den Anschein, als verlange es ihm danach, einmal nachzutreten. "I’ll teach you obedience!!" Mit diesen Worten schlägt er seinen Mantel zurück, wendet sich ab und tritt in Schritten, als sei nichts geschehen, in den Aufenthaltsraum hinaus. Er bewegt sich stolz und entschlossen, lässt sich auf seinem Weg Zeit und zückt eine Zigarre, bevor er die Treppe erreicht, die ich mir zum Ziel nahm. Er bemerkte mich nicht und auch ich schenkte ihm keine Aufmerksamkeit, denn ich starre auf Jonouchi, der sich allmählich zu regen beginnt. Ich sehe, wie er sich stockend dreht, sich mit dem Rücken gegen die Wand lehnt und die Hand hebt. Mit ihr betastet er seinen Mund. Vermutlich bluten seine Lippen, denn er benutzt den Ärmel seines dünnen Mantels. Ich weiß nicht, was ich von diesem Spektakel halten soll, vermag es nicht, mich zu bewegen und beobachte ihn, wie er sich durch den Schopf fährt, den Hinterkopf gegen den teuren Marmor lehnt und ein erschöpftes Keuchen ausstößt. Zusammengekrochen verharrt er dort auf dem Boden, winkelt langsam die Beine an und starrt geradeaus. Ich denke, ich kann seine Emotionen nachempfinden, weiß, wie er sich in diesen Sekunden fühlt, auch wenn Gousaburo mich nie schlug. Zögernd beginne ich die Hände auf dem Geländer zu bewegen und als hätte er dies bemerkt, dreht Jonouchi plötzlich das Gesicht zu mir. Die Tatsache, dass er mich entdeckt, ändert nichts. Ich bleibe stehen und spüre deutlich, wie sich seine Augen auf mich richten. Ja, er sieht mich an und ich erwidere seinen Blick ausdruckslos. Unerwartet schnell wendet er sich jedoch ab und befasst sich mit einem nicht existenten Punkt an der gegenüberliegenden Wand. Nur kurz verbleibt er reglos, dann richtete er sich langsam auf, stützt sich ab und kommt auf die Beine. Und ohne sich weiterhin um mich zu kümmern, dreht er mir den Rücken zu und geht. In schlendernden, beinahe schon zu lockeren Schritten geht er davon und verschwindet kurz darauf hinter einer Ecke jenen Ganges. Fast gleichzeitig löse ich die Hände von dem Geländer, lasse sie in den Taschen meines Mantels verschwinden und mache mich daran, die letzten Stufen hinter mir zu lassen. Ich will mich strikt davor bewahren, dieses Erlebnis in meine Grübeleien einzubeziehen, die ich mir vornahm. Es wird zu nichts führen, es bedarf keiner Erklärung. Um mich selbst muss ich mich nun kümmern, dies hat höchste Priorität, die Probleme anderer sind für mich nicht von Bedeutung. Ohne auch nur einen Gedanken zu verschwenden, durchquere ich den Aufenthaltsraum, erreiche die letzte Treppe und gelange so in den Empfangssaal. Als ich den Fuß auf den marmornen Boden setze, setzt sich eine schwarze Limousine vor der Tür in Bewegung fährt davon. Ich sehe sie verschwinden und bleibe kurz stehen, um meine Umwelt zu mustern. Jener Mann, der seinen Platz hinter dem Rezeptionstisch fand, ist wieder anwesend, lässt mir jedoch nur ein begrüßendes Nicken zukommen, das ich in keiner Art und Weise erwidere. In schnellen Schritten eilt eine Angestellte an mir vorbei und ich setze mich in Bewegung, steuere auf den Ausgang zu. Ich will an den Strand, nichts wird mich davon abhalten. Als ich die kunstvolle Tür erreiche, beginnt jener Mann ein Telefongespräch und um seiner Stimme zu entkommen, gehe ich schneller. Automatisch schwingt die Tür vor mir auf und ich trete in das Licht des Tages hinaus. Eine warme Temperatur herrscht auch heute und das Zwitschern der Vögel ertönt sogleich allseitig. Bunte Gefieder erblicke ich zwischen den grünen Blättern der Palmen, die hellen Strahlen der Sonne lassen mich blinzeln. Neben mir stehen die Portiers in strammer Haltung, ich werfe ihnen prüfende Seitenblicke zu, bevor ich die Straße betrete, erneut inne halte und eine Hand aus den Taschen löse, um meine Zigarettenschachtel hervorzuziehen. Gemächlich klappe ich sie auf, ziehe mir eine Zigarette und betrachte mir den Himmel, der in einem strahlenden Blau über mir liegt. Solch ein Anblick bietet sich mir selten, Dominos Himmel erscheint mir zumeist düster und trist. Langsam findet die Zigarette ihren Weg zu meinem Mund, ich klemme sie zwischen die Lippen und beginne in den Taschen nach dem Feuerzeug zu suchen. Nebenbei werde ich auf das vergoldete Logo der Kurfirma aufmerksam, das groß und auffällig an der Außenwand des majestätischen Gebäudes prangt. Abwesend besehe ich mir die geschwungenen Striche und die Schrift, doch all dies interessiert mich weniger und so schaue ich höher, hebe den Kopf und taste weiterhin. Beinahe erreicht dieses Gebäude die Höhe meiner Firma, hebt sich im Baustil jedoch von dieser ab. Am heutigen Tage werden die Balkone scheinbar vermehrt genutzt. Ich erspähe sie bunten Schirme der Sonnenliegen, hinter manchen Fenstern sind Bewegungen auszumachen und die Portiers stehen stramm. Ich blicke höher, muss meinen Kopf allmählich in den Nacken legen. An manchen Stellen der Außenfassade wird das Licht der Sonne in meine Richtung reflektiert und so blinzle ich öfter und beschatte meine Augen kurz darauf mit der Hand. Als ich letzten Endes bis zum Dach des Gebäudes aufschaue, wird meine andere Hand fündig. Ich ertaste das Feuerzeug, ziehe es hervor und halte doch in der Bewegung inne. Noch immer fixiere ich mich auf das Dach, fixiere mich dort auf einen bestimmten Punkt und lasse das Feuerzeug sinken, langsam, ganz allmählich, denn dort oben habe ich etwas erspäht. Nach einer kurzen Zeit der Beobachtung verziehe ich die Augenbrauen, löse die Hand von meiner Stirn und nehme die Zigarette aus meinem Mund. Ich lasse mir mit meinen Bewegungen Zeit und klemme die Zigarette gemächlich hinter mein Ohr, auch das Feuerzeug kehrt in die Tasche zurück und dann verschränke ich langsam die Arme vor dem Bauch und betrachte mir den sauberen Asphalt. Lange gebe ich mich ruhigen Grübeleien hin, dann blicke ich erneut auf, hole tief Atem und kehre in gemächlichen Schritten in das Gebäude zurück. Ich durchquere den Empfangssaal, bleibe vor der Tür des Fahrstuhles stehen, rufe ihn und warte geduldig. Die Arme halte ich nun vor dem Bauch verschränkt, abwesend bearbeite ich die Unterlippe mit den Zähnen. Heute lässt sich der Fahrstuhl Zeit. Letzten Endes trifft er doch ein, die Türen öffnen sich und ich betrete die Kabine. Beiläufig wähle ich die oberste Etage des Hauses und während sich die Türen schließen, lehne ich mich gegen die Wand und betrachte mir meinen Yukata. Beinahe perfekt passt er sich meinem Körper an, der Stoff ist angenehm auf der blanken Haut, ordentlich ist er geschnitten. Es ist eine neue Erfahrung, so ein Kleiderstück zu tragen; es ist komfortabel, wärmend und für vielerlei Beschäftigung geeignet. Ich beschäftige mich gern mit diesem Thema, bis ich die oberste Etage erreiche, die Kabine stoppt und sich die Türen erneut unter jenem leisen Klingen öffnen. Ich trete in ein schmales Treppenhaus, steure gemächlich auf die Treppe zu und steige hinauf, bis ich eine Tür erreiche. Bedächtig ziehe ich den Yukata enger um meinen Körper, fahre mir durch den Schopf und hebe die Hand, um die Tür aufzuschieben. Sie war nicht verschlossen. Grelles Sonnenlicht blendet mich sogleich, eine warme Brise zieht mir entgegen und der Stoff des Yukatas flattert um meine Beine, als ich auf den Marmor des Daches hinaustrete und nach wenigen Schritten stehen bleibe. Das Dach macht einen kahlen Anschein, nichts gibt es hier, das zu einem längeren Aufenthalt einlädt. Und doch ist jemand hier. Desinteressiert, beinahe unbeteiligt richten sich meine Augen auf den jungen Mann, der entspannt auf der Brüstung des Daches steht und mit gesenktem Kopf in die unheimliche Tiefe starrt, die sich vor ihm erstreckt. Die Hände hält er entspannt in den Taschen des schwarzen Mantels verborgen, die blonden Strähnen bewegen sich im Wind. Ich betrachte ihn mir nur kurz, wende den Blick ab und taste über meinem Ohr nach der Zigarette. Ruhig klemme ich sie zwischen meine Lippen, ziehe das Feuerzeug hervor und schütze die kleine Flamme mit beiden Händen vor dem Wind. Ich entzünde den Tabak, nehme einen Zug und atme den Rauch durch die Nase aus, während ich das Feuerzeug wieder verschwinden lasse. Die Hand verbleibt in der Tasche, die andere greift nach der Zigarette und ich lasse sie sinken. Den Grund meines Aufenthaltes auf diesem Dach ist mir unbekannt. Ich ging einfach hinauf, ohne zu überlegen, ohne mir etwas bei meinen Schritten zu denken. Ich sauge an meinen Zähnen, rümpfe die Nase und blicke mich um. Das beruhigende Blau des Himmels umgibt mich zu allen Seiten, zieht sich bis zum Horizont, ohne das sich eine Landschaft erkennen lässt. Nicht einmal die bunten Vögel fliegen so hoch. Langsam dreht sich Jonouchi zu mir um, ich bemerke es nur aus den Augenwinkeln, ohne den Blick zu erwidern, der sich flüchtig auf mich richtet. Ich beschäftige mich mit dem Himmel und nach wenigen Sekunden wendet er mir wieder den Rücken zu, scheint an meiner Beobachtung teilzunehmen, denn er legt den Hinterkopf in den Nacken und schaut nach oben. Wieder hebe ich die Zigarette zum Mund, schließe die Lippen um den Filter und ziehe den Rauch in meine Lungen. Dann setze ich mich in Bewegung. Mir den Marmor des Bodens betrachtend, nähere ich mich ihm langsam, erreiche nach kurzer Zeit die Brüstung und steige schwerfällig hinauf. Er lässt den Kopf sinken, blickt nach unten und ich lehne mich etwas nach vorn, um es ihm gleichzutun. Ich meine, eine Spielzeuglandschaft zu sehen. Eine Straße, die nicht breiter ist als drei Finger, Palmen, die die Rolle des Grases zu übernehmen scheinen und zwei Punkte, die zu beiden Seiten des Einganges postiert sind. Ich drehe das Gesicht zur Seite und in kurzer Entfernung erspähe ich den Strand, an dem ich mich in diesen Sekunden gern befände. Neben mir stößt Jonouchi ein dumpfes Seufzen aus und ich richte mich auf, hebe die Zigarette und beschaue mir das Meer, das uns scheinbar zu allen Seiten umgibt. "Was, denkst du, geschieht mit den Menschen nach dem Tod?", meldet sich Jonouchi leise zu Wort. Seine Stimme erreicht mich deutlich, obgleich der Wind in meinen Ohren summt. "Gelangen sie zum Nirwana, wie es die Buddhisten versprechen? Werden sie zu Tieren, was einer weiteren ihrer Thesen entspricht? Oder steigen sie auf zum Himmel? Finden sie zu Gott, wie christliche Bücher es lehren?" "Es gibt keinen Gott", murmle ich leise, ohne mich weiterhin von meinen Beobachtungen ablenken zu lassen. "Mm." Er hebt die Schultern, lässt sie sinken und fährt erst nach einem scheinbar durchdachten Schweigen fort, leiser als zuvor, als würde eine Furcht ihn beherrschen. "Verschwinden sie im Nichts?" Solche Fragen haben mich nie beschäftigt, sie wecken nicht mein Interesse und so ist mir die Antwort auf diese Fragen gleichgültig. Wieder verfängt sich Jonouchi in Schweigen und ich schließe mich ihm an, bedächtig rauchend und den sanften Wind genießend. Kurz schließe ich die Augen, atme tief ein und blinzle herausfordernd zur Seite. Wieder starrt er in die tödliche Tiefe, wieder regt er sich nicht, nur sein Haar wiegt sich. Eine auffällige Wunde ziert seinen Mund, in seinen Augen scheinen keine Erinnerungen oder gar Freuden zu leben. Ich mustere ihn abwägend. "Finde es heraus", sage ich und sogleich fährt er in die Höhe und starrt mich an. Es scheint, als habe ich ihn auf etwas aufmerksam gemacht, dass er vergaß. Seine Augen sind geweitet auf mich gerichtet, sie glänzen matt, lassen mich ein Gefühl der verzweifelten Angst erkennen. Seine Lippen beginnen sich stumm zu bewegen, zu Worten ist er nicht imstande. Lediglich ein verworrenes Räuspern kommt über seine Lippen, bevor er sich wieder nach vorn wendet. "Dein Leben kannst du auch beenden, ohne solch ein Aufsehen zu erregen." "Ich habe dich nicht gebeten, zu kommen", antwortet er mir verbissen. Ich zucke mit den Schultern, drehe mich langsam zur Seite und beginne über die Brüstung zu spazieren. Und er sieht mir nach. Schlendernd setze ich einen Fuß vor den anderen, entferne mich jedoch nicht zu weit, bevor ich mich umdrehe, Rauch ausblase und die Zigarette in die Tiefe fallen lasse, die sich nur wenige Zentimeter neben meinen Füßen erstreckt. Auch ihr sieht er nach. Sie fällt, fällt... und bald ist sie nicht mehr zu sehen. "Weshalb bist du gekommen, Kaiba?" Auch die zweite Hand lasse ich in den Taschen des Yukatas verschwinden. Dann blinzle ich in der Sonne, werfe mit einer knappen Bewegung das Haar aus meiner Stirn und kehre zu ihm zurück. Erwartungsvoll, beinahe schon lauernd und misstrauisch sieht er mich näher kommen. "Versuch nicht, mich aufzuhalten." Ich muss grinsen, dieser Satz belustigt mich außerordentlich. "Behalte deine Wünsche für dich", erwidere ich amüsiert, mich einem düstren Sarkasmus bedienend. "Ich habe nichts dergleichen vor, kann jedoch nicht fernbleiben, wenn ein solches Spektakel ruft. Andererseits bezweifle ich, dass ich Augenzeuge eines Selbstmordes werde. Denn, Tatsache ist…", in sicherer Entfernung bleibe ich stehen, das Grinsen zerrt gehässig an meinen Lippen, "… du bist zu schwach... zu feige, um dich fallen zu lassen." Er sieht mich an, als durchdenke er meine Worte konzentriert. Und bald darauf verleiht ein Grinsen seiner Mimik Ausdruck, das meinem recht ähnlich ist. "Ja", nickt er. "Ich bin feige. Und dabei ist es doch nicht schwer, sich abzustoßen." Ich betrachte mir abwägend die Kante der Brüstung, neben mir glaube ich ein leises Lachen zu hören. "Berechnen wir doch die Dauer meines Sturzes physikalisch. Höhe des Gebäudes, Gewicht des armen Irren. Ach, was gehörte noch dazu?" "Schwerkraft", helfe ich gelangweilt aus. "Natürlich, die Schwerkraft. Sie macht all dies erst möglich." Wieder nickt er beinahe vergnügt, seine Hände verlassen die Manteltaschen und er verschränkt die Arme vor dem Bauch. "Fünf Sekunden und anschließend habe ich die Wahl zwischen zwei Todesursachen." "Schlägst du auf dem Asphalt auf, so berstet dein Schädel, Gehirnverbindungen reißen, Venen platzen." Ich fahre mir durch den Schopf, der Wind nimmt zu. "Der Tod tritt binnen weniger Sekunden durch innere Blutungen ein, ebenso ist es möglich, durch das Aussetzen des Herzens. Ausschlaggebend ist die Art, wie du aufprallst. Muskeln reißen, Knochen brechen, Gedärme werden zerfetzt, ebenso werden die Verbindungen zum Herzen gekappt. Bete, dass dein Genick bricht, bevor du die abgöttischen Schmerzen des schwindenden Lebens ertragen musst." "Schlage ich jedoch auf dem Rasen auf", erwidert er, ohne meinen Worten Beachtung zu schenken. "So komme ich in den Genuss eines längeren Leidens. Ich werde mir das Becken brechen, mir die Arme aus den Gelenken reißen, meinen Schädel werden Risse durchziehen und mein Gehirn wird nicht mehr als ein solches zu identifizieren sein. Doch vielleicht sind manche Verbindungen und Nerven noch intakt? So werde ich erleben, wie sich mein Körper verkrampft und mir Blut aus den Augen quillt. Offene Trümmerfrakturen überziehen meine Arme und Beine. Das alles hat mich nicht zu stören, vorausgesetzt mir wird nicht das Glück zuteil, gebrochene Rippen davonzutragen, die sich geradewegs in mein Herz bohren." Gelangweilt hebe ich die Augenbrauen. "Ich würde den Asphalt bevorzugen." "Ja." Er lacht leise und nickt. Er nickt lange, blinzelt zur Seite und allmählich verliert sein Grinsen an Kraft. Binnen weniger Sekunden wird seine Miene von Ernsthaftigkeit und anschließend von Verbitterung befallen. Er atmet tief ein, presst die Lippen aufeinander und wendet das Gesicht ab. Somit bricht wieder die Stille über uns herein und bald verliere ich die Lust zum Stehen. Also lasse ich mich auf der Brüstung nieder, strecke die Beine aus und stütze mich hinterrücks ab. Nun sitze ich dem Dach zugewendet, die Tiefe im Rücken, Jonouchi neben mir. Und lange Zeit schweigen wir. Er blickt zum Horizont und ich betrachte mir die Tür, obgleich sie mir nichts zu bedeuten hat. Ich weiß nicht, wie es nun weitergehen soll, weshalb ich mich nicht erhebe, das Dach verlasse und Jonouchi seinem Schicksal übergebe. Seine Sorgen sind nicht meine Sorgen, sie haben mich nicht zu kümmern und doch hält mich etwas hier. Der Wind verstärkt sich, ganz anders als auf dem Erdboden. Er pfeift in meinen Ohren, lange Strähnen fallen in mein Gesicht und doch verharre ich reglos. Es muss einen Grund geben, etwas, das mein jetziges Handeln begründet und erklärt. Ich kenne ihn nicht, begebe mich jedoch auf die Suche, darauf aus, ihn zu finden und mich selbst zu verstehen. Mein Herz schlägt im gewohnten Takt, ich verspüre keinerlei Aufregung, mein Atem fällt ruhig. "Weißt du, Kaiba", erhebt Jonouchi unerwartet die Stimme. Sie schwelgt, erweckt den Anschein, als befände er sich in Erinnerungen und Träumen, nicht hier an diesem Ort, an dem er allem ein Ende setzen will. "Mein Leben ist ein einziges Dilemma, es war nie anders und wird nie anders sein. Aufgewachsen in einem goldenen Käfig, werde ich auch in einem goldenen Käfig enden, gefesselt mit diamantenen Ketten. Unter dem Neid und dem Wissen leidend, dass es anderen Menschen besser geht. Menschen, die weniger besitzen und doch des Lebens froh sind. Vielleicht auch genau aus diesem Grund?" Ich bewege mich nicht, starre auf einen nicht existenten Punkt. "Ich wollte immer sein, wie sie, sehne mich danach, mein Geld mit harter Arbeit zu verdienen. Ich will mir Erfolge erkämpfen, mir meinen Weg zum Ziel selbst bahnen, ohne dass mir das Ziel auf dem goldenen Tablett gereicht wird, ohne dass ich Taten sprechen ließ. Das ist nicht das Wahre. Das macht nicht stolz." Ich höre einen schweren Atemzug. "Diese Menschen, Kaiba, die Reichtum nicht bereits in der Wiege neben sich liegen hatten, genießen solche Vorteile. Sie haben Zeit, sie werden nicht gepeitscht und übertriebenen Forderungen unterstellt. Mit vier Jahren verbrachten sie ihre Zeit im Sandkasten oder mit Spielen, die ihres Alters würdig sind. Ich jedoch, begann zu lernen, lernte lesen und schreiben... mit vier Jahren. Ich lernte, was es zu lernen gibt, ohne dass ich es aus eigenem Willen tat. Ich habe diese Menschen immer beneidet. Menschen, die keinem strikten Plan Folge leisten müssen, sich ihr Leben selbst aufbauen. Es gelang mir, für kurze Zeit dem goldenen Käfig zu entfliehen. Und nun stürzen all diese Pflichten, all diese Regeln und Forderungen über mich herein gleich einer monströsen Welle, die alles mit sich reißt. Ich weiß nicht damit umzugehen, soll die größte Tochterfirma übernehmen und mich behaupten, bevor ich Inhaber der Xanexx werde." Er verstummt und gibt sich erneut einem kurzen Schweigen hin. Wieder höre ich ihn seufzen. "Doch was ist, wenn ich mir ein anderes Ziel setzte? Ist es das Recht anderer Menschen, mein Leben zu steuern? Es ist mein Leben, nur ich darf darüber verfügen und das ist die einzige Gerechtigkeit! Ich scheue mich vor der Routine, ja, es graut mir regelrecht davor, dazu gezwungen zu sein, mich nach einem Plan zu richten. Tag für Tag. In solch einem Leben findet die menschliche Individualität keinen Platz. Alles geht mechanisch vonstatten, nichts steigt aus der eigenen Freude und Lust empor. Ich möchte, nein, ich will nicht zu einem Werkzeug werden. Zu einem Werkzeug der Wirtschaft, gefangen in mir selbst!" "Wie kannst du behaupten, dass ich der Mensch sei, zu dem du nicht werden willst!" Ich erhebe die Stimme, ohne dass ich es will. In einer gewissen Art und Weise fühle ich mich angegriffen und so spreche ich drohend zu Jonouchi, ohne ihn anzublicken. "Du kennst mich nicht, maße dir also nicht an, über mich zu urteilen und glaube nicht, das Richtige zu erfahren, nur durch Sinnieren und Einschätzen!" "Es braucht kein Sinnieren und Einschätzen", antwortet er scheinbar ohne seine Worte zu überdenken. "Ich kenne dich lange, Kaiba, wurde Zeuge deiner seelischen Verkümmerung und der Verzweiflung, die du auszudrücken nur durch Aggressionen imstande bist. Und je mehr ich deine Qualen spürte, desto mehr graute mir vor meinem eigenen Leben." "Wage es nicht, Vergleiche aufzustellen!" Ich richte mich auf und mein Körper stellt sich auf die pure Verteidigung ein. Kurz halte ich den Atem an und meine Miene versteinert in einem finsteren Ausdruck. "Wir ähneln uns in keinerlei Hinsicht und werden es nie tun! Kümmere dich um dein Leben, beende es hier und jetzt, wenn dir danach ist, doch spiele nicht den Allwissenden, der meint, sich in andere Menschen hineinversetzen zu können!" Schwungvoll komme ich auf die Beine, stehe Rücken zu Rücken mit Jonouchi und starre verbissen auf das friedliche Blau des Himmels, das in solch einer Situation scharfe Ironie ausstrahlt. "Dir... ist die Routine, von der ich sprach, doch bekannt...?", vernehme ich seine Stimme hinter mir. "Lebst du frei in den Tag hinein, freust du dich auf jede Stunde, die dich erwartet?" "Um erfolgreich zu sein", erwidere ich scharf, "ist man auf dergleichen nicht angewiesen!" "Erfolg bestimmt das Leben mancher Menschen, wohl wahr." Durch den drohenden Ton lässt er sich in keinerlei Hinsicht stören. "Das ist dramatisch." "Beiße dich nicht in meinem Leben fest!" Ich balle die Hände zu Fäusten, spüre die zurückkehrende Wut, tief in meinem Inneren. "Hast du kein Eigenes, auf das du deine hirngespinstigen Philosophien jagen kannst?!" Eine scharfe Böe erfasst uns, pfeift in meinen Ohren und trägt eine Stimme mit sich, die leise murmelt: "Ich habe ebenso kein Leben wie du." Ich bewege mich nicht, lasse diese Worte in meinem Kopf ausklingen und sehe mich dazu gezwungen, schwer zu schlucken, als sie verstummen. Für wenige Sekunden spüre ich wieder das merkwürdige Gefühl in mir, das, welches ich nicht zu definieren weiß. Niemand zuvor sagte so etwas zu mir! Ich halte den Atem an, doch es gelingt mir, mich zu fangen. Ist er darauf aus, mich aus der Reserve zu locken? "Du bist bemitleidenswert." Auch ich spreche leise, mein Körper entspannt sich von der kurzen Verkrampfung. "Ich lebe mein Leben. Bedauerlich, wenn du nicht dazu imstande bist." Er schweigt und ich trete nach vorn, entferne mich von ihm und baue einen gewissen Abstand auf. Dies erscheint mir angenehmer. "Es ist deine Hölle. Versuch nicht, auch mich hineinzuziehen. Ist deine Verzweiflung so stark, dass du sie mit anderen teilen willst? Nein, nein." Wieder gelingt mir jenes verächtliche Grinsen und ich drehe mich gemächlich zu ihm um, lauernd und drohend. "Viele Dinge halten mich hier, viele Dinge geben meinem Leben Sinn." "Pass bloß auf, dass deine Nase nicht wächst, Kaiba!", antwortet er mir ebenso verächtlich, beinahe schon wütend. "Was?!" "Vergiss es." Er dreht sich zum mir um, verschränkt die Arme vor der Brust und mustert mich unausweichlich, ernst. "Ist es dein Bruder, der dich hier hält? Gibt er deinem Leben einen Sinn? Ist es Mokuba?" Ich lege den Kopf schief und schweige. Weshalb sollte ich sprechen, ist ihm die Antwort doch schon bekannt! Ein verbissenes Grinsen bringt die Bestätigung. "Glaube nicht, dass ich die Beziehung, die zwischen euch herrscht, nicht einzuschätzen imstande bin. Auch ich hatte einmal einen kleinen Bruder!" Einen Bruder? Ich muss sagen, dies überrascht mich und ich kann nicht verhindern, dass ich es zum Ausdruck bringe. Stockend lasse ich die Arme sinken und er nickt. Seine Stimme verändert sich, nimmt eine düstere Verbitterung an und steigert sich auch in der Lautstärke, als sei er nicht dazu imstande, anders über diese Tatsache zu sprechen, als hindere ihn etwas daran, ruhig zu bleiben. "Er starb während des Lebensjahres, indem Mokuba sich nun befindet! Vor vier Jahren, um genau zu sein! Ich habe ihn geliebt, verstehst du?!" Er schlägt sich gegen die Brust und entfernt sich einen Schritt von der Brüstungskante. "Ich habe ihn geliebt, und das nicht weniger als du Mokuba liebst! Was denkst du, wie verteufelt ich darunter litt!!" Er schreit und seine Stimme zittert. "Ich besitze jedes Recht, verzweifelt zu sein, ebenso darf ich behaupten, dass das, was ich durchmache, nicht als Leben zu bezeichnen ist!! Und meine Mutter...", er verschluckt sich an seinem eigenen Atem, keucht und gestikuliert mit den Händen. Hysterisch und aufgelöst wirkt sein Verhalten, als würde etwas Begrabenes hervorbrechen, "… sie war eine herrliche Frau, auf deren Schultern der größte Teil des Leidens durch die Schreckensherrschaft meines Vaters lastete!! Warum das Wort "war"?!" Ein verkrampftes Grinsen zerrt an seinen Lippen, sein Körper bebt. "Weil sie ihrem leidenden Leben fünf Tage später ein Ende setzte!! Sie folgte Katsuya und ließ mich allein!! Wie kann sie nur gehen, wenn der einzige Weg, der mich zu ihr bringt, so grausam ist?!" "Katsuya...?" Langsam beuge ich mich nach vorn und er verharrt in jeglicher Bewegung, starrt mich an und scheint sich zu beruhigen. "Mein Bruder... Katsuya", haucht er dann und reibt sich den Oberarm, sein Blick haftet auf dem Boden, als verabscheue er es, ihn auf meine Augen zu richten. "Unsere Mutter war Japanerin. Auch Katsuya war Japaner. Nur ich... ich war gemeinsam mit meinem Vater stets der Amerikaner. Ohne dass ich es bemerkte, teilte sich unsere Familie. Weshalb nicht? Glücklich war sie noch nie." Somit gibt er sich jenem erdrückenden Schweigen hin, hält den Kopf gesenkt und beruhigt seinen Atem. Ich lauschte jedem seiner Worte konzentriert und beginne in diesen Sekunden all das Gehörte zu verarbeiten. Den Namen seines verstorbenen Bruders nahm er also an...? Langsam wende auch ich den Blick ab, gedankenverloren betrachte ich mir den sauberen Boden zu meinen Füßen und schaue erst auf, als sich Katsuya regt. Als stecke in seinen Knien marternde Schwäche, steigt er von der Brüstung, reibt sich abwesend die Brust und lässt sich stockend auf der Stufe nieder. Erschöpft sinkt er in sich zusammen, legt die Ellbogen auf den Knien ab und faltet die Hände ineinander. "Weniger dramatisch wäre es gewesen, hätte ein Unfall die Schuld an seinem Tod getragen, doch dem war nicht so." Er blinzelt, seine Pupillen schweifen matt über den glänzenden Marmor. "Er war krank, seit seiner Geburt. Und was...", er lässt den Kopf sinken, ich sehe sein Gesicht nicht mehr, "… ist schlimmer, als das Leiden durch eine Krankheit? Mm... die Vertuschung der Krankheit. Die Familienehre hinderte meinen Vater daran, Maßnahmen zu ergreifen, ihm womöglich das Leben zu retten. Die Ehre... welche Ehre! Familie Brown ist erfolgreich, in ihrem Inneren und im Privaten jedoch zerrüttet und jämmerlich. Hast du... schon einmal gesehen, wie ein Mensch dahinsiecht, gleich eines verletzen Tieres verendet?" Die letzten Worte nehme ich kaum wahr, so sehr zittert seine Stimme und die Hand hebt sich flink zum Gesicht, verdeckt es. Ich starre ihn an, atme tief aus und weite nach einem langen Zwinkern die Augen. Ich möchte nichts sagen... doch um ehrlich zu sein, bezweifle ich, dass meine Suche nach gleichkommenden Worten erfolgreich enden würde. So schweige ich und Jonouchi stößt ein gedrungenes Stöhnen aus, bevor sich die Hand Gen Boden senkt und sich das Gesicht hebt. Ich besehe es mir, suche nach einem Ausdruck, der mir in einer Verwirrung weiterhilft. Doch... Kein Ausdruck - nichts. "Natürlich wurde dieser Tod als tragischer Unfall an die Öffentlichkeit verkauft. Oh, wie Mr. Brown doch unter diesem schicksalsschweren Verlust leidet! In Wahrheit traten durch dieses Geschehnis keinerlei Veränderungen für ihn ein. Weshalb auch! Er verlor lediglich den Zweitgeborenen, dieser ist von minderem Wert auf der Wichtigkeitsskala. Nun denn, er lebte weiter, und das mit einer Miene, als wäre sein fleißigster Diener verunglückt. Und auch wir lebten weiter, meine Mutter und ich. Wie lange sie nach diesem Vorfall noch lebte, das kann ich nicht sagen, denn sie zog sich auf ihr Zimmer zurück und vor ihrem Tod traten wir uns nicht mehr unter die Augen, geschweige denn wechselten wir Worte, tauschten uns aus oder sprachen über unsere Gefühle. Nichts dergleichen. Nach fünf Tagen fand man sie. Ihre kalten Finger hielten das kunstvolle Portrait eines kleinen Jungen, ihre Augen betrachteten sich die Dunkelheit. Wer weiß, vielleicht brachte sie sich am selben Tag um, folgte Katsuya lediglich mit einer Verzögerung von wenigen Stunden? Gott weiß, ob sie fünf Tage in ihrem Zimmer lag." Er zuckt mit den Schultern, seine Lider sind gesenkt. "Nun verlor mein Vater einen weiteren Diener, was es ihm natürlich erlaubte, sich dem Letzten besonders zu widmen. Er nahm mir alles." Seine Finger legen sich verkrampft um die Kante der Brüstung, seine Miene zuckt. "Die Freiheit, selbst die Hoffnung auf einen erfolgreichen Selbstmord! Ich wurde zu einem streng erzogenen Schoßhund, den man an der kurzen Leine hält und zurückzerrt, sollte er sich aus seinem Kreis hinauswagen. Ich war immer der Köter. Wie schön, dass auch du der Meinung bist." Ein finsterer Blick trifft mich. "Wenn mein Vater sagt: ‚Wünsch dir, was immer du willst.’, so ist dieses Versprechen im Besitz eines ungeheuren Wertes. Wünsche, die in der Familie Brown erfüllt werden, sind selten, jedoch recht beeindruckend. Und zu meinem siebzehnten Geburtstag…", er erhebt sich aus der zusammengesunkenen Haltung, stützt sich ab und streckt die Beine aus. Ich glaube einen nassen Schimmer in seinen Augen zu erkennen und er sieht mich an, scheinbar nicht darauf bedacht, die Tatsache zu verbergen, "… zu meinem siebzehnten Geburtstag wünschte ich mir, mich unter das "niedere Volk", wie mein Vater so gern zu sagen pflegt, zu mischen. Ich verfolgte lediglich das Ziel, mich von all dem, das mir solche Schmerzen zufügt, zu trennen, war nicht darauf bedacht, diese Menschen zu erforschen, mich gar auf sie einzulassen. Ich kannte den Reichtum, nichts anderes. Nun, mein Vater erteilte mir die Erlaubnis, vermutlich mit dem Hintergedanken, mich abzuschrecken, mir den Reichtum noch angenehmer zu machen und zu zeigen, dass wir etwas Besseres sind. Ich wählte Japan. Die Entfernung zu meiner Heimat konnte nicht groß genug sein. Binnen weniger Tage leitete man all das Nötige in die Wege. Man besorgte mir eine Wohnung, erledigte Anmeldungen und richtete ein Konto ein, auf das ich jederzeit Zugriff hatte. Eine Million, Kaiba! Und ich nahm nur das Nötigste. Ich erreichte Japan und mit jedem Tag wandelte ich mich zu einem anderen Menschen. Ich fand den Gefallen am Alkohol und Prügeleien, die Schmerzen halfen mir, über das Schlimmste hinwegzukommen, durch sie vergaß ich. Ich tobte mich aus und lernte ein Leben kennen, in dem keinerlei Pflichten existieren, in dem man nichts von mir erwartet und mir die Freiheit ließ, all das zu tun, was ich wollte. Ich trat einer Straßengang bei, die aus Jugendlichen bestand, die geradewegs aus der Gosse krochen. Primitive Gespräche, noch geistlosere Tätigkeiten und Besäufnisse, die in ihrer Sinnlosigkeit nicht zu überbieten waren. Herrlich, im wahrsten Sinne des Wortes. Bald erfuhr ich von der Domino-High. Und aus purer Langeweile schrieb ich mich ein... durch reinen Überdruss kam ich dazu, was man wohl eine positive Veränderung nennt, denn dort lernte ich Yugi kennen, einen Jungen, der sich für andere einsetzt, ohne den geringsten Gegenwert zu erwarten." Ein kraftloses Lächeln zeichnet sich auf seinen blassen Lippen ab und er seufzt leise. "Etwas Neues, ja, das war es. Noch nie zuvor hatte ich so etwas erlebt und es versetzte mich in Staunen, obgleich dieses Benehmen doch so hintergrundlos schien. Ich ließ mich auf ihn ein. Nicht etwa aus Langeweile, nein, aus Neugierde und Sympathie. So riss ich mich von der Gang los, löste mich auch von all dem Alkohol und begann ein scheinbar neues Leben. Ich lernte Menschen kennen, Honda, Mazaki, Otogi, Bakura... sie alle übernahmen unwissend die Rolle der Therapeuten. Es war…", er hebt die Hand, gestikuliert mit ihr, "… schier unbegreiflich und binnen kürzester Zeit lernte ich das Gefühl kennen, in einen wahren Kreis einbezogen zu sein, von Menschen geliebt zu werden, die nehmen, ohne zu verändern, verstehen, ohne zu fragen, die sich freuen, ohne zu erwarten. Erst in Domino begann ich zu leben." Tief holt er Atem und während er sprach, begann Tränen in seinen Augen zu glänzen, denen er keine Beachtung schenkt. "Du Kaiba, warst immer nur der bittere Beigeschmack. Ein kleiner Störfaktor, der in jedes Leben gehört, so bedauerlich es auch ist. Du warst mir nie ein Mysterium und ich wurde zugegeben nicht von überschwänglichen Liebesgefühlen ergriffen, wenn ich dich sah. Doch Tatsache ist, dass wir im selben Boot sitzen, unter gleichen Tatsachen leiden... und keinen Ausweg kennen." "Wer nicht leidet, benötigt keinen Ausweg!", antworte ich verbissen und stemme die Hände in die Hüften. "Weshalb spieltest du den Primitiven?! Weshalb täuschtest du bei jeglicher Arbeit jämmerliches Versagen vor?! Weshalb nahmst du all die Diskriminierungen der Lehrer auf dich, hättest du es doch ändern können!" "Weil es etwas Unbekanntes war, zu versagen!", erwidert er mir enttäuscht, als hätte er Fragen dieser Art nicht erwartet. "Perfekt zu sein, wird auf die Dauer anstrengend!" "Als ob du je perfekt warst!", falle ich ihm scharf ins Wort. "Ich..." "Noch immer verwirrt?" Nun unterbricht er mich. "Vergiss nicht, du hast nicht Katsuya Jonouchi vor dir! Du sprichst mit Josem Brown!" "Tse." Ich kann nicht anders, plötzlich spüre ich, wie ich herablassend grinse. Ich drehe mich zur Seite und reibe mir kopfschüttelnd das Kinn. "Ich entscheide, mit wem ich spreche!" "Ja." Er weitet gespenstisch die Augen. "Ja, tu das! Weißt du, was es für ein Gefühl war, Katsuya genannt zu werden?" Er spricht leiser und verengt die Augen, als wolle er mir die Worte in die Seele brennen. "Er lebte auf. Während dieser Jahre erwachte er erneut zum Leben." Seine Hand tastet sich krampfhaft über die Brust. "In mir! Nun jedoch kehrte er in das Reich der Toten zurück. Erneut ist er gestorben, so empfinde ich es. Erneut gestorben..." "Du bist krank!", fauche ich, ihm einen verächtlichen Seitenblick zuwerfend. Ich sehe, wie ein kaltes Zucken durch seinen Körper fährt, sehe, wie sein Gesicht auch an dem letzten Hauch Farbe verliert und spüre deutlich, wie das blanke Entsetzen von ihm Besitz ergreift. Seine Augen weiten sich ungläubig, sein Mund öffnet sich, ohne dass er sogleich spricht. "Ich bin krank...?", wiederholt er meine Worte heiser und richtet sich stockend auf. "Ich bin krank?" Ich nagle meinen scharfen Blick an ihn, lasse ihn unerbittlich und kalt wirken, auf dass er durch ihn zu Grunde geht! Langsam hebt er die Hand, zaghaft tastet sie nach dem dünnen Stoff des Mantels und klammert sich in ihn, als er sie zu einer Faust ballt. "Du nennst mich krank?! Bin ich krank, weil ich durch den Tod meines Bruders Höllenqualen leide?! Bezeichnest du dieses Empfinden als unnatürlich und jämmerlich?! Du bist ein Monster!" Wieder verengt er die Augen, diesmal jedoch erfüllt von Hass und Verachtung. "Du nennst mich krank und bist selbst nichts anderes als das! Krank durch die Vergangenheit, die geprägt war von Ängsten und Nöten! Krank durch das tagtägliche Leiden, das du über dich ergehen lassen musst, ohne dich wehren zu können! Krank durch die Verzweiflung, dem Teufelskreis nicht entfliehen zu können! Krank durch die Selbstverachtung, mit der du dich nach jeglichem Fehler belastest! Krank durch deine gottverdammte Sucht nach Perfektion!! Und während du nach ihr strebtest, während du alles tatest, um dich ihr zu nähern, entferntest du dich in Wahrheit von ihr, bis sie dir letzten Endes unerreichbar war!! Du lässt dich selbst verkümmern, Kaiba!! Weshalb springen wir nicht gleich gemeinsam?!" "Pass auf!", zische ich nach Luft schnappend und steche mit dem Zeigefinger nach ihm. "Pass auf, was du sagst!" "Was ich sage?!" Er kommt auf die Beine, ohne sich mir zu nähern. "Ist dir die Wahrheit so unangenehm?! Genügt deine überdurchschnittliche Intelligenz etwa nicht, um selbstehrlich zu sein?!" "Die Wahrheit liegt im Auge des Betrachters!!" Ich sehne mich danach, die Hände um seinen Hals zu legen und zuzudrücken, auf dass er kläglich erstickt! Er entflammt eine unbeschreibliche Wut in mir, ich verliere an Selbstbeherrschung, ohne dass ich es bemerke, ganz gleich dem Vorfall in der Schule, bei dem ich ein anderer Mensch zu sein schien. "Oh nein", antwortet er mir ohne zu zögern. "Diese Einstellung ist lediglich ein Traum, entstanden durch deine Hirngespinste!" Er hebt die Arme und streckt sie von sich, als spreche er nicht nur für sich selbst. "Was hindert dich daran, deine grässliche Situation zuzugeben? Weshalb stehst du nicht zu deiner Verzweiflung, obgleich du solch ein unbeschreibliches Leiden wegen ihr durchmachst? Soll ich dir etwas sagen, Kaiba?" Er lässt die Arme sinken, beugt sich nach vorn und erwidert meinen eisigen Blick hinterhältig. "DAS ist Stärke, das und nichts anderes. Und du? Du bist schwach." "Was geht dich mein Leben an?!" Ich balle beide Hände zu Fäusten und nähere mich ihm um einen Schritt. Blanke Wut bringt die nächsten Worte hervor. "Was geht dich mein Leiden an?! Meine Verzweiflung?! Meine Vergangenheit hat dich nicht zu interessieren, noch weniger meine Empfindungen!! Und sollte ich auch verkümmern, sollte ich zerbrechen und vor Qual schreien, was hat es dich zu sorgen?!" Jonouchis Miene entspannt sich, weicht einem entsetzten Staunen. Nur kurz bemerke ich dies, bevor mich der Zorn erneut mit sich reißt und ich erneut zu schreien beginne. "Vielleicht bin ich schwach, ja!! Vielleicht bin ich am Ende, erschöpft und krank!! Krank durch diese widerliche Welt, erschöpft durch das Gift meiner Verbitterung!! Vielleicht belog ich mich selbst während all dieser Jahre und wollte mir mein Versagen nicht eingestehen!!" "Es ist kein Versagen, Kaiba!", fällt er mir hastig ins Wort. "Es ist die menschliche Natur, unter dramatischen Zuständen zu leiden und zu..." "Du hast nicht das Recht, mir dies vorzuwerfen!!", unterbreche ich ihn und mein Atem rast. "Denn du kennst mich nicht, du kennst nicht meine Vergangenheit, kennst nicht meine Gedanken!!" "Ich werfe dir nichts vor!", stößt er atemlos aus und hebt schuldunbewusst die Hände. "Bin ich denn besser als du?! Besaß ich die Stärke, zu bestehen?! Weshalb litt ich immens unter dem Tod meiner Mutter, zerbrach an dem meines Bruders?! Wir sind Menschen, verdammt noch mal!! Gesteh dir diese Tatsache ein und stelle dich nicht vor Gericht, weil du keine Wunder vollbringen kannst!!" "Ich...", plötzlich fehlt es mir an Worten und meine Lippen bewegen sich stumm. Gehetzt und fahrig suche ich nach einer gleichkommenden Antwort. Eine Antwort, die es mir erlaubt, weiterhin auf meinem Standpunkt zu verharren. Ich gestikuliere mit den Händen, meine Miene verzerrt sich und Jonouchi schweigt. Erschöpft schließe ich die Augen, balle die Hände und halte in jeglicher Bewegung inne. Nur meine Schultern heben und senken sich unter hastigen Atemzügen. Ich fühle mich an diesem Ort nicht wohl, nicht in der Gesellschaft des blonden Amerikaners! Ich möchte nicht fortfahren, nichts mehr sagen, komme allmählich zur Besinnung, ohne mir meines Fehlers und meinen verräterischen Worten bewusst zu werden. Nur einer Tatsache bin ich mir sicher: Ich will weg! Weg von Jonouchi, weg von diesem Dach! Weg!! Ich schnappe nach Luft, schlucke schwer und drehe mich um, so schnell, als wolle ich fliehen. Ohne Worte. Mein Mantel flattert auf, ich schlage ihn zurück und steuere in eiligen Schritten auf die Tür zu. Ich bin verwirrt, nicht dazu imstande, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Mir geht es abscheulich und dieses undefinierbare Gefühl in mir, scheint an Kraft zu gewinnen, sobald ich den Zorn unterdrücke. "Kaiba!", höre ich Jonouchis Stimme hinter mir, auch Schritte, er folgt mir. "Wir haben uns nie Sympathie entgegengebracht und so wird es immer bleiben, ohne dass ich etwas daran ändern will! Es ist mir nicht wichtig, doch wichtig ist mir etwas anderes, das wir uns entgegenbringen können!" Er spricht schnell, wirkt verzweifelt und angespannt. "Verständnis, das können wir uns geben! Wir verstehen einander, da sich unser Leiden ähnelt!!" Ich will seine Worte nicht hören!! Verbissen gehe ich weiter und er fährt fort. "Du bist der Einzige, dem ich mich öffnen will! Du sollst meine Empfindungen, meine Gefühle erfahren, denn andere würden ihnen nicht mit Verständnis begegnen! Verlachen würden sie mich gehässig, ebenso dich! Wenn wir uns selbst nicht helfen können, müssen wir versuchen, einander zu helfen! Andere Auswege gibt es nicht!!" "Du irrst!", fauche ich. "Es existiert überhaupt kein Ausweg!" "Auswege existieren, wenn du ihre Existent zulässt!", antwortet er mir keuchend, beinahe habe ich die Tür des Daches erreicht. "Ich bitte dich, entreiße mir nicht diese einzige Möglichkeit. Tu mir das nicht an, tu dir das nicht an, nun, da du den ersten Schritt zugelassen und deine Gedanken zum ersten Mal offen in die Welt hinausgetragen hast!!" Ich erreiche mein Ziel, flink hebt sich meine Hand um nach der Klinke zu greifen und die Tür aufzudrücken. "Kaiba!!", vernehme ich da den Ruf hinter mir, der solch eine Verzweiflung zum Ausdruck bringt, dass ich mich in einem unerklärlichen Zögern verheddere. Langsam öffne ich die Tür, trete in den Türrahmen und halte dort inne. Hinter mir bleibt auch Jonouchi stehen, deutlich höre ich das Keuchen seiner Aufregung. Meine Hand verbleibt auf der Klinke, ich senke den Kopf, zwinkere und starre auf den Boden zu meinen Füßen. Mein Handeln entsetzt mich, wirkt so konfus und schier unbegreiflich, aus irgendeinem Grund jedoch nicht sinnlos. Langsam presse ich die Lippen aufeinander, senke die Lider und hole tief Atem. Meine Worte lassen sich nicht rückgängig machen, lassen sich nicht löschen wie die Datei eines Computers. Ich sprach sie aus, wenn ich auch nicht bei Sinnen war. Vielleicht machte sie diese Tatsache jedoch auch zu besonderen Worten? Nie wären sie zustande gekommen, hätte ich zuvor gegrübelt und mich beherrscht. Jonouchi hält den Atem an, hinter mir herrscht Stille und ich öffne langsam die Augen, mich langsam und stockend zu ihm umdrehend. Tastend richtet sich mein Blick auf seine Augen und er erwidert ihn erwartungsvoll. Lange sehen wir uns an, bevor ich zu weiteren Worten imstande bin. "Würde ich gehen", sage ich leise, "würdest du springen?" Seine blonden Brauen heben sich, die Lippen formen stumme Worte und er dreht sich flüchtig um, um zur Kante der Brüstung zurückzuschauen. Flink wendet er sich mir wieder zu und allmählich nimmt seine blasse Miene einen Ausdruck an, der jegliche Antwort erspart. "Ja." Eine rege Angst spricht aus seiner Stimme, jedoch auch eine aufgezwungene Entschlossenheit, die diese Angst bei Weitem übertrifft. Dennoch beginne ich ihn durchdringlich zu mustern, hoffe darauf, ein unauffälliges Zucken seines Gesichtes zu erkennen, das diese Antwort widerlegt. Er starrt mich an und meine Suche endet erfolglos. "Dir sind Worte wichtiger als der Sprung, der all das Grauen beendet?" "Unterschätze Worte nicht", antwortet er mir sogleich. "Und schätze sie nicht ein, wenn du dich noch nie an ihnen bedient hast." Ich entfliehe seinen Augen, betrachte mir erneut das Blau des Himmels, welches mir in den diesen Sekunden äußerst widerlich erscheint, hinzukommend dunkler als zuvor. Wieder zwinkere ich, meine Hand schließt sich um die Klinke und die Entscheidung trifft sich in meinem Kopf, lange bevor ich mir dessen bewusst bin. Ich starre schweigend zur Seite und auch Jonouchi schweigt. Wie fühlt er sich wohl, nun, da ich sein Schicksal in meinen Händen halte? Drehe ich mich um und gehe, so wird er das gleiche tun, nur in die andere Richtung. Anschließend werden wir uns nicht wieder sehen, niemals. Zögerlich baue ich den Blickkontakt wieder auf. Dieser Schritt könnte eine entscheidende Veränderung meines Lebens darstellen. Will ich das wirklich? Will ich nun stark sein? Nun, da der Zeitpunkt gekommen ist, da ich einen Beweis anderer Art erbringen muss? Ich beginne mich zu bewegen, ohne dass ich es meinem Körper befehle. Langsam nicke ich ihn zu mir in das Treppenhaus und wende mein Gesicht ab, bevor ich seine Reaktion sehe. Ich drehe mich um, trete durch den Türrahmen und lasse die Hand von der kunstvollen Klinke gleiten, bevor ich stockend die Treppe hinabsteige und somit endgültig das Dach verlasse. ~*to be continued*~ Kapitel 8: ~Die Wunden einer Seele~ ----------------------------------- ~*Kapitel 9 – Die Wunden einer Seele*~ Langsam ziehe ich die Karte durch das automatische Schloss, öffne die Tür und betrete meine Suite. Beiläufig werfe ich die Zigarettenschachtel und die Karte auf die Kommode, ziehe den Yukata enger um mich und steige durch die am Boden liegenden Gegenstände, auf dem Weg zu der Bar, ohne zurückzublicken. Lahm schiebe ich die leere Whiskyflasche mit dem Fuß zur Seite, steige die Stufen zum obersten Plateau hinauf und erreiche mein Ziel in gemächlichen Schritten. Ich schenke meiner Umgebung keine Beachtung, meine Suite gleicht einem Gebiet, das ein Taifun verwüstete. Das bin nicht ich, diese Suite kann nicht Seto Kaiba bewohnen, in dessen Leben die Ordnung eine solch große Rolle spielt. Ich blinzle, fahre mit beiden Händen durch meinen Schopf und trete hinter die Bar. Sogleich gehe ich dort in die Knie und öffne einen kleinen Schrank. In diesem Schrank fanden edle Getränke Platz und ich möchte nach einer der Flaschen greifen, doch meine Hand hält in der Bewegung inne und mein Blick fällt auf die verspiegelte Innentür des Schrankes. In diesem Spiegel sehe ich mein Gesicht und verharre, um es mir zu betrachten. Ich bleibe hocken und starre es an. Durch den übermäßigen Alkoholkonsum hat mein Antlitz an Farbe verloren, wirkt nun bleich und annähernd kränklich, träge und müde und so fühle ich mich auch. Meine Augen, ich verziehe die Brauen, vermisse dieses Funkeln, das stets in ihnen lebte. Die schneidige Kälte, die Menschen von mir fernhielt. Langsam öffne ich den Mund und hole tief Atem. Ich erblicke eine Miene, die mir fremd ist, die meinem Gesicht noch nie zuvor Ausdruck verlieh. Ich lasse die Lider sinken, schließe die Augen und blinzle dennoch nach kurzer Zeit zum Spiegel zurück. Drückt diese Miene jenes undefinierbare Gefühl aus, das sich in mir ausbreitet? Ist dies Trauer? Verzweiflung? Sehe ich traurig aus? Meine Hand erwacht zu neuem Leben. Flink greift sie nach einer der Flaschen und übertrieben schnell schließe ich den Schrank und erhebe mich. Behutsam stelle ich die Flasche ab, wende der Suite den Rücken zu und nehme ein kunstvolles Glas aus einem der sauberen Regale. Ein leises Geräusch ertönt, ich drehe mich nach vorn. Und während ich gemächlich die Flasche öffne, blicke ich auf. Unentschlossen und schweigend steht Jonouchi inmitten des Chaos'. Er hält die Arme vor dem Bauch verschränkt und betrachtet sich die leeren Flaschen und die Kissen, die den Großteil des Bodens bedecken. Er wird auch auf die zerbrochene Vase aufmerksam und bevor er zu mir aufsehen kann, vertiefe ich mich wieder in meine Arbeit. Seine Miene wirkte überrascht und zugleich skeptisch - verständlich. Ich fülle das Glas und öffne nebenbei mit dem Fuß den kleinen Kühlschrank, der sich unter der Bar befindet. Ich selbst wünsche mir, ich wäre es nicht gewesen, der für all die Unordnung verantwortlich ist. Und noch größer als dieser Wunsch ist die Verwirrung, dass ich diesen Fehler nicht behob und aufräumte. Erneut gehe ich in die Knie und nehme eine Schale von Oliven aus dem Kühlschrank. Mit dieser Schale und dem Glas verlasse ich die Bar und steige auf das mittlere Plateau hinab und ohne Jonouchi ein zweites Mal anzublicken, lasse ich mich in einem der Sessel nieder, stelle die Schale auf dem Tisch ab und lehne mich zurück. Noch immer bestehen Zweifel in mir, ich setze das Glas an die Lippen und trinke. Worte existieren, um sich auszutauschen, sie besitzen weder heilende Kräfte noch... ich zögere, lasse das Glas sinken und schaue mich um... noch können sie verborgene Emotionen wachrufen. Was Jonouchi nun vorhat, ist mir nicht bekannt, wie er gedenkt, eine gegenseitige Hilfe hervorzurufen, gleichermaßen. Noch immer steht er an demselben Fleck und schweigt, ob er sich noch immer die Unordnung betrachtet, das weiß ich nicht, da ich mit dem Rücken zu ihm sitze. Doch plötzlich nehme ich Schritte hinter mir wahr und er zieht an mir vorbei, gemächlich, als hätte er selbst noch keinen Entschluss gefasst, als wüsste er selbst nicht, wie er beginnen soll, wozu ich ihn durch mein Schweigen auffordere. Nur kurz schaue ich zu ihm, rücke mich zurecht und hebe das Glas erneut. Jonouchi hält die Hände nun in den tiefen Taschen seines Mantels verborgen, bleibt neben dem flachen Tisch stehen und stupst eine weitere leere Flasche mit dem Fuß an, worauf sie zur Seite rollt. Seine Augen folgen ihr, dann blinzelt er und seine Schultern heben sich unter einem tiefen Atemzug. "Das ist nicht deine Art, oder?", murmelt er leise und ich spüre, wie sein Blick mich abwägend trifft. "Dir liegt Unordnung nicht. Noch weniger der Alkohol." Ich leere das Glas, schürze die Lippen und erhebe mich. Ohne eine Antwort zu geben, ziehe ich an ihm vorbei und kehre zur Kommode zurück, auf der die Zigaretten liegen. Ich greife nach der Schachtel und gehe erneut an Jonouchi vorbei, auf dem Weg zur Bar, an der ich die Flasche vergaß. Wieder beobachtet er mich, als ich sie an mich nehme. Ihn mag all das verwirren, doch ich schenke ihm keine Beachtung, noch weniger seinen Worten, denn durch sie wird er nichts erreichen. Wir sind nicht hier, um über unsere Angewohnheiten zu sprechen, womit ich nicht behaupten will, dass mir der wahre Grund geläufig ist. Noch sind seine Worte nicht mehr als inhaltsloses Geschnatter. Ich lasse mich nieder und gleichzeitig setzt er sich in Bewegung, zieht in schlendernden Schritten an dem Tisch vorbei und setzt sich auf das Sofa, das rechts neben mir steht. Ich reibe mir das Kinn und er streckt die Beine von sich. Kurze Zeit starren wir auf nicht existente Punkte, dann zücke ich die Schachtel und ziehe mir eine Zigarette. Bei alldem lasse ich mir Zeit, suche auch gemächlich nach meinem Feuerzeug und entzünde den Tabak. Unter einem langen Zug lehne ich mich anschließend zurück und betrachte mir die kunstvolle Decke der Suite, die modischen Lampen. Neben mir zieht Jonouchi leise die Nase hoch und beginnt sich zu regen. "Krank durch die Vergangenheit", flüstert er dann. "Ängste und Nöte. Krank durch das tagtägliche Leiden. Krank durch die Verzweiflung. Krank durch die Selbstverachtung. Krank durch die Sucht nach Perfektion." Er wiederholt seine eigenen Worte, begleitet von einem unauffälligen Nicken. Ich bette den Hinterkopf auf dem weichen Polster, an meinen Lippen zieht ein unscheinbares, mattes Grinsen, bevor ich die Zigarette zu ihnen hebe. Jonouchi sieht mich an. "Die Vergangenheit vieler mag tragisch sein aber es gibt auch Menschen, die unter keinen Ängsten und Nöten leiden." Er faltete die Hände auf dem Schoß ineinander und verfolgt nun, wie sie sich bewegen. Ich atme den Rauch tief ein, halte kurz den Atem an und lasse ihn gen Decke aufsteigen. "Willst du wissen, warum nicht alle dieser Menschen daran erkranken?", fährt Jonouchi leise fort. "Hast du dir diese Frage überhaupt je gestellt, Kaiba? Weshalb leiden manche Menschen nicht unter den bestehenden Ängsten." Ich betrachte mir die nebligen Schwaden, die langsam aufsteigen, bis ein sanfter Luftzug sie zerreißt. Wieder verweigere ich eine Antwort, doch er scheint sich ihr bereits bewusst zu sein. Er sieht mich nicht einmal an, starrt gedankenverloren auf den Tisch und regt sich stockend, bevor er mit heiserer Stimme flüstert: "Sie werden geliebt. Wir nicht." Langsam entferne ich die Zigarette von meinen Lippen, lasse die Hand sinken und bette sie matt auf der Armlehne. Noch immer beschäftige ich mit der Beobachtung des weißen Rauches, doch nur meine Augen sind auf ihn gerichtet, nicht etwa meine Gedanken. Diese bewegen sich in eine andere Richtung und bevor sich jene abwehrende Aggression in mir anstauen kann, kämpfe ich dagegen, verhindere es und schließe die Augen, um zur Ruhe zurückzufinden. Ich verbleibe reglos, ein dünner weißer Faden steigt von der Zigarette auf, die ich zwischen zwei Fingern halte. Neben mir nehme ich keine Geräusche wahr. Jonouchi schweigt, überlässt mich mir selbst. Ich betrete ein neues Gebiet. Ein Gebiet, mit dem ich mich nie zuvor beschäftigte. Nun zwinge ich mich dazu, es zu erforschen und neue Gedanken zu entwickeln. Werde ich geliebt? Existieren Menschen, denen ich wichtiger bin, als das eigene Leben? Die alles für mich tun, ohne Gegenleistungen zu erwarten...? Ja, diese Menschen gibt es. Natürlich... Ich nenne sie 'Angestellte' und sie befolgen meine Befehle, ohne sich zu weigern! Einige hassen mich, andere begegnen mir mit Respekt und Dankbarkeit, denn ich sichere ihr Leben, ihren Unterhalt. Allein in meinen Händen liegt es, ob sie eine Wohnung oder reichliches Essen ihr Eigen nennen können. Respekt und Angestellte... das muss Liebe sein. Abwesend beginne ich die Zigarette zu bewegen und richte mich auf. Nein... Ich befürchte, dass ich mit dieser Interpretation falsch liege. Ich öffne die Augen, richte den Blick stur auf den Boden und hole tief Atem. Und ich schweige. Jonouchi ist nicht gewillt, diese Stille zu durchbrechen. Reglos kauert er dort, seine Augen wirken nicht weniger abwesend, als ich flüchtig zu ihm schaue, ohne es auffällig zu tun. Wieder hebe ich die Zigarette zum Mund, halte jedoch inne, kurz bevor der Filter meine Lippen berührt. Diese bewege ich lautlos, bevor ich einen Ton zustande bringe. "Definiere dieses Wort." Jonouchi beginnt sich zu regen, hebt das Gesicht. "Liebe?", sagt er. "Warum wundert es mich nicht, dass Seto Kaiba ein solches Wort nicht zu definieren weiß?" "Schalk!", zische ich beinahe lautlos und nehme einen starken Zug. Ich höre seinen Atem, als sich seine Schultern heben und er sich gemach zurücklehnt. Er wirkt entspannt, ich dagegen recht gelangweilt. Doch bin ich es auch tief in mir? Und ist er es? "Nennst du das Perfektion?" In seiner Stimme schleicht sich ein scharfer, beinahe vorwurfsvoller Unterton ein, den ich nicht einmal überhören kann, setzte ich auch jegliche Anstrengung ein. Er hebt die Hand, seine Finger beginnen einen langsamen Takt auf der Lehne des Sofas zu tippen. "Belanglose Dinge", sage ich und lehne mich nach vorn, um den Aschenbecher auf dem Tisch zu erreichen. Und während ich dies tue, höre ich meine Stimme gleich eines Echos in meinem Kopf, wie sie widerhallt. Sie wirkt gehetzt und nervös, ohne dass ich es beabsichtigte. "Diese belanglosen Dinge, wie du sie nennst, diese Lieblosigkeit", Jonouchis Stimme schwankt, ihr Ton kehrt zur matten Trauer zurück und ich drücke die Zigarette aus, während er beide Hände abermals auf seinem Schoß faltet und ihm ein leises Seufzen entrinnt, "sie trägt einen bedeutenden Teil zu deiner jetzigen Situation bei. Zu unserer Situation. Nenne sie also nicht belanglos." Ich lehne mich zurück und meine Hand begibt sich auf die Suche nach der Zigarettenschachtel, ohne dass ich es ihr befehle. "Ich erfuhr lange keine Zuneigung mehr. Ebenso lange konnte ich keinen Menschen an meiner Seite einen Liebenden nennen. Meine Mutter... sie war die einzige, die mir dieses Gefühl vermittelte. Und Katsuya...", flink öffne ich die Schachtel und bevor die nächste Zigarette ihren Platz zwischen meinen Lippen findet, beginne ich nach dem Feuerzeug zu tasten, "ich spreche von keiner brüderlichen Liebe, selbst du erfährst von Mokuba nicht die Liebe, die ich meine. Es ist mehr mit einer Verehrung zu vergleichen, was er für dich empfindet, einer Angewiesenheit auf einen Beschützer." Er zögert, scheint die nächsten Worte aufmerksam zu wählen, obgleich er zermartert von Verzweiflung und weich vor Schwäche dort sitzt. Ich entzünde den Tabak, hindere mich daran, zu ihm zu schauen. Mein Körper scheint ein Eigenleben zu entwickeln, als baue er eine Barriere in mir auf, die nur durch typischen Reflex besteht und unbeabsichtigt ist. "Was ist Liebe?", murmelt Jonouchi. "Die Bezeichnung für die stärkste Zuneigung, die ein Mensch für einen anderen empfinden kann. Ein Gefühl inniger und tiefer Verbundenheit mit dem Nächsten, aus der Sichtweise der kalten Wissenschaft. Doch Liebe kann man nicht in Worte fassen, Kaiba. Nicht einmal dann, sollte man sie erleben." "Es ist ganz gleich, ob man sie erlebte oder nicht." Ich gestikuliere ablehnend mit der Hand. "Das ist doch evident." "So prägnant deine Meinung in diesem Fall auch ist", wieder beginnt sich Jonouchi zu bewegen. Er richtete sich auf, stützt die Ellbogen auf die Knie und mustert mich energisch, "ist sie doch nur eine weitere deiner Ausflüchte, dein Fliehen vor der tristen Wahrheit, vor der es dir graut. Vielleicht höre ich mich sentimental an, wenn ich das sage, doch wir befänden uns in einer anderen Lage, würde man uns lieben. Wir sind die Buckligen unter den Reichen. Die, die man verleugnen möchte. Wir heben uns von den anderen ab, nur durch den Hass auf den Reichtum, den wir unser Eigen nennen." Seine Stimme verliert an Kraft, wirkt brüchig und gedämpft. Sie beschwört die Erinnerung an das Dach hinauf, auf dem der Wind sie zu mir trug. Noch immer schaue ich ihn nicht an. "Autos, Diamanten, Häuser, auf das alles sind wir nicht angewiesen. Wir sind auf das einzigste angewiesen, das man mit Geld nicht bezahlen kann." "Unterdrück dieses erbärmliche Lamentieren! Ich habe nie Gedanken an diese Dinge verschwendet!", unterbreche ich ihn. Seine Worte sind schwerlich zu ertragen. Dieses Selbstmitleid, dieses penetrante Klagen! Will er mir auf diesem Weg Hilfe entgegenbringen? "Was interessiert mich die Lieblosigkeit, die man dir entgegenbrachte! Fragte ich nach deiner Biografie?! Bedränge dein Spiegelbild mit deiner Betroffenheit und verschweige sie mir!" Ich atme heftig, meine Finger schließen sich fester um die Zigarette und rasch wende ich mich ihm zu. Jenes Gefühl, für das ich mich nicht rechtfertigen konnte, scheint zu verblassen, rasant an Kraft zu verlieren. Das stärkste in mir ist die Wut, alles reißt sie mit sich. Es ist abstrus, da ich vor kurzem noch eine quälende Enge in mir spürte. "Liebe! Findest du keine anderen Erklärungen, scheint dir dieses Wort am praktischsten, um mir den letzten Nerv zu rauben?!" Jonouchis Miene verändert sich, eine Mimik erscheint in seinen Augen, die mich in eine kurze Unentschlossenheit drängt. Kurz bewegen sich meine Lippen geräuschlos, bevor ich fortfahren kann. Ich spreche, doch die Wahl meiner Worte übernehme ich nicht. Sie ertönen einfach. "Wir werden nicht geliebt, wir sind verzweifelt, wir brauchen Liebe!" Spöttisch weite ich die Augen und er lauscht meinen Worten, während er regungslos verharrt. "Mir brachtest du Vorwürfe entgegen! Du nanntest mich erschöpft, nicht mehr des Lebens fähig!" Er öffnet den Mund, deutlich spüre ich das Entsetzen. "Dabei bist du es, Jonouchi, der entmutigt in der finsteren Ecke kauert und sich selbst bemitleidet!" Als betäuben ihn meine Worte, unternimmt Jonouchi Versuche, sich zu bewegen. Konfus spreizen sich seine Finger und in seinen geweiteten Augen glänzen Tränen, durch die das dunkle Braun der Pupillen verblasst. Gleich einer steinernen Hülle sitzt er neben mir, ja, gleich einer Hülle, in der ein tobender Sturm wütet. Seine Lider, sie zucken. "Wie definierst du Stärke und Beherrschung?! Ist es Stärke, Tränen zu vergeuden für eine verlorene Sache?! Ist es Beherrschung, sich dem erstbesten zu öffnen, in dem egoistischen Gedanken, Hilfe erwarten zu können?! Was denkst du, ist..." Unerwartet scheint das Leben in Jonouchis Körper zurückzukehren. Schlagartig, abrupt, denn unter einem lauten Schrei fährt er in die Höhe. "Ich habe einfach Angst!!", schlägt mir die zitternde, hysterische Stimme entgegen. Jonouchis Hände ballen sich zu Fäusten und eine Träne löst sich aus seinem Augenwinkel, als er blinzelt. "Ich habe Angst, Kaiba!! Ich habe Angst vor der Vergangenheit, ich hasse die Gegenwart und mir graut es vor der Zukunft!!" Flehend wirkt seine Stimme, gepeinigt seine Augen, kraftlos seine Haltung, in der er vor mir steht. Und verkrampft die Hand, die sich auf die eigene Brust presst. "Dir ist bewusst, wie es in meinem Inneren aussieht, wie ich fühle! Oh, du weißt es, auch wenn du es nie zugeben würdest!! Du spürst dasselbe und ebenso zwängten wir uns in die einzige Rolle, die uns überleben ließ! Wir verdrängten und verleugneten alles, vergifteten unsere Seelen mit Lügen!! Für wenige Jahre mag diese verzweifelte Tat von Erfolg gekrönt gewesen sein, doch nun sehe ich wieder die Wände, die sich zwängend um mich drängen, atme die verseuchte Luft der Hoffnungslosigkeit und warte darauf, das ich daran zu Grunde gehe!! Es kehrte alles zurück, unsere Frist lief ab, Kaiba! Und eine Zweite bekommen wir nicht!!" Er verschluckt sich, seine Miene zuckt und die Hand krallt sich in den dünnen Stoff des Mantels. Er wankt, duckt sich und erzittert, als würde er frieren. Ich sehe, wie sich sein Hals unter einem schweren Schlucken bewegt, höre seinen hastenden Atem und kurz darauf seine Stimme, wie sie sich vor Kummer gedämpft und erstickt vor Tränen erhebt. "Ich fürchte mich vor jedem Tag, fürchte mich vor jeder Nacht!! Mir graut es vor jedem Schritt, vor jedem Wort!! Wo einst mein Herz war, ist heute nur noch Dunkelheit, eine gähnende, unendlich erscheinende Leere. Das Leben, welches uns geschenkt wurde, ist seit langem nicht mehr als ein Alptraum!! Und ich möchte endlich aufwachen!!" Er nähert sich mir nicht, tritt nur von einem Bein auf das andere und beugt sich nach vorn. Entsetzlich flehend richten sich seine glänzenden Augen auf und ich entfliehe seinem Blick hektisch, nagele den Eigenen unbeugsam an den Boden. "Erzähl mir nicht, dass du dein Leben mit Leidenschaft lebst! Behaupte nicht, dass du Aufgaben mit Affinität bewältigst und lüge nicht, indem du sagst, das alles wäre erträglich!! Ich kann mich durchaus in deine Lage versetzen, spüre deine Furcht vor der Routine, spüre dein Leiden, mit dem du sprichst, deine Verzweiflung, mit der du atmest und den Zwang, mit dem du dich diesem Leben hingibst, es aufrecht erhältst! Erpressung! Mehr ist es doch nicht, oder?! Die Erpressung durch Mokuba, dessen Pflege und Schutz du dich verpflichtet fühlst! Was, frage ich dich, hält dich außer Mokuba noch hier?!" Ich schürze die Lippen, atme zornig ein und vermag es dennoch nicht, mich zu bewegen. "Ich spüre es regelrecht!!", fährt er fort, seine Hand hebt sich zu einer verworrenen Geste. "Ich spüre die Schmerzen deiner Masken, erkenne die Verzweiflung, mit der du sie auf dein Gesicht drückst!! Sehe das Zittern deiner Hände, fühle die panische Furcht vor dem Zerbrechen der Maske und den hektischen Kampf, sie davor zu bewahren!! Was hast du zu verlieren, Kaiba?!" Eilig fährt er sich mit dem Ärmel des Mantels über das tränennasse Gesicht, langsam krallen sich meine Finger in das weiche Polster der Sessellehne. Seine Worte sind wie kraftvolle Schläge, die meine Mauer über sich ergehen lassen muss. Schläge von außen. "Den Ruf deiner Firma?! Die Kaiba-Corporation, die für viele einen der wichtigsten Konzerne darstellt, für dich selbst jedoch ein Gebäude des Schreckens?! Du trägst in dir den Stolz über deinen Egoismus! Weshalb also, ist es dir so wichtig, was andere von dir denken?! Weshalb peinigst du dich selbst, weshalb zerfetzt du deine Seele und verschließt dich in einem finstren Raum, nur, damit dich andere als Autoritätsperson ansehen?? Denkst du, sie würden es nicht tun, wäre dein Verhalten weniger von Hass und Bosheit geprägt??" Ich spüre, wie sich meine Miene verzerrt, wie sich mein Gesicht senkt und sich meine Lippen zu einem verachtungsvollen Grinsen verziehen. "Du wähltest den falschen Weg, Kaiba! Und du wähltest ihn, weil du zu schwach warst, dich für einen anderen zu entscheiden! Für einen anderen, der weniger Leiden mit sich brächte und dich doch oben halten würde! Oben auf der Treppe, ohne dass du abgöttische Anstrengungen und verbissene Kämpfe auf dich hättest nehmen müssen!!" Jonouchi keucht schwerfällig, geräuschvoll schnappt er nach Sauerstoff, doch bevor er fortfahren kann, vernehme ich ein leises Lachen, ein Lachen, das aus meinem Mund kommt, so spöttisch und mokiert, dass er daran zerbrechen müsste. Sofort hält er in jeglichen Bewegungen inne, steht dort, als hätte sich Stein durch all seine Glieder gefressen. Langsam schüttle ich den Kopf, noch immer ertönt das leise Lachen. Ich weiß nicht, warum ich lache, Jonouchis Worte scheinen sich belustigend auf mein Unterbewusstsein auszuwirken und es bricht hervor, ohne dass ich es zu steuern weiß. Ich blinzle, verziehe die Augenbrauen und hebe das Gesicht, um ihn anschauen zu können. Gezielt treffen sich unsere Blicke und während ich das lange Haar mit einer flinken Bewegung zur Seite schwenke, weiten sich seine Augen. Sie weiten sich fassungslos, gleichsam perplex und irritiert, als würde er etwas erblicken, mit dem er nie gerechnet hätte. Ich schenke dieser Mimik keine Aufmerksamkeit, senke kurz die Lider und hebe in einem selbstsicheren Hochmut das Kinn. "Was erwartest du von mir, Jonouchi?", sage ich hämisch. "Sollen solche Worte mich erweichen? Soll ich sie mir zu Gemüte führen? Du sagtest mir nichts, das ich nicht schon weiß. Dein forderndes Geschwätz langweilt mich und hinzukommend..." Stockend öffnen sich Jonouchis Lippen, sprachlos, beinahe erschüttert steht er dort und hebt ebenso zögerlich die Hand. Sein Benehmen ruft eine kurze Irritation in mir wach, meine Worte scheinen von geringer Wirkung zu sein, so schweige ich kurz und fahre nach einer suchenden Musterung fort. "Hinzukommend..." Argwöhnisch verziehe ich die Augenbrauen. Weshalb schaut er mich so an? "Deine Worte sind schwach und verlaufen sich... im Nichts." Noch immer schenkt er meinen Worten keinerlei Reaktion. Nur seine Lippen bewegen sich stumm, seine geweiteten Augen haften auf meinem Gesicht und seine Hand weist ebenso darauf. Ich verharre reglos. "Kaiba..." ein heiseres Flüstern kommt über seine Lippen, leise im Gegensatz zu dem schweren Schlucken, das folgt. Er ist fassungslos und dieses Benehmen beginnt mich zu reizen, da ich den Grund nicht kenne. Erbost verenge ich die Augen. "Was ist!" Doch er schweigt, ist nicht dazu imstande, mir zu antworten. Nicht einmal ein Blinzeln scheint ihm zu gelingen und bevor ich die Frage erneut stellen kann, spüre ich ein fremdes Kitzeln auf meiner linken Wange. Ich blinzle, wende den Blick ab und hebe die Hand. Beinahe beiläufig tasten meine Fingerkuppen nach der Stelle, doch als ich sie erreiche, halte auch ich in jeglicher Bewegung inne, meine Augen sind auf einen unbedeutenden Gegenstand gerichtet. Reglos verharre ich dort, den Atem halte ich unbewusst an und meine Hand scheint ein Eigenleben zu entwickeln, als sie weitertastet. Höher über die Wange, weiter über meine Haut. Unter den Fingerkuppen spüre ich eine warme Feuchtigkeit, beinahe heiß und versengend legt sie sich auf meine Haut und gegensätzlich jagt eine eisige Kälte durch all meine Glieder. "Halt!!", schreie ich lautlos und die Uhren scheinen meinem Befehl Folge zu leisten. Es wirkt, als bliebe die Zeit stehen, als existiere kein Leben in meiner Gegenwart. Und noch immer verweilt die Hand an jener Stelle. Weshalb benetzt Nässe meine Wange? Behäbig beginnen sich meine Lippen zu bewegen, sie flüstern stumme Worte, die ich selbst zu bilden noch nicht imstande war. Gleichzeitig beginnen meine Augen zu brennen und relexartig blinze ich. Und mit dem Blinzeln kehrt die Fähigkeit der Bewegung zurück. Schnell, beinahe gehetzt und hastig lasse ich die Hand sinken, reiße meine Augen von jenem Gegenstand los und richte sie auf meine Fingerkuppen. Sie glänzen feucht. Noch immer bewegen sich meine Lippen, noch immer bleibt mein Atem stumm und meine Augen geweitet. Langsam gibt meine andere Hand die Zigarette frei, der Griff der beiden Finger lockert sich kraftlos und sie fällt hinab auf den Marmor, ohne dass ich es bemerke. Um mich herum herrscht Stille, kein Rauschen der Palmenblätter, das stets von unten zu mir dringt, kein Zwitschern der Vögel, das die Seele erhellt. Nichts. Es scheint, als befände ich mich in einem Vakuum, in dem nichts existiert. Weder Zeit noch Leben. Nur die Feuchtigkeit an meinen Fingern und die Kälte meines Körpers. Laut bricht ein Keuchen aus mir hervor, meine Lunge hielt es nicht länger ohne Sauerstoff aus. Störend wirkt dieses Geräusch, wie ein Schnitt, der die gesamte Atmosphäre ungeschehen macht. Und die Kontrolle über meinen Körper wird an mich zurückgegeben. Als ich mich zu bewegen beginne, spüre ich die Lähmung meiner Glieder, die Schwere, mit der ich sie zu Regungen zwingen muss und das konfuse Zittern, das meine Gesten verworren erscheinen lässt. Mein Atem verbleibt bei dem schweren Keuchen und hastig hebe ich die Hand erneut. Ich spüre dasselbe... weitere Nässe und nach kurzem Tasten beginne ich sie hektisch zu verwischen, fortzuwischen, wozu ich auch die andere Hand benutze. Tränen?! Weshalb?! Jonouchis Worte verlaufen sich im Nichts!! Ich sagte es doch selbst?! Immer schneller, immer unkontrollierter werden meine Bewegungen und als ich erneut blinzle, spüre ich jene Nässe auch auf der anderen Wange. Sofort beginne ich dort zu wischen, presse die Ärmel des Yukatas auf mein Gesicht und versuche, meinen Atem zu unterdrücken, mein Keuchen. Weshalb weine ich?! Ich will es nicht, ich fühle mich nicht einmal danach!! Ein schwerer Druck breitet sich in meinem Hals aus, meine Lunge scheint sich zu verengen und mir entrinnt ein gedämpftes Ächzen. Binnen kürzester Zeit scheint mein Körper an Kraft zu verlieren und ich sinke in mir zusammen. Noch immer verberge ich mein Gesicht hinter dem teuren Stoff. Warum?! Schreit es gellend in mir. Warum?! Jonouchis Worte bewegten mich nicht! Ich fühlte mich nicht preisgegeben, nicht einmal angesprochen!! Ich schlucke, kämpfe gegen den Druck in meinem Hals und schließe den Stoff in meinen Händen ein, als ich diese balle. Warum?! Hat mich je etwas berührt?! Wenn auch unbewusst, habe ich mich jemals mitreißen lassen?! Nein, denn ich habe meine Masken! Ja, ich habe sie! Doch weshalb geschieht dann so etwas mit mir?! Verlieren sie an Kraft? Bröckeln sie von meinem Gesicht?? Begehen sie Verrat an mir? Verlassen sie mich?? Warum?! Tobt es wieder in mir und meine Zähne beißen verkrampft aufeinander. Sie liefern mich aus, entreißen mir jegliche Sicherheit und versetzen mich in eine Lage, in der ich mich nie zuvor befand! Wie soll ich mich verhalten?! Wie soll ich mit den Gefühlen umgehen, die gleich einer tückischen Flut über mich hereinstürzen?! Ich weiß doch nicht mit ihnen umzugehen!! Bis in mein Innerstes bin ich verstört, jegliche Kontrolle entgleitet meinen Händen, lässt mich unverhüllt und nackt vor meinem Feind stehen! Vor meinem Feind - der Welt! Vor meinem Feind - den Blicken anderer! Vor meinem Feind - mir selbst! Ich weiß nicht, was mit mir geschieht, Panik überwältigt mich, ja, panische Angst und grauenvolle Furcht vor den Dingen, die in mir schlummern, die ich mit Hilfe der Masken in der dunklen Kammer meiner Seele verschloss, die nun hervorzubrechen drohen! Ich habe Angst vor ihnen, Angst davor, unter ihnen zu leiden, mich ihnen stellen zu müssen! Ich will das nicht!! Ich habe Angst!! Und... Ich falle. Ich stürze von meinem Thron und seine gewaltige Höhe belädt es mit unnatürlicher Pein. Ich selbst habe ihn erbaut... bis zur Spitze meiner Treppe, von der ich auf die gesamte Welt herabblickte und sie mit meiner Verachtung belud. Mein Körper scheint schmählichen Verrat an mir zu begehen, die Kontrolle hinterließ keine Spuren, als sie mich verließ und alles, über was ich Herrschaft geführt hatte, scheint sich gegen mich zu stellen. Verzweifelt suchen meine Hände nach Halt, finden ihn nicht einmal in dem Schmerz, als sich meine Finger fester in meinem Haar verankern, sich zitternd in die Strähnen klammern und die Lähmung erscheint allgewaltig, verbietet mir die Suche nach weiterer Ablenkung. Meine Zähne wollen meine Lippen zerbeißen, meine Zunge das eigene Blut schmecken, aber mir bleiben die selbstquälerischen Wünsche verwehrt und mein Körper zuckt, findet zur letzten erbitterten Gegenwehr und scheitert, ohne je den Erfolg erblickt zu haben. Ein lautes Schluchzen entrinnt mir und es erfüllt mich mit schierem Entsetzen, daß ich zu solchen Lauten fähig bin. Meine Stimme... die sich nur selten erhebt, die, geschwängert von Verachtung und Boshaftigkeit jeden in die Knie zwingt... Sie ertönt auf einem anderen Weg und ich möchte verleugnen, daß es meine ist. Fest presse ich die Stirn auf meine Knie; nicht nur sie zittern unter der Berührung und die Realitäten, die doch gerade noch so gnadenlos auf mich einwirkten, verblassen, als ich mich in den Kampf gegen mich selbst verstricke und es mir doch nur übrig bleibt, ihn zu verlieren. Meine Zähne knirschen aufeinander, ich versuche mich zu verschließen, meinen Atem erlahmen zu lassen... und doch stößt er als abgehacktes Ächzen hervor und meine tränenerstickte Stimme flüstert Worte, derer ich mir nicht bewußt bin. Alles stürzt in sich zusammen... Die Welt, die aus meinen Wünschen und Anforderungen auferstand und doch die Reelle war… alles zerbricht und ich weine, bin ungeübt darin und so weit von jeglicher Beherrschung entfernt, daß ich sie nicht mehr sehen kann. Geräuschvoll ringt meine Lunge nach Atem, ich schnappe nach Luft und ein leiser Schrei hallt in meinen Ohren wider. So qualvoll und hilflos, so erdrückt und niedergerungen, daß mich diese Demütigung umzubringen scheint! Und wieder schluchze ich laut, meine Stimme verebbt in einem bebenden Wimmern und ich sinke nach vorn, finde nicht die Kraft, nach Gleichgewicht zu suchen und rutsche aus dem Sessel. Steif und verkrampft falle ich auf die Knie, mein Körper neigt sich nach vorn und ich fühle mich so angreifbar, wie noch nie zuvor, als ich zusammengesunken auf dem Boden kauern bleibe, mich stetig in mir verkriechend und doch nicht der Erlösung würdig. Wo sind all die Dinge, die mir Festigkeit schenkten...? Wo sind all die Eigenschaften, mit denen ich mich sicher fühlte? Wo bleibt meine Würde bei dem Anblick, den ich biete?! Ich zeige mich nicht als der, der ich bin! Ich bin Seto Kaiba!! Ich bin... Mein Hals schmerzt vor heftigem Atem, mein Herz rast in meiner Brust und Tränen benetzen brennend mein glühendes Gesicht. Ich bin... "Kaiba." Eine Stimme erhebt sich in leisem Flüstern, nahe bei mir und doch so weit entfernt, dass ich es kaum wahrnehme und kraftlos beginne ich mich zu winden. Noch immer nach vorn gebeugt, tasten sich meine Hände über den Boden. Ich bin doch perfekt...? Ich bin ein Perfektionist, der längst den Sieg errungen hat...?! "Kaiba." Wie kann ich nur die Macht verlieren, mich selbst verschlossen zu halten?! Es gab keinen Schlüssel! Es gab nicht einmal eine Tür, die man öffnen konnte! Wie kann mich nur etwas so Fremdartiges übermannen?! Wie kann nur etwas von mir Besitz ergreifen, von dessen Dasein ich nie wußte?! Ich hocke hier und weine, quäle mich mit mir selbst und sehne mich nach abgrundtiefem Hass, mit dem ich mich beladen kann... aber mir fehlen jegliche Kräfte und Gedanken lassen sich nicht ordnen, geschweige denn zum Leben erwecken. Alles in mir fühlt sich tot an und ich wünschte, ich wäre es wirklich. Ich bin jämmerlich... ich bin schwach... ich bin... Eine geringe Berührung läßt mich zusammenzucken und ein erschrockenes Ächzen kommt über meine Lippen, als ich in die Höhe fahre, von äußeren Einflüssen erschüttert, von denen ich dachte, sie würden nicht mehr zu mir dringen. Glasig starren meine Augen ins Nichts. Tränen versperren mir die deutliche Sicht und erneut finde ich mich gelähmt vor, hocke nun aufrecht und halte den Mund geöffnet, um Atem zu finden, der in meiner verengten Lunge annähernd zu versiegen scheint. Wirr verdecken Haarsträhnen mein Gesicht und dennoch werde ich auf eine Bewegung aufmerksam. Meine Pupillen bleiben auf jenen nicht existenten Punkt gerichtet und alles in mir scheint einen weiteren und um so qualvolleren Tod zu sterben, als ich mir der Realität annähernd bewußt werde, sie mit offenen Augen erblicke und doch nicht annehmen will. Jonouchi kauert vor mir und deutlich spüre ich den Blick, der sich auf mein Gesicht richtet, es taxiert, studiert und es dennoch nicht mit übertriebener Aufmerksamkeit würdigt. Seine Hand berührte flüchtig meine Schulter und er riß mich aus einem Alptraum, der dennoch ewig zu sein scheint, mich in festem Griff hält und dem ich nicht entfliehen kann. Niemals… Kitzelnd bahnt sich eine von vielen Tränen ihren Weg über meine Wange und sammelt sich unter meinem Kinn, welches zittert, als würden meine Zähne vor Kälte klappern. Und wirklich... mir ist kalt und ich bin abwesend, abgeschieden von der Welt und doch noch durch einen dünnen Faden mit ihr verbunden, der mir das Gröbste nahe bringt. Jegliches Zeitgefühl ist unwiederbringlich verloren gegangen und ich weiß nicht, wie lange ich mich schon in der Verbissenheit winde und um Stärke kämpfe. Es mag eine lange Zeit gewesen sein und doch verschleiern unzählige von Tränen meine Augen. Unzählige... als hätten sie tief in meinem Inneren gelauert, nur darauf gewartet, einen Riß in der Hülle durchdringen zu können und sich ungehindert zu zeigen... sich nicht mehr vor mißtrauischen Blicken anderer verbergen zu müssen... noch weniger vor den eigenen. Plötzlich stoppt mein Atem... dumpf und hart schlägt der Puls in meinem Hals, als ich etwas Fremdartiges spüre, etwas neues, das ich nicht mit Worten umschreiben könnte, würde ich es versuchen. Es trifft mich schwer und ich erstarre in meinen unbeherrschten Bewegungen. Wärme... es ist Wärme, die ich wahrnehme, als mich etwas an der Schulter streift. Mit geweiteten Augen starre ich geradeaus, als sich Jonouchi zu mir neigt. Sein Atem streift meinen Hals... warm und kontrolliert ist er, ruhig und gleichmäßig. Ganz anders als das Keuchen, welches nun wieder aus mir hervorbricht. Er hebt die Arme, legt sie um meine Schultern... kommt mir nahe und ich bin erschüttert darüber. Er durchbricht eine Grenze, erfüllt mich mit Entsetzen, mit dem was er tut. Ein sanfter Druck legt sich auf meinen Rücken, Hände betten sich flach auf mein Rückrad und eine abnorme Hitze strömt mir entgegen. Hastig fällt mein Atem und ich erzittere, als eine Strähne seines Haares meine Wange berührt. Was tut er, frage ich mich fassungslos. Die Wärme seines Körpers erscheint mir wie alles versengende Flammen auf meinen kalten Gliedern. Das Leben seines Leibes, der Atem... und ich nehme die Verkrampfungen wahr, die angstvolle Reaktion meines Körpers, der eine solche Nähe nicht erträgt. Meine Muskeln verzerren sich, ein Zucken durchfährt meine Miene. Jonouchi schließt mich in eine zögerliche Umarmung und doch setze ich mich nicht zur Wehr, erscheine mir mehr noch wie ein hilfloses Kind, welches mit den Tatsachen der Realität nicht umzugehen weiß. Sein Kinn setzt sich zaghaft auf meine Schulter. "Weißt du...", vernehme ich sein Flüstern nahe an meinem Ohr, "... weshalb es so weh tut?" Mein Unterkiefer erzittert, ich schließe den Mund und presse die Lippen aufeinander. Fahrig suchen meine Augen nach einem Ziel, meine Gedanken nach Ausflüchten... Jonouchis Finger regen sich. Ich fühle es auf meiner Haut, die schmerzt, als hätte man ihr ein Mal eingebrannt. "Weil du beginnst, ein Mensch zu sein." Ich möchte mich zurücklehnen, seiner Nähe entgehen, doch bin ich nur Inhalt meines Körpers, der nach eigenem Ermessen handelt. Jonouchi schöpft tiefen Atem. "Der Mensch ist nichts, das überwunden werden muss", flüstert er mit einer Ruhe, der ich fern bin. "Wir sind hier, um Menschen zu sein. Gott schuf keine Maschinen, Kaiba, keine Monstren, die nicht fühlen, nicht empfinden... er schuf uns, mit all dem Leid, all der Trauer und all den Ängsten, die auf uns lasten. Er schuf uns, damit wir lernen." Seine Hände tasten sich weiter über meinen Rücken, seine Arme umschließen meine Schultern und ein eisiger Schauer durchläuft meinen Leib, der mich noch immer gnadenlos der Situation aussetzt. "Du lernst fleißig... ist es nicht so?" Seine Worte verraten ein mattes Grinsen, welches sich auf seinen Lippen abzeichnet. "Du bist ein Spitzenschüler, Kaiba." Und wieder... Sarkasmus in seiner Stimme... Wie verzehre ich mich nach gleichkommender Wut, nach der Kraft, ihn beleidigen, gar erniedrigen zu können für den Hohn, den er mir erneut entgegenbringt! Doch meine Lippen bleiben versiegelt und ich stumm... "Leider suchtest du dir dazu die unwichtigste Schule aus, die das Leben beinhaltet. Was sind Noten, Kaiba... Noten sind bedeutungslos, solange man selbst in der anderen Schule versagt. Die Schule des Lebens... deren Lehren du bis heute nicht annahmst. Vielmehr noch trittst du sie mit Füßen, verleugnest und verhöhnst sie und schlußendlich empfindest du Irritation über dein Leid, welches so ungerecht scheint, weil du ein solches Allroundgenie bist, dich für vollendet hältst, für etwas Wichtigeres und den Rest der Menschheit für wertlos." Ich würge ein schweres Schlucken hinab, bekämpfe den aufkeimenden Druck in meinem Hals und fühle die verräterische Nässe, die meine Wangen benetzt. Ja... die Menschheit ist wertlos... die Jugend... wertlos... die Generationen... sie alle sind unwichtig. Es ist, als spräche er aus meinen Gedanken und meine eigene Ansicht kann ich nicht verleugnen. "An was hast du dich nur verbogen?", wispert er annähernd lautlos. "Welcher Irrsinn pflanzte dir einen solchen Glauben ein? Welche Angst gab dir so einen Wahnsinn?" Wahnsinn...? Ich blinzle konfus, hebe stockend den Kopf und starre auf das milde Blau des Himmels, welches hinter den Fenstern liegt. Es ist, als würde mich erst dieses eine Wort wieder zum Leben erwecken, als würde es mir die Beweglichkeit wiederbringen. Er hält mich... für irrsinnig... für... verrückt? Meine Lippen beginnen Worte zu formen, derer ich mir selbst noch nicht bewußt bin. Regung durchfährt meine Miene, zitternd verlangt meine Lunge nach Sauerstoff. Meine Kontrolle... Meine Beherrschung... Mein Wissen... Mein Können... Wahnsinn? Ein einziges Wort scheint allen dieser Fähigkeiten ihrer Bedeutsamkeit zu berauben. Mein Leben, welches allein aus diesen besteht... Ich kann es nicht für mich annehmen... ich will es nicht! Ich bin ein Ideal... und trotz der Schwäche, die mich übermannt, bedeutend! Wie kann er es wagen, mich auf einen solch jämmerlichen Stand zu degradieren?! "Laß mich los...", flüstere ich angespannt und erkenne meine Stimme doch nicht wieder. So dünn, wie ein verdorrtes Blatt. So bebend, als würde es ohnmächtig taumelnd, von einer sanften Böe zur nächsten getragen. Die Worte sind alles, nur keine Drohung. Und das hatten sie eigentlich sein sollen. In dem Gewirr aus Zittern und Kälte versuche ich meine Hände zu spüren. Die Fingerkuppen sind auf dem Boden gebettet, bevor ich sie fieberhaft einziehe, meine Hände zu Fäusten balle und hastig nach Atem ringe. Die Intensität der fremden Umarmung hat unterdessen nicht nachgelassen und die Angst weicht allmählich einer Woge brennender Wut, durch die ich einen Teil meiner Sicherheit zurückzuerlangen glaube. Wenn auch nur einen Kümmerlichen. „Streif es ab.“ Wieder seine Stimme, die alle bestehenden Grenzen mit Arglist überschreitet und mir zu nahe ist. Seine Hände regen sich auf meinem Rücken, erinnern mich an die alte Qual der Nähe, die ich nun wieder in einer Deutlichkeit spüre, dass ich glaube, meine Worte hätten ihn nicht erreicht. Ich spüre eine reißende Trockenheit, als ich blinzle. Über meine Wangen spannt sie sich, über meine Augen und ich starre auf die säuberliche Bar, die sich hinter Jonouchis Rücken erhebt. „Lass mich…“, hauche ich wieder und das letzte Worte versiegt in meinem Hals, während die Wärme des fremden Leibes mich lähmt. Wahnsinn… Es gibt viele wahnsinnige Menschen… Sie sind ein Kollektiv… die Mehrheit, beinahe so gut wie die Norm. Sie sind überall… und sie sind wahnsinnig. Und… Ich kämpfe mit einem trockenen Schlucken gegen den Druck in meinem Hals an. Bebender Atem streicht über meine Lippen… so wie die Hände über meinen Rücken. Auf und ab… Ein kurzes Grinsen zerrt an meinen Lippen und verschwindet so schnell, wie es kam. Ein Keuchen durchfährt meinen Leib… wie ein stilles Lachen, mit dem ich mich selbst verfluche. „Ja…“, hauche ich und die fremden Hände halten in ihren Bewegungen inne, während ich mit geweiteten Augen auf die glänzenden Barhocker starre. Ein leichtes Nicken, vielmehr zu mir selbst als zu anderen. „Wahnsinn…“ Der Druck der Hände verstärkt sich, doch sie bleiben immer noch still und Jonouchi schweigt. Flüchtig und ziellos wechseln meine Pupillen von einer Seite zur anderen. Erneut spüre ich das Grinsen und es schmerzt, als der Atem stoßweise aus mir hervorbricht. „Die ganze Welt ist davon befallen… nicht wahr?“ Und wieder nicke ich, wieder nur zur Bestätigung meiner Selbst. „Alle sind wahnsinnig.“ „Mm…“, antwortet Jonouchi mit einem unbestimmten Murmeln und mein Grinsen verebbt, als sich sein Leib unter einem tiefen Luftholen hebt und senkt. Die Wärme… der Druck, all das, was mir seine Hände verriet, lässt nach. „Die Sucht nach Perfektion ist Wahn." Mein Atem stoppt. „Alle Menschen wahnsinnig, die behaupten, perfekt zu sein. Nur nicht du, Kaiba. Du bist der einzige, der es wirklich ist?“ Ich fühle meine Fingernägel, die sich in die Innenseiten meiner Hände bohren, als ich die Fäuste bebend zusammenpresse. Ein stechendes Brennen, das mich mit einem Schlag aus dem Traum zieht und die Realität zurückstößt, in welcher Jonouchi mich in jeder erdenklichen Form kritisiert, an mir zweifelt und all dies mit impertinenter Offensichtlichkeit! Als ob das einzige Bild, das ich durch mein zielsicheres Auftreten in anderen Augen gewonnen hätte, Wahnsinn wäre…!! Die Anstrengungen… meine Routine, mein Leben… und er betitelt es als ‚Wahnsinn’! Die Wärme der Umarmung verblasst, mir entrinnt ein gehetztes Keuchen und mit übereilten Bewegungen reiße ich die Hände in die Höhe, schlage die Finger in die Ärmel seines Mantels und zerre ihn von mir. Ich weiß es! Ich kenne den wahren Grund seiner Worte…!! Ich zerstöre die tröstende Nähe und mit ihr die Anschuldigungen, mit denen ich sie zu teuer erkaufe. Sobald ich Distanz zwischen unseren Leibern finde, stoße ich ihn fort, richte mich selbst hastend auf und stürzte zurück, da meine Gelenke keine Kraft mehr innezuhaben scheinen und mir die Arme nicht als Stütze dienen. Kälte benetzt meinen von seinen Händen gewärmten Rücken, der Kragen des Yukata hielt meiner Hast nicht stand. Lose rutscht er über meine Schulter, gibt diese preis, als ich mich keuchend zurücktaste. Jonouchi kniet sicherer, suchte nur kurz Gleichgewicht und macht den Anschein, als verstünde er mein Handeln nicht. „Du…!“ Meine Stimme ist ein dumpfes Fauchen. Ruppig zerre ich den Stoff über meine Schulter, zitternd klammert sich meine Hand in den Stoff, fixiert diesen. In vollkommener Wut erstarrt, bewegt sich nur ein Gedanke durch meinen Kopf. Wuchernd und pulsierend raubt er mir den Verstand; Jonouchi starrt mich an. „Du beneidest mich!!“ „Wie bitte…?“ Es scheint, als würden Zorn und Verblüffung Jonouchi zeitgleich heimsuchen. Seine Mimik verändert sich in undefinierbarer Art und Weise. „Was redest…“ „Du erträgst es nicht, dass ich das bin, was du nie sein wirst!!“ Ich schreie ihn an, ohne mir dessen bewusst zu sein. Und während sich sein Gesicht perplex entspannt, kämpfe ich mich auf die Beine. Keuchend suche ich nach Halt, klammerte mich in die Polsterung des Sessels. „Du versuchst es…“, kaum noch Kraft, die Beine zu beanspruchen, „… zu verhindern!“ Und endlich stehe ich, schwanke zur Seite und verspüre nun endlich den leisen Hauch der Überlegenheit, während ich auf den Blonden herabblicken kann. Tastend findet meine Hand zur Rückenlehne des Sessels, klammert sich hinein und gibt mir einen gewissen Halt, auf den ich dringend angewiesen bin. „Du erträgst es nicht!“, presse ich hervor und schürze die Lippen, unter schnell fallendem Atem. Dumpf pulsiert das Blut in meinen Venen… Schmerzen in meinem Hals, bei jedem Luftholen… Ein Kribbeln in meinen Beinen… Das Brennen meiner Augen… Gelockert bleiben Jonouchis Lippen geschlossen, während er in aller Ruhe kauern bleibt und mich mit von Tränen geröteten Augen ansieht. „Du…“, ächze ich und stoße mit dem Zeigefinger nach ihm, gleichsam verliere ich das Gleichgewicht, schwanke, stolpere zurück und lehne an dem Sessel, „… du willst meinen Platz! Ist es nicht so?! Du willst ihn!!“ Jonouchi senkt resigniert die Lider und zieht die Nase hoch. Nichts, das wie eine Antwort scheint… Eine unnatürliche Mischung aus Dominanz und Euphorie durchflutet mich… ein trügerischer Rausch, in welchem mein Mund Worte formt, ohne mein Denken zu fragen. „Du hast nie die Absicht verfolgt, mir zu helfen!!“, tobe ich, lache im selben Moment jedoch auf. Jonouchi… er… seine Pläne… sie sind… So jämmerlich, dass es bereits schon wieder als Belustigung dient. „Du meintest, ich käme nicht dahinter?!“ Endlich eine Antwort… Jonouchi stöhnt leise auf. Matt sinkt sein Kopf hinab, bis das Kinn sein Schlüsselbein berührt und er sogleich die Hand zum Gesicht hebt. Ich sehe, wie er seine Augen reibt, müde nach unten blinzelt und wenige Momente in dieser Haltung ausharrt, bis er sich abermals zu regen beginnt. Und ich stehe nur schwankend dort, sehe, wie er auf die Beine kommt und dies weitaus sicherer und ruhiger, als ich es tat. Stockend folgen meine Augen ihm, jeder Bewegung seiner Hand, die er langsam sinken lässt. Und wieder… seine Schultern heben sich unter einem tiefen Atemzug, den er diesmal lautlos entlässt. Ich sehe es… sehe sein Zögern, seine Unentschlossenheit und darin meinen Triumph. Meine Knie drohen nachzulassen; verbissen drücke ich sie durch und sehe, wie Jonouchi den Kopf schüttelt. Kurz darauf nur noch mein Keuchen, welches den Raum erfüllt und neben diesem eine erdrückende Stille, in der ich mich für sicher halte. Herausfordernd hebe ich den Kopf, feuchte Haarsträhnen bleiben an meiner erhitzten Stirn haften, als ich den Blick scharf auf ihn fixiere. Flüchtig und ziellos gleiten seine Hände über den Stoff des dünnen Mantels; kurz richten sie ihn, durchkämmen auch den blonden Schopf und dann… wendet er sich ab. Ich presse die trockenen Lippen aufeinander, als ich den Kopf mit ihm drehe, seine ersten Schritte für einen nervösen Spaziergang halte und mich bald in dieser Annahme fehlgeleitet sehe. Langsam setzt er einen Fuß vor den anderen… kontrolliert, doch matt. So hängen auch seine Schultern ohne die geringste Anspannung hinab. Und er bricht auf, die Tür und den Ausgang zu erreichen. Stockend blicke ich zu jenem Ziel, zu ihm zurück; meine Hand rutscht auf dem ledernen Polster ab und ich stolpere auf die freie Fläche vor den letzten Stufen. „Wohin gehst du?!“, verlange ich fassungslos zu wissen. ~*to be continued*~ Kapitel 9: ~Hinter dem Abgrund~ ------------------------------- Er reagiert nicht… nicht das kleinste Innehalten in seinen zielstrebigen Bewegungen! Ich kann es mir nicht erklären… meine Gefühle… das Entsetzen, mit dem ich mir sein offensichtliches Verschwinden betrachte. Laut hallt das Keuchen meines Atems in meinen Ohren, als ich meine zitternden Finger spreize. „Wohin gehst du!!“ Und ich spüre die alte Enge in meinem Hals, als wolle mein Leib den Schrei unterbinden, mich verraten… meine Wut unterdrücken. Und ich bin wütend… ich bebe vor Zorn, als er seinen Weg fortführt, meinem Blickfeld zu entschwinden droht! Wieso zögert er nicht?! Weshalb… verflucht noch mal… blickt er mich nicht an?! Man begegnet mir nicht mit Nichtbeachtung! Sie ist meiner nicht würdig! Man hat mich nicht zu missachten!! „Jonouchi!!“ Ein schmerzhaftes Krampfen in meinem Leib, als ich die letzte spärliche Luft heftig aus meiner Lunge presse. Das Luftholen fällt mir schwer. Mein stets kontrollierter Körper, ist den heißen Wogen der Wut nicht gewachsen… >Ich ersticke!!<, befällt mich die grausame Angst, als ich nach Atem ringe, mein eigenes Röcheln vernehme und ermattet auf die Knie sinke. Verschwitzt peitscht mein Haar gegen meine Stirn, als mein Kopf kraftlos vornüber sinkt und sich meine Hände, entgegen der vollendeten Erniedrigung, gegen den Boden pressen. Keuchend stemme ich mich ab, umklammere den Versuch, mich aufzurichten… doch bleibt dieser Versuch ein ewiger und ich schwanke hilflos zwischen dem Herabsinken und Hinaufstemmen. Eine schmerzhafte Hitze sucht meine Augen heim… ich ächze unter jenem Brennen und als mein Keuchen unter einem schweren Schlucken verebbt, dringt die allseitige Stille in meine Wahrnehmung. Keine Schritte… … kein Atem. So unterdrücke ich auch den Eigenen. Ein dumpfer Schmerz beginnt in meinem Kopf zu pochen, als ich die Zähne fest aufeinander presse. Ohnmächtig tasten sich meine Fingerkuppen über den Boden. Schweiß benetzt meine Haut… ich gleite ab… Und… … ich… Eine verbitterte Leere in meinem Inneren, die mir hohnlachend nur einen Gedanken gestattet. Nur einen grauen Fetzen meiner Furcht… Ich bin verloren... Tot… Wenn bislang nicht, dann bin ich es nun. Ich bin… kaputt… zerstört… pulsierend und verletzlich klafft mein Herz im Loch meiner brüchigen Barriere. Unbarmherzige Kälte zieht mir von dem marmornen Boden entgegen, auf den ich mich zitternd schmiege. Ich bin defekt… Bebend presste ich die Lippen aufeinander… Ich bin… Nutzlos. Nutzlos. Nutzlos. Wie ein immer wiederkehrendes Schreckgespenst kontrolliert mich der Gedanke… nein, diese Tatsache! Ich… Stoßweise kämpft mein Leib gegen den angehaltenen Atem an… mein Kopf… ich kämpfe, doch bald erbebt mein gesamter Körper… ein stechender Schmerz in meiner Brust mahnt mich der unterdrückten Luft und ich unterwerfe mich. Laut ringt meine Lunge nach Sauerstoff… angsterfüllt nehme ich sie auf, stoße sie wieder von mir und vernehme die laute Botschaft, die meinem Atem ein Begleiter ist. Abermals… … und ich will… es… nicht… Ungebändigt, als wolle es mir abermals eine Klinge in meine tückische blutende Kontrolle rammen, bricht das Schluchzen aus mir heraus. Ein langer kläglicher Laut… Zu kurz, um zu versuchen, ihm Einhalt zu gewähren… Zu lang, um nicht an ihm zu zerbrechen… Ich kann nicht mehr… ein müder Gedanke ohne etwaige Erbostheit. Ich… kann einfach nicht mehr… „Kaiba?“ Nur eine Stimme… nur ein Flüstern… und ich fahre in die Höhe. Durch die Tränen erblicke ich verschwommen das Bild des Blonden, der reglos an jener Ecke steht… zu mir blickt. Welch Ironie… welch Spott… sein bloßes Aussehen verschwimmt in meiner Wahrnehmung, während er mehr sieht… mehr, als einen verschwommenen Menschen. Mich… und bis in die tiefsten Abgründe meiner Selbst. Der kalte Marmor unter meinen Händen… er fühlt sich an die unterste Stufe der Treppe, die zu seinem Thron hinaufführt. Dorthin… wo wiedererlangte Kontrolle und Überlegenheit seinen Platz rechtfertigen… mein Thron… einst. „An dieser Stelle endet es…“ Mein Leben…? Ich möchte lachen, doch spüre ich nur die Nässe meiner Augen. Nein… einfach alles. „Versuch, zur Ruhe zu kommen“, fährt er fort und ein unverhofftes Murmeln aus meinem Mund macht mich darauf aufmerksam, dass ich wohl kurz davor bin, ihn mit zitternder Stimme zum Bleiben zu bitten. Doch als ich meinen eigenen Laut vernehme, versiegeln sich meine Lippen abermals und ich bleibe still kauern. „Meine Worte helfen dir nicht mehr. Komm wieder zur Besinnung und tue es auf die Art, die dir die Beste scheint.“ Somit verstummt seine Stimme und doch sehe ich ihn noch immer dort stehen. Nun zögert er… „Wir…“, er beginnt sich zu regen, „… sehen uns morgen. Und, glaube mir… alles wird anders sein.“ Beinahe lautlos kommen die Worte über seine Lippen und gleichsam kehrt er mir nun den Rücken… sein Blick wendet sich ab und meine Hand schnellt nach oben, als wolle sie nach seinem Schatten greifen. Doch sie fasst ins Leere, seine Gestalt wird von einer der kantigen Ecken der Suite verschluckt und lange Zeit starrte ich auf den Punkt, an welchem er soeben noch stand. Wieder bahnt sich eine Linie warmer Nässe ihren Weg über meine Wange, stockend sinkt die Hand gen Boden und eine gewisse Trockenheit legt sich auf meine Lippen, als diese, leicht geöffnet, reglos verharren. Er geht… nein, er IST gegangen. Er ist fort… und in mir regt sich der matte Wunsch, seinem Verschwinden beleidigende Gründe zur Last zu legen. Feigling möchte ich ihn nennen… einen Fliehenden… der Unheil schafft und verschwindet, sobald sich dieses in seinen vollen Maßen zeigt. Der Schaden bewirkt und vor den Ausmaßen flieht. Der verletzt, der beschädigt, der… mich… beschädigt. Ich möchte ihn verhöhnen, ihn herabwürdigen… sein Verhalten mit wahnsinnigen Gedanken ins Negative stürzen. Ich möchte es… wohl mehr aus dem Grund, um mir eine alte geschätzte Fähigkeit zuzugestehen… um zu fühlen, dass ich noch lebe. Zumindest ein Teil von mir. Doch ich schweige… Wie lange sitze ich dort… Bis meine Augen trocken… mein Atem gedämpfter ist… Zeit spielt keine Rolle. Was eine Rolle spielt, ist das Schlagen meines Herzens. Alsbald, als mein Keuchen verebbt, spüre ich es so stark wie noch nie zuvor. Das Pulsieren des Blutes in meinen Venen… die Lebendigkeit meines Körpers… Als bäume sich dieser nach langer Unterjochung auf… und dies gegen mich. So wie sich in letzter Zeit alles gegen mich richtet. Schwerfällig sind die Bewegungen meiner Hände, als sie an jener Lebendigkeit teilnehmen, sich das erste Mal seit langem von jenem Boden lösen und sich in ziellosen verworrenen Gestiken heben. Ein Schweres ist es mir, die Augen von einem gewissen Punkt zu lösen. Apathisch bleiben sie nach vorn gerichtet, bis ich meinen Kopf weit zur Seite wende, stockend um mich starre und meine Umwelt doch nicht wahrnehme. Das letzte Bruchstück meines Lebens findet in meinen Gedanken Verbannung… in einem Traum, aus welchem ich nicht wieder aufzuwachen gedenke. Fragmente meiner Ängste überschlagen sich… Eindrücke scheitern an den Versuchen, in mich einzudringen. Starr kaure ich inmitten der Suite… inmitten meines Luxus… meines Lebens und gleichsam in dessen Ruine. Auch ein Blinzeln bringt mir keine Besinnung zurück und so starre ich auf den milden gleißenden Strahl, den die Sonne durch mein Fenster sendet. Verspielt wirft er Schatten auf meinem Boden, während sich die winzigsten Staubpigmente in ihm tummeln. Gläubige Menschen… Menschen, in deren Welt ein Gott existiert, halten dieses Licht für ein Sinnbild seiner Erscheinung… vor dem Tod… Ein helles Licht, nicht wahr? Und ich erblicke es, obwohl ich erwartete, die Nacht zu sehen. In all ihrer Dunkelheit, die ich in mir trage. In all ihrer Kälte, die mich oft vor Schwäche rettete. Die Nacht, die Gedanken verändert… der ich entrann, indem ich mich dem Schlaf oder der Arbeit verschrieb. Ich fürchte die Nacht. Und noch immer… starre ich auf dieses Licht und fühle mich, als wäre ein Teil von mir gestorben. Wie geht es nun weiter…? Hier nach diesem Punkt, an dem all das endet, was mich ausmacht. Wie geht es… mit mir weiter? Stockend bewegen sich meine Lippen, ohne dass ich in meinem Inneren nach Worten suchte. Und so ist es nur ein stummer zittriger Atem. Es schmerzt… ich fühle mich allem beraubt. Allem, was mich ausmacht. Ich bin Seto Kaiba. Ja… Kaiba. Ich bin… gefürchtet… zielstrebig… eisern… Ich habe mich… unter Kontrolle. Ich bin stark, weil ich keine Emotionen eindringen lasse. Mein größter Verehrer bin ich selbst. Wer ist es dann, der hier kauert? Auf dem Boden, über den Seto Kaiba stets mit erhobenem Haupt schritt? Mit matten Gliedern, die Seto Kaiba immerzu Gehorsam leisteten? Zusammengesunken wie die Menschen, die Seto Kaiba beharrlich verachtete? Perplex, so wie Seto Kaiba es nie gewesen ist. In einer anderen Welt… der Reellen, in der er nie gelebt hat…? Ich bin hier fremd… ich bin nicht ich selbst. Ich bin jemand, den ich nicht kenne. Wer bin ich…? Langsam senke ich die Lider, den Kopf und betrachte mir eine meiner Hände. Als würden sie mir eine längst verschollene Geschichte erzählen. Über das Leben in all seinen Einzelheiten. Einzelheiten, die ich aus meiner Routine drängte, da sie nichtig waren. Schleppend beginnen sich die blassen Finger zu bewegen. Als sie sich voneinander spreizen, erblicke ich gerötete Fingerknöchel, betrachte mir auch das Handgelenk… beinahe ist es schon zierlich. Der lange Ärmel des Yukata ist verrutscht, verbirgt es nicht mehr vor meinen Blicken. Der Stoff des Gewandes weißt Falten auf, bekleidet meinen Körper eher dürftig als recht. Ich spüre meine freiliegende Schulter, blicke an mir herab. Lose hängt der Mittelsaum unter dem kunstvollen Gürtel… ungewöhnlich schnell hebt und senkt sich der flache Bauch, den der Stoff nicht mehr zu verbergen imstande ist. Noch immer halte ich beide Hände gedankenlos erhoben, beginne jedoch, sie zu bewegen… um sie erneut zu spüren, sie allmählich wieder kontrollieren zu können. Mein Mund fühlt sich trocken an, als ich ungewandt nach dem Saum taste, ihn erspüre und meine Brust mit ihm verdecke. Was ist passiert… Ich halte inne, stocke, presse den wärmenden Stoff gegen meine Haut… Derartige Fragen stellt Seto Kaiba nicht. Seto Kaiba kennt etwaige Antworten. Jeder Vorfall… alles ist wissenschaftlich zu erklären. Für alles gibt es eine Lösung und er braucht nicht lange, auf diese zu kommen. Wieder blicke ich zu jenem Sonnenstrahl, schaue über ihn hinweg und werde auf die Flasche aufmerksam, die noch immer auf jenem Tisch steht. Vor kurzem hat Seto Kaiba noch den Wein genossen… während er mit stolzer Haltung in jenem Sessel saß und die Worte eines Blonden verhöhnte. Sehnsüchtig blicke ich zu jenen Polstern, auf denen er Platz nahm. Und ich wünschte… ich könnte die Zeit zurückdrehen, könnte abermals dort sitzen und alles anders machen… besser… Ich spüre eine Regung meines Gesichtes. Meine Augenbrauen sind es, die sich verziehen. Besser…? Oder nur anders…? Wie anders…? Abermals zieht mich die kunstvolle Flasche in ihren Bann. Abwesend betrachte ich sie mir, widme dem Etikett ungewohnte Aufmerksamkeit. Es ist kunstvoll verziert… der kostenlose Vorgeschmack dieser Köstlichkeit. Meine Hände finden im Boden ein neues Ziel. Unbeholfen stütze ich mich ab, nähere mich jener Flasche auf Knien und greife nach ihr. Ihr dünner Hals ist kühl… Dieses Denken… Bruchteile gestalten sich als noch marternder als geordnetes Sinnieren. Einjeder Gedanke reißt mich in eine andere Richtung. Wahrheit oder Trug? Realität oder Traum? Fehler oder Recht? Ich fühle mich so entkräftet wie lange nicht mehr. Meine Lider fühlen sich schwer an, als ich durch das grünliche Glas auf den dunklen Wein starre, ihn alsbald in der Flasche zu schwenken beginne und ihn doch binnen kurzem sinken lasse. Ich stehe unter Schock… ganz bestimmt; anders kann ich es mir nicht erklären. Und ich will nicht mehr… kann nicht mehr. Jetzt nicht. Ich will mich dem entziehen, bevor jene unbekannte gefürchtete Trauer abermals über mich kommt. Abschließen, ohne weiterhin zu sinnieren und mich selbst zu peinigen. Nein, für heute genügt es… Ein leises ‚Klong’ ertönt, als ich die Flasche träge auf den Boden setze und mich in selber Bewegung abwende. Träge trifft mein Arm dabei auf einen Widerstand und erneut ertönt das Geräusch. Ich drehe mich weiterhin; nur flüchtig erfassen meine Augen die umgefallene Flasche und den teuren Wein, der sich über den Marmor ergießt. Und dann wende ich mich nach vorn… zur Bar. *~*~*~*~ *Sie füllt dich an wie Blut die frische Wunde Das Zittern meiner Hände möchte es mir kaum erlauben, den Verschluss der Flasche fest zu umfassen. Mit Verbissenheit widersetze ich mich meiner körperlichen Hemmung, presse die Hand fest auf dessen Deckel und greife nicht minder kraftvoll zu. *und rinnt hernieder seine dunkle Spur, Das Keuchen, das beständig aus meinen Hals dringt, will ich ertränken in der feigsten Möglichkeit, die sich mir in diesem Hier und Jetzt bietet. Die Kälte des Bodens benetzt bereits die Haut meiner unverhüllten Beine; der Yukata ist verrutscht, der Gürtel gelockert, kaum noch als Kleidungsstück zu betrachten. *sie dehnt sich aus wie Nacht in jener Stunde, Die Scheu vor der Schädigung meiner Kontrolle, dem Schwund meiner Standhaftigkeit… Vor Mokubas Augen dem Alkohol den Rücken zu kehren und mich hinter ihnen, diesem zuzuwenden. Welche Kontrolle… welche Standhaftigkeit… *da sich die Matte färbt zur Schattenflur, Niemand erwartet Beweise in dieser Stunde, niemand schwört auf seinen Eindruck. Nur mich selbst kann ich enttäuschen und kann dies in jenen Augenblicken nicht genug. Nachdem der Verschluss seine letzte zitternde Umdrehung macht, entgleitet er meinen Händen, die sich, ohne dem Beachtung zu schenken, der Flasche zuwenden. *sie blüht wie Rosen in Gärten allen, Nie hätte ich gedacht, welche Trockenheit die Augen heimsucht, nachdem sie Tränen vergossen. Annähernd schmerzhaft ist das Blinzeln und so halte ich sie für wenige Momente geschlossen, während ich mich stockend über den Boden taste, meine sichere Ecke hinter der kunstvollen Bar suche und mich an deren glänzende Fläche schmiege. Niemand sieht mich hier… der luxuriösen Weite der Suite kehre ich den Rücken, um mich hier zu verkriechen und die Helligkeit des Tages zu verfluchen, die durch das Fenster zu mir scheint. *die Einsamkeit aus Gewinn und Verlust, Langsam winkle ich die Beine an, ziehe sie nahe an mich und lehnte meinen Kopf, das verschwitzte Haar gegen das glänzende Ebenholz. Fliehend suchen auch meine Arme zwischen meinem Leib und meinen Beinen Schutz und zusammengekauert verharre ich, beide Hände um die Flasche gepresst, müde in die Richtung der Sonne blinzelnd. *das Überleben, wenn die Träume fallen, Auf den stets gepflegten Lippen fühle ich eine raue Oberfläche, als ich sie abwesend aufeinander bewege, tief einatme und die Lider hebe, um mir die Flasche zu betrachten. Es ist die erste, die ich sah, die, die mich aus kürzester Entfernung in der Welt des freien Falles willkommen hieß. *zu viel gelitten und zuviel gewusst. Der gläserne Verschluss der Flasche ist kühl, als ich ihn kurz darauf an meine Lippen setze, träge an dem Getränk nippe und sogleich hinunterschlucke. Brennend bahnt sich die Flüssigkeit ihren Weg durch meinen Körper… ich spüre sie, bis sie meinen Bauch erreicht, in welchem nach wenigen Augenblicken eine gewisse Wärme auflebt. Aufleben… ja, und es tut gut. *Entfremdet früh den Tatsachen der Wirklichkeiten, Bis mein Hals in Flammen zu stehen scheint und sich ein dumpfer Druck in meinem Magen bildet… dann reiße ich mich von der Flasche los, stoße ein lautes Husten aus und presse die Hand auf den Mund. Sie zittert wirklich. Verkrampft schließe ich die Augen, spüre, wie sich jenes Aufbegehren meines Leibes wieder legt. *versagend sich der schnell gegebenen Welt, Schmerz… in zwei Seiten zeigt er sich und oft genug sah ich die eine. Weder das Schmerzen meiner Glieder nach Tagen der fanatischen Arbeit, noch das einer Wunde, einer Verletzung. Perfekte Kontrolle, wie ich sie… praktizierte… lässt Unfälle nicht zu. *ermüdet von dem Trug der Einzelheiten, Schmerz der anderen Seite jedoch… ist mir stets ein unerwünschter Begleiter. Meine Seele zerfressend, mein Menschenbild zerstörend, leistet er mir stets Gesellschaft. Mit ihm zu sein, ist Einsamkeit, welche er sein Reich nennt. *da keine sich dem tiefen Ich gesellt; Tobend und wütend beherrscht er es, so wie jeden, der sich dorthin verirrt. Und mit höhnischer Zuneigung schenkt er Umarmungen und löst diese nicht. Eine Freundschaft, die ich nicht schwer erkaufte und die dennoch ewig zu sein scheint. *nun aus der Tiefe selbst, durch nichts rühren, Wieder setze ich jene Flasche an meinen Mund, trinke und spüre das alte Rasen meines Herzens. Der leise Widerstand gegen den emotionalen Schmerz, dem ich mich mit erbittertem Handeln entziehe, als mich ihm hinzugeben und ihn als Vertrauten anzusehen. *und die kein Wort und Zeichen je verrät, Ich verfalle der Hast… trinke mehr, obgleich mein Körper deutlich rebelliert. Ich muss mich sputen, mir die Sinne vernebeln, bevor ich mich selbst in meiner Armut hier kauern und trinken sehe. Bevor es mich überkommt, mich zu bemitleiden. *musst du dein Schweigen nehmen, Abwärtsführen *zu Nacht und Trauer und den Rosen spät. Ich möchte nicht mehr denken, nicht mehr fühlen… Nicht mehr zweifeln, nicht weitere Tränen vergießen… Tränen… als würde Eis zerschmelzen. *Manchmal noch denkst du dir; die eigene Sage… *Das warst du doch? Ach, wie du dich vergaßt! >Seine verfluchten Worte!<, schreit es in mir und das Brennen des Getränkes lässt meine Gesichtszüge entgleisen. Eilig trenne ich mich abermals, huste laut und krieche in mich zusammen. >Seine verfluchten Worte haben mir Schaden angetan!!< *War das dein Bild? War das nicht deine Frage? *Dein Wort, die Existenz, die du besaßt? Alles haben sie mir genommen! Kontrolle, Beherrschung… alles, was mein Leben war! Gestoßen haben sie mich in eine schiere Unsicherheit, in der ich keine Zukunft sehe! *Mein Wort, meine Existenz, dereinst besessen, *mein Wort, meine Existenz, zerstört, vertan… Was bin ich noch?! Was soll ich werden?! Bebend presse ich das Kinn auf meine Brust, verkrampft beißen meine Zähne aufeinander. Meine Schultern erbeben unter kurzen unterdrückten Atemzügen. Schon wieder… Ich denke, ich fühle. Ich verfluche mich, verfluche ihn und alles, was nun ist. Dass die Trockenheit meiner Augen der alten Nässe weicht und mir gedämpfte Laute entrinnen. *Wem das geschah, der muss sich wohl vergessen *und rührt nicht mehr die alten Stunden an. Dumpf schlägt die Flasche auf dem marmornen Boden auf, als ich den Griff um ihren Hals lockere, die Arme um die Knie schlinge und schluchzend das Gesicht hinter diesen vergrabe. *~*~*~*~ Wärme… ich spüre sie an einer Stelle meines Körpers und vermag nicht zu sagen, welche es ist. Ich höre das leise Rauschen meines Atems und nehme ein leichtes Ziehen wahr, als ich tiefer nach Luft giere und sie in mir aufnehme. Die einst so unendlich erscheinende Finsternis, die ich vor mir sah, weicht einem tiefen dunklen Rot, welches mich blendet, obwohl ich glaube, die Augen noch geschlossen zu haben. Meine Wahrnehmung erwacht aus der Taubheit des Schlafes. Lahm öffne ich den Mund, entlasse einen tiefen Atemzug und spüre einen stechenden Schmerz in meinem Kopf. Ein schweres Gewicht scheint mich niederzudrücken. Meine Arme fühlen sich matt an, ich halte sie weit von mir gestreckt, ebenso meine Beine, an denen ich etwas fröstle. Wieder atme ich tief ein, tief aus… bewege die Lider, ohne die Augen zu öffnen und zähle das leise Pochen, das hinter meinen Schläfen festsitzt, dem das Stechen wich. Es erhebt sich unaufhörlich und nach wenigen Augenblicken werde ich mir der Tatsache bewusst, dass mein gesamter Körper von Schmerzen geplagt ist. Mein Magen rumort, ein widerliches Gefühl durchflutet meinen Bauch und ein säuerlicher Geschmack liegt auf meiner Zunge. Ich verziehe die Miene, meine Konzentration sucht den erwärmten Punkt meines Körpers und stockend beginne ich diesen zu bewegen. Es ist meine Hand… meine Finger, die ich krümme und wieder von mir spreize. Und dann endlich gelingt es mir, die Augen zu öffnen. Selbst sie lassen dies kaum zu und es ist mir unangenehm, wie ich in die Helligkeit des Tages hineinblinzle, bald darauf vor dem Licht fliehe und die Augen schließe. Ein Juckreiz befällt meine Stirn; ich spüre die wirren Strähnen meines Haares, die wild mein Gesicht bedecken und kämpfe währenddessen mit der rasch aufkeimenden Übelkeit. Ich sehne mich nach dem Schlaf… es geht mir schlecht. Es ist ein neues Gefühl, auf das ich jederzeit und mit größter Bereitwilligkeit verzichten würde. Kraftlos blähe ich die Wangen auf, hebe eine Hand vom Boden und bewerkstellige dies nur mit Anstrengungen. Träge hebt und senkt sie sich zu meinem Gesicht, ertastet die Haut und die Haare… streift sie schleppend bei Seite. So blinzle ich wieder, nehme meine Umwelt durch einen trüben undeutlichen Vorhang wahr und lasse das Gesicht zur Seite sinken. Der Schmerz in meinem Kopf bäumt sich auf, ich zische unter seiner Intensität und bleibe liegen. Meine Hand gleitet unbeholfen über mein Haar, bevor sie reglos über meinem Kopf liegen bleibt. Was ist passiert… wo bin ich? Müde erfassen meine Pupillen den Boden, auch meine andere Hand, die weit von mir gestreckt, und zur Hälfte in einem Strahl aus Sonne und Wärme liegt, der durch das Fenster auf den Marmor fällt. Meine Fingerkuppen beginnen sich in dem Licht zu bewegen; eine jede der Regungen verfolge ich abwesend. Es ist wieder hell… es ist wieder Tag… oder noch immer? Ich vermisse jegliches Zeitgefühl, lege bald jedoch keinen Wert mehr darauf, denn mein Körper steigert sich rasch in einen Zustand, der mich ängstigt. Ich verziehe die Brauen, kraftlos taste ich mit der anderen Hand nach meinem Haar, gleite mit den Fingern durch die Strähnen und spüre ihre Rauheit. Benommen taste ich mit der Zunge, raune unter dem widerlichen Geschmack und beginne meine Umwelt mit trüben Augen weiterhin zu erkunden. Die weiße Decke über mir… die Wände umgeben mich in weitem Radius. Ich liege inmitten meiner Suite, in naher Entfernung der Polstermöbel und weiß beileibe nicht, wie ich hierher gelangte. Graue Fetzen der Erinnerung durchstreifen meinen schmerzenden Kopf und verlieren an Wichtigkeit, als mir ein lästiger Geruch in die Nase steigt. Unter einem gepeinigten Brummen beginne ich mich zu regen, taste mit den Händen um mich, suche nach Halt und richte mich mühsam auf. Meine Glieder lassen mich das dreifache Gewicht spüren… vor meinen Augen schwankt das Bild und abermals zische ich unter den Kopfschmerzen auf. Doch endlich hocke ich. Kurz darauf finden beide Hände zu meinen Schläfen, reiben diese kurz und gleiten stockend zu meinen Augen, um diese unter sich zu verbergen. Nur zu einem stummen Kopfschütteln bin ich imstande. >Ich schlafe noch immer<, denke ich mir. >Ich bin noch nicht wach…< Und so blinzle ich zwischen meinen Fingern hindurch und erblicke zwei Flaschen, die nahe bei mir liegen, teils wurden sie geleert, teils liefen sie aus und der Stoff meines Yukata ist es unter anderem, der von ihrem Inhalt durchweicht ist. Die Feuchtigkeit ist nun nicht mehr als Klamme und doch peinigt sie meine Nase. Ein leiser Ekel befällt mich und unbeholfen befreie ich mich von dem letzten Stück, welches noch vom Gürtel gehalten wird. Währenddessen schweift mein Blick weiter, matt gleiten meine Hände über den Stoff des Yukata und halten bald in ihren Bewegungen inne. Ungläubigkeit befällt mich… sowohl auch Irritation und ich drehe das Gesicht zur Seite, nur, um mich auch weiterhin der Bestürzung hinzugeben. Die Kissen, die anfänglich noch das Sofa zierten, zieren nun den Boden. Beide Barhocker liegen ebenso auf diesem. Zersplitterte Gläser neben der Bar. Zwischen den glänzenden Scherben die Blätter einer Zierpflanze, die samt Topf aus der kunstvollen Halterung gerissen wurde. Die kunstvollen Strukturen des Marmors sind mit dunkler Erde verziert; nicht weit von mir liegen die Splitter des zerbrochenen Aschenbechers. Alles ist verwüstet… Und an meinen Händen haften die Beweise, die mich zum Täter machen. Ziellos wechseln meine Pupillen von einer Seite zur nächsten… ich suche die Konfrontation mit den Tatsachen, ringe um Konzentration und fühle mich in dieser Situation zu nichts fähig. Der Gestank von Schweiß und Alkohol… ich meine sogar den beißenden Geruch der Tränen wahrzunehmen und es bringt mich um den Verstand, hier auszuharren. Es widert mich an und ich drehe mich träge um, schaue hinüber zur Tür des Bades und beginne mich bereits zu bewegen. Mein Wille ist der einzige, der sich dorthin sehnt, mein Körper jedoch, begeht schmählichen Verrat an mir, widersetzt sich mir. Das Stechen meines Kopfes treibt mich nahe zu der Verzweiflung, in der ich mich erneut niederlege. Die Kraftlosigkeit meiner Glieder will mir den Zwang des Innehaltens auflasten. Meine Augen deuten mir den Weg verschwommen und mein rasch anschwellender Atem führt mir nur um ein weiteres Mal vor Augen, in welchem Zustand ich mich befinde. Ich welchem abscheulichen Zustand, in den ich mich selbst begab. Kein Stolz, kein Hochmut. Der Drang nach Reinigung treibt mich dazu, mich um ein Stück auf den Knien fortzubewegen. Blind tasten sich meine Hände voran, beinahe verfange ich mich in dem Stoff des Yukata, trete ich jedoch zur Seite. Dann erst, nachdem ich mich die Stufen zur ersten tiefen Ebene erreiche, versuche ich mich darin, auf die Beine zu gelangen. Nur schwerlich ist Gleichgewicht zu finden, in der neu gewonnenen Höhe verstärkt sich jenes Gefühl des Schwindels und es entpuppt sich als kaum zu bewältigende Herausforderung, geradeaus zu gehen. Ich schwanke, stolpere annähernd über meine eigenen Beine, erkämpfe mir den Weg zum Ziel und stütze mich an der Wand ab, sobald ich diese erreiche. Ich verspüre eine leise Erleichterung, als ich die Hände an den Marmor lege, mich bald selbst an diesen lehne und mit der Stütze an meiner Schulter die letzte Distanz überwinde. Sehnsüchtig erwarte ich den Anblick der Dusche, schleppe mich durch den Türrahmen und blinzle in den großen Raum. So löse ich mich von der Wand, gebe deren Stütze auf und nähere mich in unsicheren Schritten der Dusche. Ermattet verfolge ich die müde Arbeit meiner Füße, zwinkere unter dem wirren Haar, welches mir abermals in das Gesicht fällt und wende dieses zur Seite, als ich nur noch wenige Schritte vor mir hab. Eine Bewegung ist es, die mich aufschreckt. Eine Regung neben mir und meine eigene erstirbt, als das bleiche Antlitz eines jungen Mannes im Spiegel sehe, welches mir zermürbt, ja, annähernd kränklich erscheint. Nur undeutlich… fahrig hebe ich die Hand zu meinem Gesicht, streife mir das Haar nun endgültig zurück und möchte meinen Augen keinen Glauben schenken, als mein Spiegelbild vor mir liegt wie ein Schreckgespenst. Etwaige Farbe ist in den Gesichtszügen verblasst… Drastisch stechen die blauen Pupillen neben den geröteten Augen hervor… Spröde sind die Lippen, zerzaust das Haar… Meine Augenwinkel zucken, als mich eine Welle des Ekels durchflutet. Ein sinnloses Unterfangen, ja, und doch ziehe ich den Kopf zurück, durchkämme mein Haar abermals mit der Hand und wende mich von dem Spiegel ab. Ich kenne mein Spiegelbild… gewiss, ich sah es immerhin einen jeden Tag für wenige Minuten, in denen ich zufrieden war und keinen Makel an mir fand. Gesund, was auch immer dies in meinen Augen bedeuten mag. Die Glätte meiner Haut… Die Oberfläche meiner Lippen… Mein Haar, das durch den ruhigen Schlaf nichts an seinem Halt einbüsst… Ich kenne einen jeden Zentimeter an mir. Ich lernte ihn wie schulische Theorien und erkannte nichts von alledem wieder. Lange lasse ich das heiße Wasser auf meinen Körper prasseln, lange kaure ich auf dem Boden der Dusche und spüre die Wasserperlen, die über mein gesenktes Gesicht fließen. Schmale Rinnsäle ziehen sich über meine Arme, während der dünne Strahl meinen Nacken trifft und das Haar aus diesem spült. Nass haften einige Strähnen auf meinen Wangen, als ich das Gesicht etwas hebe, einen tiefen Atemzug in mir aufnehme und dem monotonen Rauschen zuhöre. Mir steht der Sinn danach, mich dem Schlaf erneut hinzugeben… jetzt sofort und bis in alle Zeit. Der einzige Gewinn dieser Dusche ist das träge Nachlassen der Müdigkeit. Nicht etwa den Schmerz verbannt sie auf meinem Leib. Fortwährend löst das Wasser jenen Gestank von meiner Haut, wäscht ihn fort und lässt das zurück, was unter der Oberfläche brodelt. Es ist wie immer, nicht wahr? Eine gehörige Dummheit ist nötig, um die Kontrolle über Äußerlichkeiten zu verlieren. Eine gehörige Dummheit, wie diese eine ist. Doch schnell schon ist der gewünschte Anblick wieder hergestellt, während sich die Beschaffenheit des Gemütes vor etwaiger Kontrolle abschirmt. Im aufsteigenden Dampf des heißen Wassers schüttle ich still den Kopf und fühle den Keim eines Grinsens an meinem Mundwinkel. Doch bleibt es auch bei diesem und ich brauche ihn nicht zu ersticken, um ihn verschwinden zu lassen. Die alte Ausdruckslosigkeit befällt mein Gesicht und ermattet senkt sich mein Kopf unter dem kitzelnden Wasserstrahl. Diese Irritation… wenn das Gefühlsleben aufgewirbelt ist, als hätte ein Orkan in ihm getobt. Das Suchen nach richtigem Sinnieren und das oft darauf folgende Scheitern. Ich bin noch nicht davon befreit… doch will ich es sein. Einzig und allein um grübeln zu können, um Erinnerungen zu finden. Auf Erklärungen will ich stoßen, die mir mein Handeln, sowohl auch mein jetziges Befinden nicht mehr wie ein Mysterium erscheinen lassen. Ich setze mich bequemer, entfernte mich von dem warmen Strahl und gebe mich damit zufrieden, ihn auf meinem Rücken zu spüren. Und als ich die Beine von mir strecke, befällt mich ein Gedanke. Urplötzlich und unvorhergesehen setzt er sich in meinen Kopf und bringt mir etwas nahe, das ich nicht für möglich gehalten hätte. Perplex richte ich mich etwas aus der zusammengesunkenen Haltung auf, öffnete ebenso die Augen und starrte auf die glatten Wände, die mich umgeben. Was ist… ja, was wäre, wenn…? Ich würge ein schweres Schlucken hinunter, senke die Lider und blinzle mehrmals. Was wäre, wenn mein Sinnieren, mein Denken… gerade in diesen Momenten und nach jenen Geschehnissen… klar ist? Gerade jetzt und das erste Mal seit langem? Ich bin mir darüber bewusst, dass meine Grübeleien stets aus komplizierten Faktoren bestanden… so, wie ich es wohl liebe und ebenso, wie ich das Denken bevorzuge, um mich in meiner Intelligenz bestätigt zu sehen. Kompliziert, komplizierter und am Kompliziertesten. Die Existenz eines Limits war nicht die meine. Alles gedachte ich zu ergründen, vorausgesetzt es war es wert, ergründet zu werden. Nichts ließ ich außer Acht, sofern es in meinem Interesse lag. Nichts war tiefgründig genug. Nichts konnte vor mir im Verborgenen bleiben. Und nun… nun frage ich mich… dieses Geschehnis… meine Tränen… meine Wut und die Kontrolle, die mir durch die Finger rann, wie Sand. Was brachten sie mir…? Erniedrigung… natürlich! Enttäuschung gegenüber meines Selbstbildes… ja… Zerrüttung meiner Beherrschung… Und das Chaos in mein Leben. Soviel… Doch besteht ein wahrer Widerspruch. Jonouchis Worte bilden diesen und mit Gewissheit kann ich behaupten, dass in den Augenblicken seiner Verzweiflung keine Lüge in ihnen lag. Ja, ich erinnere mich genau an sie, obgleich ich meinte, ihm kein Gehör zu schenken oder dies nur äußerst widerwillig zu tun. "Du bist der Einzige, dem ich mich öffnen will! Du sollst meine Empfindungen, meine Gefühle erfahren, denn andere würden ihnen nicht mit Verständnis begegnen! Verlachen würden sie mich gehässig, ebenso dich! Wenn wir uns selbst nicht helfen können, so müssen wir versuchen, einander zu helfen! Andere Auswege gibt es nicht!!" Das sagte er, während er dort stand und der Himmel über ihm leuchtete. Und ich…? Abwesend betrachte ich mir meine Hand, hebe sie gar und spreize die Finger. "Es existiert überhaupt kein Ausweg!", höre ich meine zornige Stimme. Wohl eine Angewohnheit… dieser unweigerliche Widerspruch. "Auswege existieren, wenn du ihre Existent zulässt! Ich bitte dich, entreiße mir nicht diese einzige Möglichkeit. Tu mir dies nicht an. Tu dir dies nicht an, nun, da du den ersten Schritt zuließt und deine Gedanken zum ersten Mal offen in die Welt hinaustrugst!!" Ich drehe meine Hand, betrachte mir deren Rücken. Er wusste mehr, als ich es tat. Er machte den Anfang… und ich trieb lediglich mit. All das, was er mir predigte, bevor er mir in meine Suite folgte, konnte in meinen Augen kein sinnloses Geschwätz sein. Einmal vielleicht, doch in diesen Momenten dichte ich ihnen keine Lüge an. Hoffnung… das sah ich wohl in ihnen. Dies und mehr: Die Gründe, weshalb ich ihn nicht springen ließ… weshalb er in diesen Augenblicken wohl noch atmet. Eine Entscheidung, die ich entgegen meiner Natur getroffen habe. Kann sie mir nur Schlechtes bringen…? War alles, was er mir versprach, wessen er sich selbst so sicher war, eine einzige Lüge und leer? Nein. Ich halte in meinen Bewegungen inne. Nein…? Das erste Wort, welches sich wie ein Reflex festsetzt. Langsam sinkt meine Hand auf den Boden zurück. Und ich suche nach Konzentration. Ich benötige nicht viel… nur etwas, um mir eine Frage zu beantworten. Was brachte mir all das wirklich…? Vergessen sei der Zorn und die Verbitterung. Wenigstens für diesen Zeitpunkt verbannt, damit mein Denken auch weiterhin klar bleiben kann. Erniedrigung…? Stockend ballen sich meine Hände zu Fäusten, mein Kinn berührt mein Schlüsselbein. Die Enttäuschung meines Selbstbildes…? „Weshalb peinigst du dich selbst!“, erhebt sich Jonouchis Stimme in meinem Kopf. Mit all ihrer Kraft, als stünde der Blonde wahrhaftig vor mir. „Weshalb zerfetzt du deine Seele und verschließt dich in einem finstren Raum, nur, damit dich andere als Autoritätsperson anerkennen?? Denkst du, sie würden es nicht tun, wäre dein Verhalten weniger von Hass und Bosheit geprägt??“ Ich lege den Kopf schief, stütze ihn auf meine Schulter, lasse ihn bald jedoch nach vorn sinken und hängen. Zerrüttung meiner Beherrschung…? „Was hast du zu verlieren, Kaiba?! Du trägst in dir den Stolz über deinen Egoismus, weshalb also, ist es dir so wichtig, was andere von dir denken?!“ Meine Schultern heben und senken sich unter einem tiefen Atemzug. Das Chaos in ein Leben… "Ich habe Angst, Kaiba!! Ich habe Angst vor der Vergangenheit, ich hasse die Gegenwart und mir graut es vor der Zukunft!! Dir ist bewußt, wie es in meinem Inneren aussieht, wie ich fühle! Oh, du weißt es, auch wenn du es nie zugeben würdest!! Du spürst dergleichen und ebenso zwängten wir uns in die einzige Rolle, die uns überleben ließ! Wir verdrängten und verleugneten alles, vergifteten unsere Seelen mit Lügen! Erzähl mir nicht, daß du dein Leben mit Leidenschaft führst! Behaupte nicht, daß du Aufgaben mit Affinität bewältigst und lüge nicht, indem du sagst, dies alles wäre erträglich!! Ich kann mich durchaus in deine Lage versetzen, spüre deine Furcht vor der Routine, spüre dein Leiden, mit dem du sprichst, deine Verzweiflung, mit der du atmest und den Zwang, mit dem du dich diesem Leben hingibst, es aufrecht erhältst!“ Ja, eben mein Leben… Kein Chaos muss man noch hineinbringen… an Chaos ist es bereits reich genug. Nicht weniger reich an Misstrauen. Und ich treffe Entscheidungen nicht leichtfertig. Ebenso wenig leichtfertig, wie es sein Entschluss war. Es kann nicht sinnlos gewesen sein… "Du wähltest den falschen Weg, Kaiba. Und du wähltest ihn, weil du zu schwach warst, dich für einen anderen zu entscheiden, Für einen anderen, der weniger Leiden mit sich brächte und dich doch oben hielte. Oben auf der Treppe, ohne dass du abgöttische Anstrengungen und verbissene Kämpfe auf dich hättest nehmen müssen." Mm… eine recht angenehme Vorstellung… Unter einem tiefen Atemzug richte ich mich auf. So angenehm, dass sie annähernd unrealistisch scheint. Doch… "Weißt du... weshalb es so weh tut?" … viel muss man mit Schmerz erkaufen. "Weil du beginnst, ein Mensch zu sein." ~*to be continued*~ Kapitel 10: ~Grundschule des Lebens~ ------------------------------------ Irgendwann verlasse ich meine Suite. Ich weiß nicht, wie spät es ist, ertappe mich, als ich die Tür hinter mir schließe, sogar dabei, über den Wochentag zu grübeln. Die vergangene Nacht lässt mich glauben, schon eine Ewigkeit an diesem Ort zu verweilen. Wann kam ich hier an…? Vor zwei Tagen… oder sind es gar drei? Vier? Mit diesen Gedanken kämpfend, mache ich mich auf den Weg zu dem Fahrstuhl. Die Verwüstungen meiner Suite habe ich mir kein zweites Mal betrachtet, vielmehr nach dem Telefon gegriffen und danach verlangt, sie wieder herzurichten. Und nun begebe ich mich auf die Suche nach der hauseigenen Apotheke. Ich benötige etwas, das meine Kopfschmerzen mildert und mir, wenn auch nur einen kleinen Teil, meiner Kräfte zurückbringt. Meine Schritte sind kurz und ungeschickt… ich vermisse die großen zielstrebigen, die mich stets beschäftigt wirken ließen. Matt hält meine Hand die Codekarte meiner Suite, als ich in die Kabine trete, beiläufig eine Taste betätige und mich an die Wand lehne. Abermals werden mir die Lider schwer und ich versuche die Schultern zu straffen. Der Yukata, den ich trage, ist neu und weißt keinen Makel auf. Ich opferte viel Zeit für den Versuch, ihn perfekt zu binden, den Gürtel korrekt zu straffen… und doch… Ich senke den Blick und betrachte mir den Stoff missmutig. Mein Körper ist gesäubert… meine Zähne geputzt, der Geschmack aus meinem Mund vertrieben. Selbst mein Haar wusch ich und ließ mir Zeit, es zu bändigen… und doch… Ich schließe die Augen; mein Daumen gleitet über die glatte Fläche der Karte. Mir ist unwohl. In meiner Haut, meiner Kleidung… ich gefalle mir nicht. Meine freie Hand hebt sich und rückt mit unnötiger Genauigkeit an dem Saum des Yukata. Ich ziehe ihn höher, streife ihn tiefer und lasse unter einem tiefen Atemzug von diesem Treiben ab. So schüttle ich auch den Kopf und werde auf die Anzeige aufmerksam. Ich bin meinem Ziel nahe. Langsam kehre ich der Wand den Rücken, suche dennoch mit der Hand einen gewissen Halt und werde auf die kleine Linse der Kamera aufmerksam, welche in die oberste Ecke der Kabine eingearbeitet wurde und einem flüchtigen Auge entgeht. Finster ist die kleine Linse auf mich gerichtet und während ich sie anstarre, hält die Kabine im Erdgeschoss des Gebäudes. Müde verfolgen meine Augen die Bewegungen der Türen, als sie auseinander gleiten und mir den Weg frei geben. So schaue ich auf den Flur, der sich vor der Kabine erstreckt und bleibe doch stehen. Leise Stimmen dringen an meine Ohren, Geräusche… es ist wie jeden Tag. Selbstverständlich befinden sich hier auch andere Menschen… wie immer, doch hinauszugehen, mich ihren Augen auszuliefern und unter ihnen zu sein, ruft am heutigen Tag ein leidiges Gefühl in mir hervor. Ich bewege mich nicht, verharre auf meinem Punkt und starre auf eines der kunstvollen Bilder, welches direkt vor dem Fahrstuhl seinen Platz fand. Und ich spüre… ja, ich fühle es, wie sich meine Hand fester um die Karte klammert und ich der Unsicherheit verfalle. Ein abscheuliches Empfinden. So viele Fragen… Wie werden sie mir begegnen… werden sie wissen, erahnen, misstrauen, starren? Bin ich an dem Versuch, mein Äußerliches herzurichten, so kläglich gescheitert? Oh, es ist eine meiner Leidenschaften, im Mittelpunkt zu stehen. Annähernd ist er für mich in ständiger Reservierung. Doch heute wünschte ich mir nichts mehr, als ein grauer Schatten zu sein, dem niemand Aufmerksamkeit spendet, der umherschweift und vor einem jedem Auge entrinnt. >Schwäche stinkt<, denke ich mir und presse die Lippen aufeinander. Vor mir noch immer jene geöffnete Tür, das Bild… und das andere Leben, welches ich fürchte. Schwäche verdient Hass… und ich habe gehasst. Schwäche ist das Blut, welches menschliche Haie wittern. So wie ich selbst die Schwäche suchte, um den Schwachen zu verhöhnen, zu verabscheuen, zu zerstören… Werde ich, der ehemalige Hai nun selbst zu einem Opfer? Meine Schultern heben sich unter einem tiefen Atemzug. Der Griff um die Karte entspannt sich und ich lenke etwaige Kontrolle auf meine Mimik, um zumindest diese unter meine Kontrolle zu bringen. Ich schürze die Lippen, straffe meine Haltung und streife mein Haar zurück. Nicht alles kann meinem Können entronnen sein. Wenn sich schon meine Gedanken gegen mich richten, werde ich doch zumindest die Macht über meinen Leib an mich reißen! Gerade setzen sich die Türen wieder in Bewegung, da trete ich zwischen ihnen hindurch, wähle den linken Weg und sehe nicht zum Rechten. Strikt und angespannt ist mein Blick auf meinen Weg gerichtet und ich fühle mich gleich eines jungen Vogels, der aus dem Nest stürzte… hinein in die Welt, in der Gefahren lauern und von ihnen unzählige. Feinde, Fallen… ohne Erbarmen. Überall! Ich schlucke schwer, biege um eine Ecke und möchte den großen Empfangsraum so sehr erreichen, wie ich ihn meiden will. Doch ich muss… Ein leises Geräusch reißt mich aus meiner Konzentration. Gleich eines leisen Donnerns erhebt es sich plötzlich und jäh, lässt mich in meinen Schritten innehalten und mich fahrig zur Seite drehen. Ein Stich, welchen ich in der Nähe meines Herzens spüre, mahnt mich der Gefahr, doch erkenne ich, als ich mit schnellem Atem in einen schmalen Quergang starre, lediglich eine junge Angestellte, die sich rasch nach einem hinuntergefallenen Handbesen bückt und ihre Arbeiten fortsetzt. Stockend folgen meine Augen ihren Bewegungen, schneller Atem kommt über meine Lippen und verebbt, als ich diese aufeinander presse. Ich muss mich beruhigen, denke ich mir… beruhigen… und doch befällt mich schon ein ängstigender Gedanke und lässt mich in alle Richtungen blicken. Sah man mich? Irgendjemand? Flink studiere ich mein Umfeld und sehne mich nach einer gewissen Erleichterung, als ich niemanden erkenne. Doch ich spüre nichts dergleichen, räuspere mich leise, suche nach der alten unbeugsamen Haltung und führe meinen Weg fort. So schnell verliert man nun die Kontrolle, wenn man sie schon einmal verlor… ein endloser Fluch, der mich alles bereuen lässt. Ich zahle einen zu hohen Preis… eine Tatsache, die sich nicht verleugnen lässt. Wenn so das Leben der anderen, der glücklichen Menschen ist, so will ich mein Eigenes zurück und diese abermals verspotten! Wie eine Reise voller Gefahren liegt der Weg bald hinter mir und ich betrete die große Halle. Aufmerksam und abwägend tasten meine Augen einen jeden ab, der zu sehen ist. Zwei junge Angestellte eilen von einer Tür zur nächsten, ein korpulenter Mann in amerikanischer Tracht trottet entspannt zur Eingangstür und verschwindet durch diese im Licht des Tages. Eine junge Frau streichelt mit einem kleinen Tuch die glänzende Fläche des Empfangstresen und lässt es verschwinden, sobald sie mich erblickt. Ich gehe auf sie zu, sende der vor Sonnenlicht strahlenden Straße vor dem Haus einen knappen Blick und überdenke noch währenddessen, in welcher Haltung meine Hände verweilen. In der einen fühle ich die Karte, die andere hebt sich rasch zum Saum des Yukata und rückt an diesem… zum erneuten Mal nicht minder unsinnig. „Guten Tag, Herr Kaiba“, begrüßt mich die junge Frau mit einem hellen Lächeln und ich starre auf ihre Lippen, verfolge, wie sich deren Form verändert und achte am Rande darauf, meine Hände in Bewegung zu halten. „Wie kann ich Ihnen helfen?“ Ich schürze die Lippen, betrachte mir ihre weißen gepflegten Zähne und lasse umgehend von dem Saum des Yukata ab, als ich das Treiben meiner Hände als Zeichen für Nervosität auslege. Noch immer sieht sie mich an, steht auf der anderen Seite des Tisches und lächelt mit solch einer Unbeschwertheit, dass ich sie allein für diese Geste verabscheue. „Die Apotheke“, vernehme ich nun endlich meine eigene Stimme und in ihr eine gelangweilte Arroganz, die mir einen jämmerlichen Teil meines Selbstgefühles wiederbringt. „Benötigen Sie Arznei?“, erkundigt sich die junge Frau und nähert sich dem Computer um einen Schritt. „Diese Einrichtung verfügt selbstverständlich über ein hervorragendes Ärzteteam, welches Ihnen jederzeit zur Verfügung steht.“ Ich schürze die Lippen, wende den Blick ab und bewege die Hände unter einem kalten Zittern, welches diese durchströmt. Frage ich nach Ärzten…? „Kostenfrei und natürlich…“ Ich unterbreche sie mit einem bestimmten Räuspern, blicke sie abermals an und tue auch dies einschneidend. „Ich suche die Apotheke!“, erkläre ich abermals und spüre die brodelnde Ungeduld in mir. Und Zorn… wie ich es hasse. Diese unnötigen Worte, diese vergeudete Zeit, dieses penetrante, mir unerträgliche Gerede! Herrisch erhob sich meine Stimme in der Halle und die junge Frau verhält sich, als hätte sie mein Anliegen erst jetzt verstanden. Annähernd so, als verstünde ich es nicht, mich auszudrücken! „Die Apotheke befindet sich in der zweiten Etage, Herr Kaiba“, liefert sie mir endlich die simple Antwort und alles, was ich von ihr verlange. „Im Westflügel. Es ist alles ausgeschildert.“ Somit präsentiert sie abermals ein freundliches Lächeln, welches ich mit einem leisen Schnauben erwidere und damit, mich umzudrehen und zu gehen. Direkt und ohne Umwege kehre ich so zu dem Fahrstuhl zurück und vergeude dabei keine weitere Zeit. Es scheint mir so, als wäre die erste Hürde überstanden… doch auf den Schein folgt die Tatsache und die höfliche Frau vom Empfang entmummt sich in meinem Denken als Schauspielerin, die Respekt zeigt, doch hinter ihrem Lächeln meine Schwäche sieht und diese verlacht. Doch… ruppig bediene ich die Taste des Fahrstuhles und verschränke die Arme vor dem Bauch. Ganz sicher hat sie mich verlacht… durchschaut und verachtet. Ein Zittern meiner Stimme… Das Aufbegehren meiner stets so kontrollierten Wut… Irgendetwas muss mich verraten haben. >Sie alle spielen ein Spiel<, denke ich und steige in die Kabine, während mein Kopfschmerz wieder auflebt. Ich wähle die ‚2’, wende mich den sich schließenden Türen zu und hebe die Hände zu meinen Schläfen, um diese vorsichtig zu massieren. Und während ich reibe und die Augen geschlossen halte, sehne ich mich nach einer Zigarette. Ich weiß nicht, wann ich die Letzte rauchte… aber nun ist mir danach. Nun und zu welcher Zeit auch immer. Ob es nun Morgen oder Mittag ist – ich will eine Zigarette rauchen und starre auf meine Hände, die nur die Karte halten. Lange betrachte ich mir meine Haut, die Karte und lasse die Hände nach wenigen Augenblicken sinken. >Vergessen… vergessen…>, dröhnt das Wort in meinem Kopf und ich schürze die Lippen abermals, rümpfe die Nase und schöpfe tiefen Atem. Ja, ich habe die Schachtel vergessen und verlache mich innerlich selbst… den tiefen Abstieg, den ich nahm und den Punkt, an welchem ich nun angelangt bin. Jämmerlich, nicht wahr…? Ich reibe meinen Mund; er fühlt sich trocken an und mir fällt ein, dass ich weder getrunken noch gegessen habe. Mein Magen fühlt sich jedoch nicht an, als würde er sich danach sehnen. Erneut verschränke ich die Arme vor der Brust und bearbeite meine Unterlippe mit den Zähnen. Bis mir ein Einfall kommt und ich stocke. Wäre es nicht möglich, die Zigaretten im Anschluss aus der Suite zu holen, anstatt mich nun zu verdammen, da ich sie dort liegen ließ? Was wären fünf Minuten, die ich bräuchte, um noch einmal zurückzukehren? Nahm ich mir denn für den Tag etwas Wichtiges vor, so dass ich keine Zeit verlieren dürfte? Dieses leichtfertige Denken ist mir unangenehm, doch bald komme ich zu der Einsicht, dass sich die Idee, das Vergessene einfach nachzuholen annähernd perfekt mit der Effizienz einer Sache verträgt. So ist es auch sinnvoll, nicht in Panik auszubrechen ob einer solchen Banalität. Wo ist mein fester Tagesplan… wo ist meine Routine… all das findet hier keine Existenz und diese zum Leben zu erwecken, wäre unmöglich. An einer solchen Lappalie darf ich nicht zerbrechen. Wie jämmerlich wäre dies erst? Ich atme tief durch, nicke in mich hinein und sehe schon die Türen, wie sie sich öffnen. So verlasse ich den Fahrstuhl und begebe mich auf die Suche nach dem Westflügel. Nach rechts… den Gang hinunter, bis auch schon die erste Ausschilderung erspähe und meinem Ziel nicht mehr fern sein kann. Zielstrebig folge ich den Anzeigen, erblicke bald schon eine gläserne Tür und hinter ihr eine Apotheke, die den herkömmlichen Läden gleicht, in ihrer Art nur kunstvoller und größer ist. Ich trete ein und sogleich erhebt sich ein junger Mann, der hinter einem kleinen Tisch saß. Ich betrachte ihn mir flüchtig, werfe Blicke nach allen Seiten und in die Regale. Nur wenige Minuten, bis ich die Mittel gegen Kopf- und Gliederschmerzen mein Eigen nenne und die Apotheke verlasse. Nur wenige Worte, konkrete Ansagen und geringes Gerede aus Höflichkeit. Der Mann war beileibe eine kleinere Last für die Nerven, als die junge Dame, mit welcher ich mich zuvor auseinandersetzte. Ich vertiefe mich etwas in die kleine Packung und deren Aufschrift, während ich mich nun auf den Weg zu meiner Suite mache. Zurück zum Fahrstuhl, zurück in meine Etage und ein kurzer Weg, bis ich vor der Tür stehe, die Karte durch das automatische Schloss ziehe und die Klinke hinabdrücke. Und als ich einen Schritt in meine Suite setze, vernehme ich Geräusche und halte kurz inne. Leise klirren Scherben aneinander, das Metall der Barhocker schabt über den marmornen Boden, als diese aufgehoben und hingestellt werden. Ich trete durch den schmalen Gang und erblicke einen jungen Mann, der neben der kunstvollen Bar kniet, nun die Hocker zurechtrückt und sich flüchtig umschaut. So greift er nach einem kleinen Handfeger und wird auf mich aufmerksam. „Oh.“ Überrascht hebt er die Augenbrauen, scheint nicht mit mir gerechnet zu haben und kommt flink auf die Beine, während ich ihn anstarre. „Herr Kaiba.“ Er grinst andeutungsweise und wischt sich flüchtig die Hose sauber, während ich ihn schon als unwichtig abstemple und mich nach meinen Zigaretten umschaue. „Ähm…“, dringt da ein unbeholfenes Murmeln an meine Ohren und als ich widerwillig zu dem jungen Angestellten zurückblicke, sieht dieser mich erwartungsvoll an. „Was“, entgegne ich und tue dies in übertrieben abweisendem Ton. Eilig sammelt er seine Gedanken. „Haben Sie etwas dagegen, dass ich die Suite jetzt weiterhin reinige?“ Ich verziehe die Miene, schüttle innerlich über diese erbärmliche Frage den Kopf und schicke ihm einen scharfen Blick, bevor ich mich abwende und in meinem Schlafzimmer verschwinde. Ich vernehme keine Antwort, als ich vor meinen Koffer knie, eine der Taschen öffne und eine neue Schachtel hervorhole. Wenn ich angeordnet habe, dass meine Suite gereinigt wird, so werde ich meine Meinung wohl nicht binnen einer viertel Stunde ändern! Doch bald schon wundere ich mich nicht mehr über den Unverstand des jungen Mannes. Was soll man schon von einem Menschen erwarten, der putzt und auf Böden kriecht? Eine untergeordnete und unwichtige Arbeit… nicht mit der meinen zu vergleichen! Ich lasse die Schachtel mitsamt dem Feuerzeug in einer Falte des Yukata verschwinden, komme wieder auf die Beine und kehre in die Suite zurück. Der junge Mann kauert nun erneut auf dem Boden und lässt die verstreute Erde mithilfe eines kleinen Handstaubsaugers verschwinden. Ich beachte ihn nicht, spüre jedoch seine kurze Aufmerksamkeit und fühle mich in dieser Rolle sehr wohl. Stolz ziehe ich an ihm vorbei, trete hinter die Bar und öffne den kleinen Kühlschrank, aus welchem ich eine kleine Wasserflasche ziehe. Neben mir verstummen die Geräusche des Staubsaugers und werden von einem leisen Knistern ersetzt, als ich ungeduldig die kleinen Packungen öffne und die Tablettenstreifen hinausziehe. Neben mir kommt der junge Mann auf die Beine, zückt einen feuchten Lappen und beginnt das andere Ende der Bar abzuwischen. Wieder fühle ich seinen Blick, drücke mir drei Tabletten heraus und öffne mühsam den Schraubverschluss der Flasche, um sie sogleich zu mir zu nehmen. Ich möchte sicher gehen, dass die Kopfschmerzen rasch abklingen und mir nicht mehr einen wichtigen Teil meiner Konzentration nehmen. Zischend löst sich endlich der Deckel, wird achtlos bei Seite gelegt und sogleich taste ich nach den drei Tabletten… „Ähm… Herr Kaiba?“ … und halte inne. Die Hand über den Tabletten, die Augen auf diese gerichtet, rege ich mich nicht und auch der junge Mann unterbrach seine Arbeiten, um mich nun direkt und offensichtlich anzusehen. Langsam schließe ich die Augen… beiße die Zähne zusammen und klammere mich an die Ruhe. „Ich würde nicht drei auf einmal zu mir nehmen“, folgt seine ruhige Erklärung und ich richte mich unter einem tiefen Atemzug auf. „Nehmen Sie drei auf einmal, wird Ihnen bestimmt schwindelig und sicher nicht besser zumute. Diese Tabletten haben eine sehr starke Wirk…“ „Fragte ich dich nach deiner Meinung?“, unterbreche ich ihn finster, wende mich ihm zu und fixiere ihn vernichtend. „Gedenkst du, mir sagen zu wollen, was ich zu tun und zu lassen habe? Du?“ Er wirkt überaus verblüfft, hebt unentschlossen die Hände und findet keine weiteren Worte. In verächtlicher Darstellung greife ich nach den Tabletten, wende unterdessen nicht den Blick ab und verenge die Augen. „Glaubst du wirklich, ich richte mich nach dem beschränkten Gerede von minderen Reinigungskräften?“ Und ich schlucke die Tabletten, trinke sie mithilfe des Wassers hinter und stelle die Flasche mit verächtlicher Verhöhnung auf die Bar zurück. Noch immer starrt er mich an, tut dies mit seltsamer Mimik und sieht mir nach, als ich mich langsam abwende, ihm den Rücken kehre und mit einem gehässigen Anflug von Spontanität die Flasche mit der Hand streife. Ich vernehme das Geräusch, als sie umkippt, das Knistern der Kohlensäure, als sich das Wasser über die Bar und den Boden ergießt und letztendlich das laute Klirren, als die Flasche auf diesem aufschlägt und zerspringt. Die Freude über jene Genugtuung zieht als Grinsen an meinem Mundwinkel, als ich leger die Suite verlasse. Nun, da ich meine Zigaretten bei mir trage, nehme ich mir vor, das Gebäude zu verlassen, mir frische Luft zu Gemüte zu führen, bis mein Leib daran Erholung findet. Und ich fühle mich besser… bestätigt in meinem Charakter, in meinem alten Können, Menschen zu verhöhnen. Meine Schritte drücken dies wohl ebenso aus, wie meine Miene, mit deren Hilfe ich mich annähernd unangreifbar fühle. Den Weg hinab in die Halle und hin zur Tür bringe ich ohne spürbare Ängste hinter mich und blinzle dem hellen Sonnenlicht entgegen, als ich die verzierte Tür öffne und sogleich die Wärme spüre, die mir entgegenströmt. Anders als in dem klimatisierten Gebäude schöpfe ich tiefen Atem, nehme die Geräusche meiner Umwelt wahr. Das Zwitschern der Vögel, das Rauschen der Palmen, das Säuseln des sanften Windes in meinen Ohren. Zwischen den Portiers bleibe ich stehen, blicke auf und beschatte meine Augen doch bald mit der Hand. Es ist so hell, dass meine Augen schmerzen. So senke ich den Kopf, ziehe die Zigaretten hervor und klemme eine zwischen meine Lippen. Entspannt entzünde ich sie anschließend, lasse das Feuerzeug sinken und trübe die reine Luft der Natur mit dem Rauch eines tiefen Zuges. Derzeit ziehe ich diese Art der Erholung der anderen vor. Blinzelnd nehme ich die Zigarette aus dem Mund, beschatte die Augen abermals und blicke um mich. An einem solchen Ort erwartet man nicht viele Menschen. Nur einen der Kururlauber erblicke ich in weiter Ferne, als ich mich zur linken Seite wende. Es ist jener korpulente Mann, den ich an diesem Tag bereits sah. Es scheint, als unternähme er einen Spaziergang. Ohne Hast schlendert er über die saubere Straße, hält bald inne und tastet nach den grazilen Blättern eines Strauches. Er löst eines von ihnen von dem Ast, nimmt es sich mit sich und führt seinen Weg fort. Abermals hebe ich die Zigarette zum Mund, ertaste sie mit den Lippen und drehe mich zur anderen Seite. Und sogleich bleiben meine Augen an einer Stelle hängen. Den Filter an den Lippen, die Hand über den Augen, rege ich mich nicht. Dort auf dem säuberlichen Gehweg, der die Straße dicht begleitet, liegen zwei lose Pantoffeln. Doch nicht auf sie achte ich, nein, vielmehr auf den jungen Mann, der mit nackten Füßen durch das Gras steigt, den unteren Saum des Mantels mit beiden Händen hält und den Blick stetig nach unten richtet. Annähernd schwelgend bewegt er sich fort, ziellos und genießerisch. Kitzelnd streift die Asche meiner Zigarette mein Handgelenk, als sie sich löst und ich ihr trotz alledem keine Beachtung zugestehe. Starr blicke ich in jene Richtung. Das blonde Haar verbirgt sich teilweise unter einem dünnen Tuch, welches er sich um den Kopf band. Lose Strähnen ragen aus kleinen Lücken des Stoffes hervor, bieten ein Bild des heillosen Durcheinanders. Nun dreht er sich, hebt den Fuß, durchstreift mit den Zehen die dünnen Halme, geht noch einen Schritt und lässt sich unterdessen keine Regung des Grases entgehen, wie mir scheint. Stumm bewege ich die Lippen, erhasche mit ihnen die Zigarette und lasse die Hand sinken. Verstohlen beobachtete ich ihn aus der Ferne und sehe in der großen Distanz, die zwischen uns liegt, eine gewisse Sicherheit. So scheint er mich auch noch nicht erspäht zu haben. Zu sehr ist er in sein unsinniges Unterfangen vertieft. Langsam atme ich den Rauch durch die Nase aus, blicke zur anderen Seite, blicke zurück und verharre. Jonnouchi… Ich sauge an meinen Zähnen, wende die Zigarette zwischen den Fingern. Er ist gefährlich… Sein Wissen… ist gefährlich. Sein Wissen über mich. Das Wissen, welches mich ihm ausliefert, mir etwaigen Schutz nimmt. Eine jede Lüge der Welt würde mich nicht retten… nichts könnte ich tun, um mein Gesicht vor ihm zu wahren. Ich verlor es durch meinen Entschluss… verlor mein Gesicht durch meine Torheit, in welcher ich ihm gestattete, mit mir zu kommen. Oh, wie war ich der Starke, als wir uns auf dem Dach trafen! Wie verzweifelt war er, wie stolz ich selbst? Er flehte und ich bereue in diesen Momenten, dem nicht mit Genuss begegnet zu sein. Nie wieder wird sich mir diese Möglichkeit darbieten… nie wieder werde ich ihn so erblicken. Eher noch fürchte ich mich vor dem Glauben, wir hätten die Rollen getauscht. Wie könnte er mich quälen mit seiner Kenntnis über meine Schwäche! Wie könnte er mich verhöhnen! Welch Rache könnte er für meine unaufhörliche Missachtung nehmen! Abermals nehme ich einen tiefen Zug; der Rauch der Zigarette trübt meinen Blick für wenige Augenblicke, als ich ausatme. Und sogleich sehe ich ihn wieder, sehe seinen Rücken. Ich möchte mich ihm nicht nähern… ich… Ein stummer Fluch kommt über meine Lippen, als mich mein Stolz ermahnt, nicht vor ihm zu flüchten. Wie war es einst? Ich suchte den Konflikt und errang den Sieg. Ich schlug seine Entschlossenheit nieder, besiegte seinen Stolz. Ich herrschte über ihn! Eine Flucht hätte mich zerstört… würde mich zerstören. Doch… es ist nicht Katsuya! Katsuya war unwürdig, er war ein Nichts! Er beugte sich meinem Hass und fristete sein Dasein. Doch Brown… er… ja, er ist gefährlich. Unbeugsam… überlegen? So war Katsuya mein Opfer und Brown reift zu meinem Feind heran. Ein ernstzunehmender Feind, dem ich mich auslieferte. Ein Feind, den ich hätte dem Tod überlassen können, noch lange bevor er mir gefährlich wird, Ich fühle, wie sich meine Miene verfinstert, spüre die Kraft, mit welcher ich den Filter zwischen den Fingern zerdrücke. Und gleichsam, da ich ihn verfluche, dreht er sich um. Mit seltsamer Zielstrebigkeit wendet er sich mir zu, erspäht mich und lässt sich keine sonderbare Verblüffung ansehen. Annähernd nur knapp sieht er zu mir, rafft den Mantel höher und wendet sich wieder dem Gras zu. Und ich setze mich in Bewegung. Nun, da er mich bemerkte, darf ich kein weiteres Zögern offenbaren, muss alles versuchen, damit er sich mir nicht überlegen fühlt. So nähere ich mich ihm in zielstrebigen Schritten, werfe meine Zigarette fort und zücke eine Neue. Er schenkt mir auf meinem Weg kein weiteres Interesse, orientierungslos bahnt er sich einen Weg durch das Gras und hält erst in seinem Treiben inne, als ich vor ihm stehen bleibe. Ich selbst bevorzuge den säuberlichen Gehweg und finde genau dort meinen Punkt, in sicherer Entfernung zu seinen Schuhen, die er bei solch einer Albernheit nicht zu benötigen scheint. Mich in dem Versuch verstrickend, ihm dieselbe Gleichgültigkeit entgegenzubringen, vertiefe ich mich entspannt in das Entzünden des Tabaks, gebe mich recht unbeteiligt und bin es keinesfalls. Anspannung… selbst der leise Hauch des Zorns lebt in mir auf und das Sehnen, ihn abermals zu verspotten. Aggressionen, die er mir brachte und die ich so an ihm ausleben will. Jonouchi senkt den Kopf; wirsche Strähnen fallen in seine Stirn, als er eines seiner unverhüllten Beine hebt und sich interessiert seinen nackten Fuß betrachtet. Ich runzle die Stirn, strecke den Rücken durch und hake den Daumen meiner freien Hand in den Gürtel des Yukata. So muss ich wahrhaftig ungetrübt wirken. „Was soll das?“, verlange ich kritisch zu wissen und betrachte ihn mir missbilligend. Der Kopf des Blonden bleibt gesenkt. Selbst nachdem ich die Frage stellte, mustert er noch seinen Fuß und verfällt nicht der Hast, als er eine Hand von dem dünnen Mantel löst und einen Grashalm zwischen seinen Zehen hervorzieht. Hinter meiner Fassade der Gleichgültigkeit brodelt die Wut, als ich ausharre und ein Grashalm als wichtiger erachtet wird. „Dir auch einen guten Morgen“, höre ich ihn leise murmeln und entfliehe flüchtig seinem Anblick. Ziellos durchschweifen meine Augen die Umgebung und Jonouchi richtet sich auf. Den Grashalm zwischen den Fingern drehend, nimmt er kurz an meinen sinnlosen Beobachtungen teil, blinzelt dann unter der Sonne und sieht mich an. Nun, ich muss mich zwingen, doch ich suche sogleich die Begegnung mit seinen Augen und studiere seine Mimik, während ich die eigene verschlossen zu halten versuche. Und auch er mustert mich, betrachtet sich mein Gesicht, ohne dies versteckt zu tun und verfällt einem stummen Nicken, als würde er sich oder zumindest seine Gedanken bestätigt sehen. Und ich halte meine Lippen verschlossen, lenke nun die Flüche gegen mich selbst… und gegen meine Neugierde, da ich erfahren will, weshalb er auf solch eine Weise reagiert. Doch er tastet nur nach seinem Kopftuch, kratzt sich eine Stelle und greift wieder nach seinem Mantel. Und ich fühle mich erniedrigt, als er den Stoff abermals anhebt, einen kleinen Schritt zur Seite macht und das Gras beobachtet. „Was tust du da!“, entrinnt mir ein Fragment meiner Wut, bevor ich dieses zurückhalten kann. Und noch nicht genug. „Ich sah noch nie etwas Lächerlicheres! Komm unverzüglich aus dem Gras heraus!“ Und abermals unterbricht er sein Treiben, bleibt dort inmitten der Halme stehen und richtet sich auf, um mich mit einem Anflug von verblüffter Belustigung anzusehen. „Ähm…“, mit geheuchelter Nachdenklichkeit verziehen sich seine Brauen, bis er kurz die Lippen aufeinander presst, die Augen kreisen lässt und letztendlich mit einem deutlichen Kopfschütteln antwortet. „Nein.“ Und ich entfliehe seinem Blick, sauge fieberhaft an der Zigarette und ringe mit mir und meiner Wut. „Kaiba“, vernehme ich da sein lustloses Seufzen und hebe die Zigarette abermals zum Mund; die Augen unterdessen stur auf die grüne Idylle gerichtet. „Bist du nicht der Meinung, wir sollten uns nicht wie unreife Kinder verhalten?“ Wie… Ich wage es kaum, meinen Ohren Glauben zu schenken! Unreif? Es ähnelt einem Witz, dass er dieses Wort mit mir in Verbindung bringt! Er, der mich mit albernem Gebaren provozierte? Er, dem es niemals gelang, still auf dem Stuhl zu verharren? Über dessen Lippen permanent und unerträglich unsinnige Bemerkungen kamen? ER nennt MICH kindisch?! Ich spüre das leichte Zucken meiner Augenwinkel, während er dort vor mir steht, sich den Mantel richtet und von mir in die Hölle gewünscht wird. „Du wirfst mir Unreife vor?“, fauche ich feindselig und hebe den Kopf, um mir meine Position abermals vor Augen zu führen. Jonouchi schürzt die Lippen, blickt mir lediglich stumm entgegen und legt scheinbar keinen Wert darauf, mich zu unterbrechen. „Was ist es denn, was du tust!“, fahre ich fort und weise mit einer rohen Geste auf das Gras. „Trampelst durch die Wiese, führst dich auf wie ein schwachköpfiger Knabe und besudelst dich mit dem Schmutz des Bodens!“ Und noch bevor ich ihn vorerst hinreichend beschimpft habe, zeigt seine Miene Regung. Seine schmalen Brauen verziehen sich unter einer knappen Grübelei und heben sich, als ihm anscheinend ein Gedanke kommt. Flüchtig verharrt er reglos, senkt daraufhin den Kopf und betrachtet sich mit stiller Besinnlichkeit den Boden. Die blonden Strähnen seines Haares wiegen sich unter einer milden Brise und nach wenigen Augenblicken des Schweigens erhascht er mit den Zähnen die Unterlippe und nickt. Zugegeben, in den ersten Momenten seiner seltsamen Reaktion bin ich zu perplex, um fortzufahren, zu irritiert, hätte ich doch mit einer gewissen Selbstverteidigung gerechnet, gar einer erbosten Erwiderung. Doch nichts dergleichen… ihn zu provozieren, gestaltet sich schwerer, als am vorherigen Tag. Wie leicht war es doch, mit einem zynischen Grinsen seine Ruhe zu vernichten? Und nun tut er es mit der meinen und auf einem Weg, der gleichsam wirkungsvoll und doch dezenter ist. Die Antwort entrinnt mir… ich kann nicht deuten, nicht vermuten… in diesen Augenblicken nur schweigen und auch stumm verfolgen, wie er in die Knie geht. Spielt er sein Spiel…? Ich versuche Fassung vorzutäuschen. Zumindest dies, wenn ich sie schon nicht besitze. Der Gedanke, ihm abermals unwissend zu verfallen, lässt mich pure Abneigung spüren. Vorsicht… Angst… Er ist gefährlich! „Kaiba.“ Das hastige Ringen nach Atem rauscht in meinen Ohren, als ich mich blinzelnd von meinen tückischen Gedanken losreiße und erkenne, dass Jonouchi bereits wieder auf die Beine gekommen ist. Seine braunen Augen… Still sehen sie mich an. Mit einer Gründlichkeit, als wolle er meinen Leib gleich eines Speers durchbohren. Ich traue diesen Augen nicht! Sie sehen mehr, als ich mir wage, preiszugeben! „Was erkennst du?“ Und die Regung seiner erhobenen Hand zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich spüre die Anspannung meines Gesichtes, jedoch auch ihr Verfliegen, als ich das erblicke, was er gedenkt, mir zu präsentieren. Argwöhnisch beschaue ich mir das Gras, welches er erhoben hält. Auch Erde bedeckt seine Haut und ich ahne, das Opfer eines perfiden Streiches zu sein. Nein, ich werde nicht antworten! Reglos verharrt Jonouchi in jener Haltung, präsentiert mir das Gras und neben den einen Blick, dem ich nur ungern eine Begegnung bin. Erschreckend sind die ausdruckslosen Augen inmitten des entspannten Gesichtes. „Kaiba?“ Skepsis in seiner ruhigen Stimme… annähernd scheint er mich zu imitieren! Aufkeimende Unruhe verrät mein wirres Denken. Es fällt mir schwer, still auf meinen Beinen zu stehen, starre von seiner Hand zu seinen Augen, tue dies aber- und abermals und schweige stur. Jonouchis Kopf neigt sich leicht zur Seite. „Kann ich deinem Schweigen entnehmen, dass dir das Lösen dieser Aufgabe zu komplex ist?“ „Es ist Gras!“, entgegne ich ihm sogleich und gebe mich der spöttischen Betonung des letzten Wortes hin. Mit Hohn will ich ihm vor Augen führen, mit welcher Unsinnigkeit er Schaden an sich selbst anrichtet! Wie er sich zum Mittelpunkt meines Gespöttes macht! Einmal mehr… Er senkt die Lider, senkt den Kopf und aus dem Nichts seiner Ernsthaftigkeit ersteht ein Grinsen, welches in heiterer Belustigung seine Lippen formt. „Gras, ja.“ Seine gepflegten Zähne kommen zum Vorschein, als sich das Grinsen erheitert vertieft. „Und dabei erwartete ich biologische Fachbegriffe, die Schergen der Ungebildeten. Kein Bodenwuchs in Form von einkeimblättrigen Samenpflanzen? Keine Art des Süßgrases? Wie nannte es man es noch? Poaceae?“ Und ich sehe ihn noch vor mir… wie er sich vornüber auf den Tisch sinken ließ, sobald der Biologie-Unterricht begann. Höre es noch… sein Schnarchen, das der schüchternen Lehrerin stets entging. Und ich balle die Hände zu Fäusten. „Nein.“ Grinsend schüttelt er den Kopf, hebt die Hand, bis ich sie genau vor mir sehe und währenddessen noch mit mir ringe, mich nicht augenblicklich umzudrehen und ihn seinem Gras zu überlassen. „Es ist Leben.“ Und ohne gespannt meine Reaktion abzuwarten, lässt er die Hand sinken, kehrt mir den Rücken und beginnt abermals durch das Gras zu streifen. Leben… Aus den Augenwinkeln verfolge ich eine jede seiner Bewegungen, der Genuss, mit welchem seine Hand durch die Halme gleitet, manche von ihnen fasst und ihrem Verlauf folgt. Leben! Scharf haften meine Pupillen an seinem Rücken und kribbelnd sehnen sich meine Hände ein Messer herbei, um es in diesen zu rammen. Er formuliert Worte, als würden sie Wissen zum Ausdruck bringen, über welches ich nicht verfüge! „Hast du es schon einmal getan?“, fragt er und ich senke den Kopf tiefer. „Die feuchte Erde unter deinen Füßen gefühlt? Die Sanftheit der fragilen Halme gespürt? Sie durch deine Finger gleiten lassen? Das Leben dieser Geschöpfe in dir aufgenommen?“ Verbissen bleiben meine Lippen geschlossen und mit einem Anflug von Trägheit lässt er die Hände sinken, schöpft tiefen Atem und wendet sich mir abermals zu, um meine Mimik zu studieren. Und ich schweige… wieder und abermals und ich verabscheue diese Rolle, für die ich nicht geschaffen bin. Zuweilen schwieg ich, um mein Desinteresse zum Ausdruck zu bringen, die Tatsache, dass diverse Themen meiner Grübeleien nicht würdig waren. Doch nun ist es wohl schiere Irritation und er deutet sie, noch bevor ich dazu imstande bin, sie zu verbergen. Nur ein Blick… meine zusammengepressten Lippen, meine Mimik, die eine Verbissene sein muss… und er nickt abermals. Keine meiner Reaktionen schien ihn bislang in Verblüffung zu versetzen. Knisternd durchströmt mich Zorn. Wut, mit der ich mich selbst belaste, die Unfähigkeit, sein scheinbar törichtes Geschwätz unschädlich zu machen. Doch will mir dies gelingen. Eine schwere Blockade, die mir nahe bringt, kein Argument hervorzubringen, da sie den Inhalt, gar die Bedeutung der Worte nicht begriff. Wie könnte ich kontern…? „Hast du schon einmal in der Sonne gelegen?“, erkundigt sich Jonouchi in diesem Augenblick und ich starre zu Boden, während er entspannt dort steht und die feuchte Erde in der Hand bewegt. „Ihre Wärme gespürt und dich durch sie lebendiger gefühlt, als je zuvor?“ Ich spüre einen stechenden Schmerz an meinen Fingern und sogleich lasse ich die Zigarette zu Boden fallen, da die Hitze bereits den Filter verschmorte und nichts von alledem in meine Wahrnehmung drang. So gelingt es mir, meine Ratlosigkeit flüchtig hinter Bewegungen zu verbergen, mit welchen ich mir die schmerzenden Finger reibe. Und ich blicke ihn nicht an. „Weißt du, wie es sich anfühlt, wenn warmer Sommerregen auf dein Gesicht prasselt? Wie beruhigend das Rauschen der Wellen sein kann? Sie sind beständig… so ganz anders als der Mensch und diesem doch gern nützlich.“ Und stur versuche ich mich zu verschließen, doch sehe ein Bild vor geistigem Auge, welches sich mir nur allzu oft bot und nun als Erinnerung zurückfindet. Ein Mann… dunkel und trist. Reglos steht er vor dem Fenster, hält sich in dem Schatten der Gardinen verborgen und blickt zwischen einem Spalt des Stoffes hindurch. Er beobachtet mit absenter Miene den Jungen, der dort draußen im Sonnenlicht spielt. In der Welt, die ihm verschlossen ist… in welcher er nur Gefahren kennt. Er verfolgt die Bewegungen, in welchen der Junge mit dem Gras spielt, die Handflächen von den Halmen kitzeln lässt, als er mit diesen über das Gras hinweg gleitet. Er verfolgt das Lächeln, die die jungen Lippen formen, das genießerische Blinzeln, in welchem er den Kopf hebt und der Sonne eine Begegnung ist. Und… er begreift es nicht. Begreift nicht die Freude des Jungen. Sonnenstrahlen werden in seiner Welt physisch erklärt, Gras erläutert er biologisch und all das, was die Natur ihr Eigen nennt, lässt sich in Formeln wieder finden, die die Seiten seiner wissenschaftlichen Bücher füllen. Nur dieses Lächeln… eine Geste, die ihm unbegreiflich ist… keine Formeln, keine Erklärung. Nichts. Dinge von natürlicher Art halten sich seiner Erkenntnis fern, sträuben sich, erlernt zu werden, während sich Formeln in seinem Kopf festsetzen und seit dem ersten Augenblick beherrscht werden… „Weshalb?“, vernehme ich meine Stimme, die die Anstrengung vermeidet, Neugierde zu verhüllen. Und ich sehe Jonouchi an. „Weshalb tut der Mensch derartiges?“ Seine Mimik ähnelt der eines Menschen, der ein Ziel erreichte, als ich meine Frage an ihn richte. Ein nahezu stilles Seufzen entrinnt ihm und mit einer entspannten Bewegung streckt er mir die Hand entgegen, die, in welcher noch immer die Erde und das Gras liegen. „Finde es heraus“, sagt er nur. Sogleich bin ich gewillt, danach zu greifen, doch ich halte inne, sobald sich meine Hand regt. Zaudernd balle ich sie zu einer Faust und blicke zur Seite. >Es ist lächerlich… all das, was du tust, was du denkst… ist lächerlich<, straft mich mein Verstand meiner Torheit. >Dich mit Erde zu besudeln… selbst die Worte, die du mit Jonouchi wechselst… ist das nicht gänzlich absurd?< Und ich ringe mit diesem Denken, ringe damit, es abzustreifen und zu beenden, was ich selbst begann. Die Vorstellung, jene Erde in der Hand zu halten, ist ein Kontrahent meiner strikten Logik, die ich gleich eines Heiligtums verehre. Weshalb? Wieso? Warum und mit welchem Ziel? Alles bedarf Erklärungen, Sicherheiten, um durch etwaiges Handeln keine Zeit zu verschwenden. „Kaiba“, dringt ein leises Murren an meine Ohren. „Ist es so schwer, danach zu greifen?“ Und ich starre auf jene Hand, noch immer erhoben und allmählich der Ruhelosigkeit verfallend. Erwartungsvoll mustern mich die braunen Augen und ich hebe die Hand nochmals. Ohne Denken, ohne Angst… nichts kann passieren. Und ich bette die Fingerkuppen auf der Erde. Zögernd und voller Bedenken und ich stelle mir die Frage, ob ich Derartiges schon jemals berührt, auf meiner Haut gespürt habe. Ich wage es nicht, die Augen von der eigenen Hand zu lösen, sehe sie und spüre doch viel mehr, als das Auge zu erfassen imstande ist. Kühl… eine gewisse Frische geht von der Erde aus, legt sich wohlig auf meine Haut, welche unter ihr frohlockt. Wie nur, kann sie sich eine solche Frische bewahren, obgleich die Sonne am heutigen Tag so intensiv herab scheint? Ich verlagere mehr Druck auf die Erde, fühle die in ihr lebende Feuchtigkeit und nachdem ich diesen Moment still durchdacht habe, löse ich die Finger von ihr und lasse sie zu den Halmen gleiten. Kitzelnd treffen sie auf meine Haut, annähernd ist es unangenehm, da ich ein solches Empfinden nicht kenne. Wie glatt diese schmale Oberfläche ist… ich betaste die Halme und nach wenigen Augenblicken umgreife ich sie mitsamt der Erde. So lässt Jonnouchi die Hand sinken und schüttelt den Rest der Erde von ihr, dennoch fortwährend verfolgend, wie ich mir den Inhalt meiner Hand mit Nachdenklichkeit betrachte. Es ist seltsam… und ich vermag es nicht mit einem anderen Wort zu titulieren. Seltsam. Wie ein solch winziger Bestandteil der Welt von einer solchen Bedeutung sein kann. Wirklich, ich empfinde es als angenehm, die Erde auf der Fläche meiner Hand zu spüren und beginne sie zu wenden, hebe sie gar zu meiner Nase und nehme ihren aparten Geruch in mich auf. Alles, was mir fremd war… allgegenwärtig und doch ein Bestandteil einer anderen Welt, die ich nie betrat. Ich schließe die Augen, schwelge abermals in dem Duft der Erde und betrachte sie mir wohl durchaus beirrt. Eine Kunst, all dies wahrzunehmen… nur einer von den beiden Brüdern trieb diese zu Perfektion und völligen Beherrschung. Der Jüngere, weniger der Ältere, der ‚Perfektion’ nur zu gern in den Mund nimmt und nichts dergleichen in dieser Kunst zu erspähen imstande war. Der Genuss, mit welchem Mokuba das Gras durchstreifte, selbst auf diesem Platz nahm und all das als Gemütlichkeit ansah, während ich auf teuren Polstern saß und dies viel zu verspannt. Diese Klarheit… eine reiche Anzahl meiner Abneigungen scheint dem Schmerz erlegen zu sein, den ich mir in dieser Nacht selbst zufügte. Verstorben, wie ein Teil meines Selbst, um welchen ich noch nicht entschlossen bin, zu trauern. Perplex blinzle ich, lasse die Erde sinken und treffe auf Jonouchis Blick, der besonnen an mir haftet. Eine seltsame Mimik, die vergänglich sein Gesicht streift, bevor er dieses in einem stillen Nicken senkt und die Lippen aufeinander presst. „Du hast es begriffen?“, fragt er mich leise und ich weiß nicht zu antworten. Unstet findet mein Blick erneut zu jener Erde und ich strecke die Hand über die Wiese, um sie zurückfallen zu lassen. Ein dünner Film aus Feuchtigkeit und kleinen Beständen verbleibt auf meiner Haut und schweigend wische ihn mit der anderen Hand hinfort. „Es gibt soviel, was Freude bringt“, fährt Jonouchi fort und steigt aus dem Gras. Noch immer ist sein Kopf gesenkt und er betrachtet sich die Bewegungen seiner Füße, die wieder in die Pantoffeln zurückfinden. „Mehr Freude, als man mit Geld erringen kann. Und das ist es doch, was für uns von Bedeutung sein sollte.“ Ich selbst käme mir wohl verräterisch vor, seinen Worten beizupflichten. Und wenn auch nur mit Nicken und damit verbundenem Schweigen. Doch ist mir nach dem stummen Sinnieren und ich reibe mir den Mund, während Jonouchi flüchtig den Halt seines Mantels korrigiert. Er scheint keine Störung daran zu finden, dass ich schweige, bedenkt dies lediglich mit einem fliehenden Blick und lässt diesen an mir vorbeischweifen, bis er einen direkten Punkt ins Auge zu fassen scheint. „Diese beiden Portiers…“, vernehme ich seine Stimme und erblicke eine Geste, mit welcher er meine Aufmerksamkeit lenkt. So wende ich mich um und erspähe die, die zu beiden Seiten des Einganges ausharren. Und eine alte Missgunst erwacht in mir zu neuem Leben, frohlockt und lässt das soeben Erlebte als schwache Erinnerung zurück. Gemeinsam blicken wir zu ihnen hinüber und führen wohl beide eigene Gedanken. „Sie widern mich an.“ „Mm.“ Sinnierend verschränkt Jonouchi die Arme vor dem Bauch und sobald ich das letzte Wort ausgesprochen habe, nehme ich die Distanz zwischen uns wahr und die Tatsache, dass ihre Größe zu wünschen übrig lässt. Zu nahe… er ist mir zu nahe… und ich entferne mich um einen Schritt und kleide die Bewegung in pure Spontanität, der keine Bedeutung anzudichten ist. Und ich strebe Gewissheit an, doch Jonouchi zeigt mit keiner Regung, dass er meine wahrnahm. Vielmehr vertieft er sich in jene Beobachtung und bringt bald ein leichtes Nicken hervor. „Sie sind fester Bestandteil dieser Einrichtung“, murmelt er und verengt sinnierend die Augen. „Des Gebäudes, welches wir nun bewohnen… und an dessen nobler Genauigkeit ich mich stets und in recht hohem Maß stören lasse.“ „Ihr Empfang ist kühl und routiniert“, füge ich hinzu und erinnere mich an jene Nacht, in welcher ich dieses Gebäude zum ersten Mal erblickte. „So wie alles hier.“ Jonouchi runzelt die Stirn. Eine jede Regung seiner Miene vermag ich zu verfolgen, denn meine Augen sind argwöhnisch auf ihn gerichtet. „Aber es sind doch trotz alledem Menschen. Menschen, wie du und ich, Kaiba. Einjeder hat Aufgaben zu verrichten, zu arbeiten, sich anzupassen und in Rollen zu schlüpfen, sie sich gar bald anzueignen. Dies drängt sie weder in eine untertänige Position, noch sind sie gering zu schätzen für das, was sie tun.“ Er bedenkt mich mit wachsamem Blick. „Würdest du deine Verachtung auf einen Arzt lenken, der ein verunglücktes Tier mit der letzten Spritze von unserer Welt schickt? Der etwas tut, was seine Stellung ihn zwingt, zu tun?“ Ich wende mich ab und versuche mich nicht als der Angesprochene zu fühlen, der ich bin. Gegen alle von mir bevorzugten Ansichten spricht er… ich spüre bislang noch mattes Missfallen bezüglich seiner Worte, die er für richtig und meiner Worte, die er für falsch erachtet. Mit welcher Flinkheit er all dies in Kategorien einteilt und nach seiner Wahrheit abwägt...! Ich bin nicht gewillt, Menschen, die unter mir arbeiten oder Niederes verrichten, Respekt zu zollen. Mein Respekt ist zu teuer, als dass sie sich ihn leisten könnten! Ich presse die Lippen aufeinander und meine Hände werden unruhig. „Es ist oberflächlich“, fährt Jonouchi leise fort, „… und nicht gerecht… und ein Vorurteil. Niemanden kann man ob seiner Fassade ächten, nur weil man in sich selbst zuviel Wert sieht, um diese Fassade zu durchschauen.“ Er mustert mich nachdrücklich und lang, als würde er einzig und allein über meine Person sprechen… von der Qual, die ich verspürte, als er meine Fassade zerstörte… und noch so vieles mehr. Ich balle die Hände zu Fäusten und weiche seinen Augen unzugänglich aus. „Bevor du kamst, heute Morgen… degradierte ich meinen Wert zu einer Nichtigkeit und sah den Menschen, der sich unter der strengen Uniform verborgen hält.“ Seine Stimme weist den Hauch einer Entspannung auf, ein scheinbares Lächeln hallt in seinen Worten wieder und ich starre auf jene Portiers. „Der Größere von Beiden… er ist beileibe jünger, als er wirkt. Und sein Stolz…“, ich meine, Jonouchi leise lachen zu hören, „… gehört nicht ihm, sondern den drei bildschönen Töchtern, die ihn Tagein Tagaus Zuhause erwarten. Er zeigte mir sogar ein Bild, welches er stets bei sich trägt. Und beileibe sieht er seinen Beruf nicht als den Traum an, den er erreichte. Vielmehr ist es eine Notwendigkeit, um seine Familie zu ernähren.“ Ich wage es nicht, meinen Ohren Glauben zu schenken. Mit solch einem Gerede wendet er sich an den Gast einer Kureinrichtung? Welch ein Tölpel kann man sein, solche Worte preiszugeben, die ihm die Kündigung schneller bringen können, als er denkt! Ein verächtliches Grinsen zieht an meinen Lippen und Jonouchi registriert es sofort, ohne erstaunt zu wirken. „Wäre er dein Angestellter und dir käme derartiges zu Ohren…“ „Ich würde ihm keine weitere Gelegenheit bieten, Worte wie diese loszuwerden“, erwidere ich, da ich erahne, was Jonouchi hören will. „So verurteilst du also ehrliche Meinungen und freundliche Offenheit“, schlussfolgert er und stößt ein annähernd lautloses Seufzen aus. „Wie kompliziert ist nur die Welt, in der du lebst? Doch ich bemerke, wir verlieren das Thema, welches ich anstreben wollte.“ „Dann sag, was du zu sagen hast!“, murre ich und fühle schwindende Geduld, die mich in meiner Unruhe steigert. „Eine Unterhaltung“, meint Jonouchi und betont die Worte, als wären sie von einer Bedeutung, die ich nicht in ihnen sehe. „Auch sie kann Freude bereiten. Mit einem jeden Menschen, denn so wie du sprichst, so antwortet man dir. Weshalb wohl in deinem Leben weniger gelockerte Konversationen zu Stande kommen, da schon allein deine Stimme vor Missachtung, Hohn und Apathie strotzt, dass sich keine Seele dazu bereit erklären würde, milde Antwort zu liefern. Und täte sie es, täte sie es mit Kleinmut und Untertänigkeit. Ist dies nicht eine recht entspannende Grundlage für eine Unterhaltung?“ Mein Schweigen hält an… wie bedauerlich es nur ist. Doch ebenso ein leises Gefühl der Sicherheit, da ich nicht offenbaren muss, wie ertappt und schuldig ich mich fühle… gleichermaßen, wie aufgewühlt mein Inneres ist und alles, worin ich Glauben gesetzt hatte. Es ist bizarr… welch eine Perfektion, in der man es noch nicht einmal beherrscht, Gespräche zu führen. Ich presse die Lippen aufeinander und auch neben mir herrscht Stille. Worte, und ihrer weiß ich viele, je komplizierter desto besser und wie gleichgültig fasse ich es auf, ob man sie versteht. Knapp waren sie alle… kurz und oberflächlich, sachlich… die Gespräche mit Angestellten. Kurz angebunden und strikt sagte ich ihnen, was ich zu sagen hatte und verjagte sie mit bitterer Miene, bevor sie unnötige Worte an mich richteten. All das war Zeit und die Zeit fristete ich einsam und meist apathisch. Auch Mokuba… ich betrachte mir die beiden Männer und spüre eine Regung meiner Miene. Nur das Nötigste… die Logik verbot es mir stets, Sätze zu strecken, auszuschmücken, ihm und seiner Sensibilität anzupassen. „Weißt du“, erhebt Jonouchi abrupt die Stimme und ich senke die Lider. Nach einem leisen Seufzen hebt er die Hand, betrachtet sich seine Armbanduhr. „Das Mittagessen wartet auf mich und ich möchte es nicht warten lassen, weil mir bereits der Magen knurrt.“ Sein Blick trifft mich erwartungsvoll und mir ist bewusst, was er hören möchte. Dass ich ihn begleite… denselben Hunger verspüre… doch verspüre ich weder ihn noch die Lust, mit ihm zu gehen. So wende ich den Kopf ab und beschaue mir die Fassade des Gebäudes. Soll er gehen… er ist beileibe kein Verlust und in diesen Augenblicken viel mehr noch als das Gegenteil. „In Ordnung.“ Er begreift und richtet sich den Mantel. „Ich mache mich auf den Weg… so oder so… möglicherweise treffen wir später abermals aufeinander. Nutze die Zeit, um sie mit Gedanken zu füllen.“ Die letzten Worte kommen in einem leisen Raunen über seine Lippen und somit setzt er sich in Bewegung und ich vernehme das leise Schlürfen seiner Pantoffeln, als er auf den Eingang zusteuert. Aus den Augenwinkeln, gar verstohlen, richten sich meine Augen auf ihn und erhaschen die freundliche Geste, in der er die Hand hebt, beide Portiers grüßt und diese mit einem höflichen Nicken antworten. So offen… so ganz ohne Trug und Routine. Dies mag wahre Freude sein. Und so verschwindet Jonouchi und ich starre auf die gläserne Tür. Wohl durchaus verdrießlich und finster. Er will beherrschen, was er meinem Können verweigert…? Ich schöpfe tiefen Atem. Anders gesehen, und dies ist mir wahrhaftig lieber, beherrsche ich die Kunst des Gespräches in einer andere Methode. Ich gestalte sie profitabel, zweckmäßig und kurz. In der heutigen Gesellschaft haben Menschen mit einem jeden Tag weniger Zeit zur Verfügung. Nicht viele, doch waren sie unter meinen Gesprächspartnern, die zumeist selbst von hohem Status waren. Sie dankten es mir stets. Was brachte es mir, mich auf ihr Privatleben oder gar ihr persönliches Befinden zu beziehen? Wie sehr, frage ich mich… wie sehr muss sich dieses Denken, dieses Handeln in mir festgefressen haben? Routine… hat sie es mir bald versagt, Worte an Menschen zu richten, mit denen sich keine finanziellen oder lukrativen Themen finden ließen? Ich schüttle den Kopf, versuche lästige Gedanken zu jagen, aus meinem Kopf zu verbannen und setze mich selbst in Bewegung. Den Blick auf den Boden genagelt, schweigend und mürrisch ziehe ich auch an den Portiers vorbei, betrete die Eingangshalle und mache mich auf den direkten Weg zu meiner Suite. Inmitten des Eaumes bleibe ich stehen und blicke mich suchend um. Das Telefon…? Ich finde es in der neugewonnenen Ordnung wieder und lasse es sinken, während ich die Lippen aneinander reibe, kurz die Augen schließe und mich in den Gedanken vertiefe, der mir soeben kam. Ich habe Sehnsucht… Sehnsucht nach einer Stimme, die beherrscht, was ich zu erlernen gewillt bin. Wenn auch nur für ihn… für Mokuba, welchem ich meine Stimme gegenüber sanft hielt und doch nicht die Gefühllosigkeit bemerkte, mit der sie sich erhob. >Wie muss es ihm damit gehen?<, denke ich und senke die Lider. Das Mittagessen kann getrost warten… ebenso Jonnouchi, der im Gegensatz zu einem kleinen Jungen keinerlei Bedeutung für mich hat. Ich denke, ja… ich möchte seine Stimme hören. Keinem weiteren Zögern verfallend komme ich auf die Beine, blicke ein letztes Mal um mich und mache mich auf den Weg zu meinem Schlafzimmer. Ich schließe die Tür hinter mir, strecke meine verspannten Arme und lasse mich auf dem Bett nieder, welches in der vergangenen Nacht unberührt blieb und dennoch zwischendurch umso mehr geordnet wurde. Ich schicke der Tür einen kurzen Blick, senke ihn dann zu dem Telefon und wähle jene Nummer. Und während meine Finger die Tasten betätigen, steigt eine Unruhe in mir auf, die allgemach zu meinem stetigen Begleiter heranzuwachsen scheint. Wie senkt man die Stimme, von welchem Gelingen ist es abhängig, ihr die Schärfe zu entnehmen, stattdessen mehr Gefühl zu geben? Was ist Gefühl? Doch da hebe ich schon das Telefon zu meinem Ohr und auch das Rufsignal erhebt sich, als mahne es mich meines Zögerns. Als wäre dieses nicht von Nöten? Zeit, all dies abermals zu durchdenken…? Nein, nichts von alledem entspricht meiner Art… ich tue es, so oder so steht mein Erfolg hinter fünfzig Protzentiger Sicherheit. Meine Zähne erhaschen die Unterlippe, bearbeiten diese nachdenklich und strikt halte ich meinen Verstand davon ab, mir Worte zuzuflüstern, um diese bereitzulegen. „Ja, hallo?“ Und ich blicke auf… Diese Heiterkeit, eine Reinheit, die man mir nicht abnehmen würde, so gut ich mich auch verstellte. Wie viel habe ich noch zu erreichen? Und ich hole tiefen Atem, während ich dem Seinen lausche, der in der Leitung rauscht. Wie oft sagte ich ihm schon, dass er den Mund nicht an den Lautsprecher drücken soll…? Mindestens zwanzig Mal, bis ich das Durchhaltevermögen ob einer solchen Lappalie verlor. Ich schmunzle. „Hallo.“ Noch nie zuvor achtete ich in einer solchen Weise auf meine Stimme. Ich halte sie ruhig, nehme mir ein Vorbild an einem Menschen, der fast zehn Jahre jünger ist, als ich. „Seto?“ Sogleich lacht er auf und niemand vermag Freude so deutlich zum Ausdruck zu bringen, wie er. „Das ist ja toll, dass du mich nun wieder anrufst! Rufst du mich ab jetzt jeden Tag an?“ Und er wünscht es sich, obgleich es bestimmt Dinge gibt, die weitaus erheiternder sind, als Telefonate mit mir. „Vielleicht.“ Ich schiebe mich auf dem Bett zurück. „Wie geht es dir?“ „Oh!“ Und wieder… sein Lachen. Wie beneidenswert ist es nur, dass er keinen Wert darauf legt, die Freude an einer einzigen Frage zu vertuschen. Weshalb sollte man es auch tun? Ist es nicht verlogen und des Weiteren gänzlich sinnlos, ja, annähernd albern? „Mir geht es sehr gut! Yasojiro und ich haben wirklich sehr viel Spaß und tagsüber fast das Haus ganz für uns alleine, da seine Eltern sehr lange arbeiten. Es ist wirklich schön… aber“, er brummt trotzig in den Hörer, „… irgendwie vermisse ich dich auch.“ Flüchtig befeuchte ich die Lippen mit der Zunge, meine Schultern heben und senken sich unter einem tiefen Atemzug. Was vermisst er nur…? Die kalten Augen? Die Lippen, die so selten lächeln? Das Gesicht… das nie wahre Freude offenbart? Nach einem kurzen Schweigen nicke ich in mich hinein. „Ich vermisse dich auch… Mokuba“, sage ich und es fällt mir leichter, als ich es mir je vorgestellt hätte. Ja, ich sagte es einfach und in der Leitung folgt Stille, keine übertrieben geschwätzige Antwort und so betrachte ich mir die Decke des Zimmers, mich auf eine weitere Herausforderung einstellend. Wie kurz waren bisher alle Telefonate, die wir geführt haben…? „Diese Kureinrichtung“, beginne ich meine erste Erzählung über das Telefon, „ist wahrhaftig sehr ansehnlich. Sie ist gepflegt, ordentlich…“, ich grüble, „… das Personal… ist freundlich und das Wetter stets warm und sonnig.“ Und nie fehlten mir die Worte… bis zu jenem Zeitpunkt. Wie schwer ist es nur für mich, der stets kompliziert denkt und umso komplizierter handelt, simple Eindrücke wiederzugeben? „Ja…?“, ertönt ein ungläubiges Hauchen und sogleich nicke ich. „In nicht allzu weiter Entfernung zu diesem Gebäude erstreckt sich ein Strand und ich habe noch nie ein so klares Wasser gesehen.“ „Und warst du schon baden?“, erkundigt sich Mokuba, scheinbar übereifrig darauf aus, ein wirkliches Gespräch auf die Beine zu stellen. „Noch nicht am Strand“, verneine ich und verfange mich abermals im Sinnieren, „… doch in der hauseigenen Schwimmhalle tat ich es bereits.“ „Und war es schön?“ „Ja.“ „Du solltest dir trotzdem Zeit nehmen, an den Strand zu gehen, Seto“, belehrt mich der Junge und ich kriege den dünnen Seidenbezug der Decke zu fassen, ihn sogleich mit den Fingern bearbeitend. „Ich würde es sofort tun und ohne zu zögern, wenn ich die Gelegenheit hätte, die ich nun einmal nicht habe. Der Strand ist doch viel schöner, als in einer Halle zu schwimmen. Das ist Natur und meistens riecht es dort auch noch ganz toll.“ Der Geruch…? Ich halte in meinen Bewegungen inne, erinnere mich nicht, derartiges wahrgenommen zu haben. „Yasojiros Eltern versprachen, morgen einen Freizeitpark mit uns zu besuchen“, erzählt er mir lachend und erfüllt von Vorfreude. „Und gestern haben wir sogar gelernt.“ Gelernt…? Ich befeuchte meine Lippen mit der Zunge und suche nach Worten, die daraufhin folgen sollten. „Das freut mich zu hören“, sage ich also und wohl durchaus unbeholfen. „Es ist…“, ich grüble, „… schön, dass ich mich auf dich verlassen kann.“ Und er lacht… solch ein Glück, solch ein Stolz… „Natürlich kannst du das!“, bezeugt er begeistert. „Oder hast du je daran gezweifelt?“ Durchaus… immer und an jedem Tag, da ich der kindlichen Art misstraue. Ihr sind Ziele beileibe weniger wichtig, als Freuden. Eine Lüge müsste ich aussprechen… dies im falschen Moment und nicht akzeptabel. Wie würde ich mich wieder selbst darstellen? Als verbissen und überängstlich, was seinen schulischen Erfolg anbelangt, obgleich es, was seine Noten anbelangt, doch keinen Grund zur Sorge gibt. Glücklicherweise schien Mokuba nie eine Antwort erwartet zu haben. Im Hintergrund raschelt eine Tüte und ich möchte ihn darauf aufmerksam machen, dass er zuviel nascht. Ob in unserem Haus oder bei anderen… seine Vorliebe für Süßigkeiten ist ebenso ungesund wie groß. „Und du hast dich schon etwas erholt?“, fährt er fort, bevor ich Tadel an ihn richten kann. „Also ich bin der Meinung, dass das der Fall ist. Deine Stimme hört sich anders an und…“ „Mokuba?“ Ich hauche dieses Wort und sehe erst später meinen Entschluss, auszusprechen, was mich belastet. „Ja?“ Ich zupfe an der Decke, ziellos durchforsten meine Augen den Raum. „Was denn, Seto?“, erkundigt sich Mokuba, da ich zu lange zögere. Ja, wie schwer fällt es mir, selbst eine simple Frage zu stellen! Ich beiße die Zähne zusammen und schließe die Decke in meiner Hand ein, als ich diese zu einer Faust balle. Welche Beweise habe ich vor ihm denn zu erbringen? Was sollte ich neben der Rolle des Bruders darstellen? Was weiß dieser junge Mensch mit einem perfekten Geschäftsmann anzufangen...? „Bei den Gesprächen, die wir führten…“, hauche ich also und schließe die Augen, „… vermisstest du je etwas?“ „Wie meinst du das?“, stellt er eine Gegenfrage, ohne Grübeleien anzustellen. So einfach… eine simple Frage, da er den Inhalt nicht begriff. So viel gewandter, als verbissen darüber zu sinnieren und es sich nicht einzugestehen. „Vermisstest du… Interesse? Mein… Interesse? Erschien dir die Länge der Gespräche als nicht ausreichend?“ „Das mag wohl stimmen“, erhalte ich sogleich meine Antwort und starre auf einen der Kleiderschränke. Mein Herz verliert sich aus dem monotonen Rhythmus und ich fühle mich von der dumpfen Last einer Schuld niedergerungen. Eine Enge… in meinem Hals. Stockend löse ich die Hand aus der dünnen Seide des Bettbezuges. „Ich denke, wir haben immer etwas zu wenig gesprochen“, meint er weiterhin und ich bearbeite die Unterlippe mit den Zähnen. „Aber das ist deine Art, Seto. Und ich mag mich angepasst haben.“ Und dies bestimmt nicht mit Leichtigkeit… War ich selbst ihm gegenüber schweigsam? Wie viele Worte hätten es denn sein müssen…? „Und manchmal…“, er senkt die Stimme und mich befällt die Angst, ihn mit jener Frage betrübt zu haben, dass es ihm gar schwer fallen könnte, darüber zu sprechen. Doch tut er es… „… habe ich das Gefühl, dass du nur Interesse an einem Gespräch hast, wenn es sich um meine schulischen Leistungen handelt. Sofort bist du Ohr, sofort lässt du alles stehen und liegen, wenn ich dir die Ergebnisse verschiedener Arbeiten und Referate zeigen möchte. Und ich mag es, wenn du mich bei Erfolgen lobst und…“ Und…? Ich winkle die Beine an, ziehe die Knie zu mir und lege den freien Arm um sie. „… wenn ich krank bin oder mir nicht gut ist, zeigst du auch Fürsorge und Aufmerksamkeit.“ Selbstverständlich… niemals möchte ich, dass ihm Schlechtes widerfährt… Keine Krankheit soll unbemerkt bleiben, um ihn zu quälen. Es soll ihm gut gehen… „Aber, Seto…“ Meine Finger vergraben sich in dem Stoff des Yukata und meine Lippen formen stumme Worte. Es schmerzt… „… du bist teilnahmslos, wenn ich von meinen Hobbys erzähle, von lustigen Sachen, die sich in meiner Schule oder Freundeskreis zugetragen haben. Oder wenn ich dir sage, was ich gemacht habe, während du in der Firma warst. Womit ich Spaß oder welche Filme ich gesehen habe.“ Stockend senke ich den Kopf, starre auf meine Knie und spüre, wie das Herz in meiner Brust rast. Vielleicht… weil ich es nicht ertrage, seine Freude zu erleben…? Weil sie mir rätselhaft ist…? Ein Mysterium, hinter welches ich nie zu kommen glaube? „Und du möchtest nichts mit mir unternehmen. Du sträubst dich regelrecht davor, mit mir wegzugehen und da denke ich manchmal…“, abermals ein Schweigen, doch dieses ertrage ich weniger, „… manchmal denke ich, dass du mich… gar nicht richtig… lieb hast.“ Jäh blättert eine jede Mimik von meinem Gesicht… sogleich öffnen sich meine Lippen, doch ich bringe keinen Ton hervor, vergesse es gar, zu atmen. Mit geweiteten Augen presse ich das Telefon in der Hand. Wie bitte…? Er befürchtet, ich würde ihn nicht lieben…? Stockend beginne ich zu blinzeln, zitternd presse ich die Lippen aufeinander und schlucke gegen den Druck an, der in meinen Hals aufsteigt. ‚Du bist das Einzige, was ich habe!’, schreit es in meinem Inneren, ‚Wie nur, könnte ich dich nicht lieben?!’ Und ich spreche es nicht aus… „Naja…“, Mokuba räuspert sich, auch er wirkt verlegen, „… also, das habe ich aber nur selten gedacht und… Seto? Bist du noch da?“ Ja, bin ich es…? Abermals blinzle ich, spüre, wie sich der Druck in meinem Hals zu einem dumpfen Schmerz entwickelt und erkenne ihn als den Gefährten wieder, der mir in vergangener Nacht Gesellschaft leistete. Hörbar atme ich ein, hebe die Hand zu meinem Gesicht und fahre mir annähernd beiläufig über die Augen, wische die Nässe hinfort und bin ihrer nicht überrascht. Kein Entsetzen… mein Herz krampft, ich beiße mir auf die Unterlippe, streife mein Haar zurück und schließe die Augen. Wieder weine ich…? Ein scharfes Kribbeln durchfährt meine Nase und ich spüre das Zucken meines Gesichtes, als ich dieses kurz sinken lasse und auch das Telefon etwas von meinem Ohr entferne. Ist es ein Bestandteil des Perfektionismus, seinem Bruder unbeabsichtigt glauben zu machen, man würde ihn nicht lieben…? Wie fehlerhaft kann man nur sein, um dies zu bewerkstelligen…? Kitzelnd bahnt sich eine Träne ihren Weg über meine Nase und ich beiße die Zähne zusammen. Scham… Schuldgefühle… sie drücken mich nieder und taten es noch nie zuvor. „Seto…?“, erreicht mich seine Stimme. Warum…? Wie konnte es mir entgehen, wie ich Mokuba behandelte…? Wie sich mein krankes Verhalten auf ihn auswirkte, obgleich ich mir schon Mühe gab? Ich ziehe die Nase hoch, öffne die Augen und spüre das Kitzeln, als die Träne meine Lippen erreicht. „Ja“, hauche ich und ringe um Fassung. „Mokuba…“, und ich suche verzweifelt nach Worten, die meine Schuld wenn auch nur annähernd bereinigen können. „… es… tut mir leid.“ Nie hätte ich geglaubt, diese Worte je auszusprechen und dies auch noch mit Ernsthaftigkeit und aus der Tiefe meines Herzen, mit dem Wunsch um Vergebung. Mokuba schweigt und ich zügle meinen Atem, damit er kein Schluchzen preisgibt. Meine Stimme zittert und in der Leitung herrscht Stille. „Verzeih mir… dass ich dir nicht der Bruder bin, den du dir wünschst.“ Und ich presse die Hand auf mein Gesicht, während mein Leib ein Zittern durchfährt. Ich möchte nicht, dass er es weiß… noch nicht… lieber behalte ich die Tränen für mich, um ihn nicht zu beunruhigen. Wie sähe es nur aus? Für ihn, da ich mich stets unantastbar gab und fest daran glaubte, es zu sein…? „Seto!“ Mokuba hört sich erschrocken an. „Das stimmt doch gar nicht! So meinte ich das nicht! Du bist ein ganz toller Bruder und ich verstehe, dass du in der Firma immer sehr viele Arbeiten zu verrichten hast! Ich bin so froh, dass es dich gibt und wäre so totunglücklich, wenn ich alleine wäre!“ Ist er es nicht…? Trotz meiner Anwesenheit? Meine Finger durchkämmen mein Haar, klammern sich krampfhaft hinein. Ich kann nicht antworten… Bin ich seiner Sorge und seiner Liebe eigentlich würdig…? „Ich wünsche mir nur…“, fährt Mokuba fort, „… dass wir mehr gemeinsam unternehmen. Selbst du hast doch Freizeit, oder etwa nicht? Wir könnten spazieren gehen oder mal ein Eis essen. Seto, ich habe noch nie gesehen, wie du Eis isst. Hast du es schon jemals getan? Weißt du, wie lecker das ist?“ Die Stimme meines Bruders wirkt in diesen Momenten bei weitem heller und befreiter als zuvor. Ich kämpfe abermals um Fassung, schließe die Augen und lausche ihr. „Es gibt so vieles, was wir miteinander machen könnten. Das ist das Einzige, was ich mir wünsche. Und Setooo…“, ein empfindsames Raunen folgt, „… ich habe wirklich nie behauptet, dass du mir kein guter Bruder bist.“ Allmählich… ja, sollte ich allmählich nicht wieder antworten…? Doch was…? Ich bin so hilflos, wie noch nie zuvor… und dies einem Dreizehnjährigen gegenüber. Er nahm mir etwaige Kontrolle… ich so verletzlich durch seine Worte und ich war es seit jeher. Ist dies Perfektion…? Was war nur mein Glauben? Woraus bestand er? ~*to be continued*~ Kapitel 11: ~Liebe~ ------------------- Regungslos stehe ich dort. Sanfte Brisen umstreichen mich, umspielen mein Haar. Ich blinzle, als eine Strähne in meine Stirn gleitet und senke die Lider. Ich betrachte mir den Sand, der sich unter den Sohlen meiner Wajaris erstreckt. Seine Hitze lässt sich spüren, seine Reinheit sehen. Hinter mir rauschen die Blätter der Palmen, vor mir das kristallklare Wasser, das in kleinen, unauffälligen Wellen über den Sand streicht und ich hebe die Hand und betaste vorsichtig meine Brust. Mein Herz… wie rast es nur unter meinen Fingern. Wie aufgeregt schlägt es in meiner Brust. Das Telefonat raubte mir etwaige Fähigkeit, Ruhe zu bewahren. Selbst eine geziemte Selbstbelügung will mir nun nicht gelingen... vielmehr stürzen bestialische Fakten über mich herein, an deren Tatsächlichkeit nicht zu rütteln ist. Tragisch. Ich stehe nur ein weiteres Mal vor meiner eigenen, klaffenden Wunde und so, wie ich es nicht wage, den Blick von ihr abzuwenden, so ist es auch ein zu großes Wagnis, sich umzudrehen. Ein innerer, von selbst ausgelöster Drang bringt mich in die Zwangslage, mich mit einer Problematik auseinanderzusetzen und so führte mich mein Weg durchwegs abwesend und entrückt hinaus aus dem Gebäude und hierher an diesen Strand. Ich weiß nicht, was ich hier zu finden erhoffe. Einsichten sind schwer zu erreichen, wenn man sich nicht ihrer Art bewusst ist. Antwort folgt nur auf eine Frage und diese weiß ich nicht zu stellen. Meine Gedanken hängen zurück. Sie befinden sich nicht hier an diesem friedlichen, stillen Ort… sie driften noch immer um die Begebenheit mit Mokuba und meine schier unendliche Ohnmacht. Zu keiner Zeit hätte ich mir einreden lassen, dass ein schlichtes Telefonat von einem solchen Schwierigkeitsgrad sein kann. Dass es so viele leblose Dinge in mir bewegt und mich in die Lage treibt, in welcher ich mich nun wiederfinde. Wie drückt man Liebe aus, wenn man sich selbst nicht liebt, frage ich mich und schließe die Augen. Ich kam nie mit Derartigem in Berührung. Liebe war niemals zu mir geströmt und ich frage mich, ob ich diesen Fakt für meine Situation verantwortlich machen kann. Mir steht der Sinn danach, woanders nach der Verschuldung zu suchen und mich selbst von diesem schieren Ballast zu befreien. Wer machte mich zu dem, den ich nun im Spiegel erblicke? Traf ich auf einen Widerstand, der mich so derartig verformte? An welchem ich wohl annäherungsweise zerbrach? Das Fehlen der Eltern… Gousaburos kalte Herrschaft… soviel liegt hinter mir. Soviel machte meinen Lebensweg aus und ich möchte so viele Menschen verfluchen. Möchte sie bagatellisieren und bezichtigen. Es können nicht meine Fehler sein. Niemals hätte ich Mokuba bewusst den Schaden zugefügt, unter welchem er nun leidet. Ich öffne die Augen. Noch immer mit gesenktem Kopf erblicke ich wiederholt den Sand, der mich allseits umgibt. Ich stehe nicht weit vom Wasser entfernt. Vermutlich trennen uns nur wenige Meter und während ich mir diese hellen Körner betrachte, sendet mir mein Verstand seltsame Erinnerungen. Dieses Gras… Ich hielt es in der Hand und hatte währenddessen so viele Eindrücke wahrgenommen. Es handelte sich um ein neues, nicht zu beschreibendes Gefühl. Wenn ich mich selbst schon nicht lebendig fühlte, so tat ich es doch durch diese frische, fruchtbringende Erde. Ich bin nicht eins mit der Natur. Selbst jetzt trennen mich die Sohlen der Wajaris von ihr. Sie schützen mich vor dem Dreck der Umgebung. Ich möchte mich nicht beschmutzen, doch unweigerlich denke ich an das Gespräch mit Mokuba. Hatte er mir nicht diese Fragen gestellt? Ob ich schon hier gewesen bin? Ob mir dieser mir fremde Genuss bereits zuteil wurde? Verbirgt sich etwas hinter diesen Worten? Ich möchte es herausfinden und blicke um mich wie ein Schurke, der einen versteckten Frevel plant. Aufmerksam, argwöhnisch… doch niemand ist hier. Ein weiteres Mal bin ich alleine und ich zögere lange. Ich betrachte mir die Palmen, betrachte mir das Blattwerk und tue es so, als würde sich dort jemand verbergen. Ich habe Seltsames vor. Augenblicklich lässt mich mein Verstand der erneuten Sinnlosigkeit gedenken, doch ist mir diese Schranke unterdessen nur zu gut bekannt. Ich kann sie inzwischen umgehen. Ich kann es wirklich, indem ich nicht grüble, indem ich nicht hinterfrage. Tief atme ich durch und kehre all den Pflanzen den Rücken. Ich wende mich dem Meer zu und steige vorsichtig aus meinen Wajaris. Ich mag unbehände wirken, ungeschickt und viel zu misstrauisch ob dieser Situation. Doch gleichsam kann ich meine Neugierde nicht verleugnen. Sie ist zu groß, zu immens, um sie ungeschehen zu machen und so setze ich den rechten, nackten Fuß in den Sand. Hitze… Er gibt unter meinem Gewicht nach, ich sinke ein wenig ein und lasse den zweiten Fuß folgen. So stehen meine Wajaris kurz darauf unbenutzt neben mir und ich inmitten des feinen Sandes. Wie fühlt es sich an? Ich runzle die Stirn, rege die Zehen und spüre das leichte Kitzeln vereinzelter Steinchen. Es ist seltsam und es erscheint mir so sinnlos. Ein weggeworfener Moment, ausgenutzt von Torheit und sinnloser Wissbegier. Es kann mir nicht soviel bedeuten, rede ich mir selbst ein und presse die Lippen aufeinander. Dieser Moment ist kein Heiliger. Es ist ein Moment wie jeder andere auch. Langsam greife ich nach dem Yukata. Leicht beuge ich mich hinab, bekomme ihn zu fassen und hebe ihn an. Ich entblöße meine Beine, lege keinen Wert darauf, den Stoff zu beschmutzen und bleibe nicht lange stehen. Fast ist dieser Sand zu heiß, um zu lange auszuharren. Die Sonne prasselt auf meinen Kopf nieder. Ich spüre ihre Intensität, als wolle mir die Natur ein weiteres Zeichen senden. Um meine Wahrnehmung zu schulen, um mich heimlich zu locken und letztendlich für eine Sache zu begeistern. Ich mache den ersten Schritt, gehe auf das Wasser zu und bemerke, wie umständlich es ist. Die Schritte werden anstrengender, wenn der Fuß einsinkt. Der Sand ergibt sich mir, unterwirft sich und ich ziehe über ihn hinweg wie über glühende Kohlen. Langsam, ungelenk und unsicher. Ich bin festen Boden gewöhnt. Festes Schuhwerk. In diesem Sand bin ich meinem aufrechten, zielstrebigen Gang fern. Ich komme nur langsam voran, achte stets darauf, den Stoff oben zu halten und verfolge jeden meiner Schritte mit den Augen. Ich tauche ein in ein völlig neues Gebiet und so nähere ich mich dem Wasser. Zögerlich setze ich den Fuß auf den glattgestrichenen, feuchten Sand. Dort, wo die Wellen über ihn hinweg streichen ist er härter, ist wohliger. Sogleich legt sich die Nässe auf meinen Fuß. Es ist angenehm, nachdem ich die Hitze des Sandes spürte und kaum stehe ich dort, umspielt das Wasser meine Knöchel. Ich nehme auch dieses Gefühl in mir auf, spüre es mit offenem, sprachlosem Mund und verharre gerne an dieser Stelle. Es kitzelt, leicht sinke ich ein, als sich die zierliche Welle zurückzieht und es dauert nicht lange, bis die Nächste folgt. Immerfort, unendlich. Diese Wellen kennen keine Pause. Sie sind stetig und niemals anders. Das Wasser ist warm, ist angenehm und rasch spüre ich, wie es mich tiefer lockt. Mein Körper ist aufgeregt ob dieses neuen Empfindens. All meine Sinne treffen hier auf einen fremden Genuss und ich könnte es nicht in Worte fassen, hätte ich es darauf abgesehen. Ich kenne keine Worte, die all das umschreiben könnten. Mein umfassender Wortschatz trifft hier an seine Grenze. Ich erinnere mich an eine ähnliche Begebenheit. Die Sprachlosigkeit, mit der ich Mokuba begegnete. Ich erreichte einen Punkt, der mich wehrlos machte. Die einzige Möglichkeit besteht darin, diese Besonderheit totzureden mit der mir eigenen kühlen Sprache. Sie würde an Flair verlieren, an Reinheit und so schweige ich auch weiterhin, als ich in langsamen Schritten in das Wasser steige. Mein Kopf bleibt gesenkt, mit stockendem Atem verfolge ich, wie sich das Bild meiner Füße auf dem Grund bricht. Es wiegt sich wie das Wasser selbst und unweigerlich spüre ich einen kleinen Stein unter meinem linken Fuß. Mein Körper scheint sensibilisiert. Jeden Fakt gibt er umso deutlicher an mich weiter, jede noch so kleine Begebenheit und ich raffe den Stoff noch höher, lasse mich noch weiter in das Meer ziehen, bis das warme, klare Wasser bis zu meinen Knien reicht. Zärtlich nimmt es die trockene Haut für sich ein und gedankenlos beginne ich den linken Fuß im Wasser zu bewegen. Ich durchrühre es, hebe ihn ins Freie und bin so gefangen in diesem Moment. Mein stets so kompliziertes Denken erliegt, etwaige Kritik an mir selbst schwächt ab. Ich tue das Richtige. Noch nie war etwas Sinnloses so interessant. Mit einem abwesenden Griff lockere ich meinen Gürtel und klemme den Stoff des Yukata darunter. Ich möchte meinen Händen Freiheit gewähren. Sie sollen teilhaben an diesem Geschenk und so betaste ich bald darauf die Oberfläche des Wassers. Vorsichtig streiche ich mit den Fingern darüber hinweg, tauche ein und atme tief durch. Es ist erfrischend. Meine heißen, angespannten Gedanken scheinen Abkühlung zu finden. Ihr Rumoren in meinem Kopf endet und so ziehe ich weiter, ohne zu grübeln. Es gibt nichts anzuzweifeln, nichts zu hinterfragen. Dieser Moment ist ein Ehrlicher, ist ein Wahrhaftiger. Ich bewege mich, wate tiefer hinein in diesen blauen, ruhigen Frieden. Wasserpflanzen kitzeln meine Waden, als sie dort über meine Haut streichen. Die Bewegungen kleiner Fische sind auszumachen. Sie bewegen sich in Schwärmen, flüchten vor mir. Sie nehmen mich als genau so fehl am Platze wahr, wie ich es wohl auch selbst empfinde. Mein Kopf bleibt gesenkt, lautlos treibt eine Alge zu mir und ohne zu zögern hebe ich sie von der Wasseroberfläche. Kleine Muscheln haften an ihren verdunkelten, feuchten Blättern. Selbst dieses kleine Ding ist voller Leben und so bleibe ich stehen, um sie mir genauer zu betrachten, sie zwischen den Händen zu bewegen… sie zu spüren. Das, was in mir zum Leben erwachte, lässt sich nicht betiteln. Wie würde man ihm schaden, wenn man es mit einem Namen beschwert. Es ist der falsche Weg, sich diesem Empfinden zu nähern und so nehme ich es einfach wahr, reibe die nassen Blätter zwischen den Fingern. Sie sind kühl und glitschig. Ein leichter Wind kommt auf. Kitzelnd bewegen sich die Strähnen meines Haares in meiner Stirn und ich säume es mit der Nässe meiner Finger, als ich es zurückstreife. Die kalte Frische legt sich auf meine Stirn, als ich auch diese flüchtig berühre und tief durchatmend lasse ich den Arm sinken und blicke auf. Ich bin ein Teil dieses Meeres. Es umgibt mich wie eine weite, lebendige Flur. Erfüllt von Leben, von Frieden und Stille. Ein Teil dieser Faktoren scheint geradewegs auf mich überzugehen. Ich spüre, wie sich mein Atem verflacht. Soeben fiel er noch voller Aufregung ob dieser neuen Erfahrung. Ob dieser neuen Umgebung und des ungewohnten Zustandes. Nun legt er sich, bis er annähernd still in meiner Brust rauscht. Leicht gleiten meine Fingerkuppen abermals über die Wasseroberfläche und ich zögere nicht lange, bevor ich den gesamten Arm in dem kühlen Nass versenke, mich hinab beuge und den Grund des Meeres betaste. Meine Finger sinken leicht ein, bevor sie einen kleinen Stein zu fassen bekommen. So richte ich mich auf und betrachte mir dieses Fundstück. Der Stein ist rund. Keine Ecken lassen sich spüren. Keine Kanten. Die Bewegung des Meeres hat zu dieser Gestalt geführt. Es ist angenehm, ihn in der Hand einzuschließen und während ich dies tue, blicke ich auf und mich um. In weiter Ferne glaube ich eine schneeweiße Yacht zu erkennen, doch etwaige Betrachtung erfährt einen Abbruch, als ich ein leichtes Kitzeln an meinen Waden spüre. Sofort senke ich den Blick und erkenne vereinzelte, furchtlose Fische, die meine Haut mit ihren runden Mündern erforschen. Es ist interessant, sie dabei zu betrachten und ich tue es lange und ausgiebig. Also gibt es doch Lebewesen, die ohne Furcht an mich herantreten und dabei sind sie so klein. Es wäre mir ein Leichtes, sie in der Hand zu zerdrücken, ihnen Schmerz zuzufügen, so wie ich es bei einem anderen Lebewesen tat, das mir stets ohne Furcht begegnete. Schmerzlich erinnere ich mich an Mokuba und atme tief durch. Die Fische verlieren mein Interesse. Auch, wenn meine Augen auf sie gerichtet bleiben, ich sehe sie nicht mehr. Vielmehr entspringt meiner zaghaften Vorstellung das leidvolle Antlitz eines kleinen Jungen. Eine drückende Schwere senkt sich auf mein Herz. Ich versuche mich wach zu blinzeln und wende mich um. Es ist ein innerer Antrieb, der mich meine Umgebung prüfen lässt und wirklich… ich erkenne den nächsten Besucher, den es an den Strand verschlug. Es handelt sich um keinen geringeren als um den Mafiosi, der zwei Angestellte des Hauses hinter sich her traben lässt und es scheinbar auf eine der Liegen abgesehen hat. Sein Erscheinen löst eine gewisse Nervosität in mir aus. Vergessen wird die Kühle des Meeres, vergessen dieser Frieden. Er entreißt ihn mir mit seiner Präsenz und gleichsam verspüre ich die Furcht, einen lächerlichen Anblick zu bieten. Hier stehe ich mit hochgestrüffeltem Yukata und bewege mich nicht. Was für ein Erscheinungsbild muss dies sein? Ich bin Seto Kaiba… nicht dafür geschaffen, lächerlich zu wirken. So beginne ich mich zu bewegen. Es treibt mich aus dem Wasser, während sich der korpulente Mann auf eine der Liegen sinken und sich eines der mitgebrachten Getränke reichen lässt. Ich wate zurück zum Strand und erreiche ihn recht rasch. Dennoch will ich es nicht wie eine Flucht erscheinen lassen. Ich fürchte mich nicht vor diesem Mann. Vielmehr fürchte ich mich vor mir selbst und bin wie so oft auch vor niemand anderem auf der Flucht. Das Wasser perlt von meinen Beinen, als ich zurück an den Strand trete. Mein zielstrebiger Weg führt mich zu meinem Wajaris und ich versuche mein Handeln in eine unwillkürliche Beiläufigkeit zu kleiden, als ich hineinsteige und den Stoff des Yukata von dem Gürtel löse. Sogleich fällt er hinab und verbirgt meine Beine unter sich. Ein letzter, von Missfallen geprägter Blick trifft den korpulenten Mann, der sich wohlfühlt, bevor ich mich wieder in Bewegung setze und mich daran mache, den Strand zu verlassen. Ich entscheide mich dazu, zum Gebäude zurückzukehren. Was ich dort zu tun gedenke, kann ich auch später entscheiden und wenn ich das Ziel erreiche. Ich verlasse diesen Ort, doch nehme die wertvolle Erinnerung mit mir. Ganz zaghaft halte ich sie umfasst, stetig in der Angst, sie könnte zerbrechen. So fragil ist sie… so edel und verletzlich. Ich lasse mir Zeit, setze mich keiner Hast aus und dann sehe ich jenes Gebäude vor mir und bleibe stehen. Erst jetzt können sich meine Grübeleien anderen Gebieten widmen. Viel zu gefangen waren sie in diesem noch nie erlebten Moment, doch nun scheinen sie sich zu befreien und kehren graduell in die Gegenwart zurück. Dorthin, wo sie hingehören. Von den beiden Portiers lösen sich meine Augen, kaum, dass sie auf sie trafen. Ich blickte hinauf, betrachte mir die Fassade des Gebäudes. Die Sonne spiegelt sich in dem sauberen Glas wider. Die Reflexion blendet mich und so beschatte ich meine Augen mit der Hand und blinzle unter dieser Helligkeit. Zufällig richten sie sich anschließend auf einen hochliegenden Balkon. Dort nahm ich eine Bewegung wahr und auch, wenn mich eine weite Entfernung von diesem Balkon trennt, so erkenne ich doch den blonden jungen Mann, der sich dort oben an die gläserne Absperrung lehnt. Die Hand zum Ohr erhoben… er scheint ein Handy in der Hand zu halten und kaum habe ich ihn erspäht, da richtet er sich auf, wendet sich ab und verschwindet. Seine Bewegung verrät eine gewisse Hektik. Er scheint aufgebracht und nachdenklich wende ich den Blick von dem Balkon ab. Es existieren neue Fragen in mir… neue Mysterien machen mir das Leben schwer, doch ich kenne jenen Menschen, der Antworten besitzt. Soeben sah ich ihn noch. Nun entzieht er sich meinen Augen und ich zeige kein Zögern, als ich weitergehe, zielstrebig auf den Eingang des Gebäudes zu. Und wie ernüchternd ist dabei die Erkenntnis, welch eine Abhängigkeit zu diesem Menschen besteht. Er selbst brachte mich in diese Lage durch seine flehenden Worte, all seine Verzweiflung brachte mich zu dem Punkt, auf welchem ich nun verharre, den ich nicht mehr verlassen zu können glaube. Er drückt mich ebenso nieder, wie es mich aufbaut. Ein tiefer, gähnender Zwiespalt verdunkelt mein Gesicht, als ich den Eingang erreiche und abrupt inne halte. Reglos stehen die beiden Portiers vor mir. Starr driften ihre Blicke an mir vorbei und nachdenklich spähe ich von einem zum anderen. Jonnouchis Worte erwachen in mir zum alten Leben. Ja, er tat es und genoss einen Erfolg, indem er mit einem von ihnen sprach. Mit welcher Leichtigkeit er mir davon berichtete… mit was für einer Selbstverständlichkeit und konzentriert arbeite ich daran, meine Mimik zu entspannen. Zu drohend muss ich wirken, zu verbittert… gerade so, als gäbe es keine freundlichen Worte in mir. Meine verzerrten Lippen machen nicht den Eindruck, zu etwas derartigem imstande zu sein und dennoch will ich es versuchen. Wie verfluche ich diese neu entdeckte Neugierde, die mich bewegt. Wie verabscheue ich sie in all ihrer Kraft, in all ihrer Stärke. Sie scheint allmächtig und ich bleibe der Unterworfene. Zielstrebig richten sich meine Augen auf den einen von ihnen. Jener mit den Töchtern, der weitaus gesprächiger zu sein scheint, als er tut. Ich atme tief durch. Wie seltsam muss mein anhaltendes Innehalten wirken. Wie nichts Ganzes und nichts Halbes, doch ich suche bereits nach Worten, die diesem Moment angemessen sind. Doch was soll ich sagen? Wie ein Gespräch beginnen? Es war doch stets meine Aufgabe, wenn ich meinen Geschäftspartnern gegenübersaß, doch der Inhalt spielt die größte Rolle. Es stellt kein Problem für mich dar, über das Business zu sprechen. Nie fehlten mir die Worte, nie die Bereitwilligkeit, an der es nun mangelt. Kurz glaube ich, zu Worten fähig zu sein, doch ebenso rasch verebbt diese Willigkeit und ich bleibe stumm und unentschlossen. Ich habe gegen die Verachtung zu kämpfen, mit der ich diese beiden Menschen früh belegte. Ebenso wenig sehe ich den wahren Grund, ihnen kulant zu begegnen. Was bringt es mir für Erfolge, derartiges zu tun und weshalb treibt mich mein Inneres dennoch? Ich spreize die Finger, balle die Hand zur Faust und atme kontrolliert aus. Schieres Versagen… schiere Unfähigkeit. Und mein Gesicht verfinstert sich zusehends, als ich mich wieder in Bewegung setze, den Weg wähle, der zwischen ihnen hindurchführt und das Gebäude betrete. Und sie bleiben schweigsam, während ich mich ihren Blicken entziehe, während ich vor Begebenheiten flüchte, die jedes Kind besser beherrscht. Mein Gesicht ist finster genug, um den Mann von der Rezeption abzuschrecken. Regelrecht spüre ich, wie er den Mund öffnet und ihn ebenso rasch wieder schließt. Fast flüchtend verlieren sich seine Augen von ihrer zielstrebigen Suche und so erreiche ich den Fahrstuhl ungestört und betätige jenen Knopf. Ich will zu diesem Balkon, ich will zu Jonnouchi und wirklich… ich finde mein Ziel problemlos. Ich biege um eine Ecke und schon sehe ich jenen Balkon vor mir und der aufgebrachte Verhalten des jungen Mannes. Verkrampft hält er das Handy am Ohr, reibt sich das Gesicht und kehrt mir kopfschüttelnd den Rücken. Wie muss ihn dieses Telefonat aufwühlen… wie schwer muss es ihm fallen und ich verliere mich in keinem Zögern. Ich gehe weiter. Ein scheinbar privates Gespräch hält mich nicht von meiner Planung ab und ich höre ihn zischen, als ich die gläserne Tür öffne und zu ihm hinaustrete. „Oudrey!“, faucht er und beginnt einen nervösen Spaziergang. „Listen to me!“ Ein Stöhnen zeugt davon, dass man seiner Bitte nicht nachkommt. Erneut schüttelt er den Kopf, während ich die Tür hinter mir schließe und um mich blicke. Vereinzelte Liegen laden dazu ein, sich niederzulassen und doch wähle ich einen der weitaus weniger bequemen Stühle. Beinahe meine ich die Stimme seines Vaters zu vernehmen. Von der Leitung scheint sie direkt bis zu mir zu dringen… erhebt sich aufgebracht und laut. Er scheint sich einiges anhören zu müssen und auch, wenn ich über recht wenig Geduld verfüge, ich lehne mich zurück und strecke die Beine von mir. Nur flüchtig blickte Jonnouchi in meine Richtung, bevor er die Lippen aufeinander presst und sich erneut abwendet. Er fährt sich aufgebracht durch das blonde Haar, senkt den Kopf und bettet die Hand im Nacken. Sein folgendes Nicken zeugt von einer verzweifelten Unterjochung. Er scheint nicht gegen seinen Vater anzukommen und wieder beginnt er sich zu bewegen. Sein Weg führt ihn wenige Schritte zur Seite, führt ihn zurück zum Geländer, auf welches er sich schnaufend stemmt. „Don’t bother me with that! Mark my words and stop saying something in a roundabout way! I’m old enough to bear the brunt!“ Er stemmt die Hand in die Hüfte, zischend atmet er ein und doch bleibt ihm letztendlich nur jenes Schweigen, das man von ihm gewöhnt ist, wenn er seinem Vater gegenübersteht. Ich falte die Hände auf dem Bauch, spähe an ihm vorbei und betrachte mir die Wolken, die friedlich über uns hinweg ziehen. So atme ich tief durch. „What did you say?! Oudrey, what the hell…!“, stöhnt er wieder. Nicht das Wort ‚Dad‘ in den Mund zu nehmen, ist eine Begebenheit, mit der auch ich mich verbunden fühle. Ich treffe hier auf eine Kluft, die ich nur zu gut kenne. Ich könnte es genauso gut sein, der darum bittet, Gehör geschenkt zu bekommen. Nur wäre dies lange her. „I will not bear your egoistic plans. You have to…“ Erneut wird er unterbrochen und stößt ein lautes Ächzen aus. Sein Gesicht ist zu einer Grimasse verzogen, als er sich um einen Schritt vom Geländer entfernt und es vergehen nur wenige Momente, bis sich seine Stimme umso lauter und aufgebrachter erhebt. Er schreit. „Don't interrupt m…!“ Es handelt sich um ein Gespräch, das wenig Sinn enthält und schweigend verfolge ich, wie er nach wenigen Augenblicken weit mit dem Handy ausholt und es über die Absperrung schleudert. Er wirft es hinab in den Wald und stemmt sich keuchend auf das Geländer. Erneut schüttelt sich sein Kopf, er sinkt tiefer und lange verharrt er so, bis er sich aufrichtet, tief durchatmet und sich das Haar zurückstreift. Er ringt augenscheinlich um Fassung und ich betrachte mir meine Fingernägel und gönne ihm noch wenige Momente, um wieder zu sich zu finden. „Fertig?“, frage ich dann süffisant und lege größten Wert auf meine Fassade. Ihm gegenüber Schwäche zu zeigen, ist ein Ding, das ich allmählich Leid bin. Ich kenne seine erschreckende Fähigkeit, meine Fassade zu umgehen, doch kampflos werde ich nimmer kapitulieren. Versuche sind es durchaus wert und so falte ich die Hände auf dem Bauch und mustere ihn mit indolenter Überheblichkeit. Ich tue es, obgleich ich mir der Tatsache bewusst bin, mich mit der folgenden Frage zu demütigen. Ich werde ihm einen weiteren Teil meiner korrupten Seele offen vor die Füße legen, doch diesen Schmerz werde ich ertragen, denn ich handle zur Gunst eines anderen Menschen. Des einzigen Menschen, an dem mir wirklich etwas liegt. Ich bin mir nicht sicher, ob Jonnouchi mir die nötigen Antworten geben wird… ob er es will, ob er es kann, doch ich lege es auf diesen einen Versuch an und wende den Blick ab, während er sich mit der Hand über den Mund fährt. Noch immer ringt er mit der inneren Aufregung, stemmt die andere Hand in die Hüfte und wendet sich der gläsernen Absperrung zu. Noch schenkt er mir keine Beachtung und ich nutze die Gelegenheit und hole meine Zigaretten hervor. Eine ziehe ich hervor, werfe die Schachtel auf den kleinen Tisch und suche nach dem Feuerzeug. Stille herrscht zwischen uns. Schweigen. Eine Ruhe, in der mein Feuerzeug laut klickt. Ich ziehe den Rauch in meine Lunge, lehne mich zurück und ich spüre, dass mir sein Schweigen missfällt. Er hat zu ahnen, dass mich mein Weg nur zu ihm führt, wenn ich etwas auf dem Herzen habe. So hat er aufmerksam und mir eine Hilfe zu sein, ohne, dass ich eine Aufforderung auszusprechen habe. Mehr verlange ich nicht, doch noch immer kehrt er mir den Rücken und stemmt sich auf diese Absperrung. Er scheint wenig gesprächig. Das Telefonat muss große Auswirkungen annehmen, es muss ihn getroffen haben, doch ich bin nicht der Meinung, diese Problematik zu meiner zu machen. „Hey“, erhebe ich bald darauf die Stimme und bewege die Zigarette nahe den Lippen. Ich erwarte eine Reaktion. Und wirklich. Er dreht sich, wendet das Gesicht zu mir und schickt mir einen Blick, der an Verachtung grenzt. Nichts, das mich erreicht, nichts, das mich trifft. Vielmehr noch wende ich die Augen ab, entgehe dem Frust, der sich gegen mich richtet. „Ich habe eine Frage.“ Er bot es mir an und nun handle ich lediglich in dem Rahmen, den er mir vorgab. Ich besitze das Recht dazu und mache mir nichts aus seinem Betragen. Ich vernehme ein leises Stöhnen, Kopfschüttelnd wendet er sich wieder der Tiefe zu und reibt sich die Stirn. „Selbstverständlich, Mr. Kaiba“, höre ich ihn dann leise murren. „Was ist schon mein Leben, wenn es um das Ihre geht?“ Ich verschließe meine Ohren vor seinem Hohn, vor seinem giftigen Sarkasmus. Die Frustration, die er erfuhr, hat nichts mit mir zu tun und so gebe ich mich unbeteiligt. Spricht er von einem Tausch? Habe auch ich zu geben, bevor ich nehmen kann? Aus den Augenwinkeln finden meine Augen zu ihm zurück. Verstohlen und scharf mustere ich ihn, mustere seinen Rücken, da er ihn mir noch immer entgegenstreckt. Ich höre ihn stöhnen. Seine Gedanken scheinen zurückzuhängen, er ist nicht im Hier und Jetzt und ich beginne zu grübeln. Im Grunde sehe ich keine Möglichkeit, ihm eine Hilfe zu sein. Ich sehe es nicht einmal darauf ab, Interesse zu heucheln, gar Anteilnahme. All das liegt mir fern. Mir fehlt ebenso die Lust, mich mit seinen Problematiken auseinanderzusetzen, doch erwarte dennoch, dass er es bei den meinen tut. Es entspricht nur dem Angebot, das er mich erteilte. Das Angebot, dessen Akzeptanz ich mit viel Schmerz erkaufte. Plötzlich beginnt er sich zu bewegen. Er richtet sich auf, wendet sich mir zu und als sich seine Augen auf meine Zigaretten richten, reiche ich ihm die Schachtel. Er nimmt sie entgegen und kurz darauf rauchen wir gemeinsam. Er scheint es dringend nötig zu haben, mit Drogen sein Gemüt zu beruhigen und so raucht er in tiefen, großen Zügen. Er hustet nicht. Es kann nicht seine erste Zigarette sein und durchaus abwesend starre ich auf das saubere Glas der Absperrung. Mein Denken driftet zurück zu Mokuba, driftet zurück zu seinen Worten und sogleich entspannt sich mein Gesicht. Jonnouchi lässt sich auf dem Nebenstuhl nieder und streckt die Beine von sich. Rauch dringt aus seiner Nase, während er sich meiner absenten Betrachtung anschließt. Er kreuzt die Beine, lehnt sich zurück und kurz darauf höre ich ihn zum erneuten Mal stöhnen. „Was hast du auf dem Herzen?“ Kapitulation. Er unterwirft sich meiner Problematik. Gerade so, als wüsste er, dass ich ihm keine Hilfe sein kann und es ebenso wenig will. Sogleich werde ich wach, sehe ihn an und flüchte ebenso rasch vor seinem Blick. Wo soll ich beginnen? Wo aufhören? Ich schweige und er raucht gemächlich und drückt den Zigarettenstummel in den edlen Aschenbecher. Wie kann ich die Frage formulieren, ohne Hilflosigkeit zum Ausdruck zu bringen? Wie den Rest meiner Ehre schützen? Wie meinen Stolz? Das Nachdenken fällt mir schwer, doch dann erhebt sich meine Stimme, als würde sie durch Geisterhand geführt. „Kann man Liebe erlernen?“, flüstere ich leise und sogleich blickt er mich an. Ist er überrascht? Unwissend der Antwort gegenüber? Doch wen soll ich sonst fragen? An wen mich richten? Er ist der einzige, mit dem ich einen Pakt schloss. Der einzige, mit dem mich etwas verbindet und wenn es auch nur die Not ist. „Mm-mm.“ Und er schüttelt den Kopf. Ein Stich erfasst mein Herz. Ein reger Schmerz, den ich sofort hinunterschlucke. Ich bin verloren, geht es mir durch den Kopf. Und nicht nur ich. Auch Mokuba reiße ich mit in mein Verderben, ohne, dass er die geringste Schuld daran trägt. Werde ich ihn niemals lieben können? Mein Herz wird mir schwer. Schmerzhafte Schläge treffen die einzige Stelle, die imstande, Pein zu empfinden, doch kurz darauf spüre ich Jonnouchis Blick. „Liebe kann man nicht erlernen“, fährt er leise fort. „Denn Liebe steckt in jedem von uns. Wir müssen sie nur finden.“ Eine Datei, geht es mir durch den Kopf. Eine winzige Datei, in der die Liebe abgespeichert ist. Sie habe ich zu entdecken? Innerhalb von tausend anderen? Ich senke die Lider, atme tief durch, doch ich sehe ihn: Den Hoffnungsschimmer. Sie steckt also in mir? „Liebe ist wie eine hohe Kunst“, höre ich Jonnouchi leise sagen. „Man verlernt sie, sollte man sie nicht regelmäßig praktizieren, sollte man sie nicht regelmäßig nutzen.“ „Meine Liebe ist verschollen“, antworte ich nachdenklich. Materialismus… Eigennutz… Narzissmus… All diese Dinge vergruben die zarte Liebe unter sich und wie bete ich, dass sie nicht zu Bruch ging unter jenem schweren Gewicht. So zerbrechlich wie sie ist, so fragil. „Unterschätze die Liebe nicht“, meint Jonnouchi dazu. „Sie ist vielleicht zerbrechlich, doch das ist der Mensch auch. Und wir wissen es alle, wie stark der Mensch dennoch sein kann, unter seiner sterblichen Hülle.“ „Wie zeigt sich die Liebe denn?“, möchte ich wissen und Jonnouchi juckt sich an der Wange, grübelt. „Wahre Liebe“, hebt er an, „zeigt sich, ohne, dass man nach ihr befiehlt. Sie stellt sich keinen Aufforderungen, sondern lenkt unser Handeln ganz von allein. Du wirst niemanden mit ehrlicher, wahrer Zuneigung umarmen, wenn du es dir selbst verordnest. Wirst niemandem über die Wange streicheln, weil es deine Pflicht ist. Tust du es dennoch, so sind es nichtige, belanglose und kalte Berührungen, deren Leere der andere durchaus zu spüren in der Lage ist.“ Wieder lehnt er sich zurück und ich höre ihm aufmerksam zu, starre auf meine Hände und auf die Zigarette, deren Hitze allmählich den Filter verschmort. Nichtige… Belanglose… Kalte… Ist es das, worunter Mokuba leidet? Ist es das, was dein zartes Gemüt deutlich spürt? Sah er die Lüge hinter den Taten, die ich als aufrichtig und ehrlich empfand? Wie schwer das Leben doch ist…! Verzweiflung greift nach mir. Ich bin mir nicht sicher, ob ich diese hohe Kunst jemals beherrschen werde. Wird sie mir zuteil? Werde ich Mokuba jemals umarmen, jemals streicheln, weil ich ihn aus tiefstem Herzen liebe? Jonnouchi scheint es zu spüren, wahrzunehmen. Wie ich mich selbst gräme. Er sieht mein Leid, meine Zerrissenheit und mustert mich lange, ohne, dass ich seine Aufmerksamkeit erwidere. Ich möchte ihn nicht ansehen, will nicht, dass er diese Schwäche in meinen Augen liest, so offensichtlich wie sie ist. „Du solltest dich selbst mit mehr Feingefühl behandeln“, höre ich ihn dann sagen. Er wendet sich mir zu, stemmt die Ellbogen auf die Knie. „Für mich bestehst du aus groben Klötzen, die keine Feinheiten zulassen. Deine Bewegungen sind zu zielstrebig, zu durchdacht, deine Berührungen zu überlegt, als dass sie zärtlich sein könnten. Versuche diese groben Klötze zu splitten. Teile sie auf in mehrere kleinere Teile und erkenne, was zwischen ihnen liegt. Unauffällig und verborgen in den innersten Tiefen deines Wesens, deines Bewusstseins.“ „Wie schaffe ich es?“, möchte ich wissen und Jonnouchi überlegt erneut. Dieses Problem scheint nur mich zu betreffen. Er selbst hat es wohl perfektioniert. Er lebte und er liebte. In Domino. Liebte seine Freunde, liebte früher auch seinen Bruder auf eine Art und Weise, die mir fern ist. Liebte seine Mutter… Einen Menschen, den ich niemals hatte. Ich benötigte wohl jene groben Klötze, um neben Gousaburo zu bestehen, um neben ihm und seinem granitfesten Wesen existieren zu können. Wie wäre ich zerbrochen, hätte ich aus fragilen, kleinen Teilen bestanden. Ich habe mich angepasst, ohne Mokuba zu berücksichtigen. Die Not spricht aus diesem Handeln, die gesamte Dramatik der Vergangenheit, die eine andere hätte sein sollen. Dinge kamen, wie sie nun einmal kamen. Ich hatte mich anzupassen, mir eine Zukunft aufzubauen und wie schwer war dieses Schaffen, wie oberflächlich und grob. Mokuba ging unter. Ich überlebte und zerrte seine leere Hülle durch meine Existenz. Wo blieb seine? Ich presse die Lippen aufeinander. Es erscheint so schwierig, so unerreichbar, wie ich es nicht gewöhnt bin. Stets setzte ich mir hohe Ziele. Nicht hoch und kompliziert genug konnten sie sein und dennoch erreichte ich sie und sonnte mich in dem Licht, das sie auf mich warfen. Wo ist diese Zielstrebigkeit? Wo die Entschlossenheit, auch dieses Ziel zu erreichen? Ich fühle mich machtlos. „Ich war am Strand“, hebe ich leise an, „im Wasser.“ Jonnouchi schweigt und ich atme tief durch. „Mokuba fragte mich, ob ich es bereits spürte… ob ich in diesen Genuss kam und ich ließ mein nur auf zweckmäßige Angelegenheiten gerichtetes Denken zurück und stieg in dieses Wasser und fühlte die Frische, dieses Leben. Es schien wie eine parallele Existenz, die mit einem Mal in meine hineinreicht.“ „Wie fühlte es sich an?“, möchte Jonnouchi wissen und ich suche nach Worten. Darf ich es betiteln? Geht es nicht zu Bruch, wenn ich es in den Mund nehme? Wenn ich es einteile in Wortarten und Beschreibungen? „Wie die Erde“, sage ich irgendwann und nicke in mich hinein. „Fremd und doch erfrischend.“ „Deine Augen richten sich auf neue Dinge, lassen Altes zurück und stufen es in Nichtigkeiten und Werte ein. Du hast Platz zu schaffen für diese neuen Gefühle, also streife Unzweckmäßiges von dir und betrete die neuen Gebiete, ohne voreingenommen zu sein.“ Noch immer bin ich aufmerksam, so voller Neugierde. „Abstreifen“, murmle ich leise und Jonnouchi nickt. „Was ist Perfektionismus, wenn man ihn mit der Macht der Natur vergleicht? Selbst die Natur ist fehlerhaft, doch gerade dadurch so wundervoll. Wir würden sie nicht lieben, bestünde sie aus akkuraten Formen und zurechtgeschnittenen Grenzen.“ Bestehe auch ich aus jenen akkuraten Formen? Aus zurechtgeschnittenen Grenzen? „Du hast einen Anfang gemacht“, sagte Jonnouchi da. „Etwas, das ich dir nicht zutraute.“ Ich traute es mir selbst auch nicht zu und dennoch tat ich es. Es zeigt doch, dass ich bereit bin, Grenzen zu überschreiten. Auch bereit dazu, Neues zu erfahren und zu suchen, was mir fehlt. Kann mich diese Bereitschaft nicht auch zur verschollenen Liebe führen, die tief in mir schlummert und nur darauf wartet, entdeckt und genutzt zu werden? „Versuche auf Dinge zu achten, die für dich noch nie von Bedeutung waren. Finde ihre Feinheiten und sei auch offen für andere Menschen. Behandle sie so, wie du behandelt werden willst und stelle dich über niemanden, sollte es auch ein Bettler sein, der vor dir steht. Die Liebe zu finden, wäre ein zu großer Schritt für dich, so lerne und praktiziere erst einmal Akzeptanz. Das ist Anfang genug.“ ~*tbc*~ Kapitel 12: ~Mit offenen Augen~ ------------------------------- Ich akzeptiere seine Worte, ich verstehe sie und ich entscheide mich dazu, ihnen Taten folgen zu lassen. So greife ich nach meinen Zigaretten und erhebe mich. Mein Zweck auf diesem Balkon ist erfüllt und ich erreiche bereits die gläserne Tür, als mich dennoch etwas mahnt und mich innehalten lässt. Die Hand auf der Klinke, wende ich mich um, blicke zu Jonnouchi, der sich gedankenverloren den Himmel betrachtet, dabei so absent wirkt, so entrückt. Ich möchte gehen… fühle mich mit einem Mal zeitlich unter Druck gesetzt. Der Ratschlag, den ich von ihm erhielt, motiviert mich zu unbekannten Taten und doch fühlte ich jenen Gram, würde ich nun durch diese Tür verschwinden. Ihn zurücklassen. Ihn und seine Einsamkeit. Ich harre aus. Meine Lippen suchen nach Worten, meine Mimik nach dem passenden Ausdruck und dann dreht Jonnouchi das Gesicht zu mir und sieht mich an. Erwartungsvoll… auf eine Art und Weise, als hätte er kein Zögern von mir erwartet. Er sieht den Grund meines Stockens nicht und ich räuspere mich. Grüble. Sinniere. Wer, frage ich mich, nimmt bei ihm die Rolle ein, die er selbst mir zuteil werden lässt? Wer erteilt ihm Ratschläge, wer schenkt ihm Hilfe? Ist es nicht ein Geben und Nehmen. Und nahm ich nicht bereits genug? Ein seltsames Denken, geht es mir durch den Kopf. Ein seltsames Handeln. So fremd… beinahe unwirklich und doch fühlt es sich an, als wäre es das Richtige. Noch immer spüre ich diesen Blick auf mir… diese matten, erschöpften Augen. Selbst seine Haltung zeugt von nichts anderem und ich atme tief ein, atme tief aus und erhebe die Stimme. „Kann ich…“ Sie versagt. Als würde sich meine Lunge weigern, Luft für solche Worte zu verschwenden… als richteten sich gar meine Stimmbänder gegen jenes Vorhaben. Jonnouchi hebt die Brauen. Erstaunen ist in seinen Zügen zu lesen und angespannt senke ich den Blick und ringe mit mir. Ist es denn so schwer? Ich presse die Lippen aufeinander, nervös regt sich meine Hand an jener Klinke und es verlangt mir so furchtbar viel ab. „Kann ich dir… irgendwie…“ Und er lächelt. Es ist eine müde Gestik, nur eine Flüchtige, doch sehe ich es genau. Es scheint Freude zu sein, doch ebenso rasch verblasst dieses Lächeln und in der alten absenten Nachdenklichkeit starrt er auf den Himmel zurück… und schüttelt den Kopf. Leicht und milde, bevor er sich durch das Haar fährt. „Danke“, erreicht mich sein Flüstern, „… für den Versuch, doch mein Problem ist keines von der Art, die durch fremden Rat gelöst werden.“ So soll ich also gehen… Ihn zurücklassen und tatenlos bleiben. Ich senke die Lider, schürze die Lippen und letzten Endes tue ich es. Selbstverständlich… auch diese Worte kratzen an meinem ohnehin wankenden Stolz. Besser würde ich mich fühlen, könnte ich auch ihm eine Hilfe sein. Es wäre keine Frage der Sympathie… lediglich ein Streben nach Genugtuung… ein Weg, dessen Ziel Schuldlosigkeit darstellt, denn schuldig bin ich ihm gegenüber. Und ich bin es längst. Ich öffne die Tür und gehe. Ich tue die ersten Schritte und bin sogleich nachdenklich. Es geschieht oft. Bislang schon des Öfteren, dass Jonnouchi und seine Worte etwas in mir zurückließen. Wenn es auch nur eine undeutliche Spur ist… ich bin imstande, ihr zu folgen und verspüre ebenso die Bereitwilligkeit, mich nach fremdem Rat zu richten. Bizarr. Dieses Denken besaß ich noch nie. Ich vermute, der Strand war es, der diese Wandlung in mir schuf. Jonnouchi tat es mit dem Gras, Mokuba mit einer einzigen Frage und ich richtete mich danach und empfand Fassungslosigkeit. Man könnte es gar mit einer Errungenschaft vergleichen. Ich trete hinaus… aus meiner schützenden Ummantelung. Ich öffne die Augen und sehe die Welt und soviel mehr in ihr, als bisher. Farben… Impressionen… Sinnesreize… Und ich gestehe es mir ein. Dass es wohl viel gibt, das es wert ist, erkundet zu werden. Viel, das nur auf mich und mein Interesse zu warten scheint. So kehre ich zum Fahrstuhl zurück, setzte mir bereits ein neues Ziel, von dem ich mir nun viel erhoffe. Ich werde einen Fuß in Mokubas Welt setzen. Werde tun, was er tat, werde seine kindliche Neugierde teilen. Und ich erreiche mein Ziel und rufe die Kabine. Wie spät es wohl ist? Ich verlor die Zeit aus den Augen, doch hier und jetzt scheint sie die immense Rolle verloren zu haben, die sie für mich stets einnahm. Mir ist nicht danach, nach einer Uhr zu suchen. Zeit setzt unter Druck, sage ich mir, während ich dort stehe und warte. Würde ich nach der Zeit sehen, würde sogleich jenes alte Denken von mir Besitz ergreifen. Fragen würde ich mich, was ich in all der Zeit getan habe und unweigerlich würde ich annehmen, mit all meinem Tun und Lassen Verschwendung betrieben zu haben. Vielleicht eine Stunde, vielleicht auch zwei von ihnen, die mir nun fehlen. Ich verschließe bewusst die Augen davor und blicke auf, als das leise Läuten das Eintreffen der Kabine verrät. Geräuschlos öffnen sich die Türen und wie erstarrt meine Miene, als ich jenen jungen Mann vor mir sehe. Er, der vor kurzem meine Suite säuberte. Er, dem ich mit Hohn und Bosheit begegnete. Sofort flüchtet er vor meinem Blick, starrt zu Boden und schweigt. Und ich ahne es, als ich mich langsam in Bewegung setze, als ich zu ihm in die Kabine trete, eine Taste betätige und neben ihm stehen bleibe. Ich ahne seine Wut, seinen Zorn… die Wunde, die ich riss. All jenes schlummert wohl in ihm, wird lediglich zurückgehalten von der Tatsache, dass ich ein bezahlender Kunde sowie eine bedeutende Persönlichkeit bin. Die Rollen sind so deutlich verteilt und ein eisiges Schweigen verweilt zwischen uns, als sich die Türen schließen. Ich schenke dem jungen Mann keine Aufmerksamkeit, doch erinnere mich sehr wohl an das Wasser, das ich vor ihm verschüttete. Ich bürdete ihm mehr und mehr Arbeit auf. Weshalb, frage ich mich sofort und erinnere mich. Die Tabletten… er ermahnte mich… Nein… Meine Miene verzieht sich unter den Grübeleien, als ich langsam aufblicke und auf die geschlossenen Türen starre. Die Kabine setzt sich in Bewegung. Mahnung ist wohl eine sehr grobe Beschreibung. Wie immer ging sie mir leicht von der Hand und harrte aus in meinem Denken, doch nun erinnere ich mich an Jonnouchi und an die letzten Worte, die er sprach. Akzeptanz… Ja, Akzeptanz… Ich presse die Lippen aufeinander. Flüchtig blicke ich zu ihm und wende mich sofort wieder ab. Noch immer starrt er zu Boden und schweigt. Deutlich ist es, wie unangenehm ihm meine Anwesenheit ist. Schweigen tut er lediglich aus Furcht um seinen Arbeitsplatz und wie könnte ich frohlocken unter diesem Sieg, den ich nicht zu erringen hatte. Er serviert ihn mir auf dem goldenen Tablett… er unterliegt… unterliegt mir und nur mir. Doch die Situation missfällt mir, ohne, dass ich es genauer betiteln kann. Ich sinniere… tue es immer intensiver und nach wenigen Momenten erhellt sich meine Miene. Wie frustriert bin ich gewesen. Schockiert durch die Geschehnisse der Nacht und so erschuf ich die passende Reaktion, doch setze ich Mokuba in die Rolle dieses jungen Menschen und lege ich ihm seine Worte in den Mund… wie würde ich es auffassen? Würde ich Mokuba verfluchen, da er auf meinen Tablettenkonsum achtet? Da er sich Sorgen macht? Meine Brauen verziehen sich, flüchtig reibe ich mir den Bauch. Würde ich es nicht viel eher zu schätzen wissen? Wäre ich ihm nicht dankbar für seine Aufmerksamkeit? Ein Stich erfasst mein Herz und sogleich stelle ich mir selbst die Frage, ob es nicht an mir ist, sich zu entschuldigen. Ist es das…? Wäre es angebracht? Nein…! Ich presse die Lippen aufeinander, schüttle still bei mir den Kopf. Ein zu großer Schritt. Ich würde stolpern, würde ich ihn wagen. Würde mir Schmerz zufügen durch den Sturz. Es ist mir ein Unmögliches, mich bei diesem Menschen zu entschuldigen. Er verdiente es, schleudert mir mein altes Denken entrüstet entgegen! Ich selbst möchte kaum fassen, auf welche Gedanken mein Sinnieren mich bringt. Seto Kaiba entschuldigt sich? Unterwirft sich? Unmöglich. Nicht in dieser Lage. Ich habe vor, Veränderungen zu schaffen. Nicht etwa, mich zu demütigen. Und die Kabine hält. Es ist nicht meine Etage. Es muss die seine sein und wirklich, als die Türen sich öffnen, setzt er sich in Bewegung. Er scheint es eilig zu haben und es wundert mich nicht. Die Atmosphäre war eisig, war durchfroren und quälend und nachdenklich blicke ich ihm nach. Er tritt aus der Kabine, ich hole Luft und wie unüberlegt spreche ich ihn plötzlich an. „Hey.“ Ich höre meine Stimme, als würde sie durch Geisterhand geführt. Hochmütig spreche ich ihn an und wenn auch lustlos, er hält inne und dreht sich zu mir um. Zu mir, der nun selbst erschrickt und eilige Gedanken hegt. Nicht entschuldigen, geht es mir durch den Kopf, doch gleichsam erinnere ich mich an die Akzeptanz, die ich zu üben habe. Doch wie in dieser Lage? Wie offenbart man Akzeptanz? Welche Worte kleiden sie? Und gleichsam erschrecke ich vor mir selbst, da ich in diesen Momenten einen durchaus unsicheren Eindruck bieten muss. Doch er wartet noch immer. Wenn auch keine sonderliche Freude aus seinem Gesicht spricht, er hört auf meinen Befehl und als sich die Türen des Fahrstuhles zu schließen beginnen, erwache ich zum Leben. Ich tue einen Schritt, blockiere ihre Bewegungen und schaue erneut auf. Unsere Blicke treffen sich, erwartungsvoll hebt er die Brauen und wie schwer schlucke ich, bevor ich auszusprechen wage, was ich mir in meiner Hektik bereitgelegt habe. „Meine Suite“, sage ich und versuche einen Teil meiner Aufmerksamkeit zu entbehren. Ich habe sie auf den Ausdruck meiner Stimme zu richten. Nicht süffisant, nicht abwertend… doch wie spricht man anders? „Ist sie sauber?“, möchte ich wissen und stöhne innerlich auf. In meiner Stimme schwingt solch eine Überheblichkeit mit, dass uns beiden eigentlich hätte übel werden müssen. Ich habe versagt und dennoch warte ich seine Antwort ab. Er nickt lediglich, entflieht meinen Augen ein weiteres Mal und schweigt. Keine Erwiderung? Weshalb macht er es mir so schwer? Ich schlucke erneut, wie giftige Galle steigt das nächste Wort in mir empor und durchaus gedrungen würge ich es hervor. „… Danke.“ Ein kalter Schauer überkommt mich. Mein Innerstes ächzt entsetzt auf. Zu lange machte ich keinen Gebrauch mehr von diesem Wort und nun richte ich es an einen Menschen, der Selbstverständliches tat? Der lediglich die angebrachten Aufgaben erfüllte? Mir wird schlecht, wie ein bitterer Nachgeschmack fühlt es sich an und flüchtig hebe ich die Hand zu meinem Gesicht und reibe mir die Stirn. Ich habe mit mir zu ringen, doch dann blicke ich auf und erkenne dieses Erstaunen in den Zügen des jungen Mannes. Er erstarrte, ist überrascht und wie irritiert nehme ich das zurückhaltende Lächeln wahr, das sich auf seinen Lippen entfaltet. Ist es Freude? Erleichterung? Stolz? Ich selbst bin konsterniert und überrascht, als ich diese Geste sehe, sie spüre. Sogleich scheint es wärmer um mich herum zu werden. Anspannung perlt von den steifen Gliedern und dann nickt er mir zu. „Gern geschehen.“ Und so wendet er sich ab und geht und ich stehe noch immer dort und blicke ihm nach. Was geschieht? Ich selbst nehme es deutlich wahr. Ein seltsames Gefühl, das ich noch nicht zu definieren weiß. Wie kann ich es nennen? Mir verlangt es danach, es zu betiteln, während ich stockend zurücktrete und sich die Türen vor mir schließen. Ja, wie kann man es nennen? Ich verschränke die Arme vor dem Bauch, senke den Kopf und ich bin abwesend, als sich die Kabine wieder in Bewegung setzt. Was ist es nur? Meine Brauen verziehen sich durch all die Konzentration. Ich presse die Lippen aufeinander und während meines gesamten Weges lässt mich dieses Sinnieren nicht los. Als ich die richtige Etage erreiche, als ich in den Flur hinaustrete und meines Weges gehe. Ich rege die Schultern, achte nur zurückhaltend darauf, dass ich mein Ziel auch weiterhin verfolge und betrete nach wenigen Momenten den Speisesaal. Die hohe Anwesenheit der anderen Kurteilnehmer macht mich darauf aufmerksam, dass es um die Mittagszeit sein muss. Mehrere von ihnen sitzen vor deftigen Mahlen, vor gefüllten Tellern und lassen es sich schmecken. Die eitlen, alten Damen… auch ein Geschäftsmann. Nur flüchtig beachte ich ihn, als ich eintrete. Selbst hier in der Kur trägt er seinen Anzug, wirkt so furchtbar zermürbt und erschöpft, dass ich vermute, ihn hier zum ersten Mal zu sehen. Wahrscheinlich ist er noch nicht lange hier, doch meine alten Grübeleien ergreifen sofort wieder von mir Besitz, als ich stehenbleibe. Ich reibe mir das Kinn, runzle die Stirn und als ein Bediensteter zu mir tritt, blicke ich auf. Meine Mimik entspannt sich. Meine Lippen lösen sich voneinander und erstaunt erblicke ich den Mann, der vor mir steht und auf etwas zu warten scheint. „Es…“, hauche ich, „… macht mich leichter.“ Voller Unglauben kommen diese Worte über meine Lippen und während der junge Mann irritiert die Stirn in Falten legt, nicke ich in mich hinein. Es fühlte sich gut an. Ein verfilztes Knäuel scheint sich gelöst zu haben. „Sir?“, erhebt der Bedienstete da die Stimme. „Was darf es sein?“ Noch immer starre ich zu Boden. Ich kann es kaum glauben, kaum fassen… Was für eine hohe Kunst die Freundlichkeit ist. Und ich machte den ersten Schritt. Ich übte mich darin und feierte einen Erfolg, der nicht mit Alten zu vergleichen ist. „Etwas Deftiges?“ Endlich begreife ich, wo ich stehe. Ich reiße mich los von meinen neuen Eindrücken und erwidere den erwartungsvollen Blick des Mannes nachdenklich. Soll ich es wirklich wagen? Einen weiteren Schritt gehen? Wird es nicht zu viel? Grenzte es nicht an Überforderung? Ich sammle Mut, denn ihn habe ich wahrlich nötig, um zu sagen, was ich auf dem Herzen habe. Solch eine Überwindung, doch ein weiteres Mal bezwinge ich mich und mein Zweifeln. „Ich will… Eis.“ „Eis, Sir?“ Der Bedienstete wirkt irritiert, doch ich nicke. „Eis“, sage ich erneut. Es mag nicht die richtige Tageszeit sein, doch es ist mein Tag der neuen Erfahrungen. Ich selbst habe ihn dazu ernannt und werde diesem Ziel auch treu bleiben. „Selbstverständlich, Sir. Haben Sie direkte Vorstellungen oder soll ich Ihnen die Karte bringen?“ „Bringen Sie sie mir“, antworte ich sofort, denn ich kenne mich nicht aus. Woher soll ich es denn wissen? Welche Sorten es gibt? Dieses Gebiet ist mir völlig neu und dann sitze ich an diesem Tisch und blättere. Es gibt Eisbecher, die sind riesig und reich verziert. Manche gar in einem solchen Ausmaß, dass man die Position des Eises nur noch vermuten kann. Ich suche nach einer Schale, die sich überblicken lässt. Die Geschmäcker sind mir gleich. Ich kam mit dergleichen noch nie in Verbindung. So erschuf sich auch kein Favorit unter den Sorten und Geschmacksrichtungen. Ich habe ihn wohl erst zu erschaffen und dann entscheide ich mich und warte gespannt. Leise kratzt das Geschirr um mich herum. Die anderen lassen es sich schmecken, beugen sich hungrig über ihre Teller und Schalen. Ich stemme den Ellbogen auf den Tisch, das Kinn in die Handfläche und nachdenklich beobachte ich sie. Manche erwecken den Anschein, die Kur dringend nötig zu haben. Bei anderen scheint die Wirkung bereits einzusetzen und einer wirkt, als hätte er sie nicht mehr nötig. Ich wende den Blick ab, zupfe an der säuberlichen Tischdecke. Ich denke an Mokuba und ein unauffälliges Lächeln ziert meine Lippen, als ich mir vorstelle, ihm von all jenen Dingen zu berichten. Dass ich höflich war. Dass ich Eis aß… in das Meer watete. Wird er stolz sein? Auf mich und meine Entschlossenheit? Ich verdecke die Lippen mit der Hand. Mein Lächeln ist mir peinlich. Viel zu sehr bin ich es gewohnt, einen jeden in der Umgebung mit einer finsteren, ernsten Mimik abzuschrecken. Ich drohe weich zu wirken, wenn ich dieses Lächeln gewähren lasse, doch es lässt sich nicht unterdrücken und so schirme ich meinen Mund auch weiterhin vor den Augen der anderen ab. Dieser neue Stolz, den ich selbst über mein Handeln empfinde, unterscheidet sich so immens von all dem Stolz, den ich bislang in mir verspürte. Von einem Stolz, der keiner Hinterfragung standhielte, fühle ich nun einen Unerschütterlichen. Ich überschritt Grenzen und von Reue ist bislang nichts zu spüren. Nichts dergleichen nehme ich wahr, nur ein allgemeines Wohlbefinden, das Wärme in mir verströmt. Die Welt wirkt mit einem Mal so anders, wenn man sich fremden Dingen öffnet und dann wird mir mein Eisbecher serviert. Er ist nicht sonderlich groß. Ich möchte mich und meinen doch eher zurückhaltenden Hunger nicht überschätzen und wie nachdenklich starre ich auf die wenigen Kugeln, die unter anderem von zierlichem Konfekt verziert werden. Ich bleibe sitzen, betrachte mir meine Bestellung und rücke nach wenigen Momenten an dem gläsernen Becher. Ich drehe ihn, beschaue ihn mir von allen Seiten, berühre zurückhaltend die zusammengerollte Waffel, die in einer Kugel steckt und lehne mich erst einmal zurück. Ich kann es kaum glauben, dass dieser Eisbecher wirklich vor mir steht, doch er verschwindet nicht, so oft ich auch blinzle. Es ist die Wirklichkeit, sage ich mir und schüttle im selben Moment den Kopf. Unfassbar… Illusorisch… Erneut strecke ich die Hand aus, erneut berühre ich das Glas und rücke mich auf dem Stuhl zurecht. Will ich es wirklich essen? Ich schlucke. Was geschieht, wenn es nicht meinem Geschmack entspricht? Würde der eine Erfolg von diesem Misserfolg verdunkelt? Würde das eine das andere aufheben? Ich befürchte Enttäuschung, doch sage mir im nächsten Moment, dass man es versucht haben muss, um enttäuscht zu werden. Ich blicke zu dem grazilen, dünnen Löffel und hebe die Hand. Ich strecke sie nach ihm aus, rücke etwas näher an die Tischkante heran und dann nehme ich diesen Löffel und wende ihn in der Hand. Stets aß ich nur das, was mein Überleben sicherstellte. Ich bezwang den Hunger, richtete mich nie nach Appetit. So entwickelte ich auch keine Leibspeisen. Nun empfinde ich es als ernüchternd, dass ich nicht einmal dergleichen besitze. Dabei scheint es doch so normal, das eine gerne zu essen und das andere nicht. Ich räuspere mich. Unsicher driftet mein Blick zu den anderen, doch dann schöpfe ich Mut und kratze zurückhaltend über die eine Kugel. Sie offenbart eine zurückhaltende Färbung. Ich weiß nicht, um welchen Geschmack es sich handelt, doch bin bereit, es herauszufinden. Ich starre auf das Geringe, das mein Löffel aufgenommen hat, hebe ihn zum Mund und wie zögerlich öffne ich die Lippen und nehme den Löffel in mir auf. Sogleich halte ich in etwaigen Bewegungen inne, kreise mit den Augen und schmecke zögerlich und zurückhaltend. Sofort zerfließt das Eis auf meiner Zunge, verströmt sein Aroma und breitet sich in meinem Mund aus. Mango…? Nein. Ich schmecke konzentrierter, verenge sinnierend die Augen. Maracuja? Ebenso wenig. Ich kann mich nicht daran erinnern, Maracuja je gegessen zu haben. Obst stand bei mir niemals auf dem Plan und umso interessanter wird all dies. Ich könnte es mir leicht machen, könnte die Karte aufschlagen, die noch immer auf meinem Tisch liegt, doch eine seltsame, verspielte Art untersagt mir dies. Ich benötige mehr von diesem Eis, um meine Entscheidung zu treffen und diesmal kratze ich mit weitaus weniger Zurückhaltung. Ebenso rasch versenke ich den Löffel auch in meinem Mund und atme tief durch. Die Umwelt scheint zu verschwimmen. Keine Gedanken drehen sich mehr um den Fakt, wie ich wohl wirke. Ganz und gar konzentriert bin ich, als ich erneut schmecke und mich nahe der Kapitulation gegen die Stuhllehne sinken lasse. Mokuba fiele es wohl leicht, mir dieses Mysterium zu beantworten, zu erklären. Vermutlich bräuchte er nur einen Versuch und vermutlich würde er lächeln bei dieser Köstlichkeit, wie er es bezeichnet. Ich schließe flüchtig die Augen und stelle mir sein Gesicht vor. Seine roten Wangen, die dunklen Augen, an deren Ergründung ich so oft scheiterte. Seine vollen, jungenhaften Lippen. Sie beherrschen das Lächeln soviel besser, als ich. Wahrscheinlich stellte es für diesen jungen Menschen niemals eine Herausforderung dar. Ich schüttle den Kopf, kehre zurück in die Realität und sitze doch nur weiterhin unschlüssig und ratlos vor diesem Eisbecher, bis ich mir sage, dass es doch im Grunde gleichgültig ist. Weshalb sollte ich diese Gewissheit anstreben, wenn ich auch versuchen kann, es einfach zu genießen? Bislang achtete ich noch nicht darauf, ob es meinen Geschmack trifft… falls dieser bestimmte Geschmack überhaupt existiert. Vielleicht verkümmerte er auch unter all dem lieblosen Essen, das ich zu mir nahm. Meine Geschmacksknospen wurden doch niemals einer Herausforderung unterzogen. Ich greife nach der Waffel, ziehe sie ins Freie und lutsche das Eis, das an ihr haften blieb. Es erfrischt, fällt mir auf. Eine angenehme Kälte geht auf meine Zunge über und erlischt rasch. Ein flüchtiger Genuss und zurückhaltend beginne ich die Waffel zu essen. Sie schmeckt nach nichts Besonderem und so wende ich mich wieder dem Eis zu. Wo ist das Geheimnis, frage ich mich dabei. Es muss ein Grund existieren, dass Eis sich einer solchen Beliebtheit erfreut. Auch Jonnouchi aß es doch des Öfteren. Während der Zeit, die er in Domino verbrachte. Die wenigen, glücklichen Jahre, die er dort erlebte. Wie oft hörte ich ihn und seine Freunde davon sprechen. Wie oft verabredeten sie sich in Lokalitäten und Eiscafés, die ich höchstens flüchtig von außen gesehen und herzlich wenig beachtet hatte. Ich beginne zu essen, ohne Zurückhaltung zu zeigen. Vermutlich stelle ich mich auch nicht mehr so an, wie ich es zu Beginn tat und ich bin nicht abgeneigt. Wenn es auch ungewohnt für meine Zunge ist, letzten Endes scheint sie doch zu frohlocken und ich selbst bin verwundert, als ich diesen leeren Eisbecher vor mir sehe. Die Zeit ist vergangen und ich benötigte viel von ihr, doch ich aß wirklich auf und atme tief durch, als ich den Löffel ablege. Man konnte es durchaus genießen… ebenso stelle ich mir vor, etwas Derartiges noch einmal zu mir zu nehmen. Es soll nicht das letzte Mal gewesen sein. Ein wohliges Gefühl beherrscht mich, als ich den Speisesaal verlasse. Ich halte die Hände in den langen Ärmeln des Yukata verborgen, bleibe stehen und blicke um mich. Ein Bediensteter hastet an mir vorbei, flüchtig blicke ich ihm nach. Es gibt keine Reue in mir… kein Zweifel… keine Befürchtung, Zeit vergeudet zu haben. Nein, vielmehr habe ich das angenehme Gefühl, meine Zeit zum ersten Mall sinnreich zu nutzen. Um neue Gebiete zu betreten und daran zu arbeiten, mich in ihnen auszukennen. Ich atme tief durch und wie leicht fällt es mir. Alles in mir fühlt sich so unbeschwert an, so ätherisch, dass ein Hauch genügte, um es davonzutragen. Meine Schultern… keine Verspannungen wohnen ihnen inne. Mein gesamter Körper ist so gelockert, wie noch nie zuvor und ohne mir ein Ziel zu setzen, beginne ich mich wieder zu bewegen. Ich betrete einen nahen Gang, betrachte mir das helle, große Fenster, das mich an seinem Ende erwartet. Ich habe es darauf abgesehen, möchte hinausschauen und möglicherweise meine Gedanken abdriften lassen, doch plötzlich bleibe ich stehen. Bizarre Geräusche dringen an meine Ohren und unweigerlich wende ich den Kopf und betrachte mir diese Tür, die sich neben mir erhebt. Und noch immer erhebt es sich: Dieses Schnaufen, ebenso dumpfe Laute, die ich nicht einzuordnen weiß. Ich runzle die Stirn, blicke zu dem kleinen Schild und lese die Aufschrift. Es ist der Sportraum, der sich hier befindet und unter einem stummen Kopfschütteln möchte ich mich wieder in Bewegung setzen, diesen Ort verlassen und zu meinem Fenster gelangen. Doch es misslingt. Meine Beine halten in inne etwaiger Bewegung, wollen mich nicht tragen, mich nicht fortbringen und ich befürchte eine seltsame Neugierde, die Besitz von mir ergriff. Fortwährend erheben sich diese Geräusche und dann trete ich an diese Tür heran, umfasse die Klinke und dränge sie hinab. Ein skurriler Geruch dringt mir entgegen. Es riecht nach Leder, nach Schweiß und ich rümpfe die Nase, als ich durch den Türrahmen trete und vor den dunkelgrünen Matten stehenbleibe. Es ist eine gewaltige Halle, die sich vor mir auftut. Gut getarnt befindet sie sich inmitten des Gebäudes. Hohe, durch Gitter geschützte Fenster lassen genügend Tageslicht hinein. Es sind gleißende Sonnenstrahlen, die sich auf den Matten bündeln, doch gehört ihnen meine Aufmerksamkeit nicht. Nur flüchtig betrachte ich mir das wirre Spiel der winzigsten Luftpartikel, bevor ich zu einem jungen Herrn spähe. Er ist der einzige, der diese Halle nutzt und erneut legt sich meine Stirn in Falten, als ich ihn bei seiner kuriosen Aktivität beobachte. Er lässt sich nicht durch mich stören, viel mehr schlägt er fortwährend auf einen Boxsack ein. Gekleidet in sportliche Garderobe hält er sich zwischen den einzelnen Schlägen permanent in Bewegung. Er dribbelt, sinkt auf den Ballen auf und ab, bewegt sich um den Boxsack herum und schlägt immer wieder mit bandagierten Händen auf das raue Leder ein. Was tut er, frage ich mich sofort, schlage die langen Ärmel des Yukata zurück und verschränke die Arme vor dem Bauch. Es wirkt so unlogisch auf mich… wie annähernde Narretei. Und auch weiterhin bietet er mir diesen kuriosen Anblick, unter dem ich beinahe schmunzeln muss vor Hohn, Belustigung und Unverständnis. Sein Keuchen dringt bis zu mir, kurz bleibt er stehen, regt die Schultern im festen Stoff des Shirts und ringt nach Atem. Vermutlich hat er mich noch nicht bemerkt, geht es mir durch den Kopf. Er verhält sich zu ungestört und dann atmet er tief ein und setzt sich wieder in Bewegung. Dumpf und geräuschvoll treffen seine Fäuste auf das feste Material. Rasselnd bewegt sich der Boxsack an der Kette, beginnt zu schwingen und bewegt den Mann dazu, wie eine lauernde Raubkatze um ihn herumzutreten. Er weicht ihm durchaus gekonnt aus, versetzt ihm weitere Schläge und allmählich verblasst mein amüsiertes Schmunzeln. Ich hebe die Hand zum Kinn, reibe es mir und bette sie letztendlich in meinem Nacken. Meine Augen driften zur Seite, driften zur Bank, die sich vor der Wand entlang streckt und unweigerlich sehe ich ihn dort liegen: Den dunklen Mantel, den die amerikanischen Gäste tragen… der auch Jonnouchi kleidet. Tief atme ich ein, stoße die Luft unter einem lauten Seufzen aus und schüttle den Kopf. Weiteren Mysterien begegne ich hier, denn ich finde keine Erklärung für das, was er da tut. Es scheint rohe Gewalt, die sich gegen nichts und wieder nichts richtet und nachdenklich nehme ich den Mann erneut in Augenschein. Und ich halte mich nicht zurück. Dieser Wissensdurst lässt sich nicht aufhalten und so erheb ich kurz darauf die Stimme. „What are you doing there!“, verlange ich zu wissen und sofort hält der Mann inne. Der Boxsack schwingt zu ihm, entspannt stoppt er ihn mit den Händen und blickt zu mir. Noch immer rast sein Atem. Rasch heben und senken sich seine Schultern unter dem trockenen Keuchen und er scheint flüchtig zu grübeln. Er blickt zu dem Boxsack zurück, löst sich von ihm und scheint sich zu einer Pause zu entschließen. So reibt er sich die Hände, während er sich mir um zwei Schritte nähert. „I reduce the level of frustration“, antwortet er mir dann ächzend und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Ich lege den Kopf schief, blicke zum Boxsack zurück. „And what's your point in doing that?“, möchte ich weiter wissen und er scheint recht gesprächig. So erhalte ich sogleich meine Antwort. „Look a this“, fordert er mich auf und deutet auf die Stelle, die seine Fäuste trafen. „May I introduce Mr. Griffen to you?“ „Who?“ Ich verstehe es nicht und da grinst er. „My chief“, verrät er mir. „A real douche bag. It's no end of trouble with him. He’s the reason of my participate in that cure.“ Ich verziehe die Miene, löse die Augen von jenem Mann und blicke zu Boden. Er könnte mein Angestellter sein, fällt mir dabei auf. „Nothing feel’s better than bashing him“, fährt der Mann da fort. „And that's the end of it.“ „That will get you nowhere“, widerspreche ich und da lacht er leise. „Try it“, fordert er mich auf und deutet erneut auf den Boxsack. Ich atme tief durch, folge seinem Wink mit den Augen und entscheide mich recht schnell. Rohe Gewalt liegt mir nicht. Wer zu Gewalt greift, ist mit der Kommunikation am Ende und so schüttle ich nur den Kopf. „I don't have to stand for that.“ „You might as well“, antwortet er, doch da wende ich mich bereits ab. Länger hier zu bleiben, würde jeglichen Sinn entbehren und so trete ich zur Tür zurück. „There is no one, I hate greatly.“ „Pure luck“, höre ich ihn noch sagen, bevor ich die Tür öffne und aus der Sporthalle verschwinde. Ich kehre in meine Suite zurück, ziehe die Karte durch den Türschlitz und öffne die Tür. Ich möchte nicht lange hierbleiben. Ich bin lediglich auf der Durchreise und so betrete ich zielstrebig mein Schlafzimmer. Noch immer liegt mein Koffer dort in der dafüf vorgesehenen Ecke und ich trete an ihn heran und gehe in die Knie. Ein endlos erscheinender Sog aus Ideen und Einfällen scheint mich zu beherrschen, mich mit sich zu reißen, ohne, dass ich der Wärme dieses Einflusses untergehe. Vielmehr ist es angenehm, sich treiben zu lassen und meine Mimik verharrt völlig entspannt, als ich den Koffer öffne und zwischen den wenigen, übrig gebliebenen Dingen nach etwas Bestimmten suche. Es ist ein Schreibblock, auf den ich es abgesehen habe. Auch einen teuren, verzierten Kuli nehme ich an mich. Ich befürchte, dass die Zeit in dieser Kur rasch an mir vorbeidriften wird. Ebenso, dass es ein einmaliger Genuss werden wird und so nehme ich all jenes an mich, das ich für versteckte Arbeiten vorgesehen hatte. Ich wollte Ideen notieren, meine Technik selbst an diesem Ort perfektionieren, doch nun wird dieser Block für etwas anderes genutzt. Kurz kaure ich noch vor dem Kühlschrank meiner Bar, bevor ich die Suite wieder verlasse. Ich suche und taste kurz zwischen all den Spirituosen, nehme letztendlich eine Büchse Cola an mich und lasse sie in einer Falte meines Yukata verschwinden. Und mit diesen drei Utensilien begebe ich mich dann auf die Suche nach einem abgeschiedenen Ort. Ich finde ihn verborgen hinter dem Haus. Es ist ein gewaltiger, gepflegter Garten, der mich dort erwartet. Ich bleibe auf dem schmalen, sauberen Schotterweg stehen und blicke um mich. Beinahe ist dieser Ort zu gepflegt. Das Gras ist so kurz… nicht so wie jenes, durch welches Jonnouchi mit blanken Füßen stieg. Diese Natur wurde vom Menschen unterworfen. Selbst die Bäume und die Gebüsche… ich erblicke keinen Ast, der sich hervortut, kein Blatt, das nicht an der richtigen Stelle sitzt. Es sind seltsame Eindrücke, denn sie erinnern mich an mein eigenes Grundstück. Ist es nicht genauso? Wurde die Natur meines Bodens nicht auch von meinen vier Gärtnern totgepflegt? Sie handelten auf meinen Befehl, obgleich ich meiner Natur nie viel Aufmerksamkeit schenkte. All das waren wohl Dinge, die ganz selbstverständlich zu meiner Perfektion gehörten. Sie mussten stimmen, so wie alles stimmte. Ich wende den Kopf, blicke zu einem kleinen See. Er verbirgt sich hinter Schilfgras, ein kleiner Springbrunnen plätschert in der Mitte, während sich glänzend und elegant die Koi’s im kühlen Nass bewegen. Ein leises Rauschen dringt an meine Ohren, als ein zärtlicher Wind aufkommt. Er bewegt den Stoff meines Yukata und ich lasse mich von ihm treiben und setze mich in Bewegung. Es sind beqeume, gepolsterte Bänke, an denen sich vorbeiziehe. Ich bin unentschlossen, ich bin nachdenklich und dann bleibe ich vor einer Wiese stehen und starre auf die kurzen, gemähten Halme. Das Haar fällt in meine Stirn, als ich den Kopf senke und die Lippen aufeinanderpresse. Ein Kitzeln sucht meine Stirn heim und flüchtig jucke ich mich, streiche mit der Hand über mein ebenmäßiges Gesicht und blicke auf. Wieder tue ich es. Wieder lege ich Wert darauf, nicht beobachtet zu werden, denn ich plante Neues. Abschreckend ist die gläserne Fassade des Gebäudes. Ich befürchte, dass mich viele sehen werden bei meinem Vorhaben, doch dann denke ich nach und sage mir, dass es nicht ungewöhnlich erscheint. Meine Augen sind wohl die einzigen, die eine Peinlichkeit sehen und so schlüpfe ich aus den Wajaris und setze die nackten Füße auf das feine Gestein des Weges. Selbst dieses ist warm durch die Sonneneinstrahlung. Es ist angenehm und wie erfrischend fühlt es sich an, als ich barfuß auf die Wiese trete und sogleich stehen bleibe. Die Halme kitzeln meine Haut, eine kühle Nässe zieht mir entgegen und ich vermute, dass die Wiese tagtäglich besprüht wird. Möglicherweise ist es gar verboten, sie zu betreten, doch aus solchen Geboten mache ich mir nichts. Ich gehe einen weiteren Schritt, rege die Zehen zwischen den fragilen Halmen und schlendere so weit, bis ich den Schatten eines Baumes erreiche. Er scheint wie für mich geschaffen und ohne zu zögern schlage ich den Yukata zurück und lasse mich nieder. Hier ist der Boden trocken, fällt mir auf, als ich mich setze und die Beine von mir strecke. Ein leises Seufzen entrinnt mir, während ich die Büchse hervorhole. Sie findet ihren Platz neben mir im Gras und dann bette ich den Block auf meinem Schoß und zücke den Kuli. ~*tbc*~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)