Nichts als Reichtum von abgemeldet (~*~) ================================================================================ Kapitel 5: ~Begegnungen~ ------------------------ ~*Kapitel 5 – Begegnungen*~ Ich bleibe nicht lange sitzen, bald erhebe ich mich und kehre in das Schlafzimmer zurück. Dort öffne ich einen der Schränke und erspähe einen schwarzen Yukata, einen Baumwollkimono. Ich greife nach ihm und betrachte ihn mir. Die Kleidung ist das einzige, das vorgeschrieben ist. Bequem soll es sein und das ist es sicher auch. Ich bin einverstanden, schlüpfe in Shorts und streife den Yukata über. Der Stoff ist angenehm auf der Haut, weich und wärmend. Ich schnüre ihn eng um meinen Körper, binde auch den langen Gürtel und werde daraufhin auf Wajaris aufmerksam, die in einem der Fächer ihren Platz fanden. Es sind zwei Paare. Je für den Aufenthalt innerhalb und außerhalb des Gebäudes geeignet. Ich greife nach den Ersteren und schlüpfe hinein. Je nach Nationalität werden verschiedene Kleider angeboten. Ich bin Japaner, gekleidet im typisch japanischen Stil. Ich kaure mich vor den Koffer, öffne die Vordertasche und greife nach der Zigarettenschachtel. Anschließend verlasse ich den Raum, verlasse die Suite und trete auf den Flur hinaus. Die Tür schließe ich, die Karte lasse ich sinken und dann schaue ich mich um. Ich möchte mich hinsetzen, an einem Ort, an dem ich nicht allein bin. Den Weg zum Fahrstuhl finde ich problemlos und schnell gelange ich so in das Erdgeschoss, in den Empfangssaal. Und dort erlebe ich die erste Unerfreulichkeit des Tages. "Sie sind bereits wach, Herr Kaiba?" Der Mann, der stets hinter der Rezeption steht, wird auf mich aufmerksam. Jenes Lächeln erscheint und ich widme ihm einen warnenden Blick. Ich bin nicht auf ein Gespräch aus, noch weniger auf geheuchelte Freundlichkeit. Nun, ich mache mir nicht erst die Mühe, sehe keinen Grund dazu. Entweder übersieht er meine Abneigung oder er ist im Besitz eines sturen Verlangens, auf sich aufmerksam zu machen. Wortlos setze ich meinen Weg fort, der zur Treppe führt. "Herr Kaiba." Er folgt mir und ich halte gezwungenermaßen inne. Störungen, die bereits am frühen Morgen auftreten, begegne ich mit großem Hass und eben solcher Verachtung. Durch die Umstände bin ich derzeit sehr reizbar. Ich schließe die Augen und der Mann erreicht mich. Nun setzt er eine flehende und behutsame Maske auf, tritt händeringend vor mich. "Sie teilten uns noch nicht mit, wann Sie gedenken, Ihr Frühstück zu sich zu nehmen", meint er. "Bevorzugen Sie tagtäglich eine gewisse Zeit? Möchten Sie sofort frühstücken? Ich lasse es anrichten, wenn Sie es möchten." Der triftige Grund, den er für diese Störung vorzuweisen hat, beschwichtigt mich und ich betrachte ihn mir nachdenklich. Ich grüble, er wartet geduldig und letzten Endes antworte ich: "In einer Stunde." Sofort nickt er. "Ich habe mich um vielerlei Dinge zu kümmern. Ich nahm mir vor, Sie aufzusuchen, sobald Sie aufgestanden sind. Doch da ich Sie nun hier antreffe... hätten Sie etwas dagegen, mir nun Auskunft über Ihre besonderen Wünsche zu geben?" Ohne auf eine Antwort zu warten, zieht er einen Notizblock und einen Füller hervor. Ich starre ihn an und er spricht sofort weiter. "Sind Sie Diabetiker? Vegetarier? Veganer? Allergiker? Haben Sie eine Abneigung gegen verschiedene Lebensmittel? Befinden Sie sich in einer Diät? Benötigen Sie besondere Speisen?" Er lässt den Block sinken und blickt mich an. "Frühstücken Sie überhaupt?" Ich hole Atem, schließe kurz die Augen und schüttle den Kopf. "Es genügt, wenn man es essen kann", murmle ich dann, bevor ich an ihm vorbeiziehe und die Treppe besteige. "Herr Kaiba", höre ich ihn rufen. "Ich bitte Sie, so geht das doch nicht." Ich gehe weiter und als ich die Plattform erreiche, verstummen seine Rufe. Ich achte nicht auf ihn, es ist mir gleichgültig, ob er nun dort unten kauert und in seiner Verzweiflung versinkt. Ich erlebe die erste Kur meines Lebens und werde dafür Sorge tragen, dass ich während dieser vierzehn Tage unter keinerlei Störungen und geistigen Anstrengungen zu leiden habe. Und dieser Mann... von ihm werde ich mich wohl fernhalten. Ich lasse mich an einem der kleinen runden Tische nieder, nahe dem Geländer, so dass ich hinunterschauen kann. Ich habe gern den Überblick; Vorgänge in meinem Umfeld sollen nicht unbemerkt bleiben. Ich lehne mich zurück, lege die Zigarettenschachtel und die Code-Karte auf dem Tisch ab und schließe kurz die Augen. Und es vergeht nur eine kurze Zeit, bis ich die nächste Störung erfahre. Ein Luftzug erfasst mich und ein Mann bleibt neben mir stehen. "Guten Morgen, Herr Kaiba. Möchten Sie etwas trinken?" Meine Hand tastet nach der Zigarettenschachtel und noch während ich sie zu mir ziehe, nicke ich. "Einen Kaffee. Schwarz." Er nickt. "Welche Marke?" "Egal", erwidere ich und er geht. Über diese anstrengende Genauigkeit schüttle ich den Kopf und hebe eine Zigarette zum Mund. Ich hoffe inständig, dass es nicht so bleibt. Angenehm wäre es, das man jeden Wunsch von meinen Augen abliest, ohne dass ich etwas zu sagen brauche. Ich entzünde den Tabak, nehme einen langen Zug und strecke die Beine von mir. Anschließend schaue ich in den Saal hinunter. Jener Mann eilt umher, er telefoniert, tippt an dem Computer und führt eine temperamentvolle Diskussion mit der beistehenden jungen Frau. Und während ich mir diese abscheuliche Hektik betrachte, bereue ich meinen Entschluss, an keinen abgelegenen und ruhigen Ort zu verschwinden. Ich höre die Stimmen der Angestellten an der Rezeption, sehe ihre hastigen Handgesten und bald ertrage ich den Anblick nicht mehr und starre auf den Tisch. Der einzige Luxus, den ich bisher zu schätzen weiß, ist die Schnelligkeit, mit der man mir meinen Kaffee serviert und der bittere Geschmack des Getränks. Ich genieße jeden Schluck und für kurze Zeit verspüre ich eine leise Zufriedenheit. Auch der Lärm an der Rezeption verebbt bald und außer den schallenden Schritten herrscht eine angenehme Stille. Ich leere die Tasse schnell und der Kellner erscheint daraufhin, als hätte ich ihn gerufen. Beinahe wundert mich diese Tatsache und ich verlange nach einem weiteren Kaffee. Dieser trifft ebenso schnell ein und ohne dass sich es bemerke, zieht eine halbe Stunde an mir vorbei. Der aromatische Duft des Kaffees zieht mich dabei so in den Bann, dass ich auch nicht auf meine versteifte und unbequeme Haltung achte. Ich lasse die zweite Zigarette zum Aschenbecher sinken und werde auf einen Mann aufmerksam, der in ein schwarzes Gewand gekleidet ist, das einem Morgenrock ähnelt. In Pantoffeln betritt er den Saal und steuert auf die gegenüberliegende Seite zu. Ich tippe die Asche in den Aschenbecher, schabe mit den Zähnen über meine Unterlippe und wende mich ab. Das, was ich soeben gesehen habe, scheint der Stil der Amerikaner zu sein, die an dieser Kur teilnehmen. Er ist unverkennbar, Amerikaner sind mir sympathischer als alle anderen Menschen verschiedener Nationalitäten. Wieder nehme ich einen Zug, lege den Hinterkopf in den Nacken und blicke zum Kronleuchter auf. Durch meine Untätigkeit bin ich nicht nervös, auch Langeweile plagt mich nicht. Nur die Verspanntheit macht darauf aufmerksam, dass die Kur von Nöten ist. Und während ich mir den kunstvollen Kronleuchter betrachte, denke ich an meine Firma. Ich denke an mein Büro, an die Angestellten, mit denen mich nichts verbindet, außer der Tatsache, dass sie unter mir arbeiten. Ich denke an alles und obgleich es mir selbst vor den Vorstellungen graut, vermisse ich all dies nach dieser kurzen Zeit. Mein Aufenthalt hier ist zu außergewöhnlich, als dass ich es nicht tun könnte. Wieder schaue ich nach unten und erspähe fünf Zimmermädchen, die, beladen mit Handtüchern, Bettbezügen und Decken, durch den Saal eilen und in einem der Fahrstühle verschwinden. Der unsympathische Mann wendet sich einem Telefonat zu, nachdem er die Angestellten mit fahrigen Handbewegungen zur Eile angetrieben hat. Es liegt etwas Undefinierbares in der Luft, ich spüre eine äußergewöhnliche Eile und Hektik. Jener Mann lässt seinem Temperament freien Lauf, beugt sich hastig über den Tresen und schaut zur Tür. Dann schüttelt er den Kopf, fährt sich über die Stirn und beginnt lauter zu sprechen, noch lauter, bis es erneut störend auf mich wirkt. Unfreiwillig erfahre ich, dass es sich um eine Unregelmäßigkeit des Planes handelt. Etwas Unvorhergesehenes, wie er meint. Ich runzle die Stirn, drücke die Zigarette aus und verschränke die Arme vor der Brust. Ich bin kurz davor, aufzustehen und diesen Ort zu verlassen. Die Atmosphäre missfällt mir. Ich betrachte mir die Tasse, greife nach einem langen Zögern nach ihr und nehme die letzten wohltuenden Schlücke. Während ich die Tasse sinken lasse, nehme ich erneut Bewegungen in dem Saal wahr und schließe unzufrieden die Augen. Ich rümpfe die Nase, reibe mir die Stirn und stelle die Tasse auf den Tisch zurück. An diesem Ort bin ich weit von Entspannung entfernt! Als sich die Eingangstür öffnet, ertönt ein leises Geräusch, ich schenke dem keine Beachtung und lasse den Kopf sinken. Kurz darauf nehme ich Schritte wahr. Es sind viele Schritte, sie hallen wider, beinahe wirkt es wie das Getrabe mehrerer Pferde. Meine Pupillen schweifen zur Seite und ich erblicke eine große Schar von Männern, die sich auf die Rezeption zubewegt. Ein wahres Getümmel aus schwarzen Anzügen und Krawatten, zwanzig sind es wohl an der Zahl. Langsam richte ich mich auf, vertieft in eine Musterung, die durch Neugierde und Verwunderung entstand. Wer sind diese Menschen, frage ich mich. Sie wirken wie eine noble Gesellschaft aus erfahrenen und strengen Geschäftsmännern. Ihre Mienen erkenne ich nicht, doch dies ist nicht nötig. Ich werde auf einen Mann aufmerksam, der die Gruppe anführt, stolz aufgerichtet und in großen Schritten. Er ist von starker stämmiger Statur, gekleidet in einen Smoking, hebt er sich von den anderen ab. Um seinen Hals ist locker ein weißer Seidenschal geschlungen. Ihm schenke ich einen besonderen Teil meiner Aufmerksamkeit und ein zuckender Schmerz durchfährt meinen Leib, als ich mir einer Tatsache bewusst werde. Dieser Mann. Seine Gangart, das arrogante Auftreten und die stolze Haltung. Er erinnert mich an den Mann, der einen bedeutsamen Teil an meinem Leben beitrug. Er erinnert mich an den Mann, der sich mein Stiefvater schimpfte. Er erinnert mich an... Gousaboru. Ich starre ihn an. Er ist sein genaues Ebenbild, ich muss ihn nicht ausführlicher mustern, um mir dessen bewusst zu werden. Die Männer folgen ihm untertänig und halten inne, als er vor der Rezeption stehen bleibt. Er wird anders begrüßt. Der Mann, der die Schuld an den öfter vorkommenden Störungen trägt, verbeugt sich mehrmals, sein automatisches Lächeln schnellte hervor, sobald die Gruppe den Fuß in diesen Saal setzte. Er muss eine hohe Persönlichkeit sein, dessen bin ich mir sicher. Durch ein arrogantes Kichern macht die Frau auf sich aufmerksam, die sich um seinen Arm klammert. In hohem Maß übertrieben erscheint ihre Liebe für den stolzen Mann. Ebenso übertrieben ihr Auftreten. Einjede ihrer Bewegungen strahlt eine solche Eitelkeit aus, dass ich sie binnen weniger Sekunden hasse. Protziger Schmuck verstärkt dieses Gefühl. Goldketten um Hals und Handgelenken, schwere Ohrringe und mehrere Ringe an den Fingern, die sich so vernarrt in den Stoff des Anzuges klammern. Oh, ich kenne diese Frauen. Sie sind die, die man die "neuen Frauen" nennt. Sie lieben die Männer und noch mehr lieben sie deren Geld. Für diese Lebewesen habe ich nichts als Verachtung übrig. Ein ernsthaftes Gespräch beginnt zwischen dem Mann der Rezeption und dem hohen Gast. Ich verstehe ihre Worte nicht, denn sie sprechen nicht außergewöhnlich laut. Ich verfolge das Szenario weiterhin. Sind diese Gäste der Grund für die "Unregelmäßigkeit des Planes"? Nach kurzer Zeit wendet sich der Mann im Smoking um, ich spüre deutlich, wie sein scharfer Blick durch die Reihen der stehenden Männer schweift. "Josem!" Seine gewaltige Stimme erhebt sich gewaltig, hallt durch den Saal und lässt selbst mich erschaudern. Ich hegte stets Respekt vor Gousaboru, die Stimme war das einzige, das mich übertraf. Ich blinzle, atme tief durch und erspähe einen jungen Mann, der sich nun aus der Menge löst. Was die Kleidung anbelangt, hebt auch er sich von den Männern ab. Er trägt eine graue Kaschmirhose und ein schwarzes Seidenhemd. Auf seiner Nase sitzt eine Sonnenbrille, die Hände hält er in den Hosentaschen verborgen. Er wirkt gelangweilt und lustlos, so wie er nach vorn geht und in sicherer Entfernung zu jener Frau stehen bleibt. Der Mann wendet sich bereits wieder seinem Gesprächspartner zu. Nachdenklich drehe ich mich im Stuhl. Meine Hand nähert sich der Tasse, ich rücke an ihr, drehe sie. Und ich blicke auf, als ein Page an mir vorbeieilt, die Treppe hinab läuft und nachdem er einen respektvollen Bogen um die Männer nahm, durch den Eingang verschwindet. Meine Augen folgten ihm, bis er die Treppe betrat, nun richten sie sich wieder auf die Tasse. Unten wird weiterhin diskutiert und ich grüble, wohin ich mich zurückziehe, nachdem ich gefrühstückt habe. Kurz darauf werde ich auf den Pagen aufmerksam, der mit einem großen Koffer zurückkehrt und in der Nähe der Gruppe wartet. Die Frau kichert, der hoch gewachsene Mann spricht und der Jüngere steht dort und rollt mit den Schultern. Dann nickt der Mann hinter der Rezeption und sogleich kehrt Bewegung in die Gruppe zurück. Das augenscheinliche Oberhaupt wendet sich an den jungen Mann, die anderen Anwesenden machen sich gemächlich auf den Rückweg zur Tür. Die Frau betrachtet sich ihre Fingernägel, während ihr Gatte mit dem jungen Mann spricht. Seine Handgesten verraten mir, dass es sich nur um Vater und Sohn handeln kann. Der Sohn nickt ohne zu antworten und gleichzeitig wenden sie sich voneinander ab. In stolzen Schritten folgt der ältere Mann den anderen und verlässt das Gebäude, tänzelnd begleitet die Frau ihn. Der Jüngere jedoch steuert auf den Pagen zu und dieser bückt sich sogleich nach dem Koffer und geht los. Er nähert sich der Treppe, der junge Mann folgt ihm in schlendernden Schritten. Noch immer verbirgt er die Hände in den Hosentaschen, der Kopf ist gesenkt. Er lässt Stufe um Stufe hinter sich, bald wird er direkt an mir vorbeiziehen. Auch diese Art von Mensch ist mir bekannt. Verzogene, arrogante Söhne, denen nichts rechtzumachen ist. Verwöhnt und eingebildet sind sie allesamt, ihre Anwesenheit ist mir unerträglich! Sie zähle ich zu der ersten Kategorie der reichen Menschen. Der Kategorie, die den größten Teil meiner Verachtung besitzt. Eisig und verstohlen sind meine Augen auf ihn gerichtet, doch er blickt nicht auf. Erst als er kurz davor ist, das Ende der Treppe zu erreichen, verlässt eine seiner Hände die Hosentasche. Ein goldener Ring schmückt den Mittelfinger seiner gepflegten Hand. Lässig greift er nach der Mitte des Brillengestells und ebenso flink hebt er die Brille an, zieht sie über die Stirn und schiebt sie in das blonde Haar. Er lässt die Hand sinken, zielstrebig verschwindet sie in der Hosentasche und er blickt auf. Desinteressiert schweifen seine Augen durch die Umgebung... bevor sie sich direkt auf mich richten. Und ich halte den Atem an. Augenblicklich verliert sich all die Wut aus meinem Gesicht und beinahe schon schmerzhaft befällt mich das pure Entsetzen. Ich wage es nicht, mich zu bewegen, mein Mund öffnet sich, ohne dass ich auch nur auf den Gedanken komme, etwas zu sagen. Doch nicht nur ich reagiere perplex, nein, die braunen Augen des jungen Mannes mit den strohblonden Haaren weiten sich. Seine Schritte, mit denen er die Stufen hinter sich lässt, verlangsamen sich, bis er beinahe zum Stehen kommt. Das Entsetzen ist beiderseitig, ein kalter Schauer durchläuft fließend meinen Körper, ich spüre ein unangenehmes Zucken in meiner Halsgegend. Unsere Blicke bleiben aneinander hängen, es scheint, als würde auch die Zeit still stehen. Dieses unerwartete Geschehnis wirft mich aus der Bahn, ich verliere die Kontrolle, all meine Masken zerbröckeln binnen kürzester Zeit. Ich war nicht darauf vorbereitet, nun ist es geschehen und ich erlebe diese Tatsache mit einer solchen Betäubung, dass ich nicht fragen kann: Warum? Wieso? Es geschieht und ich werde nicht damit fertig. Der junge Mann schluckt, nicht ein einziges Blinzeln bringt er zu Stande, als er meinen Blick erwidert. Doch sein Körper scheint schneller darüber hinwegzukommen, als der meine. Er setzt sich wieder in Bewegung, lässt die nächste Stufe hinter sich und erreicht kurz darauf die Letzte. Er zieht an mir vorbei, seine Schritte wirken sicher, während sich in seiner Mimik unbeschreibliche Ungläubigkeit widerspiegelt. Ich sehe ihm nach, unsere Blicke haften aneinander, solange es möglich ist, dann reißt er sich los und indem er mir den Rücken zukehrt und in einem der Gänge verschwindet, zerreißt er gleichermaßen die Atmosphäre, in der keine Uhr tickt, in der kein Puls schlägt. Er zerreißt sie und ich schnappe nach Luft, als tauchte ich aus dem Meer auf. Ich atme schnell, meine Gesichtszüge zucken und ich starre noch immer auf die Ecke, hinter der er soeben verschwunden ist. Ein Trugbild! Es kann nichts anderes als ein Trugbild gewesen sein! Ich rutsche im Stuhl nach vorn, meine Hand findet meine Stirn und reibt sie. Der Schock verankert sich in meinem Körper, frisst sich durch all meine Glieder und nachdem ich die Hand wieder sinken gelassen habe, versteinere ich in meiner Haltung und stoppe meinen Atem. Was tut Katsuya Jonouchi in der nobelsten Kureinrichtung der Welt?! Ich bleibe sitzen und immer wieder erwische ich mich dabei, wie ich den Blick auf jene Ecke richte. Soeben sah ich ihn noch... den strohblonden Schopf. Soeben sah ich ihn noch... Katsuya Jonouchi... und dennoch will ich mir nicht eingestehen, dass wirklich er es war! Es ist mir unbegreiflich, ich kann es mir nicht erklären. Ich starre auf die Ecke und von einer Sekunde auf die andere durchfluten Gedanken und Fragen beinahe schon schmerzhaft und störend meinen Kopf. Es sind zu viele, als dass ich mich einer einzigen zuwenden könnte. Ich bin verwirrt, Katsuya Jonouchi raubte mir lediglich mit seinem Erscheinen die Kontrolle über meinen Körper und die Sinne. Erst nach langer Zeit gelingt es mir, mich loszureißen, mich in die mysteriöse Realität zurückzuquälen. Und ich empfinde nichts als Verstörung. Keine Wut, keine Verwunderung. Ich habe nicht damit gerechnet, ihn je wieder zu sehen. Ich wünschte mir bereits, dass es nicht vorkäme. Ich habe ihn aus meinem Leben gelöscht, so wie ein Dokument aus einer Datei. Er war fort und nun ist er zurückgekehrt. "Herr Kaiba!", vernehme ich plötzlich eine aufgeregte Stimme. Und somit stoße ich auch den Rest der Benommenheit von mir und wende mich zur Seite. Der Mann von der Rezeption... winkend eilt er auf die Treppe zu. Ich sehe ihn nur kurz an und mein Körper handelt aus einem neu erlangten Reflex. Ich greife nach der Zigarettenschachtel, nach der Karte, erhebe mich und gehe, bevor er mich erreicht. Ich kann mich nicht auf ihn einlassen, soeben verstricke ich mich in einen Kampf mit mir selbst. Ich höre ihn noch einmal rufen, bevor ich um eine Ecke biege und in die Kabine eines Fahrstuhles trete, die offen steht, als wisse sie von meiner Flucht, als wolle sie mir Schutz gewähren. Und ebenso schnell schließt sich die Tür. Ich drücke eine Taste, irgendeine, es ist mir gleich. Ich möchte nur weg. Die Kabine setzt sich in Bewegung, ich wende mich zur Seite, zu einem der Spiegel. Ausdruckslos werde ich angestarrt, ausdruckslos betrachte ich mir das blasse Gesicht des jungen Mannes, der reglos dort steht und nicht weiß, was er denken soll. Er hebt die Hand, stockend bewegt sie sich durch den brünetten Schopf und verbleibt auf dem Nacken. Dann öffnet er den Mund, zwinkert und schüttelt stumm den Kopf. Obgleich die Vorkommnisse als Unplanmäßigkeit bezeichnet werden können, verschwende ich keinen Gedanke daran, erneut Fehler begehen zu können. In diesen Sekunden bin ich nicht mehr Seto Kaiba, jegliche Kontrolle verlor sich aus meinem Körper, doch die Verwirrung ist stärker, drückt diese Tatsache nieder, macht mich erst gar nicht auf sie aufmerksam. Die Kabine stoppt, die Türen öffnen sich und ich kehre dem Spiegel den Rücken zu. Ich weiß nicht, wohin ich gehe, welches Ziel ich zu erreichen gedenke, ich setzte nur einen Fuß vor den anderen und gehe einen Flur entlang. Den Blick nagle ich an den Boden, meine Hand hält das leichte Gepäck fest umklammert. Katsuya Jonouchi... ist er mir doch ein Mysterium? Ich glaubte, alles über ihn zu wissen... irrte ich mich? Ich, Seto Kaiba, ließ mich fehlleiten?! Ich bleibe stehen, hebe den Kopf und betrachte mir abwesend das Bild, das ich erblicke. Und es gelingt mir, einen Gedanken festzuhalten, mich inniger mit ihm zu beschäftigen. Ich habe das Recht dazu, Wut zu verspüren, wenn man es bedenkt. Jonouchi ist und war in meinen Augen nicht mehr als ein unbedeutendes Lebewesen, das seine Existenz fristet. Ein Leben, das sich von meinem extrem unterschied. Und unsere Leben wagte ich nie zu vergleichen, die Abgründe zwischen uns sind zu tief. Und wenn ich ihn ein weiteres Mal vor mir sah, wie er auf seinem Stuhl saß und seinem sinnlosen Treiben nachging und wenn ich dann begann, dennoch Gedanken dieser Art zu verfolgen, dann bot sich mir stets dasselbe Bild. Eine Schlucht... Ich, der auf dem höchsten Abhang steht und das warme, gleißende Licht der Sonne genießt und er... in der kalten Dunkelheit der Schlucht. Gelang es ihm, sich aus dieser Schlucht zu erheben? Sich mir zu nähern?! Er hat nicht das Recht dazu, denn er ist unbedeutsam, unfähig und primitiv! Wie könnte ich es ertragen, einen ebenbürtigen Menschen in ihm zu sehen?! Reichtum, Intelligenz und hohes Ansehen nenne ich mein Eigen. Kommt er mir in einer dieser Eigenschaften gleich? Ist es der Reichtum? Dies ist die einzig erkennbare Erklärung für seinen Aufenthalt in diesem Haus. Ist... er reich? Ich verdiente mein Geld, schlägt mir die hassvolle Erkenntnis entgegen! Ich verdiente es mir durch harte Arbeit und die exzellenten Fähigkeiten, die ich besitze! Doch er? Was tat er? Oft erfuhr ich unwillig von seinen Plänen, die er lauthals ausposaunte, obgleich er sich ihrer schämen müsste! Er ging Freizeitbeschäftigungen nach, die an Sinnlosigkeit nicht zu übertreffen waren! Er saß zu Hause, ohne sich zu bewegen, suhlte sich in Faulheit wie ein Esel im Dreck! Nein, er hat es nicht verdient, hier zu sein! Und sollte er auch Reichtümer besitzen und stolz auf sie sein... nie wird er den düstersten Grund der Schlucht verlassen! Nie wird er zu mir aufsteigen und im demselben Licht baden! Das ist jedoch nicht der einzige Gedanke, den ich fasse. Ich drehe mich zur Seite, betrete den nächsten Flur. Würde ich die Lust verspüren, mich mit Katsuya Jonouchi zu befassen, hätte ich es bereits getan. Doch mir fehlt die Zeit, gleichermaßen werde ich mich nicht auf seine Stufe hinabgesellen. Der Hass ist eine der Schranken, die mich zurückhält. Es hat sich nichts geändert. Materialismus verachte ich. Jonouchi mag Geld besitzen, Verstand kann er sich jedoch nicht erkaufen. Mehr als Reichtum bleibt ihm letzten Endes nicht. Arroganz verachte ich. Seine Schritte... nicht die Schritte eines unbegabten Schülers, nein, die Schritte eines verzogenen Erben! So sehe ich sie, nicht anders. Ganz gleich, wer er sein mag - mein Hass ist nicht vergänglich. Infolge dieser Einsichten sehe ich mich nicht dazu gezwungen, ihm in der nächsten Zeit Beachtung zu schenken. Ich werde mich auch heute nicht mit ihm befassen. Kurz war er entschwunden, nun kam er wieder. An meinem Leben ändert sich nichts. Der Bastard war und ist nun wieder gegenwärtig. Meine Grübeleien widme ich nur Dingen, die von großer Wichtigkeit sind und mir Erfolge bringen. Jonouchi ist nichts davon, verschafft mir nichts davon. Meine Gedanken sind mir zu teuer. Ich bin ein geschäftiger, ernsthafter Mann, meine Würde ist mir ein Heiligtum, hinzukommend bin ich hier, um Erholung zu finden. Katsuya Jonouchi besitzt nicht die Fähigkeit, mich an diesem Vorhaben zu hindern. Nein, diese Fähigkeiten besaß er noch nie. Ich schüttle den Kopf, um mich von dem Sinnieren loszureißen und mustere meine Umgebung. Ich stehe in einem großen Vorraum. Viele Türen knüpfen an ihm an, hie und da verstecken sich gemütliche Sitzecken. Auf dem Marmorboden erstreckt sich ein kunstvoller Teppich, ich betrachte ihn mir nur flüchtig, bevor ich auf ein vergoldetes und geschmücktes Schild aufmerksam werde, das über einer Tür prangt, die sich von ihrer Größe von den anderen unterscheidet. Das Ziel, an dem ich angelangt bin, ist der Speisesaal. Ich blicke mich um und gehe auf ihn zu. Ich werde frühstücken. Das soeben Erlebte verlangt nach einer Ablenkung. Ich umfasse die schwere Klinke, drücke sie hinab und öffne die Tür. Ein Saal tut sich vor mir auf, der mich beinahe in Staunen versetzt. Man glaubt nicht, dass ein solcher Saal existiert. Er erstreckt sich weit, acht Kronleuchter tauchen ihn in festlichen Glanz. Runde Tafeln sind unterschiedlich voneinander entfernt, in ihm verteilt. Bedeckt sind sie mit vielerlei Speisen. Pflanzen reihen sich an den Wänden entlang, in der Mitte des Saales plätschert ein marmorner Springbrunnen. Mir bleibt nur kurze Zeit für die Musterung, denn ein Kellner in einer säuberlichen weißen Uniform, tritt an mich heran. "Guten Morgen, Herr Kaiba. Wünschen Sie zu frühstücken?" Ich erwidere seinen Blick nur flüchtig und nicke. "Folgen Sie mir bitte, es ist bereits angerichtet." Er führt mich durch den Saal, vorbei an besetzten oder noch kahlen Tischen, vorbei an Teilnehmern der Kur, die in ihren Roben vor gefüllten Tellern sitzen. Blicke treffen auf mich, haften an, und lösen sich kurz darauf von mir. Das Desinteresse ist beiderseitig. Eitle Damen rücken an vergoldeten Brillen, Diamanten glitzern an ihren knochigen Fingern, hakige Nasen, verzerrte Lippen. Augen, die beweisen, dass von der Realität nichts mehr gespürt wird. Ich halte mich nicht gern unter ihnen auf, ihre Gesellschaft ist mir lästig! Wir erreichen einen gedeckten Tisch, der Kellner zieht mir den Stuhl zurück und tritt zur Seite. Ich lasse mich nieder, ohne auf die Speisen zu achten, rücke an dem Yukata und lehne mich zurück. "Entspricht es Ihren Vorstellungen?", erkundigt sich der Kellner sogleich. Die übertrieben Fragen zur perfekten Verwöhnung sind störend, ich winke ihn fort und er befolgt meinen Befehl schweigend. Ich sobald ich alleine bin und mich wohler fühle, schenke ich mir Kaffee ein und nippe an der Tasse. Erst dann werde ich auf die Speisen aufmerksam. Nun, sie reichen für vier Männer stattlicher Statur, die Tage mit Fasten zubrachten. Zu viel für mich, der sich morgens mit wenigen Schlucken Wasser und einer Zigarette zufrieden gibt. Übertriebener Luxus missfällt mir, denn er ist sinnlos. Und zufrieden wäre ich auch mit weitaus weniger. Ich stelle die Tasse ab, strecke die Hand nach einer Obstschale aus und löse eine Weintraube von dem Stängel. Während ich sie unentschlossen im Mund bewege, werde ich auf einen korpulenten Mann aufmerksam, der an einem Tisch, nicht weit von mir, Platz nahm. Eine Schale köstlichen Bratens hat er zu sich gezogen. Er beugt sich über sie, schmatzt und benutzt die Hände als Besteck. Ich runzle die Stirn. Er ist Italiener und er ist ein Mafiosi, das erkenne ich sofort. Nimmt diese Einrichtung selbst Mörder und Verbrecher auf? Ich wende mich ab, denn es hat mich nicht zu interessieren. Der Kaffee und wenige exotische Früchte sind das einzige, das ich mir in den nächsten Minuten schmecken lasse. Nebenbei lausche ich unfreiwillig dem Schmatzen des Italieners, auch verschnupftes Räuspern der hochnäsigen Damen dringt an meine Ohren. Morgen werde ich in meiner Suite frühstücken. Ein weiteres Mal öffnet sich die große Tür und sogleich kehrt Bewegung in den Saal zurück. Einjeder der Anwesenden blickt auf, um auch diesen neuen Gast mit verzogener Strenge zu mustern. Und auch ich blicke kurz auf. Es ist kein anderer als Jonouchi, der nun eintritt. Ohne zu zögern macht sich der Kellner auf den Weg zu ihm und währenddessen blickt sich der junge Mann um. Er betrachtet sich den Springbrunnen, hebt das Gesicht auch zur Decke, um die Kronleuchter zu bestaunen - er ist in den amerikanischen Stil gekleidet. Das lange schwarze Gewand liegt straff um seinen Leib, die Pantoffeln wärmen seine Füße. Der Kellner erreicht ihn. Ich weiß, dass er seinen alltäglichen Spruch aufsagt. Und noch während sich seine Lippen bewegen, wende ich mich meinem Kaffee zu. Die anderen beobachten den Neuankömmling länger und inniger, ich weiß es. Durch seine Anwesenheit in diesem Saal ändert sich nichts, den Kaffee kann ich noch immer genießen, ebenso die kurzzeitige Stille, die sich auflöst, sobald der Kellner Jonouchi zu dem vorgesehenen Tisch führt. Nicht einmal dem schenke ich Beachtung. Das Schmatzen kehrt zurück, leise Geräusche ertönen und ich strecke die Beine aus und beginne über die heutige Planung zu grübeln. So schütze ich mich vor Grübeleien anderer Art. Weshalb der amerikanische Stil? Nicht von Bedeutung. Ich leere die dritte Tasse, erhebe ich nach einem halbstündigen Aufenthalt und verlasse den Tisch, der beinahe unberührt blieb. In langsamen Schritten durchquere ich den Saal. Ich beeile mich nicht, habe keinerlei Grund dazu. Wieder spüre ich, wie sich Blicke auf mich richten, raffe den Yukata enger und lasse mir von dem Kellner die Tür öffnen, der mir automatisch einen wundervollen und vor allen Dingen erholsamen Tag wünscht. Nun nehme ich mir vor, frische Luft zu tanken, bevor ich eines der Angebote wähle. Und Angebote muss ich wählen, um Ablenkung genießen zu können. Die Trennung von meiner Arbeit schmerzt mir. Die Gänge und Flure des Hauses sind unkompliziert gebaut. Ich finde schnell den Weg zu einer der Treppen und kehre in das Erdgeschoss zurück. Durch eine Tür gelange ich in den Empfangssaal, den ich durchquere, ohne mich von einem Zögern aufhalten zu lassen. Dieses Benehmen hat seinen Grund. "Herr Kaiba!" Der Mann hinter der Rezeption hebt die Arme, als ich kurz davor bin, den rettenden Ausgang zu erreichen. "Herr Kaiba, bitte warten Sie kurz!" Ich verlangsame meine Schritte, bleibe stehen und wende mich ihm langsam zu. Meine Miene verfinstert sich, die Wut erwacht in mir zu neuem Leben. Verbittert sehe ich ihn näher kommen und wieder bleibt er händeringend vor mir stehen. "Ihre Anmeldung erfolgte recht kurzfristig, Herr Kaiba. Der Leitung dieser Kur sind Ihre besonderen Wünsche unbekannt. Sind Sie bitte so freundlich und sagen mir, ob Sie Beschwerden oder Fragen an jemanden richten wollen? Verstehen Sie die Inhalte der einzelnen Angebote? Wissen Sie, dass nicht weit entfernt ein Privatstrand liegt, den Sie jederzeit benutzen dürfen?" Ich hole tiefen Atem, ein verlangendes Schaudern durchfährt meinen Körper, doch letztendlich hebe ich nur die Hand, hebe den Zeigefinger und räuspere mich leise. "Ich bin auf Erholung aus und ganz bestimmt dazu imstande, Fragen oder Beschwerden an jemanden zu richten. Ich richte Fragen an jemanden, niemand richtet sie an mich, haben Sie das verstanden?" Ich lasse die Hand sinken und der Mann öffnet den Mund, um zu antworten, was ich flink verhindere, indem ich fortfahre. "Sie allein tragen die Schuld daran, dass mir bisher keinerlei Erholung zukam! Und ich rate Ihnen, mich kein weiteres mal zu stören." Mit diesen Worten mache ich einen Bogen um ihn und führe meinen Weg fort. "Herr Kaiba", höre ich hinter mir die verzweifelte Stimme. "Ihre speziellen Vorlieben..." "Existieren nicht", antworte ich und verlasse das Gebäude. Eine gesunde Natur präsentiert sich mir dort. Sie ist schön zu betrachten und doch versetzt sie mich nicht in Bewunderung. Grün sind die langen Blätter der Palmen, stark ihre Stämme. Sauber der schmale Weg, der zu dem besagten Strand hinabführt. Die Portiers stehen still, nur flüchtig streifen mich ihre Blicke, bevor sie sich nach vorn richten. Ich schenke ihnen keine Beachtung, bleibe stehen und blicke mich um. Es ist sehr warm, meine Kleidung scheint dem Wetter perfekt angepasst. Eine milde Brise durchkämmt meinen Schopf und ich hebe die Hand, um die Strähnen zurückzustreifen, die mir in die Stirn fallen. Ich befinde mich wirklich an einem Ort, von dem vielerlei Menschen träumen. Und sicher könnten sie ihr Glück nicht glauben, wären sie hier. Ich jedoch, nun, es bedarf großer Umstände, um mich in Erstaunen zu versetzen. Langsam nehme ich die frische Luft in mir auf, verschränke die Arme und blicke auf. Ich mustere das Gebäude, am helllichten Tag ist die Beobachtung leichter. Weit oben befindet sich die große Terrasse, auf der man die vollendete Stärke der Sonne auf sich einwirken lassen und sich entspannen kann. Ich lege den Hinterkopf in den Nacken, um zur Kante des Daches aufsehen zu können. Soweit ich weiß, ist nichts dort oben, keine Liegen, nichts bietet den Besuchern der Kur dort Aufenthalt. Wieder wende ich dem Gebäude den Rücken zu. Ich kann nicht begründen, weshalb ich nun hier stehe. Möglich ist, dass ich all dem Trubel entgehen möchte. Hier spricht niemand mit mir und erkundigt sich nach meinen Wünschen, hier ist es still. Nicht lange bleibe ich an diesem Ort. Er bringt mir nichts, keine Einsichten, keine Erholung. Ich verlasse ihn, kehre in das Gebäude zurück und entscheide, mich für eines der Angebote herzugeben. Und das viel mehr gezwungen als freiwillig. Ich möchte nicht untätig stehen und gehen, so schnippe ich mit dem Finger und sogleich befinde ich mich in einer Kabine. Auf einer Liege lasse ich mich nieder. Der kleine Raum ist angenehm warm, ein Duft umgibt mich, der zu unauffällig und schwach ist, als das er mich stören könnte. Die Wände, sie sind sauber gekachelt, kunstvoll geschmückt, jedoch zu aufdringlich sind die Farben. Ich lege mich nieder, lege mich auf den Bauch und spüre das weiche Tuch unter mir, das straff über das Polster gespannt ist. Nur ein Handtuch dient mir als Bekleidung. Ich rücke nicht umher, so ist es bequem. Während die Masseuse ihre zierlichen Hände in den öligen Inhalt einer Schale eintaucht, betrachte ich mir die Muster. Ich achte nicht auf meine Umwelt, keine Neugierde besteht im Bezug auf die erste Massage meines Lebens. Ich warte und bald tritt die junge Frau neben mich. "Entspannen Sie sich", bittet sie, während sie das Haar aus meinem Nacken streift und die Hände auf meine Schultern legt. Ich zwinkere, ihre Hände beginnen sich zu bewegen, üben Druck auf meine Muskeln aus. Sie sind angespannt und hart. Dieses Muster, schon einmal sah ich es. Langsam verschränke ich die Arme unter meinem Kopf. Was ist es? Art Deco? Oder Jugendstil? Gern möchte ich darüber nachdenken, die Massage zieht mich nicht in ihren Bann. Die Bewegungen der Hände bringen nichts mit sich, das sich auch nur im Entferntesten mit Entspannung gleichsetzen ließe. Die Masseuse reibt meine Schultern, sie knetet härter, bearbeitet auch meinen Nacken und förmlich kann ich die Verzweiflung spüren, die sie in diesen Minuten empfindet. Sie ist der erste Mensch, der diese Stellen meines Körpers berührt, doch diese Tatsache ist von keiner Bedeutung für mich. Es sind kalte Berührungen. Hände auf meinem Rücken... ist das Entspannung? Ich spüre nichts, das ich nicht kenne. Nichts nehme ich wahr, das man als angenehmes Gefühl definieren könnte. Lange bearbeitet mich die junge Frau, verteilt Essenzen auf meiner Haut und verreibt diese mit großen Mühen. Viel versucht sie und doch ist es das Muster, das mich binnen dieser Minuten interessiert. Enttäuschung empfinde ich nicht, von Massagen habe ich mir nicht viel versprochen und diese Bestätigung tut mir gut. "Herr Kaiba." Sie löst die Hände von meinem Rücken, meine Augen tasten einjeden Zentimeter des Musters ab. "Verzeihen Sie... Sie sind zu verspannt, als dass eine Massage ihre Wirkung zeigen könnte. Wenn es Ihnen danach ist, gehen Sie schwimmen. Es ist die bewährteste Art, die Muskeln zu entspannen." Ich antworte ihr nicht, rolle mich auf die Seite und richte mich auf. Gut, ich werde schwimmen gehen. Wie gleichgültig mir das alles doch ist. Ich erhebe mich und sie bearbeitet meinen Rücken kurz mit einem weichen Tuch, bevor sie sich erneut entschuldigt und mir erneut zu dem Schwimmen rät. In langsamen Schritten durchquere ich die Gänge, bin auf dem Weg in die dritte Etage, in der sich das Herrenbad befindet. Wenn ich es recht bedenke, wirkt das verzweifelte Mühen der Masseuse belustigend auf mich. Auch das Arrangement des Herren, der an der Rezeption seinen Dienst tut, ist amüsant. Mein Leben besteht aus viel Arbeit, die Erfolge zeigt, deren Leben jedoch... ist ein Wirbel um nichts und wieder nichts. Ich befolge die Bitte der Masseuse aus höhnischer Neugierde. Das Resultat ist mir bereits bekannt. Ich verzichtete zu lange auf Entspannung, als dass ich sie nun erlernen könnte. In den Angestellten sehe ich nicht mehr als eine Horde wilder Affen, die schreiend und zappelnd versucht, an eine Frucht zu gelangen, die zu hoch am Baum liegt, als dass sie sie erreichen könnten. Entzückend, wirklich entzückend. Reine Idiotie. Ich betrete eine Halle. Ihre Wände, die gewölbte Decke, überall erblicke ich den bekannten Marmor. Hinter hohen Arkaden erstrecken sich saubere Gänge, zwischen den Säulen finden bequeme Liegen Platz. Ein breites unproportionales Becken nimmt beinahe die gesamte Halle ein. Ein einziger Schwimmer zieht träge Bahn um Bahn, das saubere Wasser wirft kleine Wellen, die sich bewegenden Strukturen spiegeln sich gleich eines Kunstwerkes an der hoch liegenden Decke wider. Hier ist es still, das leise Glucksen wirkt nicht störend auf mich. Noch während ich mich der Musterung hingebe, nähert sich mir ein Mann und ohne mir Zeit zu lassen, erhebt er die Stimme. Sie klingt schrill und aufdringlich, das Personal fällt mit jeder weiteren Stunde tiefer in meine Missgunst. Wäre es nicht vorhanden, wäre all das erträglicher. "Wünschen Sie zu schwimmen, Herr Kaiba? Gedulden Sie sich bitte kurz, ich komme gleich wieder." Ohne auf meine Antwort zu warten, dreht er sich um und eilt davon. Ich komme zu der Einsicht, dass die hier herrschende Atmosphäre bei weitem schwerer zu ertragen ist, als die, die in meiner Firma herrscht. Kleinigkeiten sind dort Selbstverständlichkeiten. Sie werden erledigt, ohne dass zuvor Fragen gestellt werden. Hier jedoch... hier ist alles anders und ich beginne meinen Entschluss zu bereuen. Durch meinen Aufenthalt in dieser Kureinrichtung wird sich nichts ändern. Ich werde nicht entspannt zurückkehren, weitere Fehler werde ich nicht zu verhindern wissen. Oh, wie graut es mir schon vor dieser Vorstellung! Beging ich vielleicht bereits einen Fehler mit dem Entschluss, das Angebot meines kleinen Bruders anzunehmen? Ich schließe kurz die Augen, die Hände verberge ich in dem Yukata. "Herr Kaiba." Jene Stimme reißt mich aus meiner Einsamkeit. Der Mann kehrt zurück, trägt ein Bündel mit sich, das er mir reicht. Es sind ein seidener Bademantel und zwei Handtücher, die ich mit trägen Bewegungen entgegennehme. "Machen Sie es sich doch auf einer der Liegen bequem, wenn Ihnen danach ist, zu schwimmen, finden Sie dort Umkleidekabinen." Er weist auf die gegenüberliegende Seite der Halle. "Möchten Sie etwas trinken oder eine Stärkung zu sich nehmen, läuten Sie nur. Sie können sich hier aufhalten, so lange Sie möchten und wenn sie gehen wollen, dann..." Unsere Blicke treffen sich, er verstummt. Dieses Gerede... wie das ausgeleierte Band eines Tonträgers! Diese geheuchelte Freundlichkeit! Obgleich sich noch nie ein Mensch mit wahrer Freundlichkeit an mich wandte, ertrage ich sie nur schwerlich. Ich fixiere den Mann stumm. Ich kenne ihn nicht und doch entwickle ich schon Hass auf ihn, da er diese Worte sagte. Er starrt mich an und so als würde er meine Gedanken lesen, verbeugt er sich knapp, macht kehrt und geht. Genau das wünschte ich mir. Ich sehe ihm nach, bis er hinter den Arkaden verschwindet. Ich bin kein Mensch, der nach einem goldenen Glöckchen greift, wenn er Wünsche auf dem Herzen hat! Ebenso bin ich dazu imstande, sinnvolle Schlüsse zu ziehen, zu überlegen und gewisse Sachen zu durchdenken, anders wohl als dieser Mann! Er braucht mir nicht eine genaue Anleitung zu liefern, ich werde herausfinden, was es herauszufinden gibt und das auf einem wesentlich entspannenderen Weg. Ich gehe los, wähle den Gang hinter den Arkaden und erreiche so schnell die andere Seite der Halle, an deren Wand sich viele Türen aneinanderreihen. Die erste öffne ich und trete in eine kleine Kabine. Selbst die kurze Hose für das Wasser, die man mir beilegte, besteht aus Seide. Nur ungern ziehe ich sie an. Dies alles ist so nobel, dass es bereits billig und kitschig wirkt! Letzten Endes streife ich mir den dünnen Mantel über, klemme die Handtücher unter meinen Arm und verlasse barfuss die Kabine. Ich suche mir eine Liege. Glücklicherweise sagte man mir ja, dass ich dieses Recht besitze! Ich lasse mich nur kurz nieder, sitze grundlos dort und streife den Mantel ab, bevor ich mich erhebe und auf das Becken zugehe. Der Mann, der seine Runden zog, verharrt nun am Rand. Er wirkt recht entspannt und zufrieden, so wie er sich dort treiben lässt. Ich beobachte ihn nur flüchtig und steige die Stufen hinab, die mich tiefer und tiefer in das Wasser führen. Es hat eine angenehme Temperatur. Ich steige tiefer und halte inne, als ich die Wärme bereits unter meiner Brust spüre. Weshalb soll ich schwimmen gehen? Ich wüsste nicht, dass diese Tätigkeit jegliche Freude in mir wecken könnte, hinzukommend ist sie sinnlos, besteht nur, um Zeit zu vergeuden. Ich soll schwimmen, um meine Muskeln zu entspannen. Meine Muskeln entspannen sich nicht durch das Schwimmen und dennoch steige ich auf die nächste Stufe hinab. Ich habe nichts zu verlieren. Auch die Massage ließ ich über mich ergehen, ohne auf Erfolge zu hoffen. Das Wasser steigt höher, steigt über meine Schultern und bevor es mein Kinn erreicht, lasse ich mich sinken, tauche unter. Und als ich mich langsam wende, leicht abstoße und mich in der warmen Schwerelosigkeit dahingleiten lasse, öffne ich die Augen. Ich höre nichts, völlige Lautlosigkeit umgibt mich. Die Strukturen des Wassers... auch auf dem ebenen Boden sind sie zu sehen und für einige Sekunden verliert das Wort 'Zeit' an jeglicher Bedeutung. Es ist, als würden die Uhren stehen bleiben, als befände ich mich in einer anderen Welt, in der nichts existiert, das störende Auswirkungen hat. Ich öffne den Mund, langsam strecke ich die Arme von mir. Wirbelnd steigen die Luftbläschen auf, kitzelnd streifen sie meine Wangen. Doch diese Sekunden enden zu schnell, ich gleite langsamer nach vorn, verliere den Schwung und steige auf. Gemächlich lasse ich mich von dem Wasser nach oben tragen, tauche auf und atme tief ein. Mit gemächlichen Bewegungen halte ich mich oben, lasse mich dann nach hinten fallen und auf der glatten Oberfläche treiben. Wieder sehe ich die Strukturen über mir. Die dünnen Fäden, die sich von einer Seite zur anderen bewegen, sich ineinander verschlingen und so ein unerfindliches Gewirr bilden. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, ich brauche keines meiner Gelenke zu beanspruchen, nicht Gebrauch von meiner Kraft machen, und doch bewege ich mich. Nichts gibt es hier, das mich stört... und doch sehe ich auch diese Zustände nicht als Erholung an. Kurz darauf beginne ich zu schwimmen, ziellos einige Bahnen hinter mir zu lassen. Größtenteils bewege ich mich unter Wasser, die Schwerelosigkeit sagt mir zu. Flink bewege ich mich voran, ich erreiche den Rand des Beckens, drehe mich und stoße mich zurück. Nach wenigen Minuten jedoch verliert auch diese Beschäftigung ihren Reiz und so kehre ich zu der Treppe zurück, ertaste Boden unter meinen Füßen und richte mich auf. Schmale Rinnsäle klaren Wassers schlängeln sich von meinen Schultern, rinnen über mein Gesicht und ich wische sie fort. Gleichzeitig steige ich hinauf, das sanfte Plätschern begleitet mich. Ich verlasse das Becken, steige hinaus und lasse neue Rinnsäle über meinen Rücken laufen, indem ich mir über den Schopf fahre. Das Wasser tropft in schnellem Takt von meiner Nase, mein Blick tastet sich über den sauberen Boden, tastet sich nach vorn und stößt auf Füße, die sich plötzlich vor mich setzen. Sogleich bleibe ich stehen und blicke auf. Dort steht er wieder, der blonde Rebell. Direkt vor mir, nun gleichermaßen reglos. Wie ein Schatten verfolgt er mich! Ich werde ihn nicht los, so schnell ich auch laufe. Vermutlich fing ich ihn auf seinem Weg zu dem Schwimmbecken ab, denn auch er trägt jene Kleidung. Unsere Blicke finden einander, bleiben aneinander hängen, ohne dass sie sich einen gewissen Ausdruck entgegen bringen. Wir stehen voreinander, unentschlossen und schweigend und ich wäre dazu imstande, mich sofort umzudrehen und zu verschwinden, ein weiteres Mal vor ihm flüchten, doch ich zögere, ohne den Grund zu kennen. Jonouchis Gesichtszüge gewinnen an Regung, er reißt sich los von der Atmosphäre, die bei jeder Begegnung entsteht, seine schmalen Brauen verziehen sich, so als könne er es nicht glauben, vor mir zu stehen. Ich weiß, er möchte etwas sagen, ich spüre, dass etwas auf seiner Seele lastet, ein schweres Gewicht, das er anhand weniger Worte loszuwerden gedenkt. Dieses Gebäude ist groß, viele Möglichkeiten der Entspannung in verschiedenen Etagen versprechen, dass wir uns nicht sehen und dennoch taucht er an den Plätzen auf, an denen ich mich niederlasse. Widerstrebend vergleiche ich ihn mit einem Magneten, einem Gegenpol, der mich immer und immer wieder anzieht, gegen meinen Willen, gegen jegliches verbissene Wehren. Jonouchi hebt unentschlossen die Hände, lässt sie sogleich sinken und ballt sie zu Fäusten. Seine Lippen bewegen sich hastig jedoch stumm, als befürchte er, dies wäre die letzte Gelegenheit, sich an mich zu wenden. Ich wünschte, dem wäre so. Mir verlangt es nicht danach, mit ihm zu sprechen, meine Ohren wollen seine Stimme nicht hören, meine Augen ihn nicht sehen. Ich lasse das Gesicht sinken, meine Hand gleitet flink über mein Gesicht, um die zurückbleibende Nässe zu bekämpfen. Erklärungen sind von niedrigster Wichtigkeit, meine Neugierde stelle ich auf unterste Stufe. Noch immer interessiert mich der Grund seines Aufenthaltes nicht und ich wende mich ab, bevor er sie mir aufdrängen kann. Ich drehe mich einfach um und gehe. Niemand kann mich zwingen zu warten. Deutlich spüre ich, wie sein Blick meinen Rücken streift, wie er verunsichert dort steht, sich seine Miene weiterhin verzieht. Und auch mein Gesicht wird befallen von einer düstren Wut, ohne dass ich es ihm befehle. Wie hätte ich ihn nun mit meinen Worten verletzen, mich vor weiteren Begegnungen sichern können. Nur ein Blick, die Verachtung, die auf ihn einschlägt, ihn in die Knie zwingt. Ich vermag es zu bewerkstelligen, es verlangt mir nicht viel ab. Doch er würde mir antworten und seine Stimme ertrage ich nicht! Ohne mich zu ihm umzudrehen, beuge ich mich zu der Liege hinab, sammle meine wenigen Habseligkeiten ein und kehre zurück zu den Kabinen. Schnell zieht der Rest des Tages an den Fenstern meiner Suite vorbei, nur dort kann ich seinen Verlauf verfolgen, denn erneut gehe ich nicht hinaus. Ich bleibe dort, zurückgezogen und versunken in Grübeleien, die unnötig entstanden. Ich kaure auf dem Sofa, erhebe mich nur, um zu der Bar hinaufzusteigen. Ich trinke und das mehr als gewöhnlich. Mir ist unwohl und bis mich jenes Telefonat erreicht, denke ich daran, nach Domino zurückzukehren. Weg von all der geheuchelten Freundlichkeit, die mich quält, weg von Katsuya Jonouchi! Dann ergreife ich das Telefon, Mokuba ruft an. "Wie geht es dir?", erkundigt er sich, seiner Stimme kann ich große Behaglichkeit entnehmen. "Hast du dich entspannt? Bist du stark und erholt?" Den Champagner im schlanken Glas schwenkend, lasse ich mich nieder und blicke mich um, als fühlte ich mich beobachtet. "Sollte es dir entfallen sein", antworte ich. "Ich bin erst seit gestern hier." "Ja." Er lacht. "Und? Bist du entspannt?" Was soll ich darauf antworten, geht es mir durch den Kopf. Seine Stimme klingt so heiter wie selten zuvor. Ich möchte ihn nicht verletzen durch eine zu ehrliche Antwort. Zuviel hat er darauf gesetzt, mir hier einen Platz zu sichern. Diese Kur wird auf diesem Weg zu einem Zwang. "Ja", sage ich nach einem kurzen unauffälligen Zögern. "Mir geht es gut." "Und noch besser wird es dir gehen, wenn du weitere Tage dort bleibst. Das war erst der Anfang, also lass es dir gut gehen, Seto." Der Anfang? Der Anfang vom Ende. "Gewiss." Ich nicke und fühle mich erschöpft dabei. Somit würde ich das Telefonat gern beenden, doch Mokuba fährt fort. "Heute Morgen ging ich mit Bikky durch den Park und traf Yugi", erzählt er mir, seine Stimme verändert sich, sie wirkt nachdenklich. "Er ist sehr niedergeschlagen, ich habe ihn bisher noch nie so gesehen. Er sagte… weißt du es schon, Seto? Katsuya ist verschwunden." Ich blicke auf, betrachte mir den dunklen Bildschirm des Fernsehers und nicke stumm. "Seto?" Ungeduldig spricht Mokuba weiter. "Er meinte, er wäre gegangen, ohne Abschied, ohne auch nur ein Wort zu verlieren. Er sorgt sich sehr." "Du kennst mich." Ich setze das Glas an die Lippen, leere es mit wenigen Zügen. "Mutos Probleme liegen außerhalb meiner Interessen. Weshalb erzählst du mir all das. Ich nahm an der Kur teil, um mich davon zu lösen." "Es tut mir leid", antwortet er schnell. "Ich wollte nur... wollte nur, dass du es weißt." "Ich weiß es, gut? Nun mach dir einen schönen Tag und lasse dich nicht von den Problemen anderer belasten. Sie haben dich nicht zu interessieren." Ich zögere kurz. "Jonouchi… hat dich nicht zu interessieren." Mokuba schweigt. "Die Menschheit nimmt keinen Verlust an seinem Verschwinden. Genieße die Ferien, ich komme bald wieder." "Tschüss Seto." "Tschüss." Ich lasse das Telefon sinken, schließe entkräftet die Augen und lehne mich zurück. Es ist wohl besser, hier zu bleiben... Wie ich es mir vornahm, nehme ich das Frühstück am Morgen des nächsten Tages in meiner Suite zu mir. Somit entgehe ich nicht nur der äußerst unangenehmen Gesellschaft, sondern auch der Anstrengung, den Weg dorthin zu bewältigen. Ich möchte mich nicht übermäßig bewegen und genieße die Ruhe während ich frühstücke, abgeschieden von allen Menschen, die mir lästig sind. Und ich lasse mir Zeit. Während ich mir die Speisen, die meinen Wünschen zufolge, diesmal eher gering ausgefallen sind, schmecken lasse, beginne ich zu planen, nachzudenken, wie ich diesen Tag überstehen kann. Es sind nur noch zwölf, die mich von Domino, meiner Heimat und meinem Alptraum, trennen. Man legte mir einen neuen Yukata zurecht und nachdem ich mich geduscht und angekleidet habe, verlasse ich meine Suite und begebe mich zu einer der Saunen, deren Nutzung mir zur Verfügung steht. Nicht lange sitze ich auf den kunstvollen Holzbänken - Saunen behagen mir nicht, sie sind zu heiß und stickig, etwas Derartiges stelle ich mir nicht unter Erholung vor. So besuche ich also eines der Thermalbäder, die sich, in typisch japanischem Stil, in der obersten Etage befinden. Dort bin ich allein und fühle mich recht wohl. Während ich mich zurücklehne, steigt Wasserdampf auf. Das Wasser ist warm, die Temperatur des riesigen Raumes hingegen so kühl gehalten, dass es einen vorzüglichen Ausgleich schafft. Ich verbringe lange Zeit an diesem Ort und wiederum beginne ich nachzudenken. Seit zwei Tagen tat ich keinen Finger krumm, bekam nicht einmal einen Computer oder einen Berg von Akten zu Gesicht. Und der einzige Grund, weshalb ich nicht darunter leide, mag der sein, dass ich mich übertrieben dem Sinnieren hingebe. Ich grüble über dieses und jenes, wie gerade auch. Vieles beschäftigt mich. Jedoch ist es nicht die Arbeit und die Firma, die daran die Schuld tragen. Ja, ich will Jonouchi keine Beachtung schenken, doch seit ich ihm am gestrigen Tag erneut begegnete, ist eine Veränderung eingetreten. Ich überlegte bereits, aus welchem Grund er hier ist und kam zu dem Entschluss, mich nicht weiterhin dafür zu interessieren, um diese Kur genießen zu können. Doch nun? Ich, als ein Mensch, der in einjeder seiner Bewegungen und Handlungen perfekt ist, schäme mich nicht für meine Neugierde, nun, viel eher kommt sie mit einem verhassten Misstrauen gleich. Neugierde ist bei weitem kein Anzeichen für Schwäche, sie beweist das Interesse an anderen Dingen. Jonouchi ist beileibe keine Besonderheit, ist es, wenn man es recht bedenkt, nicht würdig, näher ergründet zu werden. Der Meinung bin ich, doch die Neugierde entfaltete sich erst in mir, als ich mir jene Fragen stelle: Wenn er mir annähernd gleichgestellt ist, was das Wohlhaben anbelangt, wie steht es mit seinem Einfluss? Hat er das, was ich habe? Ich möchte wissen, ob auch er hohes Ansehen genießt, ob er sich wirklich reich nennt. Und wenn dem so ist, warum? Wenn ich es weiß, werde ich ihn umso mehr hassen können. Ein äußerst verlockender Gedanke, wie ich finde. Ich erinnere mich daran, wie er vor mir stand, wie seine Augen an mir hafteten und er sich für kurze Zeit nicht bewegte. Er wollte etwas sagen, dessen bin ich mir sicher und einen weiteren Vorteil bringt mir sein Verhalten. Ich werde mich nicht zu ihm herablassen, ihn zur Rede stellen müssen und somit den Anschein erwecken, mich für seine Persönlichkeit zu interessieren. Ich muss lediglich zuhören und diese Herablassung nehme ich gern in Kauf. Der mögliche Gewinn ist zu verlockend, als dass ich anders denken könnte. Ich beschließe, das Mittagessen früher zu mir zu nehmen, ein langer Aufenthalt hier ist zu gefährlich und allmählich bin ich es leid, hier zu sein. Also steige ich auf den kunstvollen Holzboden hinaus, streife mir einen bereitliegenden schwarzen Bademantel über und steige in die Wajaris. So begebe ich mich auf den Weg zu jenem Speisesaal. Es ist zu früh für ein Mittagessen, doch ich werde ungestört sein. Und während ich das Thermalbad verlasse, erwacht der Wunsch in mir, Jonouchi anzutreffen. Ich werde nicht zuvorkommend sein, stelle mir vor, wie er winselt und fleht, bevor ich ihm mein Gehör leihe. Ja, dies wird er tun müssen, bevor ich mich ihm zuwende, meine Zeit mit ihm verschwende. Das Glück scheint mir an diesem Tage hold. Der Saal ist leer, als ich eintreffe und binnen kürzester Zeit bereitet man mir mein Essen zu und serviert es. Ich achte weniger auf den Geschmack, denn ich verfange mich erneut in ungewollten Grübeleien. Ich esse zügig, nehme mir keine Zeit für den Genuss und verlasse den Saal nach wenigen Minuten, ich möchte mich in die Empfangshalle setzen, einen dieser Kaffees trinken, die mich mit ihrem würzigen Aroma betören. Hinzukommend ist dies der Ort, an dem man viel erlebt, mehr als irgendwo anders. Vorerst kehre ich jedoch in meine Suite zurück und ziehe einen anderen Yukata über. Nur wenige Menschen kommen mir entgegen. Den Italiener sehe ich telefonierend an einer Ecke stehen, misstrauisch und gefährlich wirft er Blicke nach allen Seiten. Als er mich erspäht, unterbricht er das Gespräch und wartet lauernd, bis ich an ihm vorbeiziehe. Eine ältere Frau steht vor einem wahrhaften Kunstwerk, bearbeitet mit den langen Fingernägeln das Kinn und streichelt ihre faltige Haut mit abscheulichen Diamanten. Ich gehe schneller. Zwei korpulente Deutsche haben es sich in einer abgeschiedenen Sitzecke gemütlich gemacht, sie mustere ich nur flüchtig aus den Augenwinkeln. Sie rauchen dicke Zigarren, verpesten die Luft mit deren bitteren Gestank. Erst als ich mich an einem der Tische niederlasse und hinunter in den Empfangssaal schaue, fühle ich mich wohler. Nur selten eilen Bedienstete von einer Seite zur anderen. Der Mann an der Rezeption bemerkt mich zwar, scheut sich jedoch davor, mich ein weiteres Mal zu belästigen. Wieder genieße ich den Luxus, der lediglich aus der Aufmerksamkeit des Kellners besteht. Sogleich ist er bei mir und kurz darauf kehrt er zurück. Ich hole tief Luft, lehne mich zurück und betrachte mir die Zigarettenschachtel, die ich mit dem Zeigefinger von einer Seite zur anderen bewege. Ich drehe sie, greife bald nach ihr und öffne sie. Ich ziehe mir eine Zigarette heraus, klemme sie zwischen meine Lippen und hebe das Feuerzeug. Ich hebe es nur langsam, meine Augen tasten die Umgebung ab. Als ich die Stimme jenes Mannes von unten höre, entfache ich die kleine Flamme und verbrenne den Tabak. Glücklicherweise bin nicht ich es, nachdem er verlangt. Ich schaue zur Seite. Vielmehr ist er damit beschäftigt, einen Angestellten zu rügen. In die Beobachtung vertieft, nehme ich einen langen Zug, greife mit der anderen Hand nach der Tasse und hebe sie zum Mund. Lange sitze ich ungestört dort, genieße den Kaffee und interessiere mich gezwungener Weise in unnatürlichem Maße für meine Umgebung. Ich besehe mir den Marmor, verfolge die Strukturen und suche nach ihrem Ausgangspunkt. Ich betrachte mir auch die Kronleuchter, versuche, deren Wert zu schätzen. Und dann kommt mein Glück erneut zum Vorschein, denn unten in dem Saal tut sich etwas. Die kunstvolle Eingangstür öffnet sich und ein hünenhafter Mann tritt ein. Es ist eine Wohltat, als der lästige Mann der Rezeption endlich die Stimme senkt, um von dem Angestellten abzulassen und sich dem Besucher zuzuwenden. Ich beobachte ihn nachdenklich, Männer seiner Art bekam ich erst gestern zu Gesicht. Gemächlich kratze ich über den dünnen Filter der Zigarette. Der Hüne kommt vor der Rezeption zum Stehen und sogleich lehnt sich der Mann nach vorn. Sie sprechen miteinander, wenn auch nur kurz. Sie sprechen zu leise, ich kann es nicht hören, um nicht zu sagen, dass mich der Gesprächsstoff außerordentlich interessiert. Schnell nickt der Mann von der Rezeption und greift nach einem Telefon. Flink tippt er und wartet. Und nach wenigen ruhigen Worten legt er auf und nickt dem Besucher ergeben zu. Dieser erwidert die Geste nur knapp, seine Hände verschwinden in den tiefen Taschen des teuren Jacketts und in gemächlichen großen Schritten beginnt er einen Spaziergang durch den Saal. Ich wende mich ab und greife nach meinem Kaffee. Allmählich nähert sich der Mann der Treppe, die zu meiner Etage hinaufführt. Vor ihr bleibt er stehen, hebt verspannt die Schultern und besieht sich das kunstvolle Geländer mit düstrer Miene. Er betrachtet es sich lange, jedoch desinteressiert und erst als sich die Türen des Fahrstuhls öffnen, wendet er sich ab. Auch mein Blick streift gezwungen zu jenem Platz und ich erspähe Jonouchi. Eilig tritt er aus der Kabine, zieht den Mantel fester um seinen Leib und fährt sich durch den Schopf. Er wirkt, als hätte er sich beeilt, als er auf den Mann zugeht. Er fixiert sich nur auf ihn und so bleibe ich unerkannt. Unbeteiligt behalte ich ihn im Blick, als er vor ihm stehen bleibt und die Arme vor dem Bauch verschränkt, als würde es ihm frösteln. Der Hüne räuspert sich mit strenger geschäftiger Miene, bevor er das Wort erhebt. "Your father is really concerned about you, Mr. Brown", sagt er, nicht darauf bedacht, es leise zu tun. Seine Stimme hat einen scharfen Klang. Mir scheint sogar, als drücke sich Misstrauen in ihr aus. Jonouchi bläht die Wangen auf, schüttelt den Kopf und starrt auf den Boden. Er wirkt überfordert in jeder seiner Bewegungen. "He wants to have a surety, so I'm here to shelter you from dangers." So knapp und gefühllos seine Worte auch sind, ich entnehme ihnen eine gewisse Ehrfurcht, um nicht zu sagen, eine Ergebenheit. Somit verbleibt die Miene des Mannes streng und reglos. Jonouchi schüttelt erneut den Kopf, ich höre ihn lachen, wobei er nach einem überaus sarkastischen Ton greift. "You want to shelter me?" Er richtet sich auf. "Dont you mean supervise?" Jonouchi bedient sich akzentfrei und fließend der englischen Sprache. Es scheint, als hätte er nie etwas anderes getan. Diese Tatsache versetzt mich dennoch nur minder in Erstaunen. Soll er doch diese Sprache beherrschen, ich beherrsche sie gleichermaßen und nichts macht ihn dadurch zu etwas Besserem! Er fährt fort, drohend und verbissen, als müsste er sich mit all seiner Kraft zur Wehr setzen. "I dont need a attender, a babysitter or a shadow behind me! What the hell he's thinking about, there are nowhere dangers!" Er wird lauter, die Anwesenheit des Mannes missfällt ihm augenscheinlich gänzlich. "I said no! The only thing I really want is my calmness and not more, do I make too great demands?! Go back and tell him, I’ll survive the time inside this prison without protection!" Er verengt die Augen, lehnt sich verbissen nach vorn und wartet auf eine Antwort. Die Mimik des Mannes zeigt keine Regung und er gibt die Antwort, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. "It's an order", sagt er nur. "An order, sure! What else?" Jonouchi hebt die Arme. "Who the hell are you?! His little abject dog?! I don't want this crap, so leave me alone!" "Much as I sympathize, I can't do that", erwidert der Hüne mit unberührbarer Kälte. Jonouchis Worte, so drohend und demütigend sie auch sind, scheinen seine eiserne Ummantelung nicht im Geringsten anzukratzen. Jonouchi starrt ihn an und für eine kurze Zeit verfällt er der Sprachlosigkeit. Seine Lippen zucken unentschlossen, verzweifelt auf einer hastigen Suche nach gleichkommenden Worten, seine Miene verfinstert sich und seine Hände ballen sich zu Fäusten. Seine Lunge sehnt sich augenscheinlich nach einem lauten Schrei, doch rechtzeitig krallt er sich an die Vernunft, entspannt sich und bringt ein leichtes Nicken zustande. Es scheint eine Macht zu existieren, gegen die er nicht ankommt. Er kapituliert. "Terrific", höre ich ihn sarkastisch murmeln. "That's really great." Mit diesen Worten schüttelt er erneut den Kopf, wendet sich ab und kehrt zu dem Fahrstuhl zurück. Der Mann folgt ihm wie ein Schatten und ich sehe ihnen nach, bis sich die Türen des Fahrstuhles hinter ihnen schließen. Ich muss zugeben, dieses Erlebnis stärkt meine Neugierde, denn ich verstehe all die bestehenden Zusammenhänge nicht. Weder den Sinn dieser Unterhaltung noch das Benehmen des blonden Rebellen. Nur eines verstehe ich: Josem Brown - so wird er genannt. ~*to be continued*~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)